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Das Journal - Die Staatstheater Stuttgart

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<strong>Die</strong> <strong>Staatstheater</strong> <strong>Stuttgart</strong> // November und Dezember 2011, Januar 2012 // Nr. 02 <strong>Das</strong> <strong>Journal</strong><br />

<strong>Das</strong> <strong>Journal</strong><br />

Nr. 02 // November und Dezember 2011, Januar 2012


Foto: Martin Siegmund<br />

1. • Vorwort<br />

Sehr geehrte Leserinnen und Leser,<br />

liebes Opern-, Ballett- und Schauspielpublikum!<br />

Blutige Nasen in den <strong>Staatstheater</strong>n <strong>Stuttgart</strong>? Nein, unser<br />

Titelfoto dokumentiert zum Glück nicht einen bedauerlichen<br />

Bühnenunfall, sondern die hervorragende Arbeit unserer Kostüm-<br />

und Maskenabteilung. In unseren zahlreichen Werkstätten<br />

hinter den Kulissen leisten viele Menschen Tag für Tag einen<br />

ganz wesentlichen Beitrag zu unseren Musik-, Tanz- und<br />

Sprechtheaterproduktionen.<br />

Unsere Reportage über „<strong>Die</strong> Theater-Ermöglicher: ein Portrait“<br />

ab Seite 5 dieses <strong>Journal</strong>s berichtet von fünf jungen Men-<br />

schen, die sich in unseren Werkstätten ausbilden lassen. Wir<br />

hoffen, damit Ihre Neugierde auf Theater – getreu unseres bereits<br />

im Vorwort der ersten Ausgabe formulierten Wunsches – auch<br />

in dieser Ausgabe des „<strong>Journal</strong>s“ wieder aufs Neue zu wecken.<br />

Wir freuen uns auf Sie! <strong>Die</strong> <strong>Staatstheater</strong> <strong>Stuttgart</strong><br />

Inhalt<br />

<strong>Das</strong> <strong>Journal</strong><br />

Nov. Dez. 2011 / Jan. 2012<br />

v.l. Klaus Kächele, Johannes Petz, Urs Winter,<br />

Ulrich Wand, Peter Schaufelberger vom Staatsopernchor<br />

<strong>Stuttgart</strong> (Foto: Christian Wiehle)<br />

01. • Ausbildungsberufe an den <strong>Staatstheater</strong>n // Seite 5<br />

<strong>Die</strong> Theater-Ermöglicher: ein Portrait<br />

02. • Ortstermin Leonhardsviertel // Seite 8<br />

Ein Ausflug ins <strong>Stuttgart</strong>er Rotlichtviertel mit dem Regisseur Christian Weise<br />

03. • Schwanensee // Seite 10<br />

Femme fatale in Federm: Über schwarze und weiße Schwäne<br />

04. • Catherine Naglestad // Seite 12<br />

»Ich will dem Publikum nicht zeigen, was es denken soll«. Ein Portrait<br />

05. • 40 Jahre John Cranko Schule // Seite 14<br />

Interview mit Ballettschuldirektor Tadeusz Matacz<br />

06. • Cary Gayler // Seite 16<br />

»Spiel- und Denkräume entwerfen«. Ein Portrait der Bühnenbildnerin<br />

07. • Fausts Verdammnis // Seite 18<br />

Masse und Macht. Wie ein Chor zum Solisten wird<br />

08. • <strong>Die</strong> Nachtwandlerin // Seite 19<br />

Vincenzo Bellinis Oper: Zwischen Wildnis und Zivilisation<br />

09. • Kompanie des Jahres // Seite 20<br />

<strong>Das</strong> <strong>Stuttgart</strong>er Ballett gewann die Kritikerumfrage der Fachzeitschrift TANZ<br />

10. • Kristo Šagor // Seite 22<br />

Während der Proben zu »In weiter Ferne«: Sarah Israel befragte den Regisseur<br />

11. • Jan Neumann // Seite 23<br />

Auszüge der Laudatio zur Verleihung des Förderpreises für Komische Literatur<br />

12. • <strong>Die</strong> Junge Oper // Seite 24<br />

Lange Nasen, lächelnde Türen: Barbara Tacchini im Gespräch<br />

Plus • 10 Fragen an … // Seite 26<br />

Raphael Agurkis, Leiter der Botenmeisterei


Foto: Martin Sigmund<br />

1. • Vorwort<br />

01.<br />

Sie stehen nicht im Rampenlicht, doch ohne sie hörte das Herz<br />

des Theaters auf zu schlagen. Ohne sie blieben all die Ideen<br />

von Künstlern nur Ideengespinste. Als Handwerker und Techniker<br />

aller Couleur sind sie Teil einer wundersamen Illusionsmaschine,<br />

deren feinmechanische Justierung ebenso kompliziert<br />

wie faszinierend ist. Manches von dem, was sie können,<br />

lässt sich heute nur noch am Theater erlernen und im Theaterbetrieb<br />

verwirklichen, denn draußen in der globalisierten Welt<br />

hieße es: „zu zeitaufwändig, zu teuer“. Vieles von dem, was sie<br />

können müssen, ist Teil der rasanten technischen Entwicklung.<br />

Doch so vielfältig wie am Theater werden all diese Techniken<br />

sonst kaum irgendwo eingesetzt. Nicht zuletzt geht es hier<br />

nicht einfach nur um Handwerk und Technik, hier geht es immer<br />

mit allem Know how auf das Spielfeld der angewandten<br />

Kunst. Hier trifft täglich Handwerk auf Hightech. Wer aber<br />

„nur“ nach einem Brotberuf Ausschau hält, ist hier sicher fehl<br />

am Platz. Denn ohne Idealismus im Gepäck geht am Theater<br />

nichts. Und weil das so ist, bilden die Werkstätten am Staats-<br />

01. • Ausbildungsberufe an den <strong>Staatstheater</strong>n<br />

<strong>Die</strong> Theater-Ermöglicher:<br />

ein Portrait<br />

Von Kopf bis Fuß, von Bühnenbild bis Beleuchtung<br />

– an den <strong>Staatstheater</strong>n <strong>Stuttgart</strong> wird<br />

nichts dem Zufall überlassen: der Nachwuchs<br />

aus Modisterei und Maske, aus Schuhmacherei<br />

und Schreinerei wird dabei in den theatereigenen<br />

Werkstätten ausgebildet.<br />

theater <strong>Stuttgart</strong> ihre Mitarbeiter am liebsten selbst aus. <strong>Die</strong><br />

Erfahrung hat es gezeigt: die, die auf welchem Weg auch immer<br />

hierher finden, das sind die Richtigen. Annette Eckerle hat sich<br />

bei einigen von ihnen umgehört und umgesehen.<br />

<strong>Die</strong> Modisterei<br />

Mit Phantasie und heißer Nadel<br />

Gerade stichelt Anika Roll an einer Kopfbedeckung in Form<br />

eines Segelschiffs. So hätte der Kopfputz der Damen am Hof zu<br />

Versailles aussehen können, als Ludwig XIV., der Sonnenkönig,<br />

zu rauschenden Bällen bat. Zu fertigen ist das historisch anmutende<br />

Stück von Anika Roll für die Uraufführung des Balletts<br />

„<strong>Das</strong> Fräulein von S.“ (Choreografie: Christian Spuck) im Februar<br />

2012. Dafür hat sich Anika Roll, betreut von ihrer Ausbilderin<br />

Katrin Männer, durch historisches Bildmaterial gearbeitet,<br />

hat sich Gedanken gemacht, welche Stoffe dafür passend sein<br />

könnten, ästhetisch wie praktisch.<br />

Wenn man so will, ist für Anika Roll mit der Ausbildung zur<br />

Modistin ein Traum wahr geworden, von dem sie vor einigen<br />

Jahren noch nicht einmal wusste, dass sie ihn einmal träumen<br />

würde. 2009 machte sie Abitur. Bis dahin dachte sie „Modedesign,<br />

das wäre es wohl“. Wer sich dafür einschreiben will,<br />

muss ein halbjähriges Praktikum vorweisen. Anika Roll landete<br />

deshalb in den <strong>Staatstheater</strong>n, drei Monate lang. Sie schnupperte<br />

bei den Kostümbildnerinnen rein, war bei Einkäufen<br />

und Anproben dabei, landete schließlich bei den Modistinnen<br />

und entdeckte dort, dass sie „lieber mit den Händen arbeiten“<br />

mochte, als am PC Mode zu entwerfen.<br />

Jetzt, im zweiten Lehrjahr, weiß sie schon, dass Kopfbe-<br />

deckungen für Tänzer so leicht wie irgend möglich sein müssen,<br />

auch weil die schönen Objekte an den Köpfen wie auch<br />

immer, auf jeden Fall aber unverrückbar und bis zum Äußersten<br />

festzuzurren sind. Sie weiß, dass Kopfbedeckungen für<br />

Sänger immer so gefertigt sein müssen, dass diese nicht mit<br />

einem Mal im schalltoten Raum stehen. Was sie auch gelernt<br />

hat: Ruhige Zeiten sind selten. In der Modisterei wird für alle<br />

drei Sparten am Haus gearbeitet. Und so kann es schon sein,<br />

dass flugs mal für eine Schauspiel-Neuproduktion 40 Hüte<br />

zu fertigen sind, für eine Ballettpremiere schon vorgearbeitet<br />

wird und zur gleichen Zeit eine große Opernpremiere ins<br />

Haus steht.<br />

<strong>Die</strong> logistischen Fäden für diesen dauernden Mehrkampf<br />

hält Eike Schnatmann in Händen. Bevor sie 2006 an die<br />

<strong>Staatstheater</strong> <strong>Stuttgart</strong> kam, hat sie als Meisterin zehn Jahre<br />

lang einen Hutsalon in Hamburg geführt. Sie brennt für<br />

ihren Beruf, immer noch, eigentlich immer mehr und findet<br />

es deshalb schade, dass so wenige Anfragen für eine Ausbildung<br />

bei ihr landen: „<strong>Das</strong> hier ist so eine interessante Stelle.<br />

In der freien Wirtschaft kann vieles von dem, was wir hier<br />

machen aus ökonomischen Gründen nicht geboten werden.“<br />

Anika Roll weiß diese Vielfalt zu schätzen, zu der auch die<br />

enge Zusammenarbeit mit den Kollegen in der Kostümabteilung<br />

und in der Maske zählt.<br />

4<br />

<strong>Das</strong> <strong>Journal</strong> Nov. Dez. 2011 / Jan. 2012 5<br />

Anika Roll, Modisterei<br />

Foto: Maik Glemser


Foto: Maik Glemser<br />

Karla Schwabe, Schuhmacherei Sina Müllner, Maske<br />

Maske<br />

Mit viel Gefühl für Wellen und Farben<br />

Gerade knüpft Sina Müllner an einem Perückenrohling. Irgendwann,<br />

wenn sie mit einem kleinen feinen Häkchen tausende<br />

Haare in ein engmaschiges Netz hineingeknüpft haben wird,<br />

nach etwa 40 Stunden Geduldsarbeit, dann wird sie das Stück<br />

in Händen haben, mit dem sie in wenigen Monaten in der Abschlussprüfung<br />

ihr Können unter Beweis stellen muss. Dann<br />

heißt es nach bestimmten stilistischen Vorgaben schneiden<br />

und frisieren.<br />

Im Friseursalon an der Ecke, das wäre es für Sina Müllner<br />

nicht gewesen. Als sie die Ausbildung zur Friseurin machte,<br />

wusste sie schon: „Daraus muss mehr werden, als waschen,<br />

schneiden, fönen.“ Fantasievolle Steckfrisuren und aparte<br />

Schminktechniken hatten es Sina Müllner angetan. Ans Theater<br />

dachte sie dabei erst mal nicht. Deshalb ist sie nach ihrer<br />

Gesellenausbildung in der Europäischen Medien- und Eventakademie<br />

gelandet, in der einjährigen Berufsfachschule für<br />

Maskenbildner. <strong>Das</strong> Praktikum absolvierte sie an den <strong>Staatstheater</strong>n<br />

