Das Journal - Die Staatstheater Stuttgart
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<strong>Die</strong> <strong>Staatstheater</strong> <strong>Stuttgart</strong> // November und Dezember 2011, Januar 2012 // Nr. 02 <strong>Das</strong> <strong>Journal</strong><br />
<strong>Das</strong> <strong>Journal</strong><br />
Nr. 02 // November und Dezember 2011, Januar 2012
Foto: Martin Siegmund<br />
1. • Vorwort<br />
Sehr geehrte Leserinnen und Leser,<br />
liebes Opern-, Ballett- und Schauspielpublikum!<br />
Blutige Nasen in den <strong>Staatstheater</strong>n <strong>Stuttgart</strong>? Nein, unser<br />
Titelfoto dokumentiert zum Glück nicht einen bedauerlichen<br />
Bühnenunfall, sondern die hervorragende Arbeit unserer Kostüm-<br />
und Maskenabteilung. In unseren zahlreichen Werkstätten<br />
hinter den Kulissen leisten viele Menschen Tag für Tag einen<br />
ganz wesentlichen Beitrag zu unseren Musik-, Tanz- und<br />
Sprechtheaterproduktionen.<br />
Unsere Reportage über „<strong>Die</strong> Theater-Ermöglicher: ein Portrait“<br />
ab Seite 5 dieses <strong>Journal</strong>s berichtet von fünf jungen Men-<br />
schen, die sich in unseren Werkstätten ausbilden lassen. Wir<br />
hoffen, damit Ihre Neugierde auf Theater – getreu unseres bereits<br />
im Vorwort der ersten Ausgabe formulierten Wunsches – auch<br />
in dieser Ausgabe des „<strong>Journal</strong>s“ wieder aufs Neue zu wecken.<br />
Wir freuen uns auf Sie! <strong>Die</strong> <strong>Staatstheater</strong> <strong>Stuttgart</strong><br />
Inhalt<br />
<strong>Das</strong> <strong>Journal</strong><br />
Nov. Dez. 2011 / Jan. 2012<br />
v.l. Klaus Kächele, Johannes Petz, Urs Winter,<br />
Ulrich Wand, Peter Schaufelberger vom Staatsopernchor<br />
<strong>Stuttgart</strong> (Foto: Christian Wiehle)<br />
01. • Ausbildungsberufe an den <strong>Staatstheater</strong>n // Seite 5<br />
<strong>Die</strong> Theater-Ermöglicher: ein Portrait<br />
02. • Ortstermin Leonhardsviertel // Seite 8<br />
Ein Ausflug ins <strong>Stuttgart</strong>er Rotlichtviertel mit dem Regisseur Christian Weise<br />
03. • Schwanensee // Seite 10<br />
Femme fatale in Federm: Über schwarze und weiße Schwäne<br />
04. • Catherine Naglestad // Seite 12<br />
»Ich will dem Publikum nicht zeigen, was es denken soll«. Ein Portrait<br />
05. • 40 Jahre John Cranko Schule // Seite 14<br />
Interview mit Ballettschuldirektor Tadeusz Matacz<br />
06. • Cary Gayler // Seite 16<br />
»Spiel- und Denkräume entwerfen«. Ein Portrait der Bühnenbildnerin<br />
07. • Fausts Verdammnis // Seite 18<br />
Masse und Macht. Wie ein Chor zum Solisten wird<br />
08. • <strong>Die</strong> Nachtwandlerin // Seite 19<br />
Vincenzo Bellinis Oper: Zwischen Wildnis und Zivilisation<br />
09. • Kompanie des Jahres // Seite 20<br />
<strong>Das</strong> <strong>Stuttgart</strong>er Ballett gewann die Kritikerumfrage der Fachzeitschrift TANZ<br />
10. • Kristo Šagor // Seite 22<br />
Während der Proben zu »In weiter Ferne«: Sarah Israel befragte den Regisseur<br />
11. • Jan Neumann // Seite 23<br />
Auszüge der Laudatio zur Verleihung des Förderpreises für Komische Literatur<br />
12. • <strong>Die</strong> Junge Oper // Seite 24<br />
Lange Nasen, lächelnde Türen: Barbara Tacchini im Gespräch<br />
Plus • 10 Fragen an … // Seite 26<br />
Raphael Agurkis, Leiter der Botenmeisterei
Foto: Martin Sigmund<br />
1. • Vorwort<br />
01.<br />
Sie stehen nicht im Rampenlicht, doch ohne sie hörte das Herz<br />
des Theaters auf zu schlagen. Ohne sie blieben all die Ideen<br />
von Künstlern nur Ideengespinste. Als Handwerker und Techniker<br />
aller Couleur sind sie Teil einer wundersamen Illusionsmaschine,<br />
deren feinmechanische Justierung ebenso kompliziert<br />
wie faszinierend ist. Manches von dem, was sie können,<br />
lässt sich heute nur noch am Theater erlernen und im Theaterbetrieb<br />
verwirklichen, denn draußen in der globalisierten Welt<br />
hieße es: „zu zeitaufwändig, zu teuer“. Vieles von dem, was sie<br />
können müssen, ist Teil der rasanten technischen Entwicklung.<br />
Doch so vielfältig wie am Theater werden all diese Techniken<br />
sonst kaum irgendwo eingesetzt. Nicht zuletzt geht es hier<br />
nicht einfach nur um Handwerk und Technik, hier geht es immer<br />
mit allem Know how auf das Spielfeld der angewandten<br />
Kunst. Hier trifft täglich Handwerk auf Hightech. Wer aber<br />
„nur“ nach einem Brotberuf Ausschau hält, ist hier sicher fehl<br />
am Platz. Denn ohne Idealismus im Gepäck geht am Theater<br />
nichts. Und weil das so ist, bilden die Werkstätten am Staats-<br />
01. • Ausbildungsberufe an den <strong>Staatstheater</strong>n<br />
<strong>Die</strong> Theater-Ermöglicher:<br />
ein Portrait<br />
Von Kopf bis Fuß, von Bühnenbild bis Beleuchtung<br />
– an den <strong>Staatstheater</strong>n <strong>Stuttgart</strong> wird<br />
nichts dem Zufall überlassen: der Nachwuchs<br />
aus Modisterei und Maske, aus Schuhmacherei<br />
und Schreinerei wird dabei in den theatereigenen<br />
Werkstätten ausgebildet.<br />
theater <strong>Stuttgart</strong> ihre Mitarbeiter am liebsten selbst aus. <strong>Die</strong><br />
Erfahrung hat es gezeigt: die, die auf welchem Weg auch immer<br />
hierher finden, das sind die Richtigen. Annette Eckerle hat sich<br />
bei einigen von ihnen umgehört und umgesehen.<br />
<strong>Die</strong> Modisterei<br />
Mit Phantasie und heißer Nadel<br />
Gerade stichelt Anika Roll an einer Kopfbedeckung in Form<br />
eines Segelschiffs. So hätte der Kopfputz der Damen am Hof zu<br />
Versailles aussehen können, als Ludwig XIV., der Sonnenkönig,<br />
zu rauschenden Bällen bat. Zu fertigen ist das historisch anmutende<br />
Stück von Anika Roll für die Uraufführung des Balletts<br />
„<strong>Das</strong> Fräulein von S.“ (Choreografie: Christian Spuck) im Februar<br />
2012. Dafür hat sich Anika Roll, betreut von ihrer Ausbilderin<br />
Katrin Männer, durch historisches Bildmaterial gearbeitet,<br />
hat sich Gedanken gemacht, welche Stoffe dafür passend sein<br />
könnten, ästhetisch wie praktisch.<br />
Wenn man so will, ist für Anika Roll mit der Ausbildung zur<br />
Modistin ein Traum wahr geworden, von dem sie vor einigen<br />
Jahren noch nicht einmal wusste, dass sie ihn einmal träumen<br />
würde. 2009 machte sie Abitur. Bis dahin dachte sie „Modedesign,<br />
das wäre es wohl“. Wer sich dafür einschreiben will,<br />
muss ein halbjähriges Praktikum vorweisen. Anika Roll landete<br />
deshalb in den <strong>Staatstheater</strong>n, drei Monate lang. Sie schnupperte<br />
bei den Kostümbildnerinnen rein, war bei Einkäufen<br />
und Anproben dabei, landete schließlich bei den Modistinnen<br />
und entdeckte dort, dass sie „lieber mit den Händen arbeiten“<br />
mochte, als am PC Mode zu entwerfen.<br />
Jetzt, im zweiten Lehrjahr, weiß sie schon, dass Kopfbe-<br />
deckungen für Tänzer so leicht wie irgend möglich sein müssen,<br />
auch weil die schönen Objekte an den Köpfen wie auch<br />
immer, auf jeden Fall aber unverrückbar und bis zum Äußersten<br />
festzuzurren sind. Sie weiß, dass Kopfbedeckungen für<br />
Sänger immer so gefertigt sein müssen, dass diese nicht mit<br />
einem Mal im schalltoten Raum stehen. Was sie auch gelernt<br />
hat: Ruhige Zeiten sind selten. In der Modisterei wird für alle<br />
drei Sparten am Haus gearbeitet. Und so kann es schon sein,<br />
dass flugs mal für eine Schauspiel-Neuproduktion 40 Hüte<br />
zu fertigen sind, für eine Ballettpremiere schon vorgearbeitet<br />
wird und zur gleichen Zeit eine große Opernpremiere ins<br />
Haus steht.<br />
<strong>Die</strong> logistischen Fäden für diesen dauernden Mehrkampf<br />
hält Eike Schnatmann in Händen. Bevor sie 2006 an die<br />
<strong>Staatstheater</strong> <strong>Stuttgart</strong> kam, hat sie als Meisterin zehn Jahre<br />
lang einen Hutsalon in Hamburg geführt. Sie brennt für<br />
ihren Beruf, immer noch, eigentlich immer mehr und findet<br />
es deshalb schade, dass so wenige Anfragen für eine Ausbildung<br />
bei ihr landen: „<strong>Das</strong> hier ist so eine interessante Stelle.<br />
In der freien Wirtschaft kann vieles von dem, was wir hier<br />
machen aus ökonomischen Gründen nicht geboten werden.“<br />
Anika Roll weiß diese Vielfalt zu schätzen, zu der auch die<br />
enge Zusammenarbeit mit den Kollegen in der Kostümabteilung<br />
und in der Maske zählt.<br />
4<br />
<strong>Das</strong> <strong>Journal</strong> Nov. Dez. 2011 / Jan. 2012 5<br />
Anika Roll, Modisterei<br />
Foto: Maik Glemser
Foto: Maik Glemser<br />
Karla Schwabe, Schuhmacherei Sina Müllner, Maske<br />
Maske<br />
Mit viel Gefühl für Wellen und Farben<br />
Gerade knüpft Sina Müllner an einem Perückenrohling. Irgendwann,<br />
wenn sie mit einem kleinen feinen Häkchen tausende<br />
Haare in ein engmaschiges Netz hineingeknüpft haben wird,<br />
nach etwa 40 Stunden Geduldsarbeit, dann wird sie das Stück<br />
in Händen haben, mit dem sie in wenigen Monaten in der Abschlussprüfung<br />
ihr Können unter Beweis stellen muss. Dann<br />
heißt es nach bestimmten stilistischen Vorgaben schneiden<br />
und frisieren.<br />
Im Friseursalon an der Ecke, das wäre es für Sina Müllner<br />
nicht gewesen. Als sie die Ausbildung zur Friseurin machte,<br />
wusste sie schon: „Daraus muss mehr werden, als waschen,<br />
schneiden, fönen.“ Fantasievolle Steckfrisuren und aparte<br />
Schminktechniken hatten es Sina Müllner angetan. Ans Theater<br />
dachte sie dabei erst mal nicht. Deshalb ist sie nach ihrer<br />
Gesellenausbildung in der Europäischen Medien- und Eventakademie<br />
gelandet, in der einjährigen Berufsfachschule für<br />
Maskenbildner. <strong>Das</strong> Praktikum absolvierte sie an den <strong>Staatstheater</strong>n<br />
<strong>Stuttgart</strong>. So sollte sie unversehens mitten in einem<br />
Betrieb landen, in dem für schicke Wellen zwar nicht mehr<br />
die gute alte Brennschere zum Einsatz kommt, in dem aber<br />
mit flotten Fingern und unbedingt starken Nerven des Abends<br />
gefönt, gezwirbelt, gesteckt, gesprayt und onduliert wird was<br />
das Zeug hält. Und trotzdem es hier also heiß hergehen kann,<br />
ist Sina Müllner ins kalte, ja eiskalte Wasser gesprungen.<br />
Heute sagt sie: „Ich hatte Glück. Es ist ja nicht ganz leicht, hier<br />
hereinzukommen. Aber ich war am richtigen Ort zur richtigen<br />
Zeit, als eine Auszubildende abgesprungen ist.“ Und der Leiter<br />
der Maske, Jörg Müller hatte wohl den richtigen Riecher.<br />
Jedenfalls hat Sina Müllner ihren ersten Abenddienst am<br />
zweiten Tag ihrer Ausbildung gemeistert. Mittlerweile ist es<br />
schon Routine für Sina Müllner, die Haare einer Tänzerin, einer<br />
Sängerin flott zu vielen kleinen Schneckchen aufzudrehen,<br />
01. 01.<br />
ein Stirnband drum herum zu winden, den Kopfstrumpf drüber<br />
zu ziehen und dann die Perücke überzustülpen. Dafür und<br />
fürs Schminken darf sie 20 bis 30 Minuten Zeit brauchen,<br />
nicht mehr. Und irgendwann wird sie sich auch an der ganz<br />
hohen Schule der Frisurentechnik probieren, an der streng<br />
geschwungenen Eleganz der klassischen russischen Ballettfrisuren.<br />
Der andere Teil der Arbeit für Sina Müllner und ihre<br />
Kollegen besteht aus dem Formen von Gesichtsplastiken,<br />
plastischen Gesichtsteilen, der Gestaltung von Wunden oder<br />
Narben. Es kann schon sein, dass sich Sina Müllner irgendwann<br />
noch beim Film als Maskenbildnerin versucht, aber erst<br />
mal ist sie vom Theatervirus infiziert: „Hier zu arbeiten, ist<br />
schon etwas Besonderes“, ist ihr Resümee auf der Zielgeraden<br />
ihrer Ausbildung.<br />
Schuhmacherei<br />
Leder, ein ganz besonderer Stoff<br />
Wer heutzutage das Schuhmacher-Handwerk erlernen möchte,<br />
hat es nicht leicht. Aller Orten sprießen die Läden aus dem<br />
Boden, in denen in Null-Komma-Nix schief getretene Absätze<br />
erneuert werden. Doch seitdem der Meisterbrief nicht mehr<br />
die Voraussetzung ist, um eine Schuhmacherei zu führen, gibt<br />
es eben auch immer weniger Ausbildungsplätze. Davon kann<br />
Karla Schwabe mehr als nur ein Lied singen. Als sie ihr Grafik-<br />
Designstudium aufgab, um Schuhmacherin zu werden, weil<br />
ihr die Computerarbeit zu öde, zu wenig handfest war, musste<br />
sie eine kleine Odyssee hinter sich bringen. Sie suchte „in ganz<br />
Deutschland, der Schweiz und Italien“. Dann der glückliche<br />
Zufall. Eine Freundin, die in der Schneiderei an den <strong>Staatstheater</strong>n<br />
<strong>Stuttgart</strong> arbeitete, gab ihr den Tipp, dass am Haus<br />
eine Ausbildungsstelle ausgeschrieben sei, die einzige wohlgemerkt<br />
und also heiß begehrt.<br />
Karla Schwabe hatte nicht nur Glück, sondern auch genügend<br />
handwerkliches Geschick, das sie in einem kleinen Praktikum<br />
unter Beweis stellte, denn „mit zwei linken Händen“, so die Meis-<br />
terin Verena Bähr, „können wir hier niemanden gebrauchen“.<br />
Am Anfang der Ausbildung stand für die Lederliebhaberin<br />
Karla Schwabe dann das Reparieren, denn, so die Meisterin:<br />
„Dabei lernt man am besten die verschiedenen Materialien<br />
kennen und die Auswirkungen darauf, je nach Gangart eines<br />
Menschen“. Danach erst ging es weiter zum nächsten Ausbildungskapitel,<br />
zum so genannten Bodenbau. Über die Hohe<br />
Schule, will heißen, die Herstellung von Schaft und Leisten<br />
erklärt Frau Bähr weiter: „Um den ganzen Schuh vom Maßnehmen<br />
über den Leisten- und Schaftbau, den Bodenbau bis hin<br />
zur Auslieferung arbeiten zu können, reicht die Ausbildungszeit<br />
leider nicht aus. Auch wenn wir alle Arbeitsschritte in<br />
den drei Jahren anreißen, braucht der Leisten- und Schaftbau<br />
viel Übung und praktische Erfahrung, dieser Teil lässt sich erst<br />
in den anschließenden Gesellenjahren richtig vertiefen.“ Karla<br />
Schwabe wird aber auch Dinge lernen, die es so im täglichen<br />
Leben nicht gibt, beispielsweise den Bau eines Ballettstiefels<br />
mit weicher Sohle oder die Materialauswahl für schwierige<br />
Bodenverhältnisse. Wenn viel Theaterblut fließt, viel Theaternebel<br />
den Boden feucht werden lässt, dann müssen auch<br />
zierliche Damenschuhe rutschfest sein. Kurz und gut. Karla<br />
Schwabe hat es am Theater mit einer Materialvielfalt zu tun,<br />
wie sonst nirgends.<br />
Foto: Matthias Dreher<br />
Corinna Körner, Schreinerei Alexander Kotelnikov und Sindy Meyer, Veranstaltungstechnik<br />
Schreinerei<br />
Holz, geschlitzt und nicht geklebt<br />
Für Corinna Körner war schon vor dem Abitur klar: sie würde<br />
Schreinerin werden, im Theater, nicht in der freien Wirtschaft.<br />
Corinna Körner wollte nicht lernen, wie man Möbel zusammen<br />
klebt, sie wollte nicht lernen, wie man etwa die 100. Tür<br />
oder die 50. Küche baut, sie wollte den Möbelbau nach der<br />
klassischen Methode lernen, möglichst vielfältig. Am Theater,<br />
das wusste sie aus ihrer Erfahrung in diversen Praktika,<br />
die sie schon während der Schulzeit machte, am Theater würde<br />
das möglich sein. Denn, so bringt es ihr Ausbilder Boris<br />
Oswald auf den Punkt: „Jedes Bühnenbild ist ein Unikat. Vom<br />
Bühnenbildner bekommen wir hier eine technische Zeichnung.<br />
Auf welchem Weg wir das dann umsetzen bleibt uns<br />
und unserer Kreativität überlassen.“ Genau das mag Corinna<br />
Körner auch, dieses Tüfteln an technischen Lösungen, alleine,<br />
zusammen mit den Kollegen. Dafür hat sie im ersten Jahr, das<br />
mit nur einem Betriebstag pro Woche nahezu ausschließlich<br />
an der Schule stattfindet, traditionelle Holzverbindungen<br />
aller Arten herzustellen geübt. <strong>Das</strong> kommt ihr auch zugute,<br />
wenn alte Bühnenbilder aufgearbeitet werden müssen, an<br />
denen es nach langer Lagerzeit an allen Ecken und Enden<br />
krümelt und bröselt.<br />
Ansonsten begreift sich Corinna Körner als Handwerkerin,<br />
die mit ihrem Lieblingswerkstoff Holz in den Händen die Ideen<br />
von Bühnenbildnern Wirklichkeit werden lässt. Und sie schätzt<br />
es sehr, dass sie hier in der Werkstatt noch Techniken wie das<br />
Drechseln lernen kann. Andernorts, vor allem in kleinen Betrieben,<br />
ist das schon längst Schnee von Vorgestern. Einziger<br />
Wermutstropfen für sie: <strong>Die</strong> Aussicht auf Übernahme stehen<br />
derzeit eher schlecht. Vielleicht macht sie es aber auch früheren<br />
Azubis nach, die Architekt, Holztechniker oder auch Mediendesigner<br />
geworden sind.<br />
Veranstaltungstechnik<br />
Damit niemand im Dunkeln steht<br />
Früher, das heißt noch zu Beginn der 1990er Jahre, waren Veranstaltungstechniker<br />
irgendwie freakige Typen, meist mit<br />
selbst gestrickter Ausbildung. Gegen Ende der 1990er Jahre,<br />
als die technische Welt immer schneller, immer komplizierter<br />
wurde, hatte es auch an den Theatern ein Ende mit den selbst<br />
gebastelten Technikerkarrieren. 1998 wurde der Veranstaltungstechniker<br />
zum Ausbildungsberuf im dualen System<br />
gemacht. „<strong>Die</strong> Theater,“ sagt Michael Haarer, haben damals<br />
