DER NORDEN - Agentur.ZS
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46 \\ LITERATUR UND GESELLSCHAFT Bilfinger Berger Magazin // 02 2011<br />
/// Für Renate war sie ein Idol, Guido nennt<br />
sie die „erste Liberale“, Verona wollte „sein wie<br />
sie“. Was Grünen-Chefin Künast, Außenminister<br />
Westerwelle und TV-Moderatorin Verona<br />
Pooth verbindet, ist die Begeisterung für eine<br />
Figur der Weltliteratur, die seit siebzig Jahren<br />
Kinder in ihren Bann zieht und manchen Erwachsenen<br />
auch: Pippilotta Viktualia Rollgardina<br />
Pfefferminza Efraimstochter Langstrumpf.<br />
„Erzähl mir von Pippi Langstrumpf“, quengelte<br />
die siebenjährige Karin, die 1941 mit einer<br />
Lungenentzündung im Bett lag. „Den Namen<br />
hatte Karin in dem Augenblick erfunden“,<br />
wun derte sich Astrid Lindgren noch Jahre<br />
später. Aber sie begann zu erzählen.<br />
Dass die Geschichte von Pippi und ihren<br />
Freunden einige Jahre später auch zu Papier<br />
gebracht wurde, verdanken Leser einem Unfall.<br />
Astrid Lindgren, die während des Krieges in der<br />
schwedischen Briefzensurbehörde arbeitete,<br />
war auf einem vereisten Gehweg ausgerutscht<br />
und hatte sich den Knöchel verstaucht. Die<br />
Zwangspause nutzte sie, um Pippis Aben -<br />
teuer aufzuschreiben.<br />
Schriftstellerin hatte Lindgren eigentlich<br />
nie werden wollen, aber nachdem das Büchlein<br />
nun einmal geschrieben war, bot sie das<br />
Manuskript dem schwedischen Verlag Bonnier<br />
an mit der Hoffnung, „dass Sie nicht das Jugendamt<br />
alarmieren“. Der Bitte wurde statt -<br />
gegeben, nicht aber der nach Drucklegung.<br />
Eine grandiose Fehlentscheidung, denn ein Jahr<br />
später, 1945, griff der Stockholmer Kinderbuch -<br />
verlag Rabén & Sjögren zu. Die erste Auflage<br />
verkaufte sich prächtig, auch wenn mancher<br />
Pädagoge dem Bändchen wenig abgewann.<br />
Sinnlos und geschmacklos seien Pippis Abenteuer,<br />
schrieb etwa ein Stockholmer Pädagogikprofessor;<br />
barfuß über Streuzucker zu laufen<br />
oder eine ganze Torte zu essen, erinnere<br />
„an die Fantasie eines Geisteskranken oder<br />
an krankhafte Zwangsvorstellungen“.<br />
P<br />
Das Urteil focht die Kinder nicht an. Als<br />
das Buch 1949 bei Oetinger in Deutschland<br />
erschien, hatte es sich in Schweden bereits<br />
300 000 Mal verkauft. Doch auch im deutschsprachigen<br />
Raum gab es Kritik, insbesondere<br />
aus der Schweiz. Es mangele dem Buch an<br />
„kindlich gesundem Humor“, befand eine Bibliothekskommission<br />
in Basel. „Die originelle<br />
Grundidee des Büchleins ist zu originell und<br />
wirkt abstoßend. Wegen all dieser Unzulänglichkeiten<br />
lehnen wir dieses berühmte Pippi-<br />
Buch entschieden ab.“<br />
Mit der tendenziellen Überforderung des<br />
pädagogischen Personals durch den anarchi -<br />
schen Auftritt Pippis war Astrid Lindgren vertraut.<br />
In Schweden hatte das Buch erst nach<br />
starker Überarbeitung des Manuskripts erscheinen<br />
können. Nachttöpfe wurden aus der<br />
Geschichte getilgt, und der wilde Umgang mit<br />
dem „schrecklichen Benno“ und seinen Kumpanen<br />
entschärft. Jede neue Übersetzung traf<br />
auf neue Vorurteile und Bedenken. In China<br />
gab es Probleme, weil Pippi zu frech mit den<br />
Polizisten umsprang. Den Franzosen war das<br />
Pferd zu groß und wurde zum Pony verkleinert.<br />
Süffisant bat Lindgren ihren dortigen Verleger,<br />
ihr doch ein Foto von einem französischen<br />
Kind zu schicken, das ein Pony eher als<br />
ein Pferd stemmt.<br />
Allen Widrigkeiten zum Trotz, Pippi setzte<br />
sich durch. Wie sollte es anders sein. Inzwischen<br />
ist das Buch in über sechzig Sprachen<br />
übersetzt und weltweit verbreitet. „Pippi Lang -<br />
kous“ heißt es auf Afrikaans, „Pippi Meialonga“<br />
in Brasilien und „Pippi-Ya Goredirey“ in Kurdistan.<br />
Wer im Online-Buchhandel nach „Pippi<br />
Langstrumpf“ sucht, findet fast 1 400 Titel.<br />
Darunter sind beileibe nicht nur die Lind -<br />
gren-Ausgaben, sondern Wirtschafts-, Selbstfindungs-<br />
und Emanzipationsliteratur. Pippi<br />
Langstrumpf steht für Kreativität und Gestaltungswillen,<br />
Spontaneität, Mut und Skepsis.<br />
i ,<br />
Pippi Langstrumpf hilft der Welt und auch<br />
den Frauen – so sieht es jedenfalls Benja Stig<br />
Fagerland, 40, drei Töchter, ehemaliges Model,<br />
Dänin. Heute ist sie Unternehmensberaterin<br />
in Norwegen. Das Land steht an der Spitze der<br />
Gleichberechtigung und Fagerland war eine<br />
der treibenden Kräfte. Wenn man sie fragt, wie<br />
sie es schaffte, die Frauenquote durchzusetzen,<br />
sagt sie: „Pippi-Power“. Keine Angst haben,<br />
sich alles zutrauen. „Macht wird nicht gegeben“,<br />
sagt sie, „du musst sie dir nehmen.“<br />
Power<br />
P ¡<br />
VOR SIEBZIG JAHREN ERZÄHLTE ASTRID LINDGREN IHRER KLEINEN TOCHTER<br />
AM KRANKENBETT DIE GESCHICHTE VON EINEM UNGEWÖHNLICH STARKEN,<br />
UNGEWÖHNLICH FRECHEN MÄDCHEN. PIPPI LANGSTRUMPF REVOLUTIONIERTE<br />
DIE KIN<strong>DER</strong>LITERATUR – UND DAS BILD <strong>DER</strong> FRAU.<br />
PAUL LAMPE / TEXT /// EDDI KRAFT / COLLAGE<br />
Auch Astrid Lindgren spricht von Macht, wenn<br />
sie Pippi charakterisiert: „Pippi Langstrumpf<br />
ist ja eigentlich ein kleiner Machtmensch,<br />
aber sie missbraucht niemals ihre Macht. Nur<br />
wenn sie zum Eingreifen gezwungen wird,<br />
schaltet sie sich ein. Ansonsten ist sie das<br />
gutmütigste, hilfsbereiteste und netteste Mädchen,<br />
das man sich nur denken kann. Und<br />
soweit ich das beurteilen kann, ist Macht zu<br />
haben und sie nicht zu missbrauchen, das<br />
Schwerste, was es gibt.“ //<br />
// 47