<strong>Stuttgart</strong>. So sollte sie unversehens mitten in einem<br />

Betrieb landen, in dem für schicke Wellen zwar nicht mehr<br />

die gute alte Brennschere zum Einsatz kommt, in dem aber<br />

mit flotten Fingern und unbedingt starken Nerven des Abends<br />

gefönt, gezwirbelt, gesteckt, gesprayt und onduliert wird was<br />

das Zeug hält. Und trotzdem es hier also heiß hergehen kann,<br />

ist Sina Müllner ins kalte, ja eiskalte Wasser gesprungen.<br />

Heute sagt sie: „Ich hatte Glück. Es ist ja nicht ganz leicht, hier<br />

hereinzukommen. Aber ich war am richtigen Ort zur richtigen<br />

Zeit, als eine Auszubildende abgesprungen ist.“ Und der Leiter<br />

der Maske, Jörg Müller hatte wohl den richtigen Riecher.<br />

Jedenfalls hat Sina Müllner ihren ersten Abenddienst am<br />

zweiten Tag ihrer Ausbildung gemeistert. Mittlerweile ist es<br />

schon Routine für Sina Müllner, die Haare einer Tänzerin, einer<br />

Sängerin flott zu vielen kleinen Schneckchen aufzudrehen,<br />

01. 01.<br />

ein Stirnband drum herum zu winden, den Kopfstrumpf drüber<br />

zu ziehen und dann die Perücke überzustülpen. Dafür und<br />

fürs Schminken darf sie 20 bis 30 Minuten Zeit brauchen,<br />

nicht mehr. Und irgendwann wird sie sich auch an der ganz<br />

hohen Schule der Frisurentechnik probieren, an der streng<br />

geschwungenen Eleganz der klassischen russischen Ballettfrisuren.<br />

Der andere Teil der Arbeit für Sina Müllner und ihre<br />

Kollegen besteht aus dem Formen von Gesichtsplastiken,<br />

plastischen Gesichtsteilen, der Gestaltung von Wunden oder<br />

Narben. Es kann schon sein, dass sich Sina Müllner irgendwann<br />

noch beim Film als Maskenbildnerin versucht, aber erst<br />

mal ist sie vom Theatervirus infiziert: „Hier zu arbeiten, ist<br />

schon etwas Besonderes“, ist ihr Resümee auf der Zielgeraden<br />

ihrer Ausbildung.<br />

Schuhmacherei<br />

Leder, ein ganz besonderer Stoff<br />

Wer heutzutage das Schuhmacher-Handwerk erlernen möchte,<br />

hat es nicht leicht. Aller Orten sprießen die Läden aus dem<br />

Boden, in denen in Null-Komma-Nix schief getretene Absätze<br />

erneuert werden. Doch seitdem der Meisterbrief nicht mehr<br />

die Voraussetzung ist, um eine Schuhmacherei zu führen, gibt<br />

es eben auch immer weniger Ausbildungsplätze. Davon kann<br />

Karla Schwabe mehr als nur ein Lied singen. Als sie ihr Grafik-<br />

Designstudium aufgab, um Schuhmacherin zu werden, weil<br />

ihr die Computerarbeit zu öde, zu wenig handfest war, musste<br />

sie eine kleine Odyssee hinter sich bringen. Sie suchte „in ganz<br />

Deutschland, der Schweiz und Italien“. Dann der glückliche<br />

Zufall. Eine Freundin, die in der Schneiderei an den <strong>Staatstheater</strong>n<br />

<strong>Stuttgart</strong> arbeitete, gab ihr den Tipp, dass am Haus<br />

eine Ausbildungsstelle ausgeschrieben sei, die einzige wohlgemerkt<br />

und also heiß begehrt.<br />

Karla Schwabe hatte nicht nur Glück, sondern auch genügend<br />

handwerkliches Geschick, das sie in einem kleinen Praktikum<br />

unter Beweis stellte, denn „mit zwei linken Händen“, so die Meis-<br />

terin Verena Bähr, „können wir hier niemanden gebrauchen“.<br />

Am Anfang der Ausbildung stand für die Lederliebhaberin<br />

Karla Schwabe dann das Reparieren, denn, so die Meisterin:<br />

„Dabei lernt man am besten die verschiedenen Materialien<br />

kennen und die Auswirkungen darauf, je nach Gangart eines<br />

Menschen“. Danach erst ging es weiter zum nächsten Ausbildungskapitel,<br />

zum so genannten Bodenbau. Über die Hohe<br />

Schule, will heißen, die Herstellung von Schaft und Leisten<br />

erklärt Frau Bähr weiter: „Um den ganzen Schuh vom Maßnehmen<br />

über den Leisten- und Schaftbau, den Bodenbau bis hin<br />

zur Auslieferung arbeiten zu können, reicht die Ausbildungszeit<br />

leider nicht aus. Auch wenn wir alle Arbeitsschritte in<br />

den drei Jahren anreißen, braucht der Leisten- und Schaftbau<br />

viel Übung und praktische Erfahrung, dieser Teil lässt sich erst<br />

in den anschließenden Gesellenjahren richtig vertiefen.“ Karla<br />

Schwabe wird aber auch Dinge lernen, die es so im täglichen<br />

Leben nicht gibt, beispielsweise den Bau eines Ballettstiefels<br />

mit weicher Sohle oder die Materialauswahl für schwierige<br />

Bodenverhältnisse. Wenn viel Theaterblut fließt, viel Theaternebel<br />

den Boden feucht werden lässt, dann müssen auch<br />

zierliche Damenschuhe rutschfest sein. Kurz und gut. Karla<br />

Schwabe hat es am Theater mit einer Materialvielfalt zu tun,<br />

wie sonst nirgends.<br />

Foto: Matthias Dreher<br />

Corinna Körner, Schreinerei Alexander Kotelnikov und Sindy Meyer, Veranstaltungstechnik<br />

Schreinerei<br />

Holz, geschlitzt und nicht geklebt<br />

Für Corinna Körner war schon vor dem Abitur klar: sie würde<br />

Schreinerin werden, im Theater, nicht in der freien Wirtschaft.<br />

Corinna Körner wollte nicht lernen, wie man Möbel zusammen<br />

klebt, sie wollte nicht lernen, wie man etwa die 100. Tür<br />

oder die 50. Küche baut, sie wollte den Möbelbau nach der<br />

klassischen Methode lernen, möglichst vielfältig. Am Theater,<br />

das wusste sie aus ihrer Erfahrung in diversen Praktika,<br />

die sie schon während der Schulzeit machte, am Theater würde<br />

das möglich sein. Denn, so bringt es ihr Ausbilder Boris<br />

Oswald auf den Punkt: „Jedes Bühnenbild ist ein Unikat. Vom<br />

Bühnenbildner bekommen wir hier eine technische Zeichnung.<br />

Auf welchem Weg wir das dann umsetzen bleibt uns<br />

und unserer Kreativität überlassen.“ Genau das mag Corinna<br />

Körner auch, dieses Tüfteln an technischen Lösungen, alleine,<br />

zusammen mit den Kollegen. Dafür hat sie im ersten Jahr, das<br />

mit nur einem Betriebstag pro Woche nahezu ausschließlich<br />

an der Schule stattfindet, traditionelle Holzverbindungen<br />

aller Arten herzustellen geübt. <strong>Das</strong> kommt ihr auch zugute,<br />

wenn alte Bühnenbilder aufgearbeitet werden müssen, an<br />

denen es nach langer Lagerzeit an allen Ecken und Enden<br />

krümelt und bröselt.<br />

Ansonsten begreift sich Corinna Körner als Handwerkerin,<br />

die mit ihrem Lieblingswerkstoff Holz in den Händen die Ideen<br />

von Bühnenbildnern Wirklichkeit werden lässt. Und sie schätzt<br />

es sehr, dass sie hier in der Werkstatt noch Techniken wie das<br />

Drechseln lernen kann. Andernorts, vor allem in kleinen Betrieben,<br />

ist das schon längst Schnee von Vorgestern. Einziger<br />

Wermutstropfen für sie: <strong>Die</strong> Aussicht auf Übernahme stehen<br />

derzeit eher schlecht. Vielleicht macht sie es aber auch früheren<br />

Azubis nach, die Architekt, Holztechniker oder auch Mediendesigner<br />

geworden sind.<br />

Veranstaltungstechnik<br />

Damit niemand im Dunkeln steht<br />

Früher, das heißt noch zu Beginn der 1990er Jahre, waren Veranstaltungstechniker<br />

irgendwie freakige Typen, meist mit<br />

selbst gestrickter Ausbildung. Gegen Ende der 1990er Jahre,<br />

als die technische Welt immer schneller, immer komplizierter<br />

wurde, hatte es auch an den Theatern ein Ende mit den selbst<br />

gebastelten Technikerkarrieren. 1998 wurde der Veranstaltungstechniker<br />

zum Ausbildungsberuf im dualen System<br />

gemacht. „<strong>Die</strong> Theater,“ sagt Michael Haarer, haben damals<br />

„sofort die Chance ergriffen, selbst auszubilden, ganz auf die<br />

eigenen Bedürfnisse zugeschnitten“. Haarer ist Absolvent eines<br />

Ingenieursstudiengangs für Theater- und Veranstaltungstechnik<br />

an der Berliner Technischen Fachschule und seit 13<br />

Jahren Ausbilder an den <strong>Staatstheater</strong>n <strong>Stuttgart</strong>. Wie sein<br />

idealer Azubi aussieht? Jedenfalls nicht wie einer, der nur kreative<br />

Flausen im Kopf hat. Am liebsten ist es Haarer, wenn<br />

Auszubildende eigeninitiativ bei ihm landen, so wie Alexander<br />

Kotelnikov, der als Kind eines Schauspielerehepaars erst<br />

vom Theatervirus infiziert war und schon als Schüler seine<br />

Leidenschaft für Medientechnik entwickelt hat.<br />

Nach der Mittleren Reife hat Alexander Kotelnikov diverse<br />

Praktika absolviert, „mit dem Ziel, Mediengestalter zu werden“.<br />

<strong>Die</strong>sen Umweg brauchte es für Kotelnikov, um zu verstehen,<br />

dass er die Sache doch lieber von der etwas handfesteren Seite<br />

angehen wollte. Bevor er in die Ausbildung am Schauspiel<br />

der <strong>Staatstheater</strong> <strong>Stuttgart</strong> einstieg, hat er in Sachen Veranstaltungstechnik<br />