„sofort die Chance ergriffen, selbst auszubilden, ganz auf die<br />
eigenen Bedürfnisse zugeschnitten“. Haarer ist Absolvent eines<br />
Ingenieursstudiengangs für Theater- und Veranstaltungstechnik<br />
an der Berliner Technischen Fachschule und seit 13<br />
Jahren Ausbilder an den <strong>Staatstheater</strong>n <strong>Stuttgart</strong>. Wie sein<br />
idealer Azubi aussieht? Jedenfalls nicht wie einer, der nur kreative<br />
Flausen im Kopf hat. Am liebsten ist es Haarer, wenn<br />
Auszubildende eigeninitiativ bei ihm landen, so wie Alexander<br />
Kotelnikov, der als Kind eines Schauspielerehepaars erst<br />
vom Theatervirus infiziert war und schon als Schüler seine<br />
Leidenschaft für Medientechnik entwickelt hat.<br />
Nach der Mittleren Reife hat Alexander Kotelnikov diverse<br />
Praktika absolviert, „mit dem Ziel, Mediengestalter zu werden“.<br />
<strong>Die</strong>sen Umweg brauchte es für Kotelnikov, um zu verstehen,<br />
dass er die Sache doch lieber von der etwas handfesteren Seite<br />
angehen wollte. Bevor er in die Ausbildung am Schauspiel<br />
der <strong>Staatstheater</strong> <strong>Stuttgart</strong> einstieg, hat er in Sachen Veranstaltungstechnik<br />
ein paar kleinere Aufträge ausgeführt, bei<br />
Musicals und Theatervorstellungen. Und so wurde aus dem<br />
Hobby der Beruf. Jetzt, im dritten Ausbildungsjahr, hat er den<br />
Parcours durch die Werkstätten, die Bühnentechnik, die Maschinerie<br />
hinter sich und natürlich seine Kernthemen Licht, Video<br />
und Ton. Flausen? Nirgendwo. Alexander Kotelnikov ist sich im<br />
Klaren: „Im Grunde sind wir in erster Linie Elektrotechniker“,<br />
aber eben am Theater. Und das ist es, was Kotelnikov will. Für<br />
ihn interessant ist die Schnittstelle zwischen Kunst und Technik.<br />
Genau dort will er arbeiten, sich mit Stücken auseinander<br />
setzen, technische Lösungen finden für die Ideen von Regisseur<br />
und Bühnenbildner. So was hört Michael Haarer gerne<br />
und schwärmt von Azubis – von denen im Übrigen „recht viele<br />
Frauen sind“ – , die mit viel Einfühlungsvermögen für künstlerische<br />
Abläufe auf tontechnischem Gebiet Choreografen<br />
begeistert haben. Alexander Kotelnikov, dessen Herz an der<br />
Technik wie am Schauspiel hängt, träumt indes davon, sich<br />
auf das Licht zu spezialisieren, das für ihn dann ideal ist, wenn<br />
es „wie ein gutes Make up nicht zu sehen ist“. Der wichtigste<br />
Satz für ihn: „Geht nicht, gibt’s nicht.“<br />
Annette Eckerle<br />
<strong>Die</strong> verschiedenen Ausbildungsberufe an den<br />
<strong>Staatstheater</strong>n <strong>Stuttgart</strong>:<br />
Bühnenmaler/in, Bühnenplastiker/in, Fachkraft für<br />
Veranstaltungstechnik, Kauffrau/Kaufmann für Bürokommunikation,<br />
Maskenbildner/in, Maßschneider/in<br />
Fachrichtung Herrenschneider, Mediengestalter/in Bild<br />
und Ton, Modist/in, Schreiner/in, Schuhmacher/in und<br />
Textilreiniger/in.<br />
Kontakt: matthias.lutz@staatstheater-stuttgart.de<br />
6<br />
<strong>Das</strong> <strong>Journal</strong> Nov. Dez. 2011 / Jan. 2012 7<br />
Foto: Matthias Dreher<br />
Foto: Maik Glemser
Foto: Sonja Rothweiler<br />
02. 02.<br />
02. • Ortstermin Leonhardsviertel<br />
oben /unten<br />
Was geschieht wirklich hinter den<br />
Fenstern mit den roten<br />
Leuchtstoffröhren? Ein Ausflug ins<br />
<strong>Stuttgart</strong>er Rotlichtviertel mit dem<br />
Regisseur Christian Weise<br />
Bereits zum sechsten Mal arbeitet der Berliner Regisseur<br />
Christian Weise nun schon am SCHAUSPIEL STUTTGART.<br />
Seinen Einstand gab er 2006 mit Soeren Voimas moderner<br />
Don-Quixote-Bearbeitung „Herr Ritter von der traurigen<br />
Gestalt“. Nach der Uraufführung von „Eos“ brachte er in den<br />
folgenden Jahren mit den „Nibelungen“ und „Der Meister<br />
und Margarita“ zwei Stoffe der Weltliteratur auf die Bühne.<br />
In der vergangenen Spielzeit rief er in unserer Interimsspielstätte<br />
in der Türlenstraße die Haus-Show „Viva la Mittwoch!“<br />
ins Leben, die sich von der ersten Ausgabe an als Publikums-<br />
renner erwies. <strong>Das</strong>selbe trifft auf seine Inszenierung von<br />
„Was ihr wollt“, Shakespeares wohl schönster Liebeskomödie,<br />
zu, die noch bis Ende des Jahres in der BOX zu sehen ist.<br />
Derzeit befindet sich der Regisseur in den Proben zu<br />
Shakespeares Komödie „Maß für Maß“. Viele Schauspieler<br />
aus Weises letzten Inszenierungen sind wieder mit von der<br />
Partie. Anders als in „Was ihr wollt“, wo – ganz in der Tradition<br />
Shakespeares – alle Rollen von Männern gespielt wurden,<br />
stehen diesmal jedoch Darsteller beiderlei Geschlechts auf<br />
der Bühne. Dennoch werden auch in „Maß für Maß“ humorvolle<br />
Funken aus der Verwirrung der Geschlechter geschlagen,<br />
spielt doch niemand anderes als Martin Leutgeb die Rolle der<br />
Madame Oberweite, einer Bordellbetreiberin (um nicht zu<br />
sagen: Puffmutter), deren Geschäft ernsthaft in Gefahr gerät.<br />
In „Maß für Maß“ geht es um Politik, Macht – und Sex.<br />
Auch heutzutage keine ganz ungefährliche Mischung.<br />
Vincentio, Herzog von Wien, gibt sein Amt vorübergehend<br />
ab. Angelo, sein Stellvertreter, soll alte, längst vergessene<br />
Gesetze wieder zur Anwendung bringen, um der allzu ausschweifenden<br />
Sexualität in der vermeintlichen Hauptstadt<br />
des Lasters Herr zu werden. Außerehelicher Geschlechtsverkehr<br />
wird von nun an mit dem Tode bestraft, die Bordelle<br />
werden abgerissen. Keine angenehme Situation für ein Gewerbe,<br />
das von sexuellen <strong>Die</strong>nstleistungen lebt.<br />
Prostitution verbieten? Geht das überhaupt? Um herauszufinden,<br />
was heutzutage wirklich hinter den Fenstern<br />
mit den roten Leuchtstoffröhren geschieht, waren der junge<br />
Autor Paul Brodowsky, der das Stück für das SCHAUSPIEL<br />
STUTTGART neu übersetzt und bearbeitet hat, der Regisseur<br />
Christian Weise und der Dramaturg Christian Holtzhauer in<br />
Vorbereitung auf die Inszenierung „Maß für Maß“ einige<br />
Wochen im <strong>Stuttgart</strong>er Rotlichtviertel rund um die Leonhardstraße<br />
unterwegs und haben mit Menschen gesprochen,<br />
die im „ältesten Gewerbe der Welt“ ihr Geld verdienen<br />
– oder es zu kontrollieren und bekämpfen versuchen.<br />
Christian Holtzhauer: Christian, bist Du oft im Leonhardsviertel<br />
unterwegs?<br />
Christian Weise: Ja, und zwar meistens abends, wenn<br />
dort Hochbetrieb herrscht, aber aus anderen Gründen als<br />
viele der Herren, die dort ihren Verrichtungen nachgehen.<br />
Ich bin ja fast immer nur zum Arbeiten in <strong>Stuttgart</strong>, und<br />
während der Probenphasen hält man sich den ganzen Tag<br />
im Theater auf. Aber nach der Probe, oft erst gegen elf Uhr<br />
abends, gehen wir häufig noch zusammen essen. Beispielsweise<br />
in die „Weinstube Fröhlich“ in der Leonhardstraße.<br />
Wenn man dort vor oder nach dem Essen vor der Tür steht,<br />
hat man die ganze Straße im Blick und kann dem lustigen<br />
Treiben ganz gemütlich zuschauen. <strong>Das</strong> kleine <strong>Stuttgart</strong>er<br />
Rotlichtviertel ist eine eigene, streng abgegrenzte Welt, von<br />
der wir uns bei den Proben zu „Maß für Maß“ inspirieren<br />
lassen. Schräg gegenüber von der „Weinstube Fröhlich“<br />
hat ein netter Mensch einen roten Klappstuhl an die Wand<br />
geschraubt, damit die Damen sich nicht die Beine in den<br />
Bauch stehen müssen. <strong>Die</strong>ser Klappstuhl wird auch in unserem<br />
Bühnenbild auftauchen.<br />
Christian Holtzhauer: Nun gehörte Prostitution zu Lebzeiten<br />
Shakespeares angeblich zum Theaterbesuch dazu.<br />
Im dritten Rang des Globe-Theaters soll es Logen mit Vorhängen<br />
gegeben haben, die man zuziehen konnte, wenn<br />
man während der Aufführung andere Formen der Ablenkung<br />
suchte. <strong>Das</strong>s Sex mit dem Tod bestraft wird, war aber<br />
schon im 17. Jahrhundert eher ungewöhnlich. Hat also das<br />
Bild, das Shakespeare in seinem Stück vom Rotlichtmilieu<br />
entwirft, noch irgendetwas mit unserer Zeit zu tun?<br />
Paul Brodowsky: <strong>Die</strong> Todesstrafe erscheint einer liberalen<br />
Gesellschaft natürlich übertrieben, aber es gibt auch<br />
heute durchaus Menschen, die aus gutem Grund finden,<br />
dass Prostitution verboten gehört – um die Frauen zu schützen.<br />
Jedoch glaubt keiner unserer Gesprächspartner, mit<br />
denen wir in den letzten Wochen über die <strong>Stuttgart</strong>er Rotlichtszene<br />
gesprochen haben, daran, dass sich solch ein<br />
Verbot wirklich durchsetzen ließe.<br />
<strong>Das</strong> hat Shakespeare ganz genauso gesehen. In „Maß für<br />
Maß“ gibt es einen Zuhälter, der sinngemäß sagt, dass sich<br />
das älteste Gewerbe der Welt nicht verbieten lasse, so lange<br />
es Menschen zweierlei Geschlechts gibt, und dass die neuen<br />
Gesetze lediglich die Preise in die Höhe treiben würden. <strong>Das</strong><br />
ist streng marktwirtschaftlich und damit ziemlich modern<br />
gedacht.<br />
Christian Weise: Wobei modern gedacht noch nicht<br />
unbedingt modern geschrieben bedeutet. Wie so oft bildet<br />
Shakespeare auch in „Maß für Maß“ eine ganze Gesellschaft<br />
ab, in der „die da oben“ Gesetze erlassen, unter deren Folgen<br />
„die da unten“ – in diesem Falle also das Rotlichtmilieu – leiden.<br />
<strong>Die</strong> Konflikte auf der Ebene der Herrschenden, also politische<br />
Intrigen, Machtmissbrauch und sexuelle Übergriffe,<br />
erscheinen nahezu zeitlos, auch wenn bestimmte Motive –<br />
ein Herzog der sich als Mönch verkleidet, eine junge Nonne,<br />
die in die Fänge der Macht gerät – eher an Mantel-und-Degen-Filme<br />
erinnern. Da kommt das Stück zwar wie ein Märchen<br />
daher, aber das lässt sich auch heute noch erzählen,<br />
denn schließlich lesen wir Märchen ja auch immer noch.<br />
<strong>Die</strong> Szenen aber, die im Rotlichtmilieu spielen, sind bei<br />
Shakespeare als Gesellschaftssatire gemeint. Sie sollen<br />
witzig sein, sind es jedoch nicht mehr. Deshalb war es mir<br />
wichtig, dass das Stück neu übersetzt wird und wir uns für<br />
die Szenen, die im „Milieu“ spielen, auch im echten <strong>Stuttgart</strong>er<br />
Rotlichtviertel umsehen.<br />
Christian Holtzhauer: Allerdings waren nicht alle dieser<br />
Gespräche wirklich lustig. Wir haben uns mit Sozialarbeiterinnen<br />
getroffen und mit Politikern, mit Bordellbetreibern<br />
und mit ehemaligen Zuhältern, mit der Polizei und<br />
natürlich auch mit Frauen, die selbst anschaffen gehen oder<br />
gingen. Da waren viele skurrile Anekdoten dabei, etwa von<br />
Frauen, die ihre Freier als ihre Liebhaber ausgaben, wenn<br />
die Polizei vorbeikam. Trotzdem schien selbst über den komischen<br />
Geschichten eine gewisse Traurigkeit zu liegen.<br />
Paul Brodowsky: <strong>Das</strong> stimmt. <strong>Die</strong> Zeiten scheinen härter<br />
geworden zu sein. Viele ehemalige Aktive trauern den<br />
„goldenen Jahren“ hinterher, als es im Rotlichtmilieu vor<br />
allem darum ging, eine gute Zeit zu haben. Sex spielte damals<br />
angeblich gar keine so große Rolle. Heute dagegen ist<br />
Prostitution ein knallhartes Geschäft, bei dem es vor allem<br />
um schnelle Triebabfuhr geht – und um Geld. <strong>Die</strong> Ökonomie<br />
steht im Vordergrund, nicht das Lebensgefühl. Obwohl Pros-<br />
titution vor ein paar Jahren legalisiert wurde, ist es offenbar<br />
immer noch kein Geschäft wie jedes andere – das merkt man<br />
der Argumentation der Bordellbetreiber an. Sie kommen dann<br />
fast ein bisschen wie die Heilsarmee daher und legitimieren<br />
den Fakt, dass sie an Frauen verdienen, die sexuelle <strong>Die</strong>nstleistungen<br />
verkaufen, damit, dass sie den Frauen wenigstens<br />
angenehme Arbeitsbedingungen bieten würden.<br />
In einem anderen Fall geht es um ein Bordell, das es eigent-<br />
lich gar nicht geben dürfte. Doch obwohl jeder sieht, was in dies-<br />
em Haus vorgeht, gelingt es dem Besitzer immer wieder, mit<br />
Hilfe spitzfindiger Ausreden die drohende Schließung abzuwenden.<br />
Hierin liegt dann doch viel komisches Potential.<br />
Christian Weise: Wie die Leute sich rausreden, das ist<br />
interessant für uns. Denn trotz des im Stück verhängten<br />
Verbots, weiterhin Bordelle zu betreiben, geschieht natürlich<br />
genau das. Schließlich müssen die Puffmutter und ihr<br />
Zuhälter ja auch von irgendetwas leben, und ihre Kunden und<br />
Geschäftspartner wollen auch nicht auf ihren Spaß verzichten.<br />
Not macht erfinderisch. Immerhin steht das Milieu zu<br />
seinem Gewerbe – anders als der Herzog, der sich aus der<br />
Verantwortung stiehlt, oder des Herzogs Stellvertreter. Denn<br />
kaum ist der im Amt, und kaum läuft ihm eine junge Frau<br />
über den Weg, die er begehrt, benutzt er seine neu gewonnene<br />
Macht dazu, sie ins Bett zu kriegen.<br />
Auch das soll heute ja immer mal wieder vorkommen<br />
und ist natürlich auch ziemlich schrecklich – zugleich aber<br />
auch Stoff für eine große Komödie. Und die wollen wir gern<br />
erzählen.<br />
Maß für Maß<br />
von William Shakespeare<br />
in einer Neuübertragung von Paul Brodowsky<br />
Regie: Christian Weise, Raum: Jo Schramm,<br />
Kostüme: Andy Besuch, Musik: Jens Dohle,<br />
Dramaturgie: Christian Holtzhauer<br />
Mit: Sebastián Arranz, Johannes Benecke,<br />
Toni Jessen, Martin Leutgeb, Lotte Ohm,<br />
Elmar Roloff, Lukas Rüppel, Michael Stiller,<br />
Holger Stockhaus, Catherine Stoyan sowie<br />
Jens Dohle, Falk Effenberger und Steffen Illner<br />
Uraufführung der Neuübertragung<br />
am 26. November 2011, 19.30h,<br />
ArENA (Türlenstraße 2)<br />
Vorstellungen nur bis 31. Dezember 2011<br />
8 <strong>Das</strong> <strong>Journal</strong> Nov. Dez. 2011 / Jan. 2012<br />
9
<strong>Die</strong> Hollywood-Schauspielerin Natalie Portman<br />
gewann im Frühjahr 2011 den begehrten Oscar für<br />
ihre Darstellung einer psychisch kranken Ballett-<br />
tänzerin, die an der Doppelrolle des weißen /<br />
schwarzen Schwans in dem berühmten Ballettklassiker<br />
Schwanensee zugrunde geht. Der Film<br />
hat einen Sturm der Entrüstung in der Ballettwelt<br />
ausgelöst, denn “Black Swan” ist eher ein Horror-<br />
Film als eine realistische Darstellung des Tänzer-<br />
Alltags. Dennoch liegt der Geschichte eine der<br />
interessantesten – und durchaus schizophrenen<br />
– Rollen zugrunde, die das klassische Ballett einer<br />
Tänzerin zu bieten hat: In ein und demselben<br />
Ballett verkörpert sie eine keusche, unschuldige<br />
Prinzessin sowie eine diabolische Verführerin, eine<br />
„Femme fatale“ in Federn.<br />
Versucht man, diese Figuren zu entschlüsseln,<br />
bleiben sowohl Odette, der weiße Schwan als auch<br />
Odile, der schwarze Schwan, äußerst enigmatisch;<br />
hauptsächlich deshalb, weil wir so wenig über sie<br />
wissen. <strong>Die</strong>s liegt zum Teil daran, dass bis heute<br />
unklar ist, auf welcher Legende, Märchen oder Sage<br />
die Handlung basiert. Einige Tanzwissenschaftler<br />
gehen davon aus, dass die Handlung auf Motive aus<br />
Johann Karl August Musäus‘ Märchen “Der geraubte<br />
Schleier” (veröffentlicht in “Volksmärchen<br />
der Deutschen”, 1782-86) zurückgeht, in dem von<br />
einem Schwanenteich die Rede ist. Andere vermuten<br />
eine Inspiration in Grimms “<strong>Die</strong> sechs<br />
Schwäne”, wobei dort die verzauberten Schwäne<br />
männlich sind. Auch ist unklar, wer der Autor des<br />
ursprünglichen Librettos war: auf dem zur Uraufführung<br />
in Moskau gedruckten Manuskript von<br />
1877 – erst in den 1950er Jahren wieder aufgefunden<br />
– ist kein Verfasser angegeben.<br />
<strong>Die</strong>se Ungewissheit wirft viele Fragen auf. So hat<br />
Odette anscheinend weder Eltern noch Geschwister;<br />
man weiß nicht, warum der Zauberer Rothbart<br />
sie gefangen genommen hat und in einen Schwan<br />
verwandelte. Bei Odile verhält es sich ähnlich. In<br />
manchen Fassungen des Balletts ist sie die Tochter<br />
Rothbarts; in anderen ist sie ein Dämon, den<br />
Rothbart einspannt, um den ahnungslosen Prinzen<br />
ins Verderben zu führen. Anderseits erlaubt just<br />
diese Unklarheit Choreographen und vor allem<br />
Tänzerinnen, die Odette/Odile tanzen dürfen, viel<br />
03. • Schwanensee 03.<br />
Freiheit in der Gestaltung bzw. Darstellung der<br />
Doppelrolle. <strong>Die</strong> Rolle ist insofern eine spannende<br />
Aufgabe für die Tänzerin, weil stilistisch gesehen<br />
Welten zwischen beiden Charakteren liegen. Der<br />
weiße Schwan erfordert langsame, elegante, gar<br />
elegische Bewegungen und Hebungen. Odette ist<br />
von Trauer und Leid durchdrungen; ihre anfängliche<br />
Scheu vor dem Prinzen basiert zum Teil darauf,<br />
dass sie eigentlich gar nicht daran glaubt,<br />
dass er treu sein wird. Odile hingegen ist eine<br />
selbstsichere Frau; ihre Bewegungen sind kantig,<br />
feurig und zugleich verführerisch. Sie zweifelt nie<br />
daran, dass sie Siegfried für sich gewinnen wird.<br />