ein paar kleinere Aufträge ausgeführt, bei<br />

Musicals und Theatervorstellungen. Und so wurde aus dem<br />

Hobby der Beruf. Jetzt, im dritten Ausbildungsjahr, hat er den<br />

Parcours durch die Werkstätten, die Bühnentechnik, die Maschinerie<br />

hinter sich und natürlich seine Kernthemen Licht, Video<br />

und Ton. Flausen? Nirgendwo. Alexander Kotelnikov ist sich im<br />

Klaren: „Im Grunde sind wir in erster Linie Elektrotechniker“,<br />

aber eben am Theater. Und das ist es, was Kotelnikov will. Für<br />

ihn interessant ist die Schnittstelle zwischen Kunst und Technik.<br />

Genau dort will er arbeiten, sich mit Stücken auseinander<br />

setzen, technische Lösungen finden für die Ideen von Regisseur<br />

und Bühnenbildner. So was hört Michael Haarer gerne<br />

und schwärmt von Azubis – von denen im Übrigen „recht viele<br />

Frauen sind“ – , die mit viel Einfühlungsvermögen für künstlerische<br />

Abläufe auf tontechnischem Gebiet Choreografen<br />

begeistert haben. Alexander Kotelnikov, dessen Herz an der<br />

Technik wie am Schauspiel hängt, träumt indes davon, sich<br />

auf das Licht zu spezialisieren, das für ihn dann ideal ist, wenn<br />

es „wie ein gutes Make up nicht zu sehen ist“. Der wichtigste<br />

Satz für ihn: „Geht nicht, gibt’s nicht.“<br />

Annette Eckerle<br />

<strong>Die</strong> verschiedenen Ausbildungsberufe an den<br />

<strong>Staatstheater</strong>n <strong>Stuttgart</strong>:<br />

Bühnenmaler/in, Bühnenplastiker/in, Fachkraft für<br />

Veranstaltungstechnik, Kauffrau/Kaufmann für Bürokommunikation,<br />

Maskenbildner/in, Maßschneider/in<br />

Fachrichtung Herrenschneider, Mediengestalter/in Bild<br />

und Ton, Modist/in, Schreiner/in, Schuhmacher/in und<br />

Textilreiniger/in.<br />

Kontakt: matthias.lutz@staatstheater-stuttgart.de<br />

6<br />

<strong>Das</strong> <strong>Journal</strong> Nov. Dez. 2011 / Jan. 2012 7<br />

Foto: Matthias Dreher<br />

Foto: Maik Glemser


Foto: Sonja Rothweiler<br />

02. 02.<br />

02. • Ortstermin Leonhardsviertel<br />

oben /unten<br />

Was geschieht wirklich hinter den<br />

Fenstern mit den roten<br />

Leuchtstoffröhren? Ein Ausflug ins<br />

<strong>Stuttgart</strong>er Rotlichtviertel mit dem<br />

Regisseur Christian Weise<br />

Bereits zum sechsten Mal arbeitet der Berliner Regisseur<br />

Christian Weise nun schon am SCHAUSPIEL STUTTGART.<br />

Seinen Einstand gab er 2006 mit Soeren Voimas moderner<br />

Don-Quixote-Bearbeitung „Herr Ritter von der traurigen<br />

Gestalt“. Nach der Uraufführung von „Eos“ brachte er in den<br />

folgenden Jahren mit den „Nibelungen“ und „Der Meister<br />

und Margarita“ zwei Stoffe der Weltliteratur auf die Bühne.<br />

In der vergangenen Spielzeit rief er in unserer Interimsspielstätte<br />

in der Türlenstraße die Haus-Show „Viva la Mittwoch!“<br />

ins Leben, die sich von der ersten Ausgabe an als Publikums-<br />

renner erwies. <strong>Das</strong>selbe trifft auf seine Inszenierung von<br />

„Was ihr wollt“, Shakespeares wohl schönster Liebeskomödie,<br />

zu, die noch bis Ende des Jahres in der BOX zu sehen ist.<br />

Derzeit befindet sich der Regisseur in den Proben zu<br />

Shakespeares Komödie „Maß für Maß“. Viele Schauspieler<br />

aus Weises letzten Inszenierungen sind wieder mit von der<br />

Partie. Anders als in „Was ihr wollt“, wo – ganz in der Tradition<br />

Shakespeares – alle Rollen von Männern gespielt wurden,<br />

stehen diesmal jedoch Darsteller beiderlei Geschlechts auf<br />

der Bühne. Dennoch werden auch in „Maß für Maß“ humorvolle<br />

Funken aus der Verwirrung der Geschlechter geschlagen,<br />

spielt doch niemand anderes als Martin Leutgeb die Rolle der<br />

Madame Oberweite, einer Bordellbetreiberin (um nicht zu<br />

sagen: Puffmutter), deren Geschäft ernsthaft in Gefahr gerät.<br />

In „Maß für Maß“ geht es um Politik, Macht – und Sex.<br />

Auch heutzutage keine ganz ungefährliche Mischung.<br />

Vincentio, Herzog von Wien, gibt sein Amt vorübergehend<br />

ab. Angelo, sein Stellvertreter, soll alte, längst vergessene<br />

Gesetze wieder zur Anwendung bringen, um der allzu ausschweifenden<br />

Sexualität in der vermeintlichen Hauptstadt<br />

des Lasters Herr zu werden. Außerehelicher Geschlechtsverkehr<br />

wird von nun an mit dem Tode bestraft, die Bordelle<br />

werden abgerissen. Keine angenehme Situation für ein Gewerbe,<br />

das von sexuellen <strong>Die</strong>nstleistungen lebt.<br />

Prostitution verbieten? Geht das überhaupt? Um herauszufinden,<br />

was heutzutage wirklich hinter den Fenstern<br />

mit den roten Leuchtstoffröhren geschieht, waren der junge<br />

Autor Paul Brodowsky, der das Stück für das SCHAUSPIEL<br />

STUTTGART neu übersetzt und bearbeitet hat, der Regisseur<br />

Christian Weise und der Dramaturg Christian Holtzhauer in<br />

Vorbereitung auf die Inszenierung „Maß für Maß“ einige<br />

Wochen im <strong>Stuttgart</strong>er Rotlichtviertel rund um die Leonhardstraße<br />

unterwegs und haben mit Menschen gesprochen,<br />

die im „ältesten Gewerbe der Welt“ ihr Geld verdienen<br />

– oder es zu kontrollieren und bekämpfen versuchen.<br />

Christian Holtzhauer: Christian, bist Du oft im Leonhardsviertel<br />

unterwegs?<br />

Christian Weise: Ja, und zwar meistens abends, wenn<br />

dort Hochbetrieb herrscht, aber aus anderen Gründen als<br />

viele der Herren, die dort ihren Verrichtungen nachgehen.<br />

Ich bin ja fast immer nur zum Arbeiten in <strong>Stuttgart</strong>, und<br />

während der Probenphasen hält man sich den ganzen Tag<br />

im Theater auf. Aber nach der Probe, oft erst gegen elf Uhr<br />

abends, gehen wir häufig noch zusammen essen. Beispielsweise<br />

in die „Weinstube Fröhlich“ in der Leonhardstraße.<br />

Wenn man dort vor oder nach dem Essen vor der Tür steht,<br />

hat man die ganze Straße im Blick und kann dem lustigen<br />

Treiben ganz gemütlich zuschauen. <strong>Das</strong> kleine <strong>Stuttgart</strong>er<br />

Rotlichtviertel ist eine eigene, streng abgegrenzte Welt, von<br />

der wir uns bei den Proben zu „Maß für Maß“ inspirieren<br />

lassen. Schräg gegenüber von der „Weinstube Fröhlich“<br />

hat ein netter Mensch einen roten Klappstuhl an die Wand<br />

geschraubt, damit die Damen sich nicht die Beine in den<br />

Bauch stehen müssen. <strong>Die</strong>ser Klappstuhl wird auch in unserem<br />

Bühnenbild auftauchen.<br />

Christian Holtzhauer: Nun gehörte Prostitution zu Lebzeiten<br />

Shakespeares angeblich zum Theaterbesuch dazu.<br />

Im dritten Rang des Globe-Theaters soll es Logen mit Vorhängen<br />

gegeben haben, die man zuziehen konnte, wenn<br />

man während der Aufführung andere Formen der Ablenkung<br />

suchte. <strong>Das</strong>s Sex mit dem Tod bestraft wird, war aber<br />

schon im 17. Jahrhundert eher ungewöhnlich. Hat also das<br />

Bild, das Shakespeare in seinem Stück vom Rotlichtmilieu<br />

entwirft, noch irgendetwas mit unserer Zeit zu tun?<br />

Paul Brodowsky: <strong>Die</strong> Todesstrafe erscheint einer liberalen<br />

Gesellschaft natürlich übertrieben, aber es gibt auch<br />

heute durchaus Menschen, die aus gutem Grund finden,<br />

dass Prostitution verboten gehört – um die Frauen zu schützen.<br />

Jedoch glaubt keiner unserer Gesprächspartner, mit<br />

denen wir in den letzten Wochen über die <strong>Stuttgart</strong>er Rotlichtszene<br />

gesprochen haben, daran, dass sich solch ein<br />

Verbot wirklich durchsetzen ließe.<br />

<strong>Das</strong> hat Shakespeare ganz genauso gesehen. In „Maß für<br />

Maß“ gibt es einen Zuhälter, der sinngemäß sagt, dass sich<br />

das älteste Gewerbe der Welt nicht verbieten lasse, so lange<br />

es Menschen zweierlei Geschlechts gibt, und dass die neuen<br />

Gesetze lediglich die Preise in die Höhe treiben würden. <strong>Das</strong><br />

ist streng marktwirtschaftlich und damit ziemlich modern<br />

gedacht.<br />

Christian Weise: Wobei modern gedacht noch nicht<br />

unbedingt modern geschrieben bedeutet. Wie so oft bildet<br />

Shakespeare auch in „Maß für Maß“ eine ganze Gesellschaft<br />

ab, in der „die da oben“ Gesetze erlassen, unter deren Folgen<br />

„die da unten“ – in diesem Falle also das Rotlichtmilieu – leiden.<br />

<strong>Die</strong> Konflikte auf der Ebene der Herrschenden, also politische<br />

Intrigen, Machtmissbrauch und sexuelle Übergriffe,<br />

erscheinen nahezu zeitlos, auch wenn bestimmte Motive –<br />

ein Herzog der sich als Mönch verkleidet, eine junge Nonne,<br />

die in die Fänge der Macht gerät – eher an Mantel-und-Degen-Filme<br />

erinnern. Da kommt das Stück zwar wie ein Märchen<br />

daher, aber das lässt sich auch heute noch erzählen,<br />

denn schließlich lesen wir Märchen ja auch immer noch.<br />

<strong>Die</strong> Szenen aber, die im Rotlichtmilieu spielen, sind bei<br />

Shakespeare als Gesellschaftssatire gemeint. Sie sollen<br />

witzig sein, sind es jedoch nicht mehr. Deshalb war es mir<br />

wichtig, dass das Stück neu übersetzt wird und wir uns für<br />

die Szenen, die im „Milieu“ spielen, auch im echten <strong>Stuttgart</strong>er<br />

Rotlichtviertel umsehen.<br />

Christian Holtzhauer: Allerdings waren nicht alle dieser<br />

Gespräche wirklich lustig. Wir haben uns mit Sozialarbeiterinnen<br />

getroffen und mit Politikern, mit Bordellbetreibern<br />

und mit ehemaligen Zuhältern, mit der Polizei und<br />

natürlich auch mit Frauen, die selbst anschaffen gehen oder<br />

gingen. Da waren viele skurrile Anekdoten dabei, etwa von<br />

Frauen, die ihre Freier als ihre Liebhaber ausgaben, wenn<br />

die Polizei vorbeikam. Trotzdem schien selbst über den komischen<br />

Geschichten eine gewisse Traurigkeit zu liegen.<br />

Paul Brodowsky: <strong>Das</strong> stimmt. <strong>Die</strong> Zeiten scheinen härter<br />

geworden zu sein. Viele ehemalige Aktive trauern den<br />

„goldenen Jahren“ hinterher, als es im Rotlichtmilieu vor<br />

allem darum ging, eine gute Zeit zu haben. Sex spielte damals<br />

angeblich gar keine so große Rolle. Heute dagegen ist<br />

Prostitution ein knallhartes Geschäft, bei dem es vor allem<br />

um schnelle Triebabfuhr geht – und um Geld. <strong>Die</strong> Ökonomie<br />

steht im Vordergrund, nicht das Lebensgefühl. Obwohl Pros-<br />

titution vor ein paar Jahren legalisiert wurde, ist es offenbar<br />

immer noch kein Geschäft wie jedes andere – das merkt man<br />

der Argumentation der Bordellbetreiber an. Sie kommen dann<br />

fast ein bisschen wie die Heilsarmee daher und legitimieren<br />

den Fakt, dass sie an Frauen verdienen, die sexuelle <strong>Die</strong>nstleistungen<br />

verkaufen, damit, dass sie den Frauen wenigstens<br />

angenehme Arbeitsbedingungen bieten würden.<br />

In einem anderen Fall geht es um ein Bordell, das es eigent-<br />

lich gar nicht geben dürfte. Doch obwohl jeder sieht, was in dies-<br />

em Haus vorgeht, gelingt es dem Besitzer immer wieder, mit<br />

Hilfe spitzfindiger Ausreden die drohende Schließung abzuwenden.<br />

Hierin liegt dann doch viel komisches Potential.<br />

Christian Weise: Wie die Leute sich rausreden, das ist<br />

interessant für uns. Denn trotz des im Stück verhängten<br />

Verbots, weiterhin Bordelle zu betreiben, geschieht natürlich<br />

genau das. Schließlich müssen die Puffmutter und ihr<br />

Zuhälter ja auch von irgendetwas leben, und ihre Kunden und<br />

Geschäftspartner wollen auch nicht auf ihren Spaß verzichten.<br />

Not macht erfinderisch. Immerhin steht das Milieu zu<br />

seinem Gewerbe – anders als der Herzog, der sich aus der<br />

Verantwortung stiehlt, oder des Herzogs Stellvertreter. Denn<br />

kaum ist der im Amt, und kaum läuft ihm eine junge Frau<br />

über den Weg, die er begehrt, benutzt er seine neu gewonnene<br />

Macht dazu, sie ins Bett zu kriegen.<br />

Auch das soll heute ja immer mal wieder vorkommen<br />

und ist natürlich auch ziemlich schrecklich – zugleich aber<br />

auch Stoff für eine große Komödie. Und die wollen wir gern<br />

erzählen.<br />

Maß für Maß<br />

von William Shakespeare<br />

in einer Neuübertragung von Paul Brodowsky<br />

Regie: Christian Weise, Raum: Jo Schramm,<br />

Kostüme: Andy Besuch, Musik: Jens Dohle,<br />

Dramaturgie: Christian Holtzhauer<br />

Mit: Sebastián Arranz, Johannes Benecke,<br />

Toni Jessen, Martin Leutgeb, Lotte Ohm,<br />

Elmar Roloff, Lukas Rüppel, Michael Stiller,<br />

Holger Stockhaus, Catherine Stoyan sowie<br />

Jens Dohle, Falk Effenberger und Steffen Illner<br />

Uraufführung der Neuübertragung<br />

am 26. November 2011, 19.30h,<br />

ArENA (Türlenstraße 2)<br />

Vorstellungen nur bis 31. Dezember 2011<br />

8 <strong>Das</strong> <strong>Journal</strong> Nov. Dez. 2011 / Jan. 2012<br />

9


<strong>Die</strong> Hollywood-Schauspielerin Natalie Portman<br />

gewann im Frühjahr 2011 den begehrten Oscar für<br />

ihre Darstellung einer psychisch kranken Ballett-<br />

tänzerin, die an der Doppelrolle des weißen /<br />

schwarzen Schwans in dem berühmten Ballettklassiker<br />

Schwanensee zugrunde geht. Der Film<br />

hat einen Sturm der Entrüstung in der Ballettwelt<br />

ausgelöst, denn “Black Swan” ist eher ein Horror-<br />

Film als eine realistische Darstellung des Tänzer-<br />

Alltags. Dennoch liegt der Geschichte eine der<br />

interessantesten – und durchaus schizophrenen<br />

– Rollen zugrunde, die das klassische Ballett einer<br />

Tänzerin zu bieten hat: In ein und demselben<br />

Ballett verkörpert sie eine keusche, unschuldige<br />

Prinzessin sowie eine diabolische Verführerin, eine<br />

„Femme fatale“ in Federn.<br />

Versucht man, diese Figuren zu entschlüsseln,<br />

bleiben sowohl Odette, der weiße Schwan als auch<br />

Odile, der schwarze Schwan, äußerst enigmatisch;<br />

hauptsächlich deshalb, weil wir so wenig über sie<br />

wissen. <strong>Die</strong>s liegt zum Teil daran, dass bis heute<br />

unklar ist, auf welcher Legende, Märchen oder Sage<br />

die Handlung basiert. Einige Tanzwissenschaftler<br />

gehen davon aus, dass die Handlung auf Motive aus<br />

Johann Karl August Musäus‘ Märchen “Der geraubte<br />

Schleier” (veröffentlicht in “Volksmärchen<br />

der Deutschen”, 1782-86) zurückgeht, in dem von<br />

einem Schwanenteich die Rede ist. Andere vermuten<br />

eine Inspiration in Grimms “<strong>Die</strong> sechs<br />

Schwäne”, wobei dort die verzauberten Schwäne<br />

männlich sind. Auch ist unklar, wer der Autor des<br />

ursprünglichen Librettos war: auf dem zur Uraufführung<br />

in Moskau gedruckten Manuskript von<br />

1877 – erst in den 1950er Jahren wieder aufgefunden<br />

– ist kein Verfasser angegeben.<br />

<strong>Die</strong>se Ungewissheit wirft viele Fragen auf. So hat<br />

Odette anscheinend weder Eltern noch Geschwister;<br />

man weiß nicht, warum der Zauberer Rothbart<br />

sie gefangen genommen hat und in einen Schwan<br />

verwandelte. Bei Odile verhält es sich ähnlich. In<br />

manchen Fassungen des Balletts ist sie die Tochter<br />

Rothbarts; in anderen ist sie ein Dämon, den<br />

Rothbart einspannt, um den ahnungslosen Prinzen<br />

ins Verderben zu führen. Anderseits erlaubt just<br />

diese Unklarheit Choreographen und vor allem<br />

Tänzerinnen, die Odette/Odile tanzen dürfen, viel<br />

03. • Schwanensee 03.<br />

Freiheit in der Gestaltung bzw. Darstellung der<br />

Doppelrolle. <strong>Die</strong> Rolle ist insofern eine spannende<br />

Aufgabe für die Tänzerin, weil stilistisch gesehen<br />

Welten zwischen beiden Charakteren liegen. Der<br />

weiße Schwan erfordert langsame, elegante, gar<br />

elegische Bewegungen und Hebungen. Odette ist<br />

von Trauer und Leid durchdrungen; ihre anfängliche<br />

Scheu vor dem Prinzen basiert zum Teil darauf,<br />

dass sie eigentlich gar nicht daran glaubt,<br />

dass er treu sein wird. Odile hingegen ist eine<br />

selbstsichere Frau; ihre Bewegungen sind kantig,<br />

feurig und zugleich verführerisch. Sie zweifelt nie<br />

daran, dass sie Siegfried für sich gewinnen wird.<br />

<strong>Die</strong>se zwei Frauengestalten glaubwürdig zu verkörpern<br />

und innerhalb von Minuten die Körper-<br />

und Geisteshaltung (geschweige denn das Kostüm!)<br />

zu ändern, empfinden viele Tänzerinnen als<br />

große Herausforderung, zumal die meisten Tänzerinnen<br />

eine natürlich Veranlagung für den einen<br />

oder anderen Stil haben. <strong>Die</strong> berühmte russische<br />

Ballerina Natalia Makarova, eine sehr lyrische<br />

Tänzerin, beschrieb ihre Auseinandersetzung mit<br />

der Rolle der Odile wie folgt: „Für mich war Odile<br />

Femme<br />

fatale<br />

in Federn<br />

Über schwarze und weiße<br />

Schwäne und John Crankos unschuldig<br />

schuldigen Prinzen<br />

wie eine Glaswand, über die ich permanent zu<br />

krabbeln versuchte und mir jedes Mal blutige<br />

Hände holte.“<br />

Betrachtet man diese Doppelrolle aus tanzhistorischer<br />

Sicht, könnte man sagen, dass Odette und<br />

Odile enge Verwandte der Heldinnen sind, die von<br />

1832 an mit der Uraufführung von La Sylphide in<br />

Paris, über das zaristische Ballett in St. Petersburg<br />

und Moskau, bis zur Jahrhundertwende die Ballett-<br />

bühne dominierten. In La Sylphide muss der Bauernjunge<br />

James sich entscheiden zwischen der<br />

ätherischen, reinen Sylphide – ein Kind der Lüfte<br />

und des Waldes – und seiner äußerst irdischen<br />

Verlobten Effie, einer soliden Bäuerin, die ihm viele<br />

Kinder und genauso viel Langeweile verspricht.<br />

James entscheidet sich für die Sylphide; bei seiner<br />

ersten Berührung jedoch stirbt sie: <strong>Die</strong> Sylphide<br />

ist nicht für sein körperliches Besitzergreifen bestimmt.<br />

Effie heiratet einen Anderen; James bleibt<br />

alleine und gebrochen zurück.<br />

1841 betritt eine neue Frauengestalt die Bühne:<br />

Giselle. Hier verschmilzt die menschliche Figur mit<br />

der überirdischen. Giselle ist ein Bauernmädchen,<br />

Alicia Amatriain, Erste Solistin des <strong>Stuttgart</strong>er Balletts, als schwarzer und weißer Schwan, fotografisch interpretiert von Sébastien Galtier.<br />

das nach seinem Tod – ausgelöst durch den Verrat<br />

ihres Liebhabers Albrecht – in eine Wili verwandelt<br />

wird: Ein dämonisches Wesen der Nacht, das<br />

Männer aus Rachsucht zu Tode tanzt, angefeuert<br />

von ihrer unerbittlichen Anführerin, der männerhassenden<br />

und -mordenden Myrtha. Albrecht, der<br />

adlige Held, verursacht – genauso wie James – den<br />

Tod seiner Geliebten aus purem Egoismus und<br />

dem Wunsch, seinem Alltag zu entkommen: Er<br />

möchte das schöne Bauermädchen Giselle verführen<br />

und lässt sie glauben, er würde sie heiraten,<br />

obwohl er einer anderen – adligen – Frau schon<br />

versprochen ist. Giselle verliert über seinen Verrat<br />

den Verstand, stirbt und ist dazu verdammt – wie<br />

alle anderen Wilis, also Mädchen, die vor ihrer<br />

Hochzeitsnacht von ihrem Verlobten oder Liebhaber<br />

sitzen gelassen wurden, – auch Myrthas<br />

“Armee” anzugehören. <strong>Die</strong>smal aber wird der Held<br />

erlöst: Giselle vergibt Albrecht seine Verlogenheit<br />

und widersetzt sich Myrthas Befehl, ihren einstigen<br />

Liebhaber zu Tode zu tanzen. Kurzum, Giselles<br />

Liebe für Albrecht überlebt und überwindet selbst<br />

den Tod.<br />

Mit der Rolle Odette/Odile wird ein weiterer<br />

Schritt getan: Odette muss nicht sterben, um sich<br />

in ein überirdisches Wesen zu verwandeln, sie<br />

wird im lebendigen Leib verwandelt: Ihre Seele<br />

und ihr Geist sind in dem Körper eines Schwans<br />

gefangen. Nachts nimmt sie ihre menschliche<br />

Gestalt an und hat somit eine Chance, dem rettenden<br />

Prinzen, der sie durch seine Treue befreien<br />

kann, zu begegnen. <strong>Die</strong> Rolle der Myrtha fällt weg:<br />

Odette selbst ist die Anführerin von 24 Schwanenmädchen.<br />

Scheitert Odette daran, einen treuen<br />

Prinzen zu finden, so sind alle anderen Mädchen<br />

auch verdammt, auf immer und ewig Schwäne zu<br />

bleiben oder zumindest so lange, bis sich der Rich-<br />

tige findet. Interessanterweise sind hier die Schwäne<br />

– im Gegensatz zu den kapriziösen Sylphiden<br />

und vor allem den mordenden Wilis – die Unschuldigen;<br />

für Siegfried lauert die Gefahr ganz woanders,<br />

nämlich nicht in der abgeschiedenen, mondüberfluteten<br />

Waldlichtung, wo er zum ersten Mal<br />

auf Odette trifft, sondern im grellen Lichte seines<br />

eigenen Festsaals. Dort begegnet er Odile, verfällt<br />

ihren gefährlichen Reizen und bricht somit seinen<br />

Schwur der ewigen Treue an Odette. Eigentlich<br />

sind beide Frauen nichts anderes als eine Projektionsfläche<br />

für Siegfrieds Sehnsüchte: In den keuschen,<br />

unschuldigen weißen Schwan verliebt er<br />

sich, insgeheim aber sehnt er sich auch nach dem<br />

erotischen schwarzen Schwan und zwar so sehr,<br />

dass er dem unrealistischen Glauben verfällt, es<br />

sei ein und dieselbe Frau.<br />

Damit lässt Schwanensee die Romantik von La<br />

Sylphide und Giselle sowie sogar auch das zaristische<br />

Ballett à la Dornröschen und Nussknacker<br />

hinter sich und führt das Ballett an die Schwelle<br />

zum 20. Jahrhundert. Denn Siegfried ist ein Prinz<br />

aus Fleisch und Blut, einer, der seiner herrschsüchtigen<br />

Mutter mitsamt ihrem starren Hofstaat<br />

trotzt und sich davor sträubt, seine Pflicht als<br />

Thronfolger kleinlaut anzunehmen, wie andere es<br />

ihm vorschreiben.<br />

All dies hat der geniale Choreograph John<br />

Cranko erkannt und legte intelligenterweise den<br />

Schwerpunkt seiner 1963 für das <strong>Stuttgart</strong>er Ballett<br />

geschaffenen Fassung auf Siegfried und seine<br />

fatale Entscheidung. Cranko lässt ihn prüfen und<br />

Siegfried versagt; folgerichtig bezahlt Crankos<br />

Held seinen Irrtum mit seinem Leben. Der Choreograph<br />

entschied sich somit gegen das gängige<br />

Happy End, das bis dahin weltweit zu sehen war.<br />

Insofern war John Cranko den Filmemachern von<br />

„Black Swan“ schon einen Schritt voraus, denn am<br />

Ende des Films haben auch die dunklen Mächte<br />

die Oberhand gewonnen und die Protagonistin<br />

stirbt. Vivien Arnold<br />

John Crankos Schwanensee<br />

beim <strong>Stuttgart</strong>er Ballett<br />

Im Opernhaus am 1., 4., 8., 10., 11., 16., 23.,<br />

29., 30. Dezember 2011<br />

sowie am 2. Januar 2012.<br />

Gala Vorstellung am 31. Dezember<br />

mit Polina Semionova vom Staatsballett<br />

Berlin als Gast.<br />

10 <strong>Das</strong> <strong>Journal</strong> Nov. Dez. 2011 / Jan. 2012<br />