<strong>Die</strong>se zwei Frauengestalten glaubwürdig zu verkörpern<br />
und innerhalb von Minuten die Körper-<br />
und Geisteshaltung (geschweige denn das Kostüm!)<br />
zu ändern, empfinden viele Tänzerinnen als<br />
große Herausforderung, zumal die meisten Tänzerinnen<br />
eine natürlich Veranlagung für den einen<br />
oder anderen Stil haben. <strong>Die</strong> berühmte russische<br />
Ballerina Natalia Makarova, eine sehr lyrische<br />
Tänzerin, beschrieb ihre Auseinandersetzung mit<br />
der Rolle der Odile wie folgt: „Für mich war Odile<br />
Femme<br />
fatale<br />
in Federn<br />
Über schwarze und weiße<br />
Schwäne und John Crankos unschuldig<br />
schuldigen Prinzen<br />
wie eine Glaswand, über die ich permanent zu<br />
krabbeln versuchte und mir jedes Mal blutige<br />
Hände holte.“<br />
Betrachtet man diese Doppelrolle aus tanzhistorischer<br />
Sicht, könnte man sagen, dass Odette und<br />
Odile enge Verwandte der Heldinnen sind, die von<br />
1832 an mit der Uraufführung von La Sylphide in<br />
Paris, über das zaristische Ballett in St. Petersburg<br />
und Moskau, bis zur Jahrhundertwende die Ballett-<br />
bühne dominierten. In La Sylphide muss der Bauernjunge<br />
James sich entscheiden zwischen der<br />
ätherischen, reinen Sylphide – ein Kind der Lüfte<br />
und des Waldes – und seiner äußerst irdischen<br />
Verlobten Effie, einer soliden Bäuerin, die ihm viele<br />
Kinder und genauso viel Langeweile verspricht.<br />
James entscheidet sich für die Sylphide; bei seiner<br />
ersten Berührung jedoch stirbt sie: <strong>Die</strong> Sylphide<br />
ist nicht für sein körperliches Besitzergreifen bestimmt.<br />
Effie heiratet einen Anderen; James bleibt<br />
alleine und gebrochen zurück.<br />
1841 betritt eine neue Frauengestalt die Bühne:<br />
Giselle. Hier verschmilzt die menschliche Figur mit<br />
der überirdischen. Giselle ist ein Bauernmädchen,<br />
Alicia Amatriain, Erste Solistin des <strong>Stuttgart</strong>er Balletts, als schwarzer und weißer Schwan, fotografisch interpretiert von Sébastien Galtier.<br />
das nach seinem Tod – ausgelöst durch den Verrat<br />
ihres Liebhabers Albrecht – in eine Wili verwandelt<br />
wird: Ein dämonisches Wesen der Nacht, das<br />
Männer aus Rachsucht zu Tode tanzt, angefeuert<br />
von ihrer unerbittlichen Anführerin, der männerhassenden<br />
und -mordenden Myrtha. Albrecht, der<br />
adlige Held, verursacht – genauso wie James – den<br />
Tod seiner Geliebten aus purem Egoismus und<br />
dem Wunsch, seinem Alltag zu entkommen: Er<br />
möchte das schöne Bauermädchen Giselle verführen<br />
und lässt sie glauben, er würde sie heiraten,<br />
obwohl er einer anderen – adligen – Frau schon<br />
versprochen ist. Giselle verliert über seinen Verrat<br />
den Verstand, stirbt und ist dazu verdammt – wie<br />
alle anderen Wilis, also Mädchen, die vor ihrer<br />
Hochzeitsnacht von ihrem Verlobten oder Liebhaber<br />
sitzen gelassen wurden, – auch Myrthas<br />
“Armee” anzugehören. <strong>Die</strong>smal aber wird der Held<br />
erlöst: Giselle vergibt Albrecht seine Verlogenheit<br />
und widersetzt sich Myrthas Befehl, ihren einstigen<br />
Liebhaber zu Tode zu tanzen. Kurzum, Giselles<br />
Liebe für Albrecht überlebt und überwindet selbst<br />
den Tod.<br />
Mit der Rolle Odette/Odile wird ein weiterer<br />
Schritt getan: Odette muss nicht sterben, um sich<br />
in ein überirdisches Wesen zu verwandeln, sie<br />
wird im lebendigen Leib verwandelt: Ihre Seele<br />
und ihr Geist sind in dem Körper eines Schwans<br />
gefangen. Nachts nimmt sie ihre menschliche<br />
Gestalt an und hat somit eine Chance, dem rettenden<br />
Prinzen, der sie durch seine Treue befreien<br />
kann, zu begegnen. <strong>Die</strong> Rolle der Myrtha fällt weg:<br />
Odette selbst ist die Anführerin von 24 Schwanenmädchen.<br />
Scheitert Odette daran, einen treuen<br />
Prinzen zu finden, so sind alle anderen Mädchen<br />
auch verdammt, auf immer und ewig Schwäne zu<br />
bleiben oder zumindest so lange, bis sich der Rich-<br />
tige findet. Interessanterweise sind hier die Schwäne<br />
– im Gegensatz zu den kapriziösen Sylphiden<br />
und vor allem den mordenden Wilis – die Unschuldigen;<br />
für Siegfried lauert die Gefahr ganz woanders,<br />
nämlich nicht in der abgeschiedenen, mondüberfluteten<br />
Waldlichtung, wo er zum ersten Mal<br />
auf Odette trifft, sondern im grellen Lichte seines<br />
eigenen Festsaals. Dort begegnet er Odile, verfällt<br />
ihren gefährlichen Reizen und bricht somit seinen<br />
Schwur der ewigen Treue an Odette. Eigentlich<br />
sind beide Frauen nichts anderes als eine Projektionsfläche<br />
für Siegfrieds Sehnsüchte: In den keuschen,<br />
unschuldigen weißen Schwan verliebt er<br />
sich, insgeheim aber sehnt er sich auch nach dem<br />
erotischen schwarzen Schwan und zwar so sehr,<br />
dass er dem unrealistischen Glauben verfällt, es<br />
sei ein und dieselbe Frau.<br />
Damit lässt Schwanensee die Romantik von La<br />
Sylphide und Giselle sowie sogar auch das zaristische<br />
Ballett à la Dornröschen und Nussknacker<br />
hinter sich und führt das Ballett an die Schwelle<br />
zum 20. Jahrhundert. Denn Siegfried ist ein Prinz<br />
aus Fleisch und Blut, einer, der seiner herrschsüchtigen<br />
Mutter mitsamt ihrem starren Hofstaat<br />
trotzt und sich davor sträubt, seine Pflicht als<br />
Thronfolger kleinlaut anzunehmen, wie andere es<br />
ihm vorschreiben.<br />
All dies hat der geniale Choreograph John<br />
Cranko erkannt und legte intelligenterweise den<br />
Schwerpunkt seiner 1963 für das <strong>Stuttgart</strong>er Ballett<br />
geschaffenen Fassung auf Siegfried und seine<br />
fatale Entscheidung. Cranko lässt ihn prüfen und<br />
Siegfried versagt; folgerichtig bezahlt Crankos<br />
Held seinen Irrtum mit seinem Leben. Der Choreograph<br />
entschied sich somit gegen das gängige<br />
Happy End, das bis dahin weltweit zu sehen war.<br />
Insofern war John Cranko den Filmemachern von<br />
„Black Swan“ schon einen Schritt voraus, denn am<br />
Ende des Films haben auch die dunklen Mächte<br />
die Oberhand gewonnen und die Protagonistin<br />
stirbt. Vivien Arnold<br />
John Crankos Schwanensee<br />
beim <strong>Stuttgart</strong>er Ballett<br />
Im Opernhaus am 1., 4., 8., 10., 11., 16., 23.,<br />
29., 30. Dezember 2011<br />
sowie am 2. Januar 2012.<br />
Gala Vorstellung am 31. Dezember<br />
mit Polina Semionova vom Staatsballett<br />
Berlin als Gast.<br />
10 <strong>Das</strong> <strong>Journal</strong> Nov. Dez. 2011 / Jan. 2012<br />
11
Foto: Tania Niemann<br />
Eine Frau<br />
zwischen<br />
den Welten<br />
»Ich will dem Publikum nicht zeigen,<br />
was es denken soll, ich möchte<br />
Freiräume schaffen.« Ein Portrait der<br />
Sängerin Catherine Naglestad<br />
Eine Frau zwischen den Welten – die Sopranistin Catherine<br />
Naglestad, international gefeiert und eng verbunden mit der<br />
<strong>Stuttgart</strong>er Oper, deren Inszenierungen sie über Jahre hinweg<br />
prägte wie kaum eine andere Sängerin. Wie sie auf der Bühne<br />
Figuren erschafft, die in einer seltsam eindeutigen Uneindeutigkeit<br />
dem Zuschauenden und -hörenden in jedem Augenblick<br />
Ahnungen von Räumen, Zuständen und Verfassungen<br />
jenseits klarer Definitionen und Fassbarkeiten vermitteln, gehört<br />
zum Faszinosum dieser Künstlerin. Ab dem 9. Dezember<br />
ist sie nun wieder in <strong>Stuttgart</strong> zu hören, mit der Titelpartie in<br />
Bellinis Norma, der Partie, mit der sie 2006 zuletzt hier auf der<br />
Bühne stand.<br />
Ein Leben zwischen verschiedenen Welten scheint Catherine<br />
Naglestad biografisch und sängerisch in die Wiege gelegt zu<br />
sein. „Ich passe nicht wirklich in ein Fach, immer schon“, kom-<br />
mentiert sie ihre erstaunliche sängerische Wand lungsfähigkeit,<br />
die sie über Jahre hinweg sowohl Händel und Mozart<br />
als auch Verdi und Puccini singen ließ – „ich brauche solche<br />
Wechsel.“ Wer in <strong>Stuttgart</strong> ihre Poppea, Alcina, Alceste, Fiordiligi<br />
(Così fan tutte), Vitellia (La clemenza di Tito) oder Konstanze<br />
und zugleich ihre Elisabetta (Don Carlo), Leonora (Il trovatore),<br />
Violetta, Norma, Musetta oder Tosca gehört hat, konnte erleben,<br />
wie ihre immer unverwechselbare Stimme sich diesen<br />
unterschiedlichen Stilrichtungen und Fächern anverwandelte<br />
und die Gestalt der jeweiligen Partie durchdrang und erfüllte.<br />
<strong>Die</strong>se Wandelbarkeit schließt Entwicklung mit ein, in den<br />
vergangenen Jahren bewegt sich Catherine Naglestad nicht<br />
Catherine Naglestad<br />
04. • Catherine Naglestad<br />
mehr zwischen Händel und Puccini, sondern zwischen Puccini<br />
und Wagner, singt nun auch Elsa, Senta, Sieglinde und die<br />
Siegfried-Brünnhilde – „ich bin froh, dass der Schritt zu Wagner<br />
geklappt hat, doch es war richtig, so lange darauf zu warten“.<br />
Der stimmliche Wechsel von Händel zu Puccini, oder eben von<br />
Bellini zu Wagner, erfordert jedesmal Zeit und Umstellung.<br />
Zugleich ist dieses große Spektrum verschiedener Partien an<br />
jedem Abend, den Catherine Naglestad singt, zu hören, in dem<br />
fast unbegrenzten Reichtum an Farben und Atmosphären,<br />
über die ihre Stimme scheinbar so mühelos verfügt. In ihrer<br />
nuancierten Gestaltung, die jedem Ton einen eigenen Ausdruck,<br />
jedem Bogen eine eigene musikalische Stimmung gibt,<br />
erscheint die Partie neu, wird das Gesungene zur einzigartigen<br />
Aussage der jeweiligen Figur selbst.<br />
Erlebt man Catherine Naglestad auf der Opernbühne, ist<br />
ihr Gesang untrennbar verbunden mit ihrem Spiel – und auch<br />
hier begegnet einem ein faszinierender Facettenreichtum der<br />
Gestaltung. Beschreiben lässt sich ihr Spiel am ehesten im<br />
antagonistischen „Dazwischen“ – als eine nie nachlassende<br />
Präsenz, die immer auch etwas zurückhält, als ein Zeigen und<br />
Verstecken zugleich. Catherine Naglestad nimmt die Bühne<br />
ganz und gibt sich ihr vollkommen hin. Dabei scheint jede<br />
Geste natürlich, obgleich doch deutlich wird, dass nichts davon<br />
zufällig ist. <strong>Die</strong>s wiederum verbindet sich mit einer Ruhe, Anmut<br />
und Würde, die auch im Kleinsten noch eine ungeheure<br />
Intensität zu entwickeln vermag. Und so kann es sein, dass es<br />
nur ein Gang ist, eine Bewegung mit dem Kopf, der einen zuschauend<br />
zu Tränen rührt. Mit ihrer ganzen Persönlichkeit ist<br />
Catherine Naglestad auf der Bühne und erschafft so, mit sich<br />
und ihrer Stimme, eine neue Figur, die, erkämpft, gelebt und<br />
durchlitten, ein eigenes Bühnenleben von unmittelbarer Authentizität<br />
bekommt. <strong>Das</strong>s das auch sie selbst packt, sie nach<br />
einer Vorstellung nicht einfach nach Hause geht und an den<br />
nächsten Tag denkt, gehört dazu: „Ich wünschte, ich könnte<br />
es. Aber ich bin geschafft und kaputt, ich weine. Es ist ja sehr<br />
emotional, man gibt so viel von sich her.“ Zugleich wird eine in<br />
dieser Weise durchdrungene Rolle, Partie, Figur so nah und ver-<br />
traut wie ein „zu Hause“ – so formuliert es Catherine Naglestad<br />
einmal –, zu dem man sich immer wieder freut, zurückzukehren.<br />
Doch was möchte sie mit ihrer Kunst vermitteln? „Daran<br />
denke ich eigentlich gar nicht“. Was sie auf keinen Fall möchte,<br />
ist belehren – „ich will dem Publikum nicht zeigen, was es<br />
denken soll.“ Ihr Wunsch ist es, „einen Freiraum zu schaffen, in<br />
dem Leute ein karthatisches, läuterndes Erlebnis haben, weinen<br />
oder lachen, ihren Emotionen freien Lauf lassen können.<br />
Denn dafür“, so Catherine Naglestad, „ist heute oft zu wenig<br />
Platz.“ Ein wichtiges Moment ist für sie dabei die ästhetische<br />
Kategorie der „Schönheit“ als Voraussetz ung dafür, etwas, was<br />
man sieht und hört überhaupt direkt an sich heranzulassen,<br />
auch ohne die Zwischenstufe des Intellekts –, „darüber haben<br />
wir in <strong>Stuttgart</strong> viel diskutiert“, erinnert sie sich lachend. „Aber<br />
es ist gut, dass es unterschiedliche Inszenierungen gibt, die<br />
Leute sind eben verschieden.“<br />
Sie selbst erlebt solche hochemotionalen – sie spricht von<br />
„transzendenten“ – Momenten selten in Vorstellungen, viel eher<br />
in Proben, „oder am Klavier, wenn man etwas neu entdeckt.<br />
Aber ich denke, das kommt dann auch in der Vorstellung<br />
durch.“ Und dann erinnert sich Catherine Naglestad doch an<br />
zwei Situationen, wo es sie auch am Abend auf der Bühne<br />
überwältigte: die letzte Alcina-Vorstellung, die sie mit Alice<br />
Coote als Ruggiero sang. Und ihre damals letzte Norma-<br />
Vorstellung in <strong>Stuttgart</strong> im April 2006: „Als ich mich in der<br />
Schlussszene umdrehte und all die Chorsänger sah, von denen<br />
viele schon bei meinen ersten Vorstellungen in <strong>Stuttgart</strong> dabei<br />
waren, da habe ich geweint. Aber eine Norma darf auch weinen!“<br />
Catherine Naglestad steht nicht nur als Sängerin ständig<br />
zwischen verschiedenen Polen, ist in verschiedenen Stimmfächern<br />
und Rollen auf der Bühne, auch in ihrem sonstigen<br />
Leben bewegt sie sich von klein auf zwischen verschiedenen<br />
Welten. Geboren wurde sie in San José, Kalifornien, lebte dann<br />
auch auf Hawaii, wo sie schon früh das kulturelle und soziale<br />
Mit- und Nebeneinander der polynesischen, asiatischen und<br />
amerikanischen Einwohner erlebte. Zur Schule ging sie jedoch<br />
in Kalifornien – „ich war immer unterwegs“. Gesungen hat sie<br />
„schon immer“ und wusste bald, dass sie das auch beruflich<br />
gerne machen würde – beim Musical. „Oper hatte ich ein paar<br />
Mal im Fernsehen gesehen, aber ehrlich gesagt, das fand ich<br />
todlangweilig.“ Da sie bei Freunden, die beim Musical arbeiteten,<br />
mitbekam, mit welchen Stimmschwierigkeiten diese oft<br />
bereits nach kurzer Zeit zu kämpfen hatten, wollte sie eine solide<br />
Ausbildung – „ok, dann muss ich studieren“. Wenig später<br />
sah sie zufällig die La-traviata-Verfilmung von Franco Zeffirelli<br />
und war hingerissen: „Soviel Leidenschaft und Drama. Es geht<br />
bei Oper also doch um eine Geschichte!“ Nach diesem Erlebnis<br />
konzentrierte sie sich in ihrem Studium fortan auf Oper. Und<br />
das Musical? „<strong>Das</strong> mag ich immer noch gern, ab und zu höre<br />
ich Musical im Radio und singe mit.“<br />
Nach ihrem Studium in San Francisco reiste sie nach Italien,<br />
um weiter Unterricht zu nehmen. Dort wurde sie krank, eine<br />
Lungenentzündung, die sie letztlich zwang, für ganze zwei Jahre<br />
mit dem Singen zu pausieren. Einen Wiedereinstieg fand sie<br />
im Chor der Los Angeles Opera, wo sie zwei Jahre als Choris-<br />
tin beschäftigt war. „Es hat mir Spaß gemacht, ich habe diese<br />
Zeit genossen“, erzählt sie von diesen Anfängen ihres Sängerlebens.<br />
Über ein Vorsingen dort im Theater kam sie schließlich,<br />
auch dank Pamela Rosenberg und Johannes Schaaf, nach<br />
Europa. Als erstes sang sie an der Hamburgischen Staatsoper<br />
die Konstanze in Schaafs Inszenierung von Mozarts Entführung<br />
aus dem Serail, einen Vertrag für Produktionen in <strong>Stuttgart</strong><br />
hatte sie da bereits in der Tasche. Nach einigen Gastengagements<br />
kam sie 1997 fest ins Ensemble: „Ich war so dankbar<br />
und glücklich, endlich an einem Platz bleiben zu können. Ich<br />
reise so ungern.“ Froh ist sie auch über das große Repertoire,<br />
das sie sich in <strong>Stuttgart</strong> mit den vielen Produktionen, die sie<br />
am Haus sang, erarbeiten konnte – etwas, was ihr bis dahin<br />
fehlte, „denn ich habe ja spät angefangen, hatte keinen so<br />
direkten Weg.“<br />
Eine wichtige Konstante während ihrer Jahre hier am Haus<br />
war die Zusammenarbeit mit Jossi Wieler und Sergio Morabito.<br />
<strong>Die</strong>se begann bereits 1994 mit der Neuproduktion von Mozarts<br />
La clemenza di Tito, wo Catherine Naglestad die Vitellia sang.<br />
Es war nicht nur für sie eine ihrer ersten Arbeiten in <strong>Stuttgart</strong>,<br />
es war auch Jossi Wielers und Sergio Morabitos erste gemeinsame<br />
Opernarbeit. „Am Anfang habe ich sie nicht sofort<br />
verstanden“, erinnert sich Catherine Naglestad, „aber irgendwann<br />
machte es ‚klick’, und dann ging es super“. <strong>Das</strong> heißt jedoch<br />
nicht, betont sie, dass Sängerin und Regisseure immer<br />
einer Meinung waren. „Aber wir konnten sehr gut diskutieren<br />
und eine Lösung finden.“ Entscheidend war für sie, dass sie<br />
sich bei Jossi Wieler und Sergio Morabito von Grund auf respektiert<br />
fühlte, nicht „nur die dumme Sängerin“ war. Umgekehrt<br />
kämpfte Catherine Naglestad manches Mal mit sich, um<br />
sich dem zu öffnen, was die Regisseure von ihr verlangten – in<br />
der Norma etwa, den ganzen Abend mit einer Leiche auf der<br />
Bühne zu spielen. „<strong>Das</strong> war schwer für mich. Wir haben in den<br />
Proben alles mögliche versucht, und irgendwann dachte ich<br />
dann ‚Augen zu und durch’“. <strong>Die</strong>ses Problem ist längst überwunden,<br />