11


Foto: Tania Niemann<br />

Eine Frau<br />

zwischen<br />

den Welten<br />

»Ich will dem Publikum nicht zeigen,<br />

was es denken soll, ich möchte<br />

Freiräume schaffen.« Ein Portrait der<br />

Sängerin Catherine Naglestad<br />

Eine Frau zwischen den Welten – die Sopranistin Catherine<br />

Naglestad, international gefeiert und eng verbunden mit der<br />

<strong>Stuttgart</strong>er Oper, deren Inszenierungen sie über Jahre hinweg<br />

prägte wie kaum eine andere Sängerin. Wie sie auf der Bühne<br />

Figuren erschafft, die in einer seltsam eindeutigen Uneindeutigkeit<br />

dem Zuschauenden und -hörenden in jedem Augenblick<br />

Ahnungen von Räumen, Zuständen und Verfassungen<br />

jenseits klarer Definitionen und Fassbarkeiten vermitteln, gehört<br />

zum Faszinosum dieser Künstlerin. Ab dem 9. Dezember<br />

ist sie nun wieder in <strong>Stuttgart</strong> zu hören, mit der Titelpartie in<br />

Bellinis Norma, der Partie, mit der sie 2006 zuletzt hier auf der<br />

Bühne stand.<br />

Ein Leben zwischen verschiedenen Welten scheint Catherine<br />

Naglestad biografisch und sängerisch in die Wiege gelegt zu<br />

sein. „Ich passe nicht wirklich in ein Fach, immer schon“, kom-<br />

mentiert sie ihre erstaunliche sängerische Wand lungsfähigkeit,<br />

die sie über Jahre hinweg sowohl Händel und Mozart<br />

als auch Verdi und Puccini singen ließ – „ich brauche solche<br />

Wechsel.“ Wer in <strong>Stuttgart</strong> ihre Poppea, Alcina, Alceste, Fiordiligi<br />

(Così fan tutte), Vitellia (La clemenza di Tito) oder Konstanze<br />

und zugleich ihre Elisabetta (Don Carlo), Leonora (Il trovatore),<br />

Violetta, Norma, Musetta oder Tosca gehört hat, konnte erleben,<br />

wie ihre immer unverwechselbare Stimme sich diesen<br />

unterschiedlichen Stilrichtungen und Fächern anverwandelte<br />

und die Gestalt der jeweiligen Partie durchdrang und erfüllte.<br />

<strong>Die</strong>se Wandelbarkeit schließt Entwicklung mit ein, in den<br />

vergangenen Jahren bewegt sich Catherine Naglestad nicht<br />

Catherine Naglestad<br />

04. • Catherine Naglestad<br />

mehr zwischen Händel und Puccini, sondern zwischen Puccini<br />

und Wagner, singt nun auch Elsa, Senta, Sieglinde und die<br />

Siegfried-Brünnhilde – „ich bin froh, dass der Schritt zu Wagner<br />

geklappt hat, doch es war richtig, so lange darauf zu warten“.<br />

Der stimmliche Wechsel von Händel zu Puccini, oder eben von<br />

Bellini zu Wagner, erfordert jedesmal Zeit und Umstellung.<br />

Zugleich ist dieses große Spektrum verschiedener Partien an<br />

jedem Abend, den Catherine Naglestad singt, zu hören, in dem<br />

fast unbegrenzten Reichtum an Farben und Atmosphären,<br />

über die ihre Stimme scheinbar so mühelos verfügt. In ihrer<br />

nuancierten Gestaltung, die jedem Ton einen eigenen Ausdruck,<br />

jedem Bogen eine eigene musikalische Stimmung gibt,<br />

erscheint die Partie neu, wird das Gesungene zur einzigartigen<br />

Aussage der jeweiligen Figur selbst.<br />

Erlebt man Catherine Naglestad auf der Opernbühne, ist<br />

ihr Gesang untrennbar verbunden mit ihrem Spiel – und auch<br />

hier begegnet einem ein faszinierender Facettenreichtum der<br />

Gestaltung. Beschreiben lässt sich ihr Spiel am ehesten im<br />

antagonistischen „Dazwischen“ – als eine nie nachlassende<br />

Präsenz, die immer auch etwas zurückhält, als ein Zeigen und<br />

Verstecken zugleich. Catherine Naglestad nimmt die Bühne<br />

ganz und gibt sich ihr vollkommen hin. Dabei scheint jede<br />

Geste natürlich, obgleich doch deutlich wird, dass nichts davon<br />

zufällig ist. <strong>Die</strong>s wiederum verbindet sich mit einer Ruhe, Anmut<br />

und Würde, die auch im Kleinsten noch eine ungeheure<br />

Intensität zu entwickeln vermag. Und so kann es sein, dass es<br />

nur ein Gang ist, eine Bewegung mit dem Kopf, der einen zuschauend<br />

zu Tränen rührt. Mit ihrer ganzen Persönlichkeit ist<br />

Catherine Naglestad auf der Bühne und erschafft so, mit sich<br />

und ihrer Stimme, eine neue Figur, die, erkämpft, gelebt und<br />

durchlitten, ein eigenes Bühnenleben von unmittelbarer Authentizität<br />

bekommt. <strong>Das</strong>s das auch sie selbst packt, sie nach<br />

einer Vorstellung nicht einfach nach Hause geht und an den<br />

nächsten Tag denkt, gehört dazu: „Ich wünschte, ich könnte<br />

es. Aber ich bin geschafft und kaputt, ich weine. Es ist ja sehr<br />

emotional, man gibt so viel von sich her.“ Zugleich wird eine in<br />

dieser Weise durchdrungene Rolle, Partie, Figur so nah und ver-<br />

traut wie ein „zu Hause“ – so formuliert es Catherine Naglestad<br />

einmal –, zu dem man sich immer wieder freut, zurückzukehren.<br />

Doch was möchte sie mit ihrer Kunst vermitteln? „Daran<br />

denke ich eigentlich gar nicht“. Was sie auf keinen Fall möchte,<br />

ist belehren – „ich will dem Publikum nicht zeigen, was es<br />

denken soll.“ Ihr Wunsch ist es, „einen Freiraum zu schaffen, in<br />

dem Leute ein karthatisches, läuterndes Erlebnis haben, weinen<br />

oder lachen, ihren Emotionen freien Lauf lassen können.<br />

Denn dafür“, so Catherine Naglestad, „ist heute oft zu wenig<br />

Platz.“ Ein wichtiges Moment ist für sie dabei die ästhetische<br />

Kategorie der „Schönheit“ als Voraussetz ung dafür, etwas, was<br />

man sieht und hört überhaupt direkt an sich heranzulassen,<br />

auch ohne die Zwischenstufe des Intellekts –, „darüber haben<br />

wir in <strong>Stuttgart</strong> viel diskutiert“, erinnert sie sich lachend. „Aber<br />

es ist gut, dass es unterschiedliche Inszenierungen gibt, die<br />

Leute sind eben verschieden.“<br />

Sie selbst erlebt solche hochemotionalen – sie spricht von<br />

„transzendenten“ – Momenten selten in Vorstellungen, viel eher<br />

in Proben, „oder am Klavier, wenn man etwas neu entdeckt.<br />

Aber ich denke, das kommt dann auch in der Vorstellung<br />

durch.“ Und dann erinnert sich Catherine Naglestad doch an<br />

zwei Situationen, wo es sie auch am Abend auf der Bühne<br />

überwältigte: die letzte Alcina-Vorstellung, die sie mit Alice<br />

Coote als Ruggiero sang. Und ihre damals letzte Norma-<br />

Vorstellung in <strong>Stuttgart</strong> im April 2006: „Als ich mich in der<br />

Schlussszene umdrehte und all die Chorsänger sah, von denen<br />

viele schon bei meinen ersten Vorstellungen in <strong>Stuttgart</strong> dabei<br />

waren, da habe ich geweint. Aber eine Norma darf auch weinen!“<br />

Catherine Naglestad steht nicht nur als Sängerin ständig<br />

zwischen verschiedenen Polen, ist in verschiedenen Stimmfächern<br />

und Rollen auf der Bühne, auch in ihrem sonstigen<br />

Leben bewegt sie sich von klein auf zwischen verschiedenen<br />

Welten. Geboren wurde sie in San José, Kalifornien, lebte dann<br />

auch auf Hawaii, wo sie schon früh das kulturelle und soziale<br />

Mit- und Nebeneinander der polynesischen, asiatischen und<br />

amerikanischen Einwohner erlebte. Zur Schule ging sie jedoch<br />

in Kalifornien – „ich war immer unterwegs“. Gesungen hat sie<br />

„schon immer“ und wusste bald, dass sie das auch beruflich<br />

gerne machen würde – beim Musical. „Oper hatte ich ein paar<br />

Mal im Fernsehen gesehen, aber ehrlich gesagt, das fand ich<br />

todlangweilig.“ Da sie bei Freunden, die beim Musical arbeiteten,<br />

mitbekam, mit welchen Stimmschwierigkeiten diese oft<br />

bereits nach kurzer Zeit zu kämpfen hatten, wollte sie eine solide<br />

Ausbildung – „ok, dann muss ich studieren“. Wenig später<br />

sah sie zufällig die La-traviata-Verfilmung von Franco Zeffirelli<br />

und war hingerissen: „Soviel Leidenschaft und Drama. Es geht<br />

bei Oper also doch um eine Geschichte!“ Nach diesem Erlebnis<br />

konzentrierte sie sich in ihrem Studium fortan auf Oper. Und<br />

das Musical? „<strong>Das</strong> mag ich immer noch gern, ab und zu höre<br />

ich Musical im Radio und singe mit.“<br />

Nach ihrem Studium in San Francisco reiste sie nach Italien,<br />

um weiter Unterricht zu nehmen. Dort wurde sie krank, eine<br />

Lungenentzündung, die sie letztlich zwang, für ganze zwei Jahre<br />

mit dem Singen zu pausieren. Einen Wiedereinstieg fand sie<br />

im Chor der Los Angeles Opera, wo sie zwei Jahre als Choris-<br />

tin beschäftigt war. „Es hat mir Spaß gemacht, ich habe diese<br />

Zeit genossen“, erzählt sie von diesen Anfängen ihres Sängerlebens.<br />

Über ein Vorsingen dort im Theater kam sie schließlich,<br />

auch dank Pamela Rosenberg und Johannes Schaaf, nach<br />

Europa. Als erstes sang sie an der Hamburgischen Staatsoper<br />

die Konstanze in Schaafs Inszenierung von Mozarts Entführung<br />

aus dem Serail, einen Vertrag für Produktionen in <strong>Stuttgart</strong><br />

hatte sie da bereits in der Tasche. Nach einigen Gastengagements<br />

kam sie 1997 fest ins Ensemble: „Ich war so dankbar<br />

und glücklich, endlich an einem Platz bleiben zu können. Ich<br />

reise so ungern.“ Froh ist sie auch über das große Repertoire,<br />

das sie sich in <strong>Stuttgart</strong> mit den vielen Produktionen, die sie<br />

am Haus sang, erarbeiten konnte – etwas, was ihr bis dahin<br />

fehlte, „denn ich habe ja spät angefangen, hatte keinen so<br />

direkten Weg.“<br />

Eine wichtige Konstante während ihrer Jahre hier am Haus<br />

war die Zusammenarbeit mit Jossi Wieler und Sergio Morabito.<br />

<strong>Die</strong>se begann bereits 1994 mit der Neuproduktion von Mozarts<br />

La clemenza di Tito, wo Catherine Naglestad die Vitellia sang.<br />

Es war nicht nur für sie eine ihrer ersten Arbeiten in <strong>Stuttgart</strong>,<br />

es war auch Jossi Wielers und Sergio Morabitos erste gemeinsame<br />

Opernarbeit. „Am Anfang habe ich sie nicht sofort<br />

verstanden“, erinnert sich Catherine Naglestad, „aber irgendwann<br />

machte es ‚klick’, und dann ging es super“. <strong>Das</strong> heißt jedoch<br />

nicht, betont sie, dass Sängerin und Regisseure immer<br />

einer Meinung waren. „Aber wir konnten sehr gut diskutieren<br />

und eine Lösung finden.“ Entscheidend war für sie, dass sie<br />

sich bei Jossi Wieler und Sergio Morabito von Grund auf respektiert<br />

fühlte, nicht „nur die dumme Sängerin“ war. Umgekehrt<br />

kämpfte Catherine Naglestad manches Mal mit sich, um<br />

sich dem zu öffnen, was die Regisseure von ihr verlangten – in<br />

der Norma etwa, den ganzen Abend mit einer Leiche auf der<br />

Bühne zu spielen. „<strong>Das</strong> war schwer für mich. Wir haben in den<br />

Proben alles mögliche versucht, und irgendwann dachte ich<br />

dann ‚Augen zu und durch’“. <strong>Die</strong>ses Problem ist längst überwunden,<br />

sie liebt die Partie und die Inszenierung, auch sie ist<br />

ihr ein „zu Hause“ geworden. <strong>Das</strong> bedeutet jedoch nicht, dass<br />

das Vertraute nicht mehr neu wäre – gerade jetzt nach all den<br />

Jahren, wo sie so viele andere Dinge gesungen, sich stimmlich<br />

weiter entwickelt hat, „das muss jetzt auch musikalisch neu<br />

werden.“ Besonders freut sie sich, mit Marina Prudenskaja<br />

Catherine Naglestad in der Titelpartie von Norma<br />

eine Adalgisa an ihrer Seite zu haben, mit der sie in der Norma<br />

noch nicht gespielt hat, denn, „so eine Beziehung auf der Bühne<br />

ist immer spannend und neu, es kann da auch etwas ganz<br />

anderes daraus entstehen.“ <strong>Die</strong>se Neugierde und Freude auf<br />

neue Kollegen auf der Bühne, dieses Denken im Ensemble,<br />

spürt man bei Catherine Naglestad auch während einer Vorstellung,<br />

wo ihr Spiel und ihr Gesang immer in einer lebendigen<br />

Beziehung zu ihren Partnern steht.<br />

2003 hat sie ihren festen Vertrag in <strong>Stuttgart</strong> nicht verlängert<br />

und war fortan nur noch als Gast hier am Haus zu hören, „ich<br />

hatte so viele spannende Angebote, da habe ich den Sprung gewagt.“<br />

Seitdem war und ist sie viel unterwegs, sang etwa in<br />

Covent Garden, der Opéra Bastille und dem Palais Garnier in<br />

Paris, an der Wiener Staatsoper, bei den Salzburger und Bregenzer<br />

Festspielen, um nur einige wenige Stationen zu nennen.<br />

Doch lebt sie nach wie vor in der Nähe von <strong>Stuttgart</strong>, „ich habe<br />

hier nun länger gewohnt als an irgendeinem Ort zuvor.“<br />

<strong>Das</strong> hätte sie sich damals, als sie für ihre ersten Engagements<br />

nach Deutschland kam, nicht vorstellen können – der<br />

Anfang war schwer, „alles war anders, ich hatte furchtbar<br />

Heimweh. Und es gab kein skype, die Flüge waren teuer, so<br />

dass mich meine Freunde nicht besuchen konnten.“ Dennoch<br />

blieb sie – „künstlerisch passe ich besser nach Europa“, stellt sie<br />

heute fest. So ist sie nun wieder zwischen den Welten, fühlt<br />

sich inzwischen, wie sie sagt, weder als Amerikanerin noch als<br />

Europäerin. <strong>Das</strong>s das große Vorteile hat, sie auf diese Weise<br />

einen weiteren Blick auf die Welt hat, sieht sie durchaus. Zugleich<br />

fühlt sie sich oft „lost in translation“, sieht die vielen<br />

Vorurteile und Voreingenommenheiten, die gegenseitigen<br />

Verständnisschwierigkeiten und fühlt sich hilflos und frustriert<br />

angesichts ihrer geringen Möglichkeiten zu vermitteln. „Man<br />

braucht eine innere Stabilität, wenn man keine wirkliche Heimat<br />

mehr hat.“ Und man braucht Orte und Dinge jenseits eines<br />

bestimmten Landes, bei denen man sich zu Hause fühlen<br />

kann. Für die Sängerin Catherine Naglestad sind das Opernpartien,<br />

die ihr liegen und die sie oft gesungen hat – etwa die<br />

Tosca, „da habe ich immer das Gefühl, ich bin zu Hause.“<br />

Wieder an der Oper <strong>Stuttgart</strong> zu singen, ist auch ein solches<br />

Nach-Hause-Kommen. „Neulich war ich wieder hier in<br />

der Oper, war auf der Bühne und habe die Techniker gesehen,<br />

die ich zum Teil noch kenne, und habe mich so gefreut, wieder<br />

hier zu singen.“ Wie es bei einer Heimkehr nach längerer Zeit<br />

so ist, geht es auch hier nicht ohne eine gewisse Aufregung –<br />

„ich hoffe, dass die Leute nicht enttäuscht sind.“<br />

Und dann gibt es natürlich ihr Zuhause bei <strong>Stuttgart</strong>, wo<br />

sie mit ihrem Mann lebt. Dort genießt sie es, draußen zu sein,<br />

endlich einmal nicht in der Stadt, wo sie sonst doch so viel in<br />

Städten unterwegs ist. Dann fährt sie Fahrrad, über die Felder,<br />

und arbeitet im Garten, sommers wie winters. „I love to dig<br />

deep in the dirt – ich liebe es, tief in der Erde zu graben,“ lacht<br />

Catherine Naglestad, und findet so vielleicht Grund in ihrem<br />

Leben zwischen den Welten.<br />

Angela Beuerle<br />

Norma<br />

Dezember 2011<br />

Wiederaufnahme 09.12. / 14.12. / 17.12.<br />

März 2012<br />

17.03. / 23.03. / 26.03.<br />

April 2012<br />

03.04. / 05.04. / 09.04.<br />

12 <strong>Das</strong> <strong>Journal</strong> Nov. Dez. 2011 / Jan. 2012<br />

13<br />

Foto: A.T. Schaefer


Tadeusz Matacz absolvierte seine Ballettausbildung und eine<br />

pädagogische Ausbildung an der staatlichen Ballettschule in<br />

seiner Heimatstadt Warschau (Polen) und erhielt dort sein<br />

erstes Engagement als Tänzer im Teatr Wielki (dem „Großen<br />

Theater“). Nach Deutschland kam er 1984, zunächst als Solotänzer,<br />

später als Trainingsleiter, Ballettmeister und Choreograph<br />

am Badischen <strong>Staatstheater</strong> in Karlsruhe. Er arbeitete<br />

als Gast häufig beim Ballett Frankfurt, dem Toulouse Ballet,<br />

am Großen Theater in Warschau und auch beim <strong>Stuttgart</strong>er<br />

Ballett. 1999 folgte er der Einladung des <strong>Stuttgart</strong>er Ballettintendanten<br />

Reid Anderson, die Leitung der John Cranko Schule<br />

zu übernehmen. Tadeusz Matacz reist regelmäßig als Juror zu<br />

den renommiertesten internationalen Ballettwettbewerben.<br />

05. • 40 Jahre John Cranko Schule 05.<br />

„Wir ernten nun<br />

die Früchte<br />

unserer Arbeit“<br />

Interview mit Ballettschuldirektor Tadeusz Matacz<br />

zum 40. Jubiläum der John Cranko Schule<br />

Lieber Herr Matacz, als Sie 1999 die Leitung der John<br />

Cranko Schule übernahmen, was waren da die größten<br />

Herausforderungen für Sie?<br />

<strong>Die</strong> größte Herausforderung für mich persönlich war, von<br />

jetzt auf gleich eine so komplexe Institution zu managen.<br />

Mein eigener Lehrer Leonid Zhdanov hat mir damals sehr<br />

geholfen, auch mit strategischen Tipps. Und zum Glück<br />

hatte ich von Anfang an volle Rückendeckung. Ich erinnere<br />

mich, nach meiner ersten Woche hier bin ich mit einer<br />

langen Liste von Fragen zu Ballettintendant Reid Anderson<br />

gegangen, und habe gefragt: „Was soll ich machen?“ Er hat<br />

mich angeguckt und gesagt: „Es ist Deine Schule. Mach, was<br />

Du für richtig hältst.“ Und das ist bis heute so, ich genieße<br />

hier großes Vertrauen. Aber ich weiß, Reid ist immer für<br />

mich da und unterstützt mich.<br />

<strong>Die</strong> John Cranko Schule war 1971 die erste Staatliche<br />

Ballettschule im damaligen Westdeutschland. Ist das mit<br />

besonderen Ansprüchen an Ihre Institution verbunden?<br />

Ja, natürlich fühlen wir den Auftrag, als Staatliche Ballettschule<br />

besonders professionell zu arbeiten. Auch Schüler und<br />

Eltern treten oft mit sehr hohen Ansprüchen an uns heran. Sie<br />

denken, man könne aus jedem einen Tänzer machen, nach<br />

dem Motto: Bezahle eine gute Schule, und du wirst schon in<br />

dem Beruf unterkommen. Ich finde ganz grundsätzlich auch:<br />

Jeder soll tanzen, ohne Frage. Aber um Ballett-Profi zu werden,<br />

da braucht es ganz bestimmte körperliche und geistige<br />

Voraussetzungen, unbedingt! Mein Auftrag vom <strong>Stuttgart</strong>er<br />

Ballett, von der Stadt <strong>Stuttgart</strong> und auch vom Land Baden-<br />

Württemberg ist nicht Quantität, sondern Qualität zu schaffen.<br />

Ich möchte hier nur solche Schüler ausbilden, die auf dem<br />

Markt auch eine echte Chance haben.<br />

Sie reisen als Jurymitglied zu vielen Tanzwettbewerben<br />

und Schulfestivals um die ganze Welt. Wie locken Sie<br />

dort entdeckte Talente nach <strong>Stuttgart</strong>?<br />

Eigentlich ist der wichtigste Grund, der Talente hierher nach<br />

<strong>Stuttgart</strong> zieht, die sichtbare Einheit von der Compagnie des<br />

<strong>Stuttgart</strong>er Balletts und der John Cranko Schule. Viele bewundern<br />

das <strong>Stuttgart</strong>er Ballett aus der Ferne, es ist eine der Top-<br />