sie liebt die Partie und die Inszenierung, auch sie ist<br />
ihr ein „zu Hause“ geworden. <strong>Das</strong> bedeutet jedoch nicht, dass<br />
das Vertraute nicht mehr neu wäre – gerade jetzt nach all den<br />
Jahren, wo sie so viele andere Dinge gesungen, sich stimmlich<br />
weiter entwickelt hat, „das muss jetzt auch musikalisch neu<br />
werden.“ Besonders freut sie sich, mit Marina Prudenskaja<br />
Catherine Naglestad in der Titelpartie von Norma<br />
eine Adalgisa an ihrer Seite zu haben, mit der sie in der Norma<br />
noch nicht gespielt hat, denn, „so eine Beziehung auf der Bühne<br />
ist immer spannend und neu, es kann da auch etwas ganz<br />
anderes daraus entstehen.“ <strong>Die</strong>se Neugierde und Freude auf<br />
neue Kollegen auf der Bühne, dieses Denken im Ensemble,<br />
spürt man bei Catherine Naglestad auch während einer Vorstellung,<br />
wo ihr Spiel und ihr Gesang immer in einer lebendigen<br />
Beziehung zu ihren Partnern steht.<br />
2003 hat sie ihren festen Vertrag in <strong>Stuttgart</strong> nicht verlängert<br />
und war fortan nur noch als Gast hier am Haus zu hören, „ich<br />
hatte so viele spannende Angebote, da habe ich den Sprung gewagt.“<br />
Seitdem war und ist sie viel unterwegs, sang etwa in<br />
Covent Garden, der Opéra Bastille und dem Palais Garnier in<br />
Paris, an der Wiener Staatsoper, bei den Salzburger und Bregenzer<br />
Festspielen, um nur einige wenige Stationen zu nennen.<br />
Doch lebt sie nach wie vor in der Nähe von <strong>Stuttgart</strong>, „ich habe<br />
hier nun länger gewohnt als an irgendeinem Ort zuvor.“<br />
<strong>Das</strong> hätte sie sich damals, als sie für ihre ersten Engagements<br />
nach Deutschland kam, nicht vorstellen können – der<br />
Anfang war schwer, „alles war anders, ich hatte furchtbar<br />
Heimweh. Und es gab kein skype, die Flüge waren teuer, so<br />
dass mich meine Freunde nicht besuchen konnten.“ Dennoch<br />
blieb sie – „künstlerisch passe ich besser nach Europa“, stellt sie<br />
heute fest. So ist sie nun wieder zwischen den Welten, fühlt<br />
sich inzwischen, wie sie sagt, weder als Amerikanerin noch als<br />
Europäerin. <strong>Das</strong>s das große Vorteile hat, sie auf diese Weise<br />
einen weiteren Blick auf die Welt hat, sieht sie durchaus. Zugleich<br />
fühlt sie sich oft „lost in translation“, sieht die vielen<br />
Vorurteile und Voreingenommenheiten, die gegenseitigen<br />
Verständnisschwierigkeiten und fühlt sich hilflos und frustriert<br />
angesichts ihrer geringen Möglichkeiten zu vermitteln. „Man<br />
braucht eine innere Stabilität, wenn man keine wirkliche Heimat<br />
mehr hat.“ Und man braucht Orte und Dinge jenseits eines<br />
bestimmten Landes, bei denen man sich zu Hause fühlen<br />
kann. Für die Sängerin Catherine Naglestad sind das Opernpartien,<br />
die ihr liegen und die sie oft gesungen hat – etwa die<br />
Tosca, „da habe ich immer das Gefühl, ich bin zu Hause.“<br />
Wieder an der Oper <strong>Stuttgart</strong> zu singen, ist auch ein solches<br />
Nach-Hause-Kommen. „Neulich war ich wieder hier in<br />
der Oper, war auf der Bühne und habe die Techniker gesehen,<br />
die ich zum Teil noch kenne, und habe mich so gefreut, wieder<br />
hier zu singen.“ Wie es bei einer Heimkehr nach längerer Zeit<br />
so ist, geht es auch hier nicht ohne eine gewisse Aufregung –<br />
„ich hoffe, dass die Leute nicht enttäuscht sind.“<br />
Und dann gibt es natürlich ihr Zuhause bei <strong>Stuttgart</strong>, wo<br />
sie mit ihrem Mann lebt. Dort genießt sie es, draußen zu sein,<br />
endlich einmal nicht in der Stadt, wo sie sonst doch so viel in<br />
Städten unterwegs ist. Dann fährt sie Fahrrad, über die Felder,<br />
und arbeitet im Garten, sommers wie winters. „I love to dig<br />
deep in the dirt – ich liebe es, tief in der Erde zu graben,“ lacht<br />
Catherine Naglestad, und findet so vielleicht Grund in ihrem<br />
Leben zwischen den Welten.<br />
Angela Beuerle<br />
Norma<br />
Dezember 2011<br />
Wiederaufnahme 09.12. / 14.12. / 17.12.<br />
März 2012<br />
17.03. / 23.03. / 26.03.<br />
April 2012<br />
03.04. / 05.04. / 09.04.<br />
12 <strong>Das</strong> <strong>Journal</strong> Nov. Dez. 2011 / Jan. 2012<br />
13<br />
Foto: A.T. Schaefer
Tadeusz Matacz absolvierte seine Ballettausbildung und eine<br />
pädagogische Ausbildung an der staatlichen Ballettschule in<br />
seiner Heimatstadt Warschau (Polen) und erhielt dort sein<br />
erstes Engagement als Tänzer im Teatr Wielki (dem „Großen<br />
Theater“). Nach Deutschland kam er 1984, zunächst als Solotänzer,<br />
später als Trainingsleiter, Ballettmeister und Choreograph<br />
am Badischen <strong>Staatstheater</strong> in Karlsruhe. Er arbeitete<br />
als Gast häufig beim Ballett Frankfurt, dem Toulouse Ballet,<br />
am Großen Theater in Warschau und auch beim <strong>Stuttgart</strong>er<br />
Ballett. 1999 folgte er der Einladung des <strong>Stuttgart</strong>er Ballettintendanten<br />
Reid Anderson, die Leitung der John Cranko Schule<br />
zu übernehmen. Tadeusz Matacz reist regelmäßig als Juror zu<br />
den renommiertesten internationalen Ballettwettbewerben.<br />
05. • 40 Jahre John Cranko Schule 05.<br />
„Wir ernten nun<br />
die Früchte<br />
unserer Arbeit“<br />
Interview mit Ballettschuldirektor Tadeusz Matacz<br />
zum 40. Jubiläum der John Cranko Schule<br />
Lieber Herr Matacz, als Sie 1999 die Leitung der John<br />
Cranko Schule übernahmen, was waren da die größten<br />
Herausforderungen für Sie?<br />
<strong>Die</strong> größte Herausforderung für mich persönlich war, von<br />
jetzt auf gleich eine so komplexe Institution zu managen.<br />
Mein eigener Lehrer Leonid Zhdanov hat mir damals sehr<br />
geholfen, auch mit strategischen Tipps. Und zum Glück<br />
hatte ich von Anfang an volle Rückendeckung. Ich erinnere<br />
mich, nach meiner ersten Woche hier bin ich mit einer<br />
langen Liste von Fragen zu Ballettintendant Reid Anderson<br />
gegangen, und habe gefragt: „Was soll ich machen?“ Er hat<br />
mich angeguckt und gesagt: „Es ist Deine Schule. Mach, was<br />
Du für richtig hältst.“ Und das ist bis heute so, ich genieße<br />
hier großes Vertrauen. Aber ich weiß, Reid ist immer für<br />
mich da und unterstützt mich.<br />
<strong>Die</strong> John Cranko Schule war 1971 die erste Staatliche<br />
Ballettschule im damaligen Westdeutschland. Ist das mit<br />
besonderen Ansprüchen an Ihre Institution verbunden?<br />
Ja, natürlich fühlen wir den Auftrag, als Staatliche Ballettschule<br />
besonders professionell zu arbeiten. Auch Schüler und<br />
Eltern treten oft mit sehr hohen Ansprüchen an uns heran. Sie<br />
denken, man könne aus jedem einen Tänzer machen, nach<br />
dem Motto: Bezahle eine gute Schule, und du wirst schon in<br />
dem Beruf unterkommen. Ich finde ganz grundsätzlich auch:<br />
Jeder soll tanzen, ohne Frage. Aber um Ballett-Profi zu werden,<br />
da braucht es ganz bestimmte körperliche und geistige<br />
Voraussetzungen, unbedingt! Mein Auftrag vom <strong>Stuttgart</strong>er<br />
Ballett, von der Stadt <strong>Stuttgart</strong> und auch vom Land Baden-<br />
Württemberg ist nicht Quantität, sondern Qualität zu schaffen.<br />
Ich möchte hier nur solche Schüler ausbilden, die auf dem<br />
Markt auch eine echte Chance haben.<br />
Sie reisen als Jurymitglied zu vielen Tanzwettbewerben<br />
und Schulfestivals um die ganze Welt. Wie locken Sie<br />
dort entdeckte Talente nach <strong>Stuttgart</strong>?<br />
Eigentlich ist der wichtigste Grund, der Talente hierher nach<br />
<strong>Stuttgart</strong> zieht, die sichtbare Einheit von der Compagnie des<br />
<strong>Stuttgart</strong>er Balletts und der John Cranko Schule. Viele bewundern<br />
das <strong>Stuttgart</strong>er Ballett aus der Ferne, es ist eine der Top-<br />
Adressen - und unsere Schule ist eben die Eintrittskarte. <strong>Das</strong><br />
ist ein sehr starkes Argument! Natürlich bieten wir eine gute<br />
Ausbildung, haben exzellente Pädagogen und einen guten<br />
Ruf. <strong>Die</strong> meisten Schüler fühlen sich, glaube ich, auch wohl<br />
bei uns, wir sind ja so etwas wie eine Familie für viele. Den-<br />
noch, wenn Sie unsere Schule mit Tänzeraugen betrachten,<br />
steht am Ende immer die Entscheidung für die Compagnie.<br />
Wer Profitänzer werden will, sieht sich in allererster Linie auf<br />
der Bühne. Und jeder, der sich mit Ballett beschäftigt, weiß,<br />
auf welchem Niveau in <strong>Stuttgart</strong> getanzt wird.<br />
Wenn es darum geht, junge Talente nach <strong>Stuttgart</strong> zu bringen,<br />
ist im Übrigen die Unterstützung durch den Förderverein der<br />
<strong>Staatstheater</strong> <strong>Stuttgart</strong> absolut unverzichtbar für uns: <strong>Die</strong> Mittel<br />
werden als Stipendien für talentierte, bedürftige Kinder und<br />
Jugendliche eingesetzt und ebnen sowohl einigen deutschen<br />
Schülern als auch solchen, die von weit her zu uns kommen,<br />
den Weg - viele kommen wirklich aus sehr einfachen Verhältnissen<br />
und könnten sich den Schulbesuch allein nicht leisten.<br />
Erhalten denn alle Absolventen einen Vertrag beim<br />
<strong>Stuttgart</strong>er Ballett?<br />
Wir haben jährlich um die fünfzehn Absolventen, und natürlich<br />
können die nicht alle beim <strong>Stuttgart</strong>er Ballett unterkommen,<br />
aber fünf oder sechs sind es inzwischen doch jedes Jahr. Ich kann<br />
aber sagen: Alle unsere Absolventen finden, wenn sie wollen,<br />
einen Job als Tänzer, sei es in Hannover, Berlin, Amsterdam,<br />
München, Zürich oder irgendwo auf der Welt - die Schüler der<br />
John Cranko Schule sind sehr gefragt.<br />
Ist es denn so, dass gute Schüler um Plätze in guten<br />
Schulen konkurrieren ,oder eher umgekehrt?<br />
Wir sprechen in diesem Beruf von Auserwählten. Auf eine<br />
Million Menschen kommt einer oder eine, die dieses gewisse<br />
Etwas hat, das es für Ballett braucht. Es ist daher völlig klar:<br />
<strong>Die</strong> Schulen buhlen um begabten Nachwuchs. Bei vielen Wettbewerben,<br />
die ich besuche, füllen die Teilnehmer vorab einen<br />
Bogen aus, auf dem sie ihre Wunschorte angeben. Viele nennen<br />
Mailand, München, Hamburg, Berlin, Toronto, Melbourne oder<br />
New York. Häufig ist im Moment der erste Wunsch die Royal<br />
Ballet School in London, aber <strong>Stuttgart</strong> kommt spätestens<br />
an zweiter Stelle. Wir sind eine sehr attraktive Adresse für<br />
junge Tänzer.<br />
Gibt es in <strong>Stuttgart</strong> schon während der Ausbildung viele<br />
Kontakte zwischen Schülern und Tänzern?<br />
Spätestens in den Akademieklassen fördern wir diese Kontakte,<br />
indem die Schüler in der Compagnie aushelfen - das<br />
ermöglicht wichtige Bühnenerfahrung und ist ja auch die<br />
Grundidee! Wir würden die Nähe zwischen Compagnie und<br />
Schule gern noch mehr intensivieren, auch räumlich. Daher ja<br />
auch der große Wunsch für einen Neubau...<br />
Stehen Sie manchmal in Ihrem eigenen Schulgebäude<br />
und denken: „So geht das nicht mehr weiter“?<br />
Wenn ich das dächte, dann könnte ich noch heute meine Kündigung<br />
einreichen und nach Hause gehen. Aber ich bin Tänzer.<br />
Ich habe gelernt: Wenn Du eine Mickey-Mouse-Rolle gekriegt<br />
hast statt den Prinzen, dann musst Du das Beste daraus machen.<br />
Wegen dieser Einstellung existiert die Schule seit 40<br />
Jahren, mit großem Erfolg, auch ohne neue Räume. <strong>Das</strong>s alle<br />
wissen, dass wir uns irgendwie arrangieren, macht es natürlich<br />
nicht leichter, für einen Neubau zu argumentieren.<br />
Was ich sehe, ist eine riesige Gefahr für <strong>Stuttgart</strong>: Nämlich<br />
international nicht mehr konkurrenzfähig zu sein. <strong>Das</strong> kann<br />
sehr schnell gehen, die anderen Schulen rüsten alle auf, deren<br />
Säle, soziale Einrichtungen, Krafträume, Entspannungsräume<br />
und vor allen Dingen die Unterkünfte sind auf dem neuesten<br />
Stand. Im Moment stechen wir durch die außergewöhnlich gut<br />
funktionierende Verbindung zwischen Schule und Compagnie<br />
Links: Schüler der John Cranko Schule<br />
bei der Gala zum 50. Jubiläum des<br />
<strong>Stuttgart</strong>er Balletts im Februar 2011.<br />
Oben rechts: Aussenansicht der John<br />
Cranko Schule.<br />
Unten rechts: Porträt Tadeusz Matacz<br />
hervor, aber das sehen doch die anderen Schulen auch, und sie<br />
arbeiten daran. Ich habe wirklich Angst davor, dass die John<br />
Cranko Schule irgendwann einfach im Sande verläuft, weil man<br />
in der Ausstattung international den Anschluss verpasst hat.<br />
Welche Möglichkeiten böte ein Neubau, die Sie derzeit<br />
nicht haben? Was würde sich konkret im Alltag der<br />
Schüler verändern?<br />
In erster Linie könnten wir mehr Schüler aufnehmen. Im Moment<br />
müssen wir vielen Interessenten absagen, weil wir zu<br />
wenige Internatsplätze bzw. Akademieplätze haben. Viele talen-<br />
tierte Schüler pendeln aus anderen Städten zu uns, die können<br />
aber nicht ewig diese weiten Wege fahren, und wir verlieren<br />
sie deshalb. Bei Schülern aus dem Ausland fällt die Knappheit<br />
der Internatsplätze natürlich noch viel mehr ins Gewicht, unsere<br />
Schüler kommen aus 24 Nationen, die müssen wir irgendwie<br />
unterbringen. Jedes Jahr muss ich vielversprechenden jungen<br />
Tänzern deshalb absagen. Dazu kommt die Saalsituation: Wegen<br />
des immer häufigeren Nachmittagsunterrichts an den regu-<br />
lären Schulen kommen unsere Schüler inzwischen oft erst<br />
nach 16 Uhr zum Ballett, und dann alle gleichzeitig. Wir müssen<br />
Training und Proben in sehr wenig Zeit in den wenigen und kleinen<br />
Räumen unterbringen. So drängen sich die Kinder oder sie<br />
haben zu wenig Probenzeit. In einem Neubau würde uns und<br />
auch der Compagnie Probenraum zur Verfügung stehen bzw.<br />
uns allen eine Probebühne für kleine Auftritte. Und zwar zwei<br />
Minuten entfernt vom Theater, das wäre doch genial!<br />
<strong>Die</strong> John Cranko Schule feiert in diesem Jahr ihr 40. Jubiläum.<br />
Was sind die wichtigsten Errungenschaften der<br />
letzten 40 Jahre?<br />
Meines Erachtens ist unsere wichtigste Errungenschaft der<br />
Zustand, dass Schule und Compagnie konsequent an einem<br />
Strick ziehen. Grundgedanke ist, dass der Weg zu Professionalität<br />
nur durch eine Schule führt, die eng mit einer Compagnie<br />
verknüpft ist. Und ich wünsche mir, dass wir genau das aufrecht<br />
erhalten. <strong>Das</strong> besondere <strong>Stuttgart</strong>er Publikum verdient<br />
meiner Meinung nach auch, auf der Bühne Künstler zu erleben,<br />
die eine besondere Verbindung zu dieser Stadt und diesem<br />
Haus fühlen. Beschenkt fühle ich mich jedes Mal, wenn wir die<br />
Früchte unserer Arbeit ernten. Im Gespräch mit den Choreographen<br />
und Ballettmeistern zum Beispiel: <strong>Die</strong> können mit<br />
unseren Absolventen gut arbeiten, und darauf kommt es an.<br />
Oder bei einer der letzten Vorstellungen der Kameliendame, da<br />
waren fast nur Tänzer, die ich selbst als Kinder hierher geholt<br />
habe, auf der Bühne – rührend! Und wenn die Schule heute<br />
Erfolg hat, dann hat Reid Anderson einen riesigen Anteil daran.<br />
Er kennt doch die Schüler auch alle von klein auf, er ist bei<br />
jeder Prüfung, bei jeder Vorstellung dabei. Wir sind irgendwie<br />
beide stolze Väter oder inzwischen wohl eher stolze Opas.<br />
Am 25. November präsentieren Sie im Opernhaus eine<br />
große Gala zur Feier des 40. Jubiläums. Was erwartet<br />
Ihr Publikum da?<br />
<strong>Das</strong> etwa zweieinhalbstündige Programm zeigt ein breites<br />
Spektrum, von klassisch bis zeitgenössisch, und stellt die gesamte<br />
Schule vor. <strong>Das</strong> ist ungewöhnlich: Bei Galas zeigen Ballettschulen<br />
oft nur die allerbesten Schüler, wir möchten aber<br />
alle gemeinsam vorstellen. Beim ersten, klassischen Stück,<br />
Etüden, sind alle Schüler, inklusive vieler der Kleinen aus der<br />
Vorschule, auf der Bühne. Im Anschluss zeigen dann unsere<br />
Gäste von den Ballettschulen aus London, Paris, Hamburg<br />
und Toronto ihr Können. Außerdem tanzen zwei unserer eigenen<br />
Solisten zeitgenössische Choreographien. Zum Schluss<br />
gibt es dann den Karneval der Tiere, eine Choreographie unseres<br />
ehemaligen Schülers Demis Volpi.<br />
Ich bin unendlich stolz und glücklich, dass so viele Gäste<br />
von internationalen Ballettschulen meiner Einladung gefolgt<br />
sind. Wir befinden uns an diesem Abend also in allerbester<br />
Gesellschaft! Ich wünschte nur, wir hätten noch viel mehr<br />
einladen können, auch aus Moskau etwa oder St. Petersburg,<br />
aber das war diesmal aus logistischen Gründen schwierig.<br />
Vielleicht ja zum 50. Jubiläum...<br />
<strong>Das</strong> Interview führte Claudia Brüninghaus<br />
14 <strong>Das</strong> <strong>Journal</strong> Nov. Dez. 2011 / Jan. 2012<br />
15<br />
Foto: <strong>Stuttgart</strong>er Ballett.<br />
Foto: Verena Fischer.<br />
Foto: Ulrich Beuttenmüller.