Adressen - und unsere Schule ist eben die Eintrittskarte. <strong>Das</strong><br />

ist ein sehr starkes Argument! Natürlich bieten wir eine gute<br />

Ausbildung, haben exzellente Pädagogen und einen guten<br />

Ruf. <strong>Die</strong> meisten Schüler fühlen sich, glaube ich, auch wohl<br />

bei uns, wir sind ja so etwas wie eine Familie für viele. Den-<br />

noch, wenn Sie unsere Schule mit Tänzeraugen betrachten,<br />

steht am Ende immer die Entscheidung für die Compagnie.<br />

Wer Profitänzer werden will, sieht sich in allererster Linie auf<br />

der Bühne. Und jeder, der sich mit Ballett beschäftigt, weiß,<br />

auf welchem Niveau in <strong>Stuttgart</strong> getanzt wird.<br />

Wenn es darum geht, junge Talente nach <strong>Stuttgart</strong> zu bringen,<br />

ist im Übrigen die Unterstützung durch den Förderverein der<br />

<strong>Staatstheater</strong> <strong>Stuttgart</strong> absolut unverzichtbar für uns: <strong>Die</strong> Mittel<br />

werden als Stipendien für talentierte, bedürftige Kinder und<br />

Jugendliche eingesetzt und ebnen sowohl einigen deutschen<br />

Schülern als auch solchen, die von weit her zu uns kommen,<br />

den Weg - viele kommen wirklich aus sehr einfachen Verhältnissen<br />

und könnten sich den Schulbesuch allein nicht leisten.<br />

Erhalten denn alle Absolventen einen Vertrag beim<br />

<strong>Stuttgart</strong>er Ballett?<br />

Wir haben jährlich um die fünfzehn Absolventen, und natürlich<br />

können die nicht alle beim <strong>Stuttgart</strong>er Ballett unterkommen,<br />

aber fünf oder sechs sind es inzwischen doch jedes Jahr. Ich kann<br />

aber sagen: Alle unsere Absolventen finden, wenn sie wollen,<br />

einen Job als Tänzer, sei es in Hannover, Berlin, Amsterdam,<br />

München, Zürich oder irgendwo auf der Welt - die Schüler der<br />

John Cranko Schule sind sehr gefragt.<br />

Ist es denn so, dass gute Schüler um Plätze in guten<br />

Schulen konkurrieren ,oder eher umgekehrt?<br />

Wir sprechen in diesem Beruf von Auserwählten. Auf eine<br />

Million Menschen kommt einer oder eine, die dieses gewisse<br />

Etwas hat, das es für Ballett braucht. Es ist daher völlig klar:<br />

<strong>Die</strong> Schulen buhlen um begabten Nachwuchs. Bei vielen Wettbewerben,<br />

die ich besuche, füllen die Teilnehmer vorab einen<br />

Bogen aus, auf dem sie ihre Wunschorte angeben. Viele nennen<br />

Mailand, München, Hamburg, Berlin, Toronto, Melbourne oder<br />

New York. Häufig ist im Moment der erste Wunsch die Royal<br />

Ballet School in London, aber <strong>Stuttgart</strong> kommt spätestens<br />

an zweiter Stelle. Wir sind eine sehr attraktive Adresse für<br />

junge Tänzer.<br />

Gibt es in <strong>Stuttgart</strong> schon während der Ausbildung viele<br />

Kontakte zwischen Schülern und Tänzern?<br />

Spätestens in den Akademieklassen fördern wir diese Kontakte,<br />

indem die Schüler in der Compagnie aushelfen - das<br />

ermöglicht wichtige Bühnenerfahrung und ist ja auch die<br />

Grundidee! Wir würden die Nähe zwischen Compagnie und<br />

Schule gern noch mehr intensivieren, auch räumlich. Daher ja<br />

auch der große Wunsch für einen Neubau...<br />

Stehen Sie manchmal in Ihrem eigenen Schulgebäude<br />

und denken: „So geht das nicht mehr weiter“?<br />

Wenn ich das dächte, dann könnte ich noch heute meine Kündigung<br />

einreichen und nach Hause gehen. Aber ich bin Tänzer.<br />

Ich habe gelernt: Wenn Du eine Mickey-Mouse-Rolle gekriegt<br />

hast statt den Prinzen, dann musst Du das Beste daraus machen.<br />

Wegen dieser Einstellung existiert die Schule seit 40<br />

Jahren, mit großem Erfolg, auch ohne neue Räume. <strong>Das</strong>s alle<br />

wissen, dass wir uns irgendwie arrangieren, macht es natürlich<br />

nicht leichter, für einen Neubau zu argumentieren.<br />

Was ich sehe, ist eine riesige Gefahr für <strong>Stuttgart</strong>: Nämlich<br />

international nicht mehr konkurrenzfähig zu sein. <strong>Das</strong> kann<br />

sehr schnell gehen, die anderen Schulen rüsten alle auf, deren<br />

Säle, soziale Einrichtungen, Krafträume, Entspannungsräume<br />

und vor allen Dingen die Unterkünfte sind auf dem neuesten<br />

Stand. Im Moment stechen wir durch die außergewöhnlich gut<br />

funktionierende Verbindung zwischen Schule und Compagnie<br />

Links: Schüler der John Cranko Schule<br />

bei der Gala zum 50. Jubiläum des<br />

<strong>Stuttgart</strong>er Balletts im Februar 2011.<br />

Oben rechts: Aussenansicht der John<br />

Cranko Schule.<br />

Unten rechts: Porträt Tadeusz Matacz<br />

hervor, aber das sehen doch die anderen Schulen auch, und sie<br />

arbeiten daran. Ich habe wirklich Angst davor, dass die John<br />

Cranko Schule irgendwann einfach im Sande verläuft, weil man<br />

in der Ausstattung international den Anschluss verpasst hat.<br />

Welche Möglichkeiten böte ein Neubau, die Sie derzeit<br />

nicht haben? Was würde sich konkret im Alltag der<br />

Schüler verändern?<br />

In erster Linie könnten wir mehr Schüler aufnehmen. Im Moment<br />

müssen wir vielen Interessenten absagen, weil wir zu<br />

wenige Internatsplätze bzw. Akademieplätze haben. Viele talen-<br />

tierte Schüler pendeln aus anderen Städten zu uns, die können<br />

aber nicht ewig diese weiten Wege fahren, und wir verlieren<br />

sie deshalb. Bei Schülern aus dem Ausland fällt die Knappheit<br />

der Internatsplätze natürlich noch viel mehr ins Gewicht, unsere<br />

Schüler kommen aus 24 Nationen, die müssen wir irgendwie<br />

unterbringen. Jedes Jahr muss ich vielversprechenden jungen<br />

Tänzern deshalb absagen. Dazu kommt die Saalsituation: Wegen<br />

des immer häufigeren Nachmittagsunterrichts an den regu-<br />

lären Schulen kommen unsere Schüler inzwischen oft erst<br />

nach 16 Uhr zum Ballett, und dann alle gleichzeitig. Wir müssen<br />

Training und Proben in sehr wenig Zeit in den wenigen und kleinen<br />

Räumen unterbringen. So drängen sich die Kinder oder sie<br />

haben zu wenig Probenzeit. In einem Neubau würde uns und<br />

auch der Compagnie Probenraum zur Verfügung stehen bzw.<br />

uns allen eine Probebühne für kleine Auftritte. Und zwar zwei<br />

Minuten entfernt vom Theater, das wäre doch genial!<br />

<strong>Die</strong> John Cranko Schule feiert in diesem Jahr ihr 40. Jubiläum.<br />

Was sind die wichtigsten Errungenschaften der<br />

letzten 40 Jahre?<br />

Meines Erachtens ist unsere wichtigste Errungenschaft der<br />

Zustand, dass Schule und Compagnie konsequent an einem<br />

Strick ziehen. Grundgedanke ist, dass der Weg zu Professionalität<br />

nur durch eine Schule führt, die eng mit einer Compagnie<br />

verknüpft ist. Und ich wünsche mir, dass wir genau das aufrecht<br />

erhalten. <strong>Das</strong> besondere <strong>Stuttgart</strong>er Publikum verdient<br />

meiner Meinung nach auch, auf der Bühne Künstler zu erleben,<br />

die eine besondere Verbindung zu dieser Stadt und diesem<br />

Haus fühlen. Beschenkt fühle ich mich jedes Mal, wenn wir die<br />

Früchte unserer Arbeit ernten. Im Gespräch mit den Choreographen<br />

und Ballettmeistern zum Beispiel: <strong>Die</strong> können mit<br />

unseren Absolventen gut arbeiten, und darauf kommt es an.<br />

Oder bei einer der letzten Vorstellungen der Kameliendame, da<br />

waren fast nur Tänzer, die ich selbst als Kinder hierher geholt<br />

habe, auf der Bühne – rührend! Und wenn die Schule heute<br />

Erfolg hat, dann hat Reid Anderson einen riesigen Anteil daran.<br />

Er kennt doch die Schüler auch alle von klein auf, er ist bei<br />

jeder Prüfung, bei jeder Vorstellung dabei. Wir sind irgendwie<br />

beide stolze Väter oder inzwischen wohl eher stolze Opas.<br />

Am 25. November präsentieren Sie im Opernhaus eine<br />

große Gala zur Feier des 40. Jubiläums. Was erwartet<br />

Ihr Publikum da?<br />

<strong>Das</strong> etwa zweieinhalbstündige Programm zeigt ein breites<br />

Spektrum, von klassisch bis zeitgenössisch, und stellt die gesamte<br />

Schule vor. <strong>Das</strong> ist ungewöhnlich: Bei Galas zeigen Ballettschulen<br />

oft nur die allerbesten Schüler, wir möchten aber<br />

alle gemeinsam vorstellen. Beim ersten, klassischen Stück,<br />

Etüden, sind alle Schüler, inklusive vieler der Kleinen aus der<br />

Vorschule, auf der Bühne. Im Anschluss zeigen dann unsere<br />

Gäste von den Ballettschulen aus London, Paris, Hamburg<br />

und Toronto ihr Können. Außerdem tanzen zwei unserer eigenen<br />

Solisten zeitgenössische Choreographien. Zum Schluss<br />

gibt es dann den Karneval der Tiere, eine Choreographie unseres<br />

ehemaligen Schülers Demis Volpi.<br />

Ich bin unendlich stolz und glücklich, dass so viele Gäste<br />

von internationalen Ballettschulen meiner Einladung gefolgt<br />

sind. Wir befinden uns an diesem Abend also in allerbester<br />

Gesellschaft! Ich wünschte nur, wir hätten noch viel mehr<br />

einladen können, auch aus Moskau etwa oder St. Petersburg,<br />

aber das war diesmal aus logistischen Gründen schwierig.<br />

Vielleicht ja zum 50. Jubiläum...<br />

<strong>Das</strong> Interview führte Claudia Brüninghaus<br />

14 <strong>Das</strong> <strong>Journal</strong> Nov. Dez. 2011 / Jan. 2012<br />

15<br />

Foto: <strong>Stuttgart</strong>er Ballett.<br />

Foto: Verena Fischer.<br />

Foto: Ulrich Beuttenmüller.


Auf der Probebühne im markierten Bühnenbild der aktuellen Produktion „Der Balkon“<br />

06. • Cary Gayler<br />

Spiel<br />

und Denkräume<br />

entwerfen<br />

Ein Portrait der Bühnen-<br />

und Kostümbildnerin Cary Gayler<br />

von Beate Seidel<br />

Wenn ich Cary Gaylers Bühnenräume umreißen sollte,<br />

so fiele mir zuerst das Wort ‚Behauptung‘ dazu ein. <strong>Die</strong><br />

Orte, die sie für die jeweilige Inszenierungsvorlagen, ob<br />

Stück, Romanadaption oder Projekt entwirft, behaupten<br />

einen eigenen Kosmos. Es sind klare, niemals beliebige<br />

Räume, sie bieten Interpretationen an: Goethes „Faust“<br />

spielte bei Cary Gayler in der nachempfundenen Baden-<br />

Württembergischen Landesvertretung Berlin, in der ein<br />

größenwahnsinnig gewordener Bürgerchor sich das ‚faustische<br />

Prinzip‘ anzueignen suchte; Shakespeares „Hamlet“<br />

stellte sie in einen mit Erde angefüllten riesigen Schweinekoben,<br />

in den sich die SchauspielerInnen, in überdimensionierte<br />

Körperkostüme gepackt, hineinwühlen und der<br />

alles entscheidenden Frage nach „Sein oder Nichtsein“<br />

nachgehen konnten. Gorkis „Nachtasyl“ fand vor einer Riesenwahlplakatwand<br />

mit Kanzlerinnengesicht statt, an der<br />

die SpielerInnen mit artistischem Geschick emporklommen,<br />

abstürzten, sich festklammerten – allesamt hysterische<br />

Überlebensakrobaten. Den Revolutionsdiskurs „Marat/Sade“<br />

von Peter Weiss (am Deutschen Schauspielhaus<br />

in Hamburg) stellte sie in eine überdimensionale Hupfburg<br />

mit ALDI/LIDL-Emblematik, in der eine Armenarmee darum<br />

kämpfte, sicheren Boden unter die Füße zu bekommen.<br />

Und zuletzt in „Metropolis/The Monkey Wrench Gang“ planten<br />

vier nicht mehr ganz taufrische Ökorebellen in einer<br />

improvisierten Canyon-Landschaft mitten in der ARENA in<br />

der Türlenstraße den Aufstand, der im <strong>Stuttgart</strong>er Hauptbahnhof<br />

endete. Aber das ist nur ein Bruchteil der Inszenierungen,<br />

die Cary Gaylers Handschrift tragen.<br />

Es sind nicht nur Spiel-, sondern auch Denkräume, die sie<br />

eröffnet. Ihre Bühnen- und Kostümbilder sind nie kleintei-<br />

lig. Sie setzen Phantasien frei und fordern denen, die in ihnen<br />

agieren, etwas ab: z. B. körperliche Fitness – die Eskaladierwand<br />

mit Merkel-Bild ebenso wie die Canyon-Stufen, auf<br />

denen die ‚Schraubenschlüsselbande‘ den Unbilden der<br />

Moderne zu widerstehen versuchte. Ihre Entstehung ist an<br />

die Formulierung einer Konzeption gebunden. <strong>Das</strong> Unkonkrete,<br />