Auf der Probebühne im markierten Bühnenbild der aktuellen Produktion „Der Balkon“<br />
06. • Cary Gayler<br />
Spiel<br />
und Denkräume<br />
entwerfen<br />
Ein Portrait der Bühnen-<br />
und Kostümbildnerin Cary Gayler<br />
von Beate Seidel<br />
Wenn ich Cary Gaylers Bühnenräume umreißen sollte,<br />
so fiele mir zuerst das Wort ‚Behauptung‘ dazu ein. <strong>Die</strong><br />
Orte, die sie für die jeweilige Inszenierungsvorlagen, ob<br />
Stück, Romanadaption oder Projekt entwirft, behaupten<br />
einen eigenen Kosmos. Es sind klare, niemals beliebige<br />
Räume, sie bieten Interpretationen an: Goethes „Faust“<br />
spielte bei Cary Gayler in der nachempfundenen Baden-<br />
Württembergischen Landesvertretung Berlin, in der ein<br />
größenwahnsinnig gewordener Bürgerchor sich das ‚faustische<br />
Prinzip‘ anzueignen suchte; Shakespeares „Hamlet“<br />
stellte sie in einen mit Erde angefüllten riesigen Schweinekoben,<br />
in den sich die SchauspielerInnen, in überdimensionierte<br />
Körperkostüme gepackt, hineinwühlen und der<br />
alles entscheidenden Frage nach „Sein oder Nichtsein“<br />
nachgehen konnten. Gorkis „Nachtasyl“ fand vor einer Riesenwahlplakatwand<br />
mit Kanzlerinnengesicht statt, an der<br />
die SpielerInnen mit artistischem Geschick emporklommen,<br />
abstürzten, sich festklammerten – allesamt hysterische<br />
Überlebensakrobaten. Den Revolutionsdiskurs „Marat/Sade“<br />
von Peter Weiss (am Deutschen Schauspielhaus<br />
in Hamburg) stellte sie in eine überdimensionale Hupfburg<br />
mit ALDI/LIDL-Emblematik, in der eine Armenarmee darum<br />
kämpfte, sicheren Boden unter die Füße zu bekommen.<br />
Und zuletzt in „Metropolis/The Monkey Wrench Gang“ planten<br />
vier nicht mehr ganz taufrische Ökorebellen in einer<br />
improvisierten Canyon-Landschaft mitten in der ARENA in<br />
der Türlenstraße den Aufstand, der im <strong>Stuttgart</strong>er Hauptbahnhof<br />
endete. Aber das ist nur ein Bruchteil der Inszenierungen,<br />
die Cary Gaylers Handschrift tragen.<br />
Es sind nicht nur Spiel-, sondern auch Denkräume, die sie<br />
eröffnet. Ihre Bühnen- und Kostümbilder sind nie kleintei-<br />
lig. Sie setzen Phantasien frei und fordern denen, die in ihnen<br />
agieren, etwas ab: z. B. körperliche Fitness – die Eskaladierwand<br />
mit Merkel-Bild ebenso wie die Canyon-Stufen, auf<br />
denen die ‚Schraubenschlüsselbande‘ den Unbilden der<br />
Moderne zu widerstehen versuchte. Ihre Entstehung ist an<br />
die Formulierung einer Konzeption gebunden. <strong>Das</strong> Unkonkrete,<br />
nur Atmosphärische ist Cary Gaylers Sache nicht.<br />
Würde Cary Gayler eine Autobiographie schreiben wollen<br />
– ihr beruflicher Werdegang taugte darin für eine me-<br />
moirenkompatible Anekdote: Nach dem Abi zieht sie von<br />
Wuppertal los, um einen praktischen Beruf zu erlernen.<br />
Nur nicht wieder stundenlang sitzen und zuhören müssen,<br />
wie in der Schule! Sich den Aufnahmeexerzitien für ein<br />
Kunststudium zu unterziehen – dafür fehlt ihr noch der Mut.<br />
Später wird sie den nicht mehr nötig haben. Da hat sie ihren<br />
Beruf vor Ort, also am Theater, gelernt. 49 Bewerbungen<br />
für eine Ausbildung zur Bühnenmalerin/Theaterplastikerin<br />
schreibt sie. Eine Einzige wird positiv beantwortet. Aus<br />
Karlsruhe meldet sich der Ausstattungsleiter Heinz Balthes<br />
und engagiert sie – als Bühnenbildhospitantin. <strong>Die</strong> Weichen<br />
in Richtung Bühnenbild sind damit gestellt.<br />
Sie lernt ihren späteren Beruf ‚von der Pieke‘ auf. D.h.<br />
sie baut zunächst Bühnenbildmodelle und sammelt dabei<br />
Erfahrungen: In der Karlsruher Oper soll „Carmen“ gegeben<br />
werden. Ihr Chef beauftragt sie, die im Zentrum des<br />
Bühnenbildentwurfs stehende Brücke als Modell zu bauen,<br />
Maßstab 1:20, und fährt in den Urlaub. <strong>Die</strong> Konstruktion ist<br />
aufwendig. Drei Wochen schnitzt Cary Brückengeländerstäbe<br />
und qualifiziert sich in Sachen ‚Laubsägearbeiten‘.<br />
Dann kehrt der Chef zurück, sieht die Modellbrücke und<br />
schneidet sie auseinander. Kontrollierte Zerstörung, sagt<br />
er, „Carmen“ hat keine Brücke, sondern eine Schlucht. Also<br />
die Brücke ist kaputt, und das mach ich jetzt.<br />
Ein Vierteljahr arbeitet, oder besser gesagt, schuftet Cary<br />
in Karlsruhe, sitzt vor allen Dingen im Assistentenzimmer<br />
und baut Modelle, da hört sie zufällig in der SWR1-Sendung<br />
„Leute“ Friedrich Schirmer, den gerade designierten<br />
Intendanten der Landesbühne Esslingen über seine Idee<br />
von Theater sprechen. Er ist jemand, der (wie sie) seinen<br />
Beruf im Theater gelernt hat – ohne Studium. <strong>Die</strong>se Tatsache<br />
und seine Theaterpläne imponieren ihr. Sie schreibt<br />
den 50. Bewerbungsbrief, wird zum Vorstellungsgespräch<br />
eingeladen und als Bühnenbildassistentin engagiert.<br />
In Esslingen beginnt ihr künstlerischer Werdegang: <strong>Das</strong><br />
sind zunächst 3 ½ Jahre Bühnenbildassistenz. Aber schon<br />
im zweiten Jahr kann sie ihr erstes Bühnenbild entwerfen.<br />
Da ist sie 22 Jahre alt. Sie geht mit Schirmer nach Freiburg.<br />
Ab 1992 ist Cary Gayler ‚richtige‘ Bühnenbildnerin, begleitet<br />
die ersten Arbeiten von Stephan Kimmig, ab 1997 ist<br />
ihre künstlerische Tätigkeit mit den Inszenierungen von<br />
Volker Lösch verknüpft. Sie erhält Stipendien – 1992 von der<br />
Kunststiftung Baden-Württemberg und drei Jahre später<br />
von der Akademie Schloss Solitude – beide im Bereich<br />
darstellende Kunst. Sie begründet mit dem Schauspieler<br />
Manfred Meihöfer das „Vereinigte Gummitierensemble“<br />
und engagiert auf Trödelmärkten und in Kinderzimmern<br />
aussortierte, abgeliebte Puppen und Gummitiere, die u. a.<br />
Schillers „Räuber“ zu einem ungewöhnlichen Glanz verhelfen.<br />
Und sie unternimmt Ausflüge in den Spiel- und Dokumentarfilmbereich.<br />
Mit Beginn der Intendanz Hasko Weber 2005 arbeitet sie<br />
drei Spielzeiten nicht nur als Bühnen- und Kostümbildnerin,<br />
sondern auch als Ausstattungsleiterin am SCHAUSPIEL<br />
STUTTGART. Und während in der ARENA Türlenstraße die<br />
Endproben zur vorletzten Inszenierung „Homers Ilias/<br />
Achill in Afghanistan“ (Regie: Volker Lösch) laufen, für die<br />
sie das Kostümbild entworfen hat (eine Phalanx schwarzgewandeter<br />
Götter-Krieger), probiert im Kammertheater<br />
ein anderer Teil des Schauspielensembles mit dem Re-<br />
16<br />
<strong>Das</strong> <strong>Journal</strong> Nov. Dez. 2011 / Jan. 2012<br />
17<br />
06.<br />
gisseur Thomas Dannemann Jean Genets „Der Balkon“, in<br />
einem von ihr konzipierten Spiegelraum, der die Grenzen<br />
zwischen Zuschauern und Spielern auflösen soll, den Betrachter<br />
zum (Mit)spieler macht und den Schauspieler zum<br />
Beobachter desjenigen, der zum Zuschauen gekommen ist.<br />
In welchem Maße Cary Gayler die künstlerische Handschrift<br />
des Hauses prägt, lässt sich nicht nur an der Anzahl<br />
der Arbeiten am SCHAUSPIEL STUTTGART ablesen. Eine<br />
ganze Reihe Inszenierungen, an denen sie als Partnerin<br />
beteiligt war, gehört zu den zentralen Aufführungen der<br />
letzten acht Jahre. Und doch wissen diejenigen, die abends<br />
ins Theater kommen, oft wenig darüber, was eine Bühnen-<br />
und Kostümbildnerin zu tun hat, wie so ein Arbeitstag<br />
während der Proben aussieht, der früh mit Kostümanproben<br />
beginnt und spätabends mit Teambesprechungen<br />
endet. <strong>Die</strong> Probleme und Problemchen, die dabei zu lösen<br />
sind, reichen vom Unterwäschekauf bis zur Erfindung eines<br />
Theaterblutrezepts, dessen Resultat biologisch einwandfrei,<br />
also trinkbar ist, keinen Hautausschlag verursacht und<br />
vor allem auswaschbar ist. <strong>Die</strong> großen Entwürfe, die am<br />
Anfang einer Inszenierung stehen, werfen innerhalb der<br />
acht Wochen Probenzeit so viele kleinteilige Fragen auf,<br />
dass selbst Cary Gayler mit all ihrer Berufserfahrung und<br />
dem ihr eigenen Geschick, die vielen Abteilungen eines<br />
Theaters dazu zu bewegen, das Unmögliche möglich zu<br />
machen, manchmal verzweifeln könnte.<br />
Passen die Schuhe, sind die Hosen zu lang oder zu kurz,<br />
sehe ich zu dick in dem Rock aus, die Perücke juckt, die geklebte<br />
Glatze zieht Falten, der Bühnenboden ist zu rutschig,<br />
stehe ich bei meinem Monolog auch wirklich im Licht …<br />
Jedes Anliegen muss bearbeitet werden. <strong>Das</strong> braucht Zeit<br />
und gute Nerven. Aber der Tag hat nur 24 Stunden.<br />
Dann ist Premiere. Und danach? Fällt man ins ‚Premierenloch‘<br />
und beginnt wieder von vorn. Der Termin für die<br />
nächste Bühnenbild- oder Kostümabgabe (oder beides<br />
zugleich) drängt. <strong>Die</strong> so genannte Bauprobe, auf der ein<br />
provisorischer Bühnenraum die eigenen Ideen bestätigen<br />
oder verwerfen soll, muss stattfinden!<br />
Trotzdem – auch nach 26 Berufsjahren gibt es für Cary<br />
Gayler noch diese Neugier und Lust auf den nächsten Anfang,<br />
auf den nächsten Versuch. Neues Spiel, neues Glück!<br />
Oder – um es mit Beckett zu sagen: Scheitern, wieder<br />
scheitern, immer scheitern, besser scheitern.<br />
Der Balkon<br />
von Jean Genet<br />
Regie: Thomas Dannemann, Bühne: Cary Gayler,<br />
Kostüme: Regine Standfuss, Musik: Michael<br />
Wertmüller, Dramaturgie: Beate Seidel<br />
Mit: Dorothea Arnold, Lisa Bitter, Boris Burgstaller,<br />
Boris Koneczny, Jan Krauter, Astrid Meyerfeldt,<br />
Rahel Ohm, Rainer Philippi, Lutz Salzmann,<br />
Dino Scandariato<br />
Premiere am 12. November 2011, 20 Uhr,<br />
Kammertheater<br />
Vorstellungen nur bis 4. Dezember 2011<br />
Foto: Sonja Rothweiler
Masse<br />
und Macht<br />
Wie ein Chor zum Solisten wird: Der<br />
Staatsopernchor <strong>Stuttgart</strong> gehört zu den<br />
besten Opernchören Deutschlands.<br />
In Berlioz’ Fausts Verdammnis stellt er<br />
dies eindrucksvoll unter Beweis.<br />
09. 07. • Fausts Verdammnis<br />
08. • <strong>Die</strong> Nachtwandlerin<br />
Es ist nicht zuletzt die Gegenüberstellung des Einzelnen<br />
und der Masse – Faust, Marguerite und Méphistophélès auf<br />
der einen, der Chor in den Rollen des Volkes, der Studenten,<br />
der Soldaten oder Höllenwesen auf der anderen Seite<br />
–, die Berlioz’ Oper Fausts Verdammnis (La Damnation<br />
de Faust) zu einem bedrückend aktuellen Werk macht. Es<br />
ist die auch in demokratisch entwickelten Gesellschaften<br />
immer stärker hervortretende Kluft zwischen Machtlosen<br />
und Mächtigen, die in der global vernetzten Welt immer<br />
problematischer werdende Balance zwischen privaten und<br />
öffentlichen Lebensbereichen oder das Phänomen massenmedial<br />
gestützter geistiger Verarmung und Vereinsamung,<br />
die schon bei Berlioz verhandelt werden. Faust steht<br />
einem Konflikt zwischen Volksgruppen hilflos gegenüber,<br />
er wird von elitären Studenten- und martialischen Soldatenkollektiven<br />
abgestoßen, findet keinen privaten Schutzraum<br />
für seine Liebe zu Marguerite und sieht sich am Ende<br />
brutalen Höllenmonsterhorden ausgeliefert. Hinter allem<br />
steht nicht nur Méphistophélès als Mastermind, Entertainer<br />
und Führerfigur, sondern das Prinzip von Masse und Macht.<br />
<strong>Die</strong>se gesellschaftliche Problematik wird bei Berlioz dramaturgisch<br />
und vor allem musikalisch überzeichnet. Um<br />
die sich so ergebenden gewaltigen, oft auch gewalttätigen<br />
Szenen überhaupt gestalten und entwickeln zu können,<br />
braucht es nicht nur starke Sängersolisten, sondern auch<br />
einen enorm wandlungs- und verwandlungsfähigen Chor.<br />
Andrea Moses, die bei der Eröffnungspremiere der neuen<br />
Spielzeit Regie geführt hat, konnte sich nicht nur auf die<br />
Gesangssolisten Maria Riccarda Wesseling, Pavel Černoch,<br />
Robert Hayward und Mark Munkittrick, sondern zudem auf<br />
einen weiteren ganz besonderen Partner verlassen: den<br />
Staatsopernchor <strong>Stuttgart</strong>. <strong>Die</strong>ser Chor zählt zu den ältesten<br />
und besten Opernchören Deutschlands. In diesem Jahr wurde<br />
er in der Kritikerumfrage der Zeitschrift Opernwelt zum<br />
achten Mal als »Opernchor des Jahres« ausgezeichnet.<br />
Fausts Verdammnis<br />
von Hector Berlioz<br />
Premiere 30.10. 2011<br />
November 2011<br />
05.11. / 10.11. / 18.11. / 27.11.<br />
Dezember 2011<br />
15.12. / 22.12. / 28.12.<br />
Januar 2012<br />
03.01. / 06.01. / 14.01. / 24.01.<br />
Fotos: A.T. Schaefer<br />
Links: Robert Hayward<br />
als Méphistophélès,<br />
Staatsopernchor <strong>Stuttgart</strong><br />
Rechts: Anna Viebrock<br />
(Bühne und Kostüme),<br />
Jossi Wieler und Sergio<br />
Morabito (Regie und<br />
Dramaturgie) bei einem<br />
Arbeitstreffen vor dem<br />
Sonnambula-Modell.<br />
Zwischen Wildnis und Zivilisation<br />
Vincenzo Bellinis <strong>Die</strong> Nachtwandlerin<br />
feiert im Januar 2012 Premiere<br />
Für die Neuinszenierung von Bellinis La Sonnambula durch Jossi Wieler und<br />
Sergio Morabito kehrt Anna Viebrock als Bühnen- und Kostümbildnerin an die<br />
Oper <strong>Stuttgart</strong> zurück. <strong>Die</strong> drei haben hier 2002 bereits das Schwesterwerk der<br />
Nachtwandlerin, die ebenfalls im Jahr 1831 in Mailand uraufgeführte Norma<br />
erfolgreich auf die Bühne gebracht. Beide Werke komponierte der Belcanto-<br />
Komponist Bellini für die große Sängerdarstellerin Giuditta Pasta auf die eleganten<br />
Verse seines Librettisten Felice Romani. Und Romani griff in beiden<br />
Werken auf Vorlagen der damals aktuellen französischen Dramatik zurück,<br />
im Falle der Nachtwandlerin auf ein Ballettszenarium von Eugène Scribe in<br />
der Vaudeville-Bearbeitung <strong>Das</strong> schlafwandelnde Dorfmädchen von Armand<br />
d’Artois und Henri Dupin.<br />
Der Einsatz des Regieteams Wieler-Viebrock-Morabito für Norma wurde als<br />
die Zurückeroberung eines verschollenen Repertoires durch das zeitgenössische<br />
Musiktheater wahrgenommen. Im Verständnis Morabitos sind die Opern Bellinis<br />
eine Hommage an den Gesang, aber auch Geschenke an das Theater: „Wie im<br />
Falle der Norma weigern wir uns auch bei der Nachtwandlerin, die Wiederholungen<br />
der ‚Cabaletten‘ (also der zweiten, meist bewegteren dramatisch-virtuosen<br />
Schlusssätze der Arien) zu streichen, wie dies oft geschieht. Wie beim ‚Da capo‘<br />
der Barockoper scheint an diesen Stellen der Komponist dem Interpreten – dem<br />
Sänger und dem Regisseur – zuzurufen: ‚Bitte, übernehmen Sie!‘ “ Wieler, Viebrock<br />
und Morabito entdecken hier große kreative Spielräume. Wissen sich in dieser<br />
Entscheidung einig mit Gabriele Ferro, dem ehemaligen <strong>Stuttgart</strong>er Generalmusikdirektor,<br />
der für diese Produktion an die Oper <strong>Stuttgart</strong> zurückkehrt.<br />
<strong>Die</strong> Entscheidung für die Neuinszenierung dieses Werks fiel auch, weil dem<br />
Ensemble in Ana Durlovski eine herausragende Interpretin der Titelpartie<br />
angehört und in dieser Produktion an der Seite von Catriona Smith, Helene<br />
Schneiderman, Liang Li und Motti Kastón agieren wird. Für die männliche<br />
Hauptrolle des Elvino kehrt der brasilianische Tenor Luciano Botelho, der in<br />
dieser Spielzeit auch als Orpheus auf der Bühne der Oper <strong>Stuttgart</strong> steht, als<br />
Gast an das Haus zurück.<br />
Was haben die drei Theatermacher in dieser musikalischen Erzählung von<br />
einem nachtwandelnden Dorfmädchen an spannenden Themen entdeckt?<br />
Morabito: „Einerseits ist die Oper ein Stück über die Pubertät. In der Traumzeit<br />
von Bellinis ‚unendlichen Melodien‘ findet die Trance der absturzgefährdeten<br />
Nachtwandlerin und mit ihr die Krise der Adoleszenz zu berührendem<br />
Ausdruck. Andererseits ist das Stichwort „Traumzeit“ mit Bedacht gewählt,<br />
denn man kann mit dem Werk tatsächlich in einen ethnographischen Diskurs<br />
eintreten. Traumzeit, so heißt eine Kritik der „klassischen Ethnologie“, die der<br />
Völkerkundler Hans Peter Duerr 1978 vorgelegt hat. Mit einem zivilisierten Reisenden,<br />
dem Grafen Rodolfo, betreten wir die Welt eines abgelegenen Schweizer<br />
Alpendorfes. Dort sind wir mit merkwürdigen Ritualen konfrontiert, denn die<br />
Bewohner haben sich mit der Präsenz eines Gespenstes arrangiert, was der Graf<br />
als naiven Aberglauben abtut. Er vertritt die Stimme der aufgeklärten Vernunft<br />
und die Spielhandlung scheint ihm am Ende recht zu geben: <strong>Die</strong> Gespenstererscheinung<br />
soll niemand anderes als das schlafwandelnde Waisenmädchen<br />
Amina gewesen sein. Doch das Stück erzählt auch eine andere Wahrheit:<br />
<strong>Die</strong>ses Waisenmädchen könnte auch ein uneheliches Kind des Grafen selbst<br />
sein, der als junger Mann eine Frau des Dorfes geschwängert hatte, woraufhin<br />
er von seinen Eltern ins Ausland geschickt wurde, während seine verlassene<br />
Geliebte nach der Geburt des Kindes angeblich verstorben ist. Nun wird die<br />
Gespenstererscheinung von den Dorfleuten aber eindeutig als „unreine Hexe“<br />
beschrieben. Was, wenn es Aminas Mutter wäre, die als „haga-zussa“, auf dem<br />
„Hag“ (= der Hecke, dem Zaun) „sitzt“, der das Dorf von der Wildnis abgrenzt?<br />
Und verbirgt sich hinter dem scheinbar harmlosen „dénouement“ des Dramas<br />
nicht ein archaisches Gottesgericht? <strong>Die</strong> der Untreue verdächtigte und verstoßene<br />
Titelheldin wandelt auf dem Dachfirst der Mühle, bis statt ihrer nur die<br />
Trümmer der unter ihr schwankenden und brechenden Planke ins Mühlrad<br />
stürzen. Nicht anders als Norma bearbeitet also auch <strong>Die</strong> Nachtwandlerin tiefe<br />
Schichten unserer Zivilisation und ihrer Mythen, darunter einen so zentralen wie<br />
den der Jungfrauengeburt: auch die schwangere Maria musste durch die Einnahme<br />
von vergiftetem „Bitterwasser“ – so berichten es die apokryphen „Kindheitsevangelien<br />
Christi“ – eine Unschuldsprobe ablegen.“ <strong>Die</strong> Proben dieser neuen musik-<br />
theatralischen Erkundungs- und Entdeckungsfahrt beginnen Anfang Dezember.<br />
<strong>Die</strong> Nachtwandlerin<br />
von Vincenzo Bellini<br />
Januar 2012<br />
Premiere 22.01. / 25.01. / 28.01.<br />
Februar 2012<br />
03.02. / 05.02. / 22.02.<br />
März 2012<br />
03.03. / 06.03. / 10.03. / 13.03. / 18.03.<br />
<strong>Stuttgart</strong>er Bellini-Wochenende<br />
am 17.03. und 18.03.2012 mit u. a. Norma und <strong>Die</strong> Nachtwandlerin<br />
sowie der 3. Liedmatinee Hommage an Giuditta Pasta.<br />
Der Vorverkauf hierfür beginnt bereits ab 1. Dezember 2011.<br />
18<br />
<strong>Das</strong> <strong>Journal</strong> Nov. Dez. 2011 / Jan. 2012<br />
19<br />
Fotos: A.T. Schaefer
Ein Ballett<br />
wie ein<br />
Meisterwerk<br />
In der internationalen Kritikerumfrage der<br />
renommierten Fachzeitschrift TANZ<br />
wurde das <strong>Stuttgart</strong>er Ballett zur »Kompanie<br />
des Jahres« gewählt. Mit freundlicher<br />
Genehmigung der Zeitschrift drucken wir<br />
hier den Leitartikel für unsere Leser ab.<br />
<strong>Das</strong> <strong>Stuttgart</strong>er Ballett in der Spielzeit 2011-2012.<br />
09. • Kompanie des Jahres 09.<br />
<strong>Das</strong> <strong>Stuttgart</strong>er Ballett ist 50 Jahre alt und immer noch ein<br />
Familienbetrieb, dessen Ahn den Namen John Cranko trägt.<br />
Von ihm stammen die Leiter dieses Ballettwunders ab, Marcia<br />
Haydée einst, Reid Anderson heute. Crankos Schule, Crankos<br />
Werke, vor allem aber Crankos unbedingter Wille, das Ballett<br />
zu erneuern, machen das <strong>Stuttgart</strong>er Ballett zu einem Ort, der<br />
sich erfolgreich wie keine andere Truppe der eigenen Musealisierung<br />
entzieht.<br />
Drei Wochen lang Aufführungen, Gastspiele, Rückblicke, Aus-<br />
grabungen alter Stücke, eine Direktorenkonferenz und natürlich<br />
die obligatorische Gala: das 50. Jubiläum des <strong>Stuttgart</strong>er<br />
Balletts wurde im Februar mit einem riesigen Fest und Prominenz<br />
aus aller Welt begangen. Im Mittelpunkt aber standen die<br />
ehemaligen Tänzer: Intendant Reid Anderson hatte alle einge-<br />
laden, derer man habhaft werden konnte, und für die meisten<br />
von ihnen – das Bild bot sich immer wieder in den Foyers<br />
und Sälen – war es wie eine Rückkehr in den Schoß der Familie.<br />
<strong>Das</strong> etwas abgedroschene Schlagwort von der „<strong>Stuttgart</strong>er<br />
Ballettfamilie“ hilft tatsächlich, die Funktionsweise und die<br />
Seele dieser Kompanie zu verstehen, die bei all ihren jungen<br />
Tanzstars und modernen Choreografen noch immer stark aus<br />
ihrer Geschichte lebt.<br />
Seit John Crankos Tod vor fast 40 Jahren liegt die Leitung des<br />
<strong>Stuttgart</strong>er Balletts in der Familie. Noch immer sind es seine<br />
Geschöpfe, die an der Spitze der Kompanie stehen, nach seiner<br />
Muse Marcia Haydée nun der frühere Solist Anderson, noch<br />
immer studiert Crankos Choreologin Georgette Tsinguirides<br />
seine Werke ein. Der tote John Cranko ist der Klebstoff dieser<br />
höchst lebendigen Kompanie, intensiver noch wahrscheinlich<br />
durch seine Idee einer Ballettkompanie als durch seine wenigen<br />
Werke. Sein Genie und sein Nachruhm haben dem<br />
<strong>Stuttgart</strong>er Ballett den heutigen Status erfochten: die künstlerische<br />
Unabhängigkeit von der Oper oder einem übergeordneten<br />
Intendanten, eine solide finanzielle Basis, die eigene<br />
Schule. Crankos Nachfolger waren sorgfältig darauf bedacht,<br />
diese Grundlagen zu erhalten und zu mehren.<br />
Es hat sich kaum etwas geändert in <strong>Stuttgart</strong>, es gab nie<br />
einen radikalen Wechsel der Ästhetik (der vorsichtige Versuch<br />
Glen Tetleys in Richtung Modern Dance endete mit seiner<br />
Demission nach zwei Jahren) – niemand traut sich, am Fundament<br />
Cranko zu rütteln. <strong>Das</strong>s aus dem <strong>Stuttgart</strong>er Ballett<br />
trotzdem kein Museum, sondern ein sich ständig erneuerndes<br />
Zentrum choreografischer Kreativität geworden ist, auch daran<br />
ist der legendäre Gründervater schuld.<br />
Denn schon er war neugierig auf das, was seine Kollegen<br />
schufen. Anstatt sein Ballett ausschließlich auf seinen eigenen<br />
Stil einzuschwören, wollte er andere Handschriften sehen, lud<br />
die Konkurrenz nach <strong>Stuttgart</strong> ein, dachte an ein breites Repertoire<br />
und förderte den Nachwuchs. Mit dem, was sie von ihm<br />
gelernt hatte, formte seine Nachfolgerin Haydée eine durch<br />
und durch europäische Kompanie, lud zu den vielen eigenen<br />
Choreografen, zu John Neumeier, Jirˇí Kylián oder William Forsythe,<br />
auch noch Hans van Manen und Maurice Béjart ein.<br />
Reid Anderson holte später Mauro Bigonzetti oder Wayne Mc-<br />
Gregor, lange bevor sie überall in Mode kamen.<br />
In <strong>Stuttgart</strong> folgt man nicht den Trends, man setzt sie. Hier<br />
war stets auch das ganz Moderne möglich, und zwar auf der<br />
großen Bühne: Kenneth MacMillan durfte machen, was ihm das<br />
Royal Opera House verbot: eines der ersten Mahler-Ballette<br />
(„<strong>Das</strong> Lied von der Erde“), eines der ersten Ballette zu religiöser<br />
Musik („Requiem“), William Forsythes „Orpheus“ war 1979 für<br />
eine klassische Ballettkompanie recht radikal, Marco Goeckes<br />
„Orlando“ ist auch heute noch ein Wagnis für ein Haus dieser<br />
Größe. Den jungen Choreografen werden sehr große Freiheiten<br />
gewährt, und öfter als anderswo wurden die Direktoren dafür<br />
belohnt.<br />
Obwohl eine der vier großen Opernballettkompanien<br />
Deutschlands, steht <strong>Stuttgart</strong> nicht unbedingt für die Pflege der<br />
alten Klassiker. Natürlich werden auch sie getanzt und in seltenen<br />
Fällen sogar mustergültig neu inszeniert wie Haydées<br />
„Dornröschen“, aber seit Cranko steht hier die Suche nach<br />
neuen Handlungsballetten im Mittelpunkt. <strong>Stuttgart</strong> tanzt<br />
nicht in einer bestimmten Handschrift, es gibt hier keine<br />
tradierte, sorgsam bewahrte choreografische Sprache; die<br />
Charakteristika der Kompanie sind der dramatische Stil und<br />
die Intensität der Interpretation. Jedes Jahr schickt die John-<br />
Cranko-Schule offene, präsente und immer wieder erstaunliche<br />
Talente, mehr als die Hälfte des Ensembles stammt heute<br />
aus der eigenen Schule, das dürfte einzigartig in Deutschland<br />
sein. Und noch eine Tradition gibt es in <strong>Stuttgart</strong>: die Solisten<br />
werden aus der eigenen Kompanie herangebildet. Bei allem<br />
Spürsinn Reid Andersons für choreografische Talente ist sein<br />
gutes Auge für junge Tänzer seine wohl größte Gabe. Vor allem<br />
bei den Herren segeln derzeit in <strong>Stuttgart</strong> so viele Stars und so<br />
viele junge Talente durch die Lüfte, dass man leicht mehrere<br />
Kompanien mit ihnen bestücken könnte.<br />
Durch seine Programmierung fördert Anderson die Individualität<br />
seiner Tänzer, entwickelt ihre Persönlichkeiten. Obwohl das<br />
<strong>Stuttgart</strong>er Ballett heute eine optisch sehr schöne Kompanie ist<br />
(ihr Direktor huldigt dem Ideal der großgewachsenen Tänzer),<br />
liegt die Stärke des Ensembles kaum in der reinen Harmonie<br />
eines St. Petersburger oder Pariser Corps de ballet. Seine<br />
wichtigsten Eigenschaften sind die Hingabe, eine dramatische<br />
Unmittelbarkeit und der unbedingte Wille, jedes Ballett wie<br />
ein Meisterwerk aussehen zu lassen. <strong>Die</strong> Zukunft des Familien-<br />
modells ist offen: Wenn der heute 62-jährige Anderson einmal<br />
aufhört, dann stehen zwar genügend Leute bereit, die in <strong>Stuttgart</strong><br />
gelernt haben, die persönliche Verbindung zu Cranko aber<br />
wird aufhören.<br />
Angela Reinhardt (TANZ, tanz-zeitschrift.de)<br />
20<br />
<strong>Das</strong> <strong>Journal</strong> Nov. Dez. 2011 / Jan. 2012<br />
21<br />
Foto: Ulrich Beuttenmüller.
Böse, kleine<br />
Maschine<br />
<strong>Die</strong> Dramaturgin Sarah Israel befragte den<br />
Regisseur Kristo Šagor während der Proben,<br />
was ihn an »In weiter Ferne« fasziniert und<br />
warum er den Text von Caryl Churchill für das<br />
SCHAUSPIEL STUTTGART auf die Bühne bringt.<br />
„In weiter Ferne“ erzählt anhand der Protagonistin Joan die<br />
Entwicklung eines jungen Mädchens, dessen Bewusstsein für<br />
Unrecht und Gewalt früh im Leben korrumpiert wird. Schritt<br />
für Schritt zeichnet das Stück die Konsequenzen nach, die<br />
eine Lüge, verübt im kleinsten Familienkreis, nach sich ziehen<br />
kann. <strong>Das</strong> was vermeintlich behütet beginnt, lässt die Autorin<br />
Caryl Churchill in einem grausamen Endszenario, einem Zustand<br />
des absoluten Chaos und der Vernichtung gipfeln und<br />
legt dabei dar, dass der Terror, in dem die drei Figuren Joan,<br />
Harper und Todd am Ende (über)leben müssen, nicht ein von<br />
anderen erzeugter ist, sondern von ihnen selbst bedingt wurde.<br />
Sarah Israel: Du bist gerade in den Proben zu „In weiter<br />
Ferne“ – deine zweite Inszenierung hier in <strong>Stuttgart</strong> – und<br />
nach „Amphitryon“ durchaus ein ganz anderes Genre<br />
von Theaterstück. Wieso hast du dich für diesen Text<br />
entschieden?<br />
Kristo Šagor: Der Text ist wie eine böse, kleine Maschine, die<br />
reibungslos funktioniert. <strong>Die</strong> Sprache der Figuren ist knapp, die<br />
Konstruktion des Plots schmal. <strong>Das</strong> Stück wirkt verstörend. Ich<br />
mag, dass es so viele Fragen aufwirft und Antworten verweigert.<br />
<strong>Die</strong> drei beschriebenen Situationen sind so konkret, doch<br />
um sie herum schmatzt das Nichts. Damit handelt der Text<br />
auch vom Erzählen an sich: Jeder Satz konstruiert Realität.<br />
Caryl Churchill entwirft eine kryptische und zugleich mes-<br />
10. • Kristo Šagor 11. • Jan Neumann<br />
serscharfe Vision vom Weltuntergang. <strong>Das</strong> Stück handelt vom<br />
‚Größten Anzunehmenden Unfall‘, ohne dass es uns sagt, was<br />
für ein Unfall das ist. Vermutlich hat dieser Unfall in uns selbst<br />
stattgefunden: Etwas im Menschen ist kaputtgegangen, während<br />
er immer effektiver darin geworden ist, alles andere um<br />
sich herum kaputt zu machen.<br />
Sarah Israel: Welche Konflikte sind für dich<br />
grundlegend in diesem Stück?<br />
Kristo Šagor: <strong>Die</strong> Figuren versuchen, Verantwortung füreinander<br />
zu übernehmen. Aber was ist Verantwortung in einem<br />
totalitären System? Soll ich als Erwachsener einen Schutzbefohlenen<br />
auf die Linie der Partei bringen, weil ich glaube, dass<br />
er damit am besten lebt in diesem System, so wie es Harper<br />
mit ihrer Nichte Joan im ersten Akt tut, oder soll ich das nicht?<br />
Soll ich meinem geliebten Menschen, der sich mitten im Krieg<br />
nach der Ruhe zu Hause sehnt und deshalb von der Front desertiert<br />
ist, mit Wärme und Verständnis beistehen oder ihn<br />
zurück in die Pflicht treiben? Erzwinge ich die Angleichung<br />
deiner Meinung an meine, wenn ich weiß, dass deine Meinung<br />
nicht oder nicht mehr systemkonform ist und ermögliche dir<br />
so zu überleben, oder vertreibe ich dich ganz aus meinem<br />
Dunstkreis? Soll ich dich retten oder mich, oder soll ich darauf<br />
vertrauen, dass das kein Widerspruch sein muss?<br />
Sarah Israel: Was macht den Text in deinen Augen hier<br />
in <strong>Stuttgart</strong> zu dieser Zeit erzählenswert?<br />
Kristo Šagor: Ich glaube, spätere Generationen werden über<br />
uns als eine der Generationen sprechen, die noch in der Lage<br />
gewesen wären, „es“ zu verhindern. Und für „es“ lässt sich<br />
eine Menge einsetzen: das Massenaussterben von Tierarten,<br />
die Verwüstung ganzer Landstriche durch Radioaktivität und<br />
Chemie, der Klimawandel, die Ozonlöcher, das Auf-den-Kopf-<br />
Hauen aller Ressourcen.<br />
Es ist so schwer, bei sich selbst anzufangen, und so einfach,<br />
mit dem Zeigefinger auf andere zu zeigen: Wir gönnen den<br />
anderen sieben Milliarden Menschen nicht, wie wir achtzig<br />
Millionen Deutsche leben. Oder wir sind zu dumm, die Dimension<br />
zu begreifen, und zu ignorant, uns in Frage zu stellen.<br />
Deutschland ist erste Welt, <strong>Stuttgart</strong> Metropole. Wer soll anfangen<br />
was zu ändern, wenn nicht wir selbst?<br />
Der Theaterautor und Regisseur Kristo Šagor<br />
(*1976) realisiert mit „In weiter Ferne“<br />
seine zweite Regiearbeit am SCHAUSPIEL<br />
STUTTGART. In der letzten Spielzeit inszenierte<br />
er erfolgreich Kleists „Amphitryon“ im NORD.<br />
2008 wurde Kristo Šagor für seine Inszenierung<br />
„Törleß“ am Hamburger Schauspielhaus mit<br />
dem Deutschen Theaterpreis „Der Faust“<br />
ausgezeichnet.<br />
Sarah Israel: Caryl Churchill wird auf den deutschen<br />
Bühnen wenig gespielt, zählt jedoch zu den „grandes<br />
dames“ der englischen (zeitgenössischen) Dramatik.<br />
Was fasziniert dich an der Autorin besonders?<br />
Kristo Šagor: Caryl Churchill ist eine schlaue Autorin. Sie hat<br />
volle Kontrolle über ihren Text. Vom Wort über den Satz, den<br />
Szenen bis zur Gesamtform ist alles gebaut, entschieden. Sie ist<br />
in ihrem Werk einen spannenden Weg gegangen und hat über<br />
ein abstrakteres, formaleres Schreiben zurück zur Psycho-<br />
logie gefunden. Ihren letzten Texten merkt man diese Tiefe<br />
und Freiheit an: Sie sind psychologisch genau und wahnsinnig<br />
zugleich.<br />
Bei den Proben zu „In weiter Ferne“ geht es uns beispielsweise<br />
gerade darum, nach Gesten und Momenten von Grausamkeit<br />
zu suchen – Übergriffe, physische Bilder. <strong>Das</strong> Stück<br />
bietet einen offenen Raum. Es passiert uns immer wieder,<br />
dass Ernsthaftigkeit in gemeinsames Lachen kippt. <strong>Die</strong> Aufzählung<br />
von Nationalitäten, Tierarten und Berufsgruppen, die<br />
allesamt im Krieg miteinander sind, bringt uns immer wieder<br />
abwechselnd zum Lachen und erzwingt dann genaue Konstruktion:<br />
Wer sind für uns die ‚Krokodile‘, wer sind für uns die<br />
‚Rehe‘? Ich finde es wunderbar, wenn die Schauspieler einen<br />
Satz sagen, der komplett wahnsinnig klingt, ich aber merke,<br />
dass sie ihn sich selbst glauben.<br />
In weiter Ferne<br />
von Caryl Churchill<br />
Regie: Kristo Šagor, Bühne: Christl Wein,<br />
Kostüme: Sebastian Kloos,<br />
Musik: Sebastian Katzer,<br />
Dramaturgie: Sarah israel<br />
Mit: Marietta Meguid, Sarah Sophia Meyer<br />
und Fridolin Y. Sandmeyer<br />
Premiere am 11. November 2011, 20 Uhr,<br />
NOrD (Löwentorbogen, S-Nord)<br />
Vorstellungen nur bis 4. Dezember 2012<br />
Foto: Helge Ferbitz<br />
„Man hat das Scheitern so lange vor sich,<br />
bis es einen zum Lachen bringt.“<br />
(Samuel Beckett)<br />
Nichts ist einfacher, als über Komik zu lachen –<br />
und nichts schwerer als zu beschreiben, wie sie<br />
funktioniert. In Jan Neumann kurzer Komödie<br />
„Knolls Katzen“ sitzt ein Mann namens Wagner<br />
im Zuschauerraum, als kurz vor Vorstellungsbeginn<br />
sein Handy klingelt. Ein folgenschweres<br />
Versäumnis wird ihm durch den Anrufer ins<br />
Bewusstsein gerufen, das er jetzt wenn schon<br />
nicht mehr zu reparieren, so doch zu kaschieren<br />
bemüht ist. Es beginnt eine eskalierende Folge<br />
von Missverständnissen und Klärungsanrufen,<br />
die weitere Missverständnisse provozieren, begleitet<br />
von ständigen Entschuldigungen beim<br />
Sitznachbarn. <strong>Die</strong>ser Text, in dem die Rettungsversuche<br />
schlimmer als die vermeintliche Katastrophe<br />
geraten, ist für sich allein eine Fundgrube<br />
für alle Spielarten des Komischen.<br />
<strong>Das</strong> Dramolett „T9“ versammelt eine Herrenrunde<br />
beim allabendlichen Bier. Außer einsilbigen<br />
Sätzen sagen sie nicht viel, ab und zu versuchen<br />
sie den Chinesen etwas zu fragen, der<br />
hinter der geschlossenen Scheibe fernsieht und<br />
aus diesen zwei Gründen nichts hört, und neben<br />
dem Chinesen und der Vermutung, dass Chinesen<br />
Hunde essen, liefern die unterschiedlichen<br />
Handymodelle das einzige Gesprächsthema:<br />
»Jürgen zeigt sein Handy. / Heiner: Silber ist<br />
scheiße. / Özgür: Und deins? / Heiner: Meins ist<br />
rot. / Heiner zieht sein Handy. / Heiner: Da bitte.<br />
/ Jürgen: Rot. / Klaus: Ganz schön rot. / Heiner:<br />
<strong>Das</strong> ist normal rot. / Özgür: <strong>Das</strong> ist echt rot. /<br />
Heiner: Ja und. / Klaus: <strong>Die</strong> sind jetzt alle Silber.<br />
/ Heiner: Scheiße sind die jetzt. / Sie stecken die<br />
Handys wieder weg und trinken.«<br />
Bei der nächsten Runde beschließen sie, dem<br />
fehlenden Kumpel eine sms zu schreiben. Dabei<br />
spielt ihnen die political correctness des einge-<br />
bauten Lexikons eine Reihe von Streichen, die in<br />
folgender Nonsensefrage auf den Punkt gebracht<br />
wird, „Wieso kann er Hitler und Saddam<br />
und Osterweiterung aber schwul nicht?“ und nur<br />
noch durch die Antwort des Kollegen überboten<br />
wird, in der dieselbe Rechtschreibschwäche, die von allem der<br />
Ausgang war, sich unbekümmert offen-bart: „Hab Ärger mit<br />
Anita Bis morgen ihr schwülen Säue.“<br />
Mögen Dramolette wie „Knolls Katzen“ und „T9“ um der Komik<br />
willen geschrieben worden sein, so gilt das nicht für „Fundament“,<br />
die Stückentwicklung, bei der ich Jan 2009 begleiten<br />
durfte, und auf die ich mich jetzt konzentrieren möchte. Hier<br />
widmet sich Neumann den Themen, die ihn am stärksten umtreiben:<br />
Religion, Krankheit, Altern, Tod. Hier zeigt sich auch,<br />
dass in ihm – wie vielleicht in jedem großen Komiker – ein verkappter<br />
Tragiker steckt, ein Romantiker und ein Melancholiker.<br />
In „Fundament“ gibt es einen jungen Aktivisten in einer WG,<br />
der vor lauter nachvollziehbaren Missständen auf der Welt<br />
nicht weiß, wo er anfangen soll, sie zu retten. In seiner Verzweiflung<br />
schleudert er einen nichtendenwollenden Elendsmonolog<br />
aus sich heraus, der in der absurden Frage gipfelt,<br />
was er auf sein Transparent schreiben soll. Komisch ist nicht<br />
nur die Trivialität der zu treffenden Entscheidung angesichts<br />
der wortreich konstatierten globalen Problemlage, komisch ist<br />
auch die akribische Aufzählung alles Schrecklichen, welche so<br />
unterschiedliche Skandale wie die Lüge, was im Essen ist, die<br />
Genitalverstümmelung von Mädchen oder das Verschwinden<br />
der Arten zu einer diffusen Gesamtkatastrophe einebnet. Der<br />
Erzähler der Szene kommentiert die damit kontrastierenden<br />
Alltagsstreitigkeiten, Betrügereien und Eifersüchteleien in der<br />
WG mit dem ironischen Satz: „Man sieht, auch zu Hause hängt<br />
in einer globalisierten Welt alles mit allem zusammen.“ Womit<br />
wir wieder auf Abstand gehalten wären von der allzu wahren,<br />
aber unerträglichen Erkenntnis, dass wir in unserem relativ geschützten<br />
Eck auf Kosten der übrigen Welt vor uns hin privatisieren.<br />
Der Verzweiflungsausbruch des Möchtegernaktivisten<br />
demonstriert uns so plastisch unsere eigene Ohnmacht, dass<br />
wir schon wieder lachen müssen und darüber Erleichterung<br />
Ganz nah bei<br />
seinen Figuren<br />
Auszüge aus der Laudatio zur Verleihung des<br />
Förderpreises für Komische Literatur an Jan Neumann,<br />
gehalten von der Dramaturgin Kekke Schmidt<br />
in Kassel am 25. Februar 2011.<br />
verspüren. Gleichzeitig erkennen wir uns wieder in der Gleichgültigkeit<br />
der Welt – aber Neumann reibt uns diese Schuld<br />
nicht aufdringlich unter die Nase, sondern macht sie spürbar,<br />
ohne unsere Gegenwehr zu mobilisieren. Vielmehr eröffnet<br />
das Lachen einen Ausweg.<br />
Reizt der junge Aktivist durch seine allzumenschliche Überforderung<br />
zum Lachen, so eine andere Figur aus dem Stück,<br />
Dr. Friedrich Kremm, durch seine Überperfektion. Der gute<br />
Mensch mit Hybridauto und Sozialengagement, glücklicher Ehe<br />
mit beruflich erfolgreicher Frau, Architektenhaus, Designergarten<br />
und dem richtigen Rotwein, der jeden Tag Benachteiligte<br />
beglückt, kreative Projekte fördert, für Gerechtigkeit sorgt und<br />
außerdem noch guten Sex mit seiner Frau hat, Spaß und Ernst<br />
mit seinen Kindern, Erfolg in seiner Werbeagentur, dieser<br />
Mann ist so erkennbar übertrieben mit allen guten Gaben und<br />
Geistern gesegnet; in seinen perfekten Tag passt soviel mehr<br />
als in unseren gewöhnlichen, dass er in uns gar keine Abwehrkräfte<br />
mehr weckt, sondern nur noch Lust und Vergnügen. <strong>Das</strong><br />
ins Positive Überzogene selbst ist es, das uns entlastet von dem<br />
Druck, perfekt sein zu müssen. Wir lachen, weil wir die Richtigkeit<br />
des Anliegens spüren und zugleich die Unmöglichkeit,<br />
ihm zu genügen, aber nicht als qualvolles Ungenügen, sondern<br />
als hinzunehmende menschliche Grenze. Vielleicht ist es<br />
angesichts von soviel Vollkommenheit doch Gottes ausgleichende<br />
Gerechtigkeit, dass bei dem Bombenanschlag auf den<br />
Bahnhof, der die fünf Hauptfiguren von „Fundament“ miteinander<br />
verklammert, Dr. Friedrich Kremm umkommen muss,<br />
während etwa der junge Aktivist am Leben bleibt, und sogar<br />
endlich weiß, was er auf sein Transparent schreiben soll.<br />
Eine weitere Figur, die am Leben bleibt, und bei der man dies<br />
auch als ausgleichende Gerechtigkeit werten möchte, ist die<br />
Angestellte Bettina Lauterbach, die bei dem Workshop „Blockaden<br />
lösen durch kreatives Malen auf Stoff“ ungewollt einen<br />
Mit „Fundament“ legte der 1975 in München geborene<br />
Autor, Schauspieler und Regisseur Jan Neumann<br />
seine erfolgreiche erste Stückentwicklung für das<br />
SCHAUSPIEL STUTTGART vor. Alternierend zu diesen<br />
aufwändigen Stückentwicklungen verfasst Neumann<br />
auch Auftragswerke und inszeniert Stücke anderer<br />
Autoren, wie „Tod eines Handlungsreisenden“ von<br />
Arthur Miller im NORD in der Spielzeit 2010/11. Im<br />
Frühjahr 2011 wurde er für seine Texte mit dem Förder-<br />
preis für Komische Literatur ausgezeichnet.<br />
existentiellen Offenbarungseid leistet. Der Kurs-<br />
titel reizt zugegebenermaßen eher billig zum<br />
Lachen, das Raffinierte ist aber, dass Neumann<br />
der wohlfeilen Albernheit von Esoterik-Gurus und<br />
Selbsterfahrungsgruppen nur en passant erliegt<br />
und eine tiefer grundierte ansteuert. Bettina<br />
meldet sich überraschend zu Wort, um ihre<br />
Dankbarkeit für den Workshop zum Ausdruck<br />
zu bringen, doch der positive Impetus bricht ihr<br />
unter der Hand immer mehr weg, bis von ihr ein<br />
heulendes Häuflein Elend übrig bleibt, das die<br />
Ausgangsbehauptung, alles im Griff zu haben,<br />
anschaulich Lügen straft: Versagensängste, Kon-<br />
takt zu den Töchtern verloren, der Mann schläft<br />
nicht mehr mit ihr, Entfremdung, Todesgedanken.<br />
Aus der Aussage „Mir geht es gut Ich meine<br />
Ich hab einen Job und einen Mann und der<br />
hat auch einen Job und wir haben zwei Autos<br />
und zwei Töchter und.“ – in dieser Reihenfolge! –<br />
mit den komischen weil überflüssigen Präzisierungen<br />
wie „Und wir wohnen in einem schönen<br />
Haus also Reiheneckhaus also das sind drei<br />
Häuser und eins davon ist unsers also ein Drittelreihenhaus<br />
sozusagen und das gehört uns<br />
also der Bank da zahlen wir natürlich noch ab<br />
natürlich“ ist ein Auflösungsprozess geworden,<br />
der einen zum Lachen und Weinen zugleich<br />
reizt. Tragikomisch ist die Tatsache, dass Bettinas<br />
Schmerz sich vor allem an Nebenschauplätzen<br />
austobt wie bei ihren Makeup an den Wänden<br />
verteilenden pubertierenden Töchtern und einer<br />
Putzfrau, die – Zitat – „putzt aber die putzt<br />
nicht gut Also die ist aus dem Kosovo und putzt<br />
halt so gut sie kann Ich mein das jetzt nicht<br />
rassistisch aber wenn sie geputzt hat muss ich<br />
noch mal alles also putz ich einfach noch mal<br />
alles und Ich komm da manchmal nicht hinter-<br />
her wenn sie putzt und ich putz und dann ist da doch überall<br />
wieder Makeup und dann denk ich eben das macht keinen<br />
Sinn alles obwohl alles gut ist.“<br />
In dieser Nähe zu seinen Figuren, in der Lächerlichkeit und<br />
Größe ihrer Sehnsüchte und ihres Scheiterns, ist Neumann ganz<br />
in seinem Element. Er hat unendlich viel Humor, ein untrügliches<br />
Gespür für Situationskomik, ein feines Ohr für die komischen<br />
Ungereimtheiten mündlicher Rede. Auch für Kalauer<br />
und Plattheiten ist er sich nicht zu schade, da bricht schon<br />
mal der Komödiant in ihm durch, oder, bei den Stücken, die er<br />
während und parallel zur Inszenierungsarbeit entwickelt und<br />
dann nächtlich schreibt, der Regisseur, der sich in die Einfälle<br />
seiner Schauspieler verliebt. Was man vergeblich bei ihm suchen<br />
wird, ist Zynismus.<br />
Es klingt sicher altmodisch, wenn ich sage, dass er dazu<br />
die Menschen zu sehr liebt, dass er sie nie aus höherer Warte<br />
verlacht, sondern immer in dem Wissen, mit ihnen im selben<br />
Boot zu sitzen.<br />
Uraufführung: Frey!<br />
Eine Stückentwicklung von Jan Neumann<br />
Regie: Jan Neumann, Bühne: Matthias Werner,<br />
Kostüme: Dorothee Curio, Musik: Thomas Osterhoff,<br />
Dramaturgie: Kekke Schmidt<br />
Mit: Silja Bächli, Gabriele Hintermaier, Matthias Kelle,<br />
Sebastian Röhrle, Jens Winterstein<br />
Premiere am 17. Dezember 2011, 20 Uhr,<br />
NOrD (Löwentorbogen, S-Nord)<br />
Vorstellungen nur bis 22. Januar 2012<br />
22<br />
<strong>Das</strong> <strong>Journal</strong> Nov. Dez. 2011 / Jan. 2012<br />
23<br />
Foto: Karoline Bofinger
Proben zum Musiktheaterprojekt smiling doors. Uraufführung am 16. Dezember 2011.<br />
12. • <strong>Die</strong> Junge Oper<br />
Der Wert ist<br />
das Leben selbst<br />
Lange Nasen, lächelnde Türen und Junge<br />
Oper: Barbara Tacchini, die Leiterin der<br />
Jungen Oper im Gespräch mit Patrick Hahn<br />
Patrick Hahn: <strong>Die</strong> Oper ist eine Kunstform, die ungefähr<br />
vierhundert Jahre alt ist. Vergleicht man das zum Beispiel<br />
mit der Malerei, ist das noch recht jung. Was ist<br />
dann also „Junge Oper“?<br />
Barbara Tacchini: <strong>Die</strong> Junge Oper <strong>Stuttgart</strong> ist eine Institution,<br />
gewissermaßen eine „kleine Schwester“ der großen Oper. Wir<br />
leisten einerseits Vermittlung zu den Produktionen der Oper<br />
<strong>Stuttgart</strong>, seit 1998 produziert die Junge Oper auch selbst Musiktheaterwerke<br />
speziell für Kinder und Jugendliche.<br />
Warum bedarf es eigener Stücke für Kinder und Jugendliche?<br />
<strong>Die</strong> Stoffe und Konflikte, die für gewöhnlich auf der Opernbühne<br />
verhandelt werden, interessieren einen doch eher im<br />
Erwachsenenalter. Mit 14 Jahren beschäftigt man sich eher<br />
noch nicht mit Eheproblemen und die antike Mythologie ist<br />
einem meist herzlich egal. Wir suchen daher nach Stoffen, die<br />
Kinder oder Jugendliche besonders interessieren und machen<br />
damit spannendes Musiktheater.<br />
Was sind das für Stoffe?<br />
Brennende Themen wie: Was heißt Erwachsenwerden? Was<br />
bedeutet Selbstbestimmung? Wie geht man mit Freiheit um?<br />
Wie stehe ich zu meiner Kultur, zu meiner Erziehung? Wie will ich<br />
sein als Mensch, wie will ich leben? Wo finde ich eigene Wege?<br />
In welcher Welt leben wir und wie verhalte ich mich dazu?<br />
Theater für Kinder und Jugendliche findet an vielen<br />
Opernhäusern auf kleinen Nebenspielstätten statt. Auch<br />
in <strong>Stuttgart</strong> hat die Junge Oper ihren „Stammsitz“ im<br />
Kammertheater. Mit Pinocchios Abenteuer von Jonathan<br />
Dove hat sie jedoch gemeinsam mit der „großen Schwester“<br />
ein veritables Familienstück für das Opernhaus entwickelt<br />
...<br />
<strong>Die</strong>ses Stück unternimmt einen Spagat zwischen dem Stamm-<br />
publikum der Oper und Schulklassen, es ist ein Stück sowohl<br />
für Kinder als auch für Erwachsene. Beide Gruppen erleben<br />
wahrscheinlich etwas sehr Unterschiedliches während einer<br />
Vorstellung: Kinder verfolgen gebannt die Geschichte eines<br />
Stücks Holz, das lebendig wird, die Puppe, die ihrem Vater<br />
davonrennt, nicht artig ist und dann allerlei schlimme Dinge<br />
durchlebt – eine moralische Geschichte also, die stark durch<br />
ihre Entstehungszeit geprägt ist, als in Italien erstmals die<br />
Schulpflicht eingeführt worden ist. Man leidet mit der Figur<br />
und ist am Ende insgeheim enttäuscht, wenn Pinocchio ein<br />
echter, braver Junge geworden ist, und seine anarchischen<br />
Kanten „abgehobelt“ sind. Welche Folgen es hat, wenn alle<br />
Menschen einer einheitlichen Erziehung unterzogen werden<br />
ist wiederum auch für Erwachsene spannend. Ähnlich bei der<br />
Figur der Blauen Fee: Kinder lieben sie als Zauberwesen, das<br />
Nasen wachsen und wieder verschwinden lassen kann, für deren<br />
Eltern ist vielleicht spannend zu sehen, dass die Blaue Fee<br />
für die Erziehung, die sie schenkt, Liebe möchte. Und wenn sie<br />
diese Liebe nicht bekommt, nutzt sie ihre Macht, den kleinen<br />
Pinocchio in eine unangenehme Lage zu bringen, aus der sie<br />
ihn wieder erlösen kann ...<br />
An junge Menschen ab elf bis ins junge Erwachsenenalter<br />
richtet sich der Jugendclub, mit dem die Junge Oper für<br />
gewöhnlich einmal im Jahr ein Projekt erarbeitet. In diesem<br />
Jahr trägt das Projekt den Titel smiling doors – und<br />
die Gruppe setzt sich diesmal etwas anders zusammen als<br />
üblich. Was verbirgt sich hinter den „lächelnden Türen“?<br />
smiling doors erarbeiten wir mit Element 3, einer Künstlergruppe<br />
aus Freiburg, die schon seit mehreren Jahren Projekte mit<br />
krebskranken Kindern und Jugendlichen durchführt. Auch an<br />
smiling doors nehmen Kinder und Jugendliche teil, die an Krebs<br />
erkrankt sind oder diese Krankheit schon einmal besiegt haben.<br />
Wie ist die Junge Oper auf diese Kinder zugegangen?<br />
In Zusammenarbeit mit dem Olgahospital in <strong>Stuttgart</strong>, das<br />
den Kontakt zu jungen Menschen hergestellt hat, von denen<br />
viele mit der Frage leben: Bricht die Krankheit wieder aus? Wie<br />
üblich gab es auch eine Ausschreibung für alle Interessenten,<br />
in der wir angedeutet haben, dass es in unserem Projekt um<br />
Werte im Zusammenleben ginge. Anders als üblich musste<br />
man beim Casting daher nicht zeigen, ob man spielen, singen<br />
oder tanzen kann. <strong>Das</strong> Casting bestand aus einem Gespräch,<br />
in dem wir mit den Bewerbern diskutiert haben, warum sie an<br />
dem Projekt teilnehmen möchten.<br />
Steht also der Austausch im Zentrum des Projekts?<br />
Zwischen jungen Menschen, die in ihrem Leben bereits<br />
einmal in eine Grenzsituation geraten sind und anderen<br />
jungen Menschen, denen – wie sicher auch vielen Erwachsenen<br />
– die Vorstellungskraft fehlt, wie es ist, mit<br />
einer existenziellen Grenze konfrontiert zu sein?<br />
Ja, sowohl der Austausch innerhalb der Gruppe als auch der<br />
Austausch zwischen der Gruppe und dem Publikum – denn<br />
das Ziel des Projekts ist von Beginn an, ein Musiktheater zu<br />
kreieren. Doch der Weg dahin ist sehr persönlich für jeden<br />
Beteiligten und wir haben lange überlegt, ob wir ihn gehen<br />
sollen. Ausschlaggebend war am Ende, dass ich der Meinung<br />
bin, dass die jungen Menschen, die an unserem Projekt mitwirken,<br />
etwas Wichtiges zu sagen haben – weil sie eine besondere<br />
Erfahrung in sich tragen. Eine Krankheit verschiebt<br />
die Wahrnehmung von Werten im Leben und erzwingt eine<br />
Beschäftigung mit dem Thema Tod. Ein Thema, das im Jugendalter<br />
oft noch weit weg scheint. Was heißt überhaupt<br />
„gesund“ und was ist „krank“? Einige der „gesunden“ Kinder<br />
haben Geschwister durch den Krebs verloren und haben sich<br />
angemeldet, um sich mit dieser Erfahrung zu beschäftigen,<br />
andere haben Freunde, die erkrankt sind, wieder andere suchen<br />
einfach nur den Austausch.<br />
Aber sind das nicht alles Fragen für den Philosophieunterricht<br />
oder für die Sitzung mit der Therapeutin? Warum<br />
ist diese Auseinandersetzung etwas für das Theater?<br />
<strong>Die</strong>se Frage unterstellt, dass es einen therapeutischen Wert<br />
für die Mitwirkenden gäbe. Davon gehe ich grundsätzlich aus,<br />
dies ist aber nur ein Aspekt des Projekts. Denn in smiling doors<br />
geht es gerade darum, Dinge, die in einer Therapiesitzung<br />
thematisch werden können, in einem künstlerischen Prozess<br />
eigenständig zu formen. Ein Kunstprojekt kann nie eine Therapie<br />
ersetzen. Dafür gibt es Freiheit in der Kunst. Ein Gefühl,<br />
das man vielleicht mit Worten gar nicht ausdrücken kann, findet<br />
seine Form in einem Klang oder in einem Raum. Zu Beginn<br />
hat unsere Bühnenbildnerin den Teilnehmern zunächst „Baumaterial“<br />
zur Verfügung gestellt. z.B. Türen, Matratzen, Aquarien,<br />
Plastiktüten. Dann haben wir abgewartet, was passiert:<br />
Wie drückt sich das Gefühl von Angst oder Bedrängtheit in<br />
einem Raum aus? Und wie klingt die Musik dazu? Dabei entstehen<br />
Kunstgebilde, die dann in ihrer Bedeutung offen sind.<br />
Eine Geschichte, die man niemals selbst mit Worten auf der<br />
Bühne erzählen könnte, weil die Emotionen viel zu stark sind,<br />
lässt sich in der künstlerischen Umformung objektivieren. So<br />
wird die Kunst zugleich zu einem Schutz für die Intimität einer<br />
ganz persönlichen Erfahrung.<br />
Bedient sich das Theater in so einem Projekt – das immerhin<br />
von erwachsenen Kunstschaffenden angeleitet wird<br />
– nicht am Schmerzpotenzial dieser jungen Menschen?<br />
Fotos: Koen Bollen<br />
Tina Hörhold (Pinocchios Abenteuer)<br />
Wird man als Zuschauer nicht automatisch zum Voyeur?<br />
<strong>Die</strong> Gefahr ist da. Daher lasse ich die Mitwirkenden in ihren<br />
Entscheidungen frei: Es ist ihr Stück. Wir coachen sie, geben<br />
Ideen. In den ersten Wochen haben wir viel darüber gesprochen,<br />
was die Bedingungen für Kunst sind. Darüber, dass ein<br />
Künstler nicht irgendetwas macht, sondern zunächst sein Material<br />
bestimmt: sein Tonmaterial, sein Instrumentarium, seine<br />
Farben. Verwende ich Türen? Oder verwende ich lieber Kissen?<br />
Unsere wesentliche Vorgabe war lediglich: Wir machen<br />
keinen Pop und kein Musical, sondern wir schaffen ein Musiktheater,<br />
bei dem wir selber die Klänge und die Geschichten suchen.<br />
Es käme mir parasitenhaft vor, wenn ich die Mitwirkenden<br />
interviewt hätte und selbst daraus ein Stück schriebe. Wir<br />
haben eine strikte Trennung. Eine Psychologin führt mit den<br />
Mitwirkenden Gespräche. Doch diese bleiben in dem Raum, in<br />
dem sie stattfinden und die Jugendlichen entscheiden selbst,<br />
was sie von diesen Gedanken auf die Bühne bringen.<br />
Wie werden Gedanken schließlich zu einem Stück?<br />
Man sammelt zunächst ganz viel. <strong>Die</strong> Kids schreiben Texte<br />
über Fragen, die in Improvisationen entstehen, zum Beispiel:<br />
Wie stelle ich mir den Himmel vor? Wer bin ich eigentlich? Aus<br />
unseren Improvisationen mit Instrumenten gehen schließlich<br />
Kompositionen hervor. Der Dramaturg beobachtet, welche<br />
Themen sich durchziehen und kann die Jugendlichen darauf<br />
hinweisen. Inzwischen gibt es ein Textbuch. Es geht darin um<br />
die Geschichte von zwei Geschwistern, von denen eines stirbt.<br />
Und darum, dass Zeit nicht alle Wunden heilt. Geht das Leben<br />
einfach weiter, wenn jemand gestorben ist? Wie? Im Bühnenbild<br />
drückt sich das in einem Raum aus, in dem nichts verschoben<br />
werden darf – denn das ist ja ein ganz schmerzhafter<br />
Moment, wenn nach einem Tod ein Zimmer ausgeräumt wird,<br />
selbst wenn es irgendwann ein Moment der Bewältigung sein<br />
kann.<br />
24 <strong>Das</strong> <strong>Journal</strong> Nov. Dez. 2011 / Jan. 2012<br />
25<br />
12.<br />
Welche rolle spielt die Musik?<br />
Meistens steht sie für bestimmte Gefühlszustände. Es gibt<br />
immer wieder Erinnerungen. Der Mensch, der gestorben ist,<br />
kommt hier zu Wort. Im gegenwärtigen Stadium wird die Musik<br />
von den Jugendlichen gewissermaßen auf eine eher filmmusikalische,<br />
atmosphärische Weise eingesetzt.<br />
Ausgangspunkt für das Projekt war ein roman von Janne<br />
Teller, in dem es um Werte geht: Spielt dieses Buch noch<br />
eine rolle, oder ist es inzwischen in den Hintergrund gerückt?<br />
Wir haben den Roman mit dem Titel Nichts. Was im Leben<br />
wichtig ist in der ersten Woche gemeinsam gelesen und fanden<br />
ihn sehr aufregend. Als Motiv haben die Kids die nihilistische<br />
Grundbehauptung mitgenommen: Wenn ich nur zum Sterben<br />
geboren bin, dann macht doch alles keinen Sinn. Interessant war<br />
jedoch, dass die Jugendlichen eine sehr klare Meinung hatten,<br />
dass in diesem Roman ein ganz großes Missverständnis über<br />
Werte vorherrscht. Sie haben in unseren Gesprächen festgestellt:<br />
Der Wert ist das Leben selbst. Es sind Momente des<br />
Glücks, für die man lebt.<br />
Zu solchen Glücksmomenten, an die sich mancher vielleicht<br />
gerne zurück erinnert, gehört das Einschlafen mit<br />
einer Gutenachtgeschichte, oder, schöner noch, mit einem<br />
Gutenachtlied. Nun haben Wiegenlieder in jüngerer Zeit<br />
eine renaissance erfahren und auch die Junge Oper hat<br />
ein ganz besonderes „Wiegenliedprojekt“ ins Leben gerufen.<br />
Was war der Anlass dafür?<br />
Als ich zuletzt Kindern von Freunden abends eine Geschichte<br />
vorgelesen habe, dachte ich, dass es doch eigentlich auch für<br />
Erwachsene ganz schön sein müsste, die Geschichte einmal<br />
nicht selbst zu erzählen, sondern selbst wie ein Kind eine<br />
Geschichte erzählt zu bekommen und dabei einschlafen zu<br />
können. Außerdem sind Pyjama-Parties bei Kindern äußerst<br />
beliebt. Unser Schlafkonzert ist eine Verbindung von beidem:<br />
Eine Übernachtungsparty für Kinder und ihre Begleitpersonen,<br />
bei denen alle in den Schlaf gesungen werden mit Liedern und<br />
Harfenklängen.<br />
Wäre das nicht Besorgnis erregend, wenn sich herum<br />
spricht, dass die Junge Oper zum Einschlafen ist?<br />
Ich denke nicht. Denn normalerweise bewirken wir genau das<br />
Gegenteil.<br />
Vielen Dank für das Gespräch.<br />
Pinocchios Abenteuer<br />
von Jonathan Dove<br />
November 2011<br />
13.11. (nm) Familienvorstellung<br />
14.11. (vm) Schulvorstellung<br />
Dezember 2011<br />
12.12. Familienvorstellung<br />
13.12. (vm) Schulvorstellung<br />
18.12. Familienvorstellung<br />
19.12. Familienvorstellung<br />
Schlafkonzert<br />
Dezember 2011<br />
09.12., 19:00 Uhr bis 10:00 Uhr am 10.12.<br />
10.12., 19:00 Uhr bis 10:00 Uhr am 11.12.<br />
smiling doors<br />
Dezember 2011<br />
Uraufführung 16.12. / 17.12. / 20.12. / 21.12.<br />
Foto: Martin Sigmund
Seit wann arbeiten Sie an den Württem-<br />
bergischen <strong>Staatstheater</strong>n und wie viele Botenmeister<br />
gibt es an den <strong>Staatstheater</strong>n?<br />
Ich bin seit 6 Jahren am Haus. Insgesamt sind wir am Haus<br />
vier Botenmeister, wobei ein Kollege in der Kostümabteilung<br />
beschäftigt ist.<br />
26<br />
01<br />
02<br />
Was macht eigentlich ein Botenmeister?<br />
Wir Botenmeister sind zuständig für den Postversand,<br />
die Hauspost-Verteilung, verschiedenste Botengänger aller<br />
Art. Hinzu kommt die Verwaltung und Bereitstellung<br />
der Programmhefte und aller Publikationen in den verschiedenen<br />
Spielstätten. Wir organisieren außerdem die<br />
Drucksachen für die Verwaltung. Also sozusagen alles,<br />
was mit Papier zu tun hat.<br />
03<br />
Können Sie überschlagen, wie viele gelaufene<br />
Kilometer am Tag und letztlich in einer Spielzeit da<br />
so zusammen kommen?<br />
Im Schnitt dürften das 8 km pro Tag sein, also kommen wir<br />
in einer Spielzeit auf über 2.200 km. <strong>Das</strong> ist mehr als einmal<br />
zu Fuß von <strong>Stuttgart</strong> nach Lissabon oder nach Moskau.<br />
Plus • 10 Fragen an ...<br />
Raphael Agurkis, Leiter der Botenmeisterei<br />
„Hier ist kein Tag wie<br />
der andere“<br />
Raphael Agurkis in der Botenmeisterei<br />
04<br />
Wie wird man Botenmeister?<br />
Eine Ausbildung für den Beruf des Botenmeisters gibt es nicht,<br />
aber eine Ausbildung im Postbetrieb oder als Lagerfachkraft<br />
ist sehr vorteilhaft. Wir sind alle Quereinsteiger. Ich habe zum<br />
Beispiel eine Ausbildung als Drucker und eine langjährige<br />
Führungsposition bei einem Lebensmittelhersteller gehabt,<br />
bevor ich mich bei den <strong>Staatstheater</strong>n beworben habe.<br />
05<br />
Wie kamen Sie ans Theater?<br />
Durch reinen Zufall. Ich wollte eine berufliche Veränderung<br />
und wieder mit Papier zu tun haben. In der Zeitung habe ich<br />
dann die Stellenausschreibung gelesen und mich beworben.<br />
Bei den <strong>Staatstheater</strong>n zu arbeiten, war schon immer ein<br />
heimlicher Traum von mir. Wenn ich im Schauspielhaus eine<br />
Vorstellung besucht habe, war ich immer begeistert und<br />
dachte, hier würde ich gerne irgendwie arbeiten. Es gehört<br />
immer auch sehr viel Glück dazu.<br />
06<br />
Was war bisher die größte Herausforderung?<br />
<strong>Die</strong> größte Herausforderung gab es so bei mir nicht. Es sind<br />
die vielen Kleinigkeiten bei der täglichen Arbeit – Dinge<br />
unter großem Zeitdruck zu bewältigen. Wir arbeiten für alle<br />
drei Sparten, da gibt es immer wieder nicht planbare<br />
Situationen, und diese erfolgreich zu bewältigen, das ist<br />
unser Salz in der Suppe.<br />
Impressum: Herausgeber <strong>Die</strong> <strong>Staatstheater</strong> <strong>Stuttgart</strong> // Geschäftsführender Intendant Marc-Oliver Hendriks // Intendant Oper <strong>Stuttgart</strong><br />
Jossi Wieler // Intendant <strong>Stuttgart</strong>er Ballett Reid Anderson // Intendant Schauspiel <strong>Stuttgart</strong> Hasko Weber // redaktion Oper <strong>Stuttgart</strong>: Sara Hörr,<br />
Claudia Eich-Parkin <strong>Stuttgart</strong>er Ballett: Vivien Arnold Schauspiel <strong>Stuttgart</strong>: Ingrid Trobitz, Simone Voggenreiter // Gestaltung Bureau Johannes Erler //<br />
Druck Bechtle Druck&Service // Titelseite Elizabeth Wisenberg, <strong>Stuttgart</strong>er Ballett. Foto: Christian Wiehle redaktionsschluss 31. Okt. 2011 //<br />
Hausanschrift <strong>Die</strong> <strong>Staatstheater</strong> <strong>Stuttgart</strong>, Oberer Schlossgarten 6, 70173 <strong>Stuttgart</strong> / Postfach 10 43 45, 70038 <strong>Stuttgart</strong>.<br />
Foto: Matthias Dreher<br />
<strong>Das</strong> schönste oder vergnüglichste Erlebnis?<br />
... ist mein Geheimnis.<br />
Meine Lieblingsinszenierung...<br />
... war „Figaros Hochzeit“ im Schauspielhaus unter der Intendanz<br />
Friedrich Schirmer und im Ballett „E dward II.“, weil<br />
mir dieses Stück den Zugang zum Ballett ermöglicht hat.<br />
<strong>Das</strong> wünsche ich mir ...<br />
Mal 4 Wochen lang mit meinem Snowboard die schönsten<br />
Tiefschneeabhänge der Alpen ersteigen und meine Spur in<br />
den Schnee zeichnen.<br />
Förderer des<br />
<strong>Stuttgart</strong>er Balletts<br />
07<br />
08<br />
09<br />
Theater ist für mich ...<br />
Kein Tag wie der andere.<br />
10<br />
Partner der Oper <strong>Stuttgart</strong><br />
Förderer des <strong>Stuttgart</strong>er Balletts<br />
FESTSPIELHAUS BADEN-BADEN<br />
21. bis 27. Dezember 2011<br />
Mariinsky-Ballett<br />
st. PetersBurg<br />
Schwanensee<br />
Anna Karenina<br />
Don Quixote<br />
Ballett-Gala<br />
P<br />
beim <strong>Staatstheater</strong> <strong>Stuttgart</strong><br />
Landtag<br />
Konrad-Adenauer-Straße 3, 70173 <strong>Stuttgart</strong> 175 Plätze<br />
Ihr Partner rund ums Parken<br />
Parkraumgesellschaft<br />
Baden-Württemberg Baden-Württemberg mbH<br />
in der Kulturmeile<br />
P P Haus der Geschichte<br />
TIPP<br />
Landesbibliothek<br />
Konrad-Adenauer-Straße 10, 70173 <strong>Stuttgart</strong> 420 Plätze<br />
P P Staatsgalerie<br />
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- Durchgehend geöffnet -<br />
jede angefangene ½ Stunde 1 €<br />
Tageshöchstsatz 12 €<br />
Flanier-Pauschale Mo - Sa 15 - 6 Uhr max. 5 €<br />
Abend-Pauschale Mo - Sa 18 - 6 Uhr max. 4 €<br />
Sonn- u. Feiertags-Pauschale ab 6 Uhr max. 4 €<br />
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jede angefangene ½ Stunde 1 €<br />
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Abend-Pauschale Mo - Sa 18 - 6 Uhr max. 4 €<br />
Sonn- u. Feiertags-Pauschale ab 6 Uhr max. 4 €<br />
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- Durchgehend geöffnet -<br />
jede angefangene ½ Stunde 1 €<br />
Tageshöchstsatz 12 €<br />
TIPP<br />
Konrad-Adenauer-Straße 32, 70173 <strong>Stuttgart</strong> 123 Plätze<br />
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jede angefangene ½ Stunde 1 €<br />
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Flanier-Pauschale Mo - Sa 15 - 6 Uhr max. 5 €<br />
Abend-Pauschale Mo - Sa 18 - 6 Uhr max. 4 €<br />
Sonn- u. Feiertags-Pauschale ab 6 Uhr max. 4 €<br />
Dauerparkberechtigung pro Monat inkl. USt. 115,61 €.<br />
Abend-Pauschale Mo - Sa 18 - 6 Uhr 4 €<br />
Sonn- u. Feiertags-Pauschale ab 6 Uhr 4 €<br />
Huberstr. 3 · 70174 <strong>Stuttgart</strong> · pbw@pbw.de<br />
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