nur Atmosphärische ist Cary Gaylers Sache nicht.<br />

Würde Cary Gayler eine Autobiographie schreiben wollen<br />

– ihr beruflicher Werdegang taugte darin für eine me-<br />

moirenkompatible Anekdote: Nach dem Abi zieht sie von<br />

Wuppertal los, um einen praktischen Beruf zu erlernen.<br />

Nur nicht wieder stundenlang sitzen und zuhören müssen,<br />

wie in der Schule! Sich den Aufnahmeexerzitien für ein<br />

Kunststudium zu unterziehen – dafür fehlt ihr noch der Mut.<br />

Später wird sie den nicht mehr nötig haben. Da hat sie ihren<br />

Beruf vor Ort, also am Theater, gelernt. 49 Bewerbungen<br />

für eine Ausbildung zur Bühnenmalerin/Theaterplastikerin<br />

schreibt sie. Eine Einzige wird positiv beantwortet. Aus<br />

Karlsruhe meldet sich der Ausstattungsleiter Heinz Balthes<br />

und engagiert sie – als Bühnenbildhospitantin. <strong>Die</strong> Weichen<br />

in Richtung Bühnenbild sind damit gestellt.<br />

Sie lernt ihren späteren Beruf ‚von der Pieke‘ auf. D.h.<br />

sie baut zunächst Bühnenbildmodelle und sammelt dabei<br />

Erfahrungen: In der Karlsruher Oper soll „Carmen“ gegeben<br />

werden. Ihr Chef beauftragt sie, die im Zentrum des<br />

Bühnenbildentwurfs stehende Brücke als Modell zu bauen,<br />

Maßstab 1:20, und fährt in den Urlaub. <strong>Die</strong> Konstruktion ist<br />

aufwendig. Drei Wochen schnitzt Cary Brückengeländerstäbe<br />

und qualifiziert sich in Sachen ‚Laubsägearbeiten‘.<br />

Dann kehrt der Chef zurück, sieht die Modellbrücke und<br />

schneidet sie auseinander. Kontrollierte Zerstörung, sagt<br />

er, „Carmen“ hat keine Brücke, sondern eine Schlucht. Also<br />

die Brücke ist kaputt, und das mach ich jetzt.<br />

Ein Vierteljahr arbeitet, oder besser gesagt, schuftet Cary<br />

in Karlsruhe, sitzt vor allen Dingen im Assistentenzimmer<br />

und baut Modelle, da hört sie zufällig in der SWR1-Sendung<br />

„Leute“ Friedrich Schirmer, den gerade designierten<br />

Intendanten der Landesbühne Esslingen über seine Idee<br />

von Theater sprechen. Er ist jemand, der (wie sie) seinen<br />

Beruf im Theater gelernt hat – ohne Studium. <strong>Die</strong>se Tatsache<br />

und seine Theaterpläne imponieren ihr. Sie schreibt<br />

den 50. Bewerbungsbrief, wird zum Vorstellungsgespräch<br />

eingeladen und als Bühnenbildassistentin engagiert.<br />

In Esslingen beginnt ihr künstlerischer Werdegang: <strong>Das</strong><br />

sind zunächst 3 ½ Jahre Bühnenbildassistenz. Aber schon<br />

im zweiten Jahr kann sie ihr erstes Bühnenbild entwerfen.<br />

Da ist sie 22 Jahre alt. Sie geht mit Schirmer nach Freiburg.<br />

Ab 1992 ist Cary Gayler ‚richtige‘ Bühnenbildnerin, begleitet<br />

die ersten Arbeiten von Stephan Kimmig, ab 1997 ist<br />

ihre künstlerische Tätigkeit mit den Inszenierungen von<br />

Volker Lösch verknüpft. Sie erhält Stipendien – 1992 von der<br />

Kunststiftung Baden-Württemberg und drei Jahre später<br />

von der Akademie Schloss Solitude – beide im Bereich<br />

darstellende Kunst. Sie begründet mit dem Schauspieler<br />

Manfred Meihöfer das „Vereinigte Gummitierensemble“<br />

und engagiert auf Trödelmärkten und in Kinderzimmern<br />

aussortierte, abgeliebte Puppen und Gummitiere, die u. a.<br />

Schillers „Räuber“ zu einem ungewöhnlichen Glanz verhelfen.<br />

Und sie unternimmt Ausflüge in den Spiel- und Dokumentarfilmbereich.<br />

Mit Beginn der Intendanz Hasko Weber 2005 arbeitet sie<br />

drei Spielzeiten nicht nur als Bühnen- und Kostümbildnerin,<br />

sondern auch als Ausstattungsleiterin am SCHAUSPIEL<br />

STUTTGART. Und während in der ARENA Türlenstraße die<br />

Endproben zur vorletzten Inszenierung „Homers Ilias/<br />

Achill in Afghanistan“ (Regie: Volker Lösch) laufen, für die<br />

sie das Kostümbild entworfen hat (eine Phalanx schwarzgewandeter<br />

Götter-Krieger), probiert im Kammertheater<br />

ein anderer Teil des Schauspielensembles mit dem Re-<br />

16<br />

<strong>Das</strong> <strong>Journal</strong> Nov. Dez. 2011 / Jan. 2012<br />

17<br />

06.<br />

gisseur Thomas Dannemann Jean Genets „Der Balkon“, in<br />

einem von ihr konzipierten Spiegelraum, der die Grenzen<br />

zwischen Zuschauern und Spielern auflösen soll, den Betrachter<br />

zum (Mit)spieler macht und den Schauspieler zum<br />

Beobachter desjenigen, der zum Zuschauen gekommen ist.<br />

In welchem Maße Cary Gayler die künstlerische Handschrift<br />

des Hauses prägt, lässt sich nicht nur an der Anzahl<br />

der Arbeiten am SCHAUSPIEL STUTTGART ablesen. Eine<br />

ganze Reihe Inszenierungen, an denen sie als Partnerin<br />

beteiligt war, gehört zu den zentralen Aufführungen der<br />

letzten acht Jahre. Und doch wissen diejenigen, die abends<br />

ins Theater kommen, oft wenig darüber, was eine Bühnen-<br />

und Kostümbildnerin zu tun hat, wie so ein Arbeitstag<br />

während der Proben aussieht, der früh mit Kostümanproben<br />

beginnt und spätabends mit Teambesprechungen<br />

endet. <strong>Die</strong> Probleme und Problemchen, die dabei zu lösen<br />

sind, reichen vom Unterwäschekauf bis zur Erfindung eines<br />

Theaterblutrezepts, dessen Resultat biologisch einwandfrei,<br />

also trinkbar ist, keinen Hautausschlag verursacht und<br />

vor allem auswaschbar ist. <strong>Die</strong> großen Entwürfe, die am<br />

Anfang einer Inszenierung stehen, werfen innerhalb der<br />

acht Wochen Probenzeit so viele kleinteilige Fragen auf,<br />

dass selbst Cary Gayler mit all ihrer Berufserfahrung und<br />

dem ihr eigenen Geschick, die vielen Abteilungen eines<br />

Theaters dazu zu bewegen, das Unmögliche möglich zu<br />

machen, manchmal verzweifeln könnte.<br />

Passen die Schuhe, sind die Hosen zu lang oder zu kurz,<br />

sehe ich zu dick in dem Rock aus, die Perücke juckt, die geklebte<br />

Glatze zieht Falten, der Bühnenboden ist zu rutschig,<br />

stehe ich bei meinem Monolog auch wirklich im Licht …<br />

Jedes Anliegen muss bearbeitet werden. <strong>Das</strong> braucht Zeit<br />

und gute Nerven. Aber der Tag hat nur 24 Stunden.<br />

Dann ist Premiere. Und danach? Fällt man ins ‚Premierenloch‘<br />

und beginnt wieder von vorn. Der Termin für die<br />

nächste Bühnenbild- oder Kostümabgabe (oder beides<br />

zugleich) drängt. <strong>Die</strong> so genannte Bauprobe, auf der ein<br />

provisorischer Bühnenraum die eigenen Ideen bestätigen<br />

oder verwerfen soll, muss stattfinden!<br />

Trotzdem – auch nach 26 Berufsjahren gibt es für Cary<br />

Gayler noch diese Neugier und Lust auf den nächsten Anfang,<br />

auf den nächsten Versuch. Neues Spiel, neues Glück!<br />

Oder – um es mit Beckett zu sagen: Scheitern, wieder<br />

scheitern, immer scheitern, besser scheitern.<br />

Der Balkon<br />

von Jean Genet<br />

Regie: Thomas Dannemann, Bühne: Cary Gayler,<br />

Kostüme: Regine Standfuss, Musik: Michael<br />

Wertmüller, Dramaturgie: Beate Seidel<br />

Mit: Dorothea Arnold, Lisa Bitter, Boris Burgstaller,<br />

Boris Koneczny, Jan Krauter, Astrid Meyerfeldt,<br />

Rahel Ohm, Rainer Philippi, Lutz Salzmann,<br />

Dino Scandariato<br />

Premiere am 12. November 2011, 20 Uhr,<br />

Kammertheater<br />

Vorstellungen nur bis 4. Dezember 2011<br />

Foto: Sonja Rothweiler


Masse<br />

und Macht<br />

Wie ein Chor zum Solisten wird: Der<br />

Staatsopernchor <strong>Stuttgart</strong> gehört zu den<br />

besten Opernchören Deutschlands.<br />

In Berlioz’ Fausts Verdammnis stellt er<br />

dies eindrucksvoll unter Beweis.<br />

09. 07. • Fausts Verdammnis<br />

08. • <strong>Die</strong> Nachtwandlerin<br />

Es ist nicht zuletzt die Gegenüberstellung des Einzelnen<br />

und der Masse – Faust, Marguerite und Méphistophélès auf<br />

der einen, der Chor in den Rollen des Volkes, der Studenten,<br />

der Soldaten oder Höllenwesen auf der anderen Seite<br />

–, die Berlioz’ Oper Fausts Verdammnis (La Damnation<br />

de Faust) zu einem bedrückend aktuellen Werk macht. Es<br />

ist die auch in demokratisch entwickelten Gesellschaften<br />

immer stärker hervortretende Kluft zwischen Machtlosen<br />

und Mächtigen, die in der global vernetzten Welt immer<br />

problematischer werdende Balance zwischen privaten und<br />

öffentlichen Lebensbereichen oder das Phänomen massenmedial<br />

gestützter geistiger Verarmung und Vereinsamung,<br />

die schon bei Berlioz verhandelt werden. Faust steht<br />

einem Konflikt zwischen Volksgruppen hilflos gegenüber,<br />

er wird von elitären Studenten- und martialischen Soldatenkollektiven<br />

abgestoßen, findet keinen privaten Schutzraum<br />

für seine Liebe zu Marguerite und sieht sich am Ende<br />

brutalen Höllenmonsterhorden ausgeliefert. Hinter allem<br />

steht nicht nur Méphistophélès als Mastermind, Entertainer<br />

und Führerfigur, sondern das Prinzip von Masse und Macht.<br />

<strong>Die</strong>se gesellschaftliche Problematik wird bei Berlioz dramaturgisch<br />

und vor allem musikalisch überzeichnet. Um<br />

die sich so ergebenden gewaltigen, oft auch gewalttätigen<br />

Szenen überhaupt gestalten und entwickeln zu können,<br />

braucht es nicht nur starke Sängersolisten, sondern auch<br />

einen enorm wandlungs- und verwandlungsfähigen Chor.<br />

Andrea Moses, die bei der Eröffnungspremiere der neuen<br />

Spielzeit Regie geführt hat, konnte sich nicht nur auf die<br />

Gesangssolisten Maria Riccarda Wesseling, Pavel Černoch,<br />

Robert Hayward und Mark Munkittrick, sondern zudem auf<br />

einen weiteren ganz besonderen Partner verlassen: den<br />

Staatsopernchor <strong>Stuttgart</strong>. <strong>Die</strong>ser Chor zählt zu den ältesten<br />

und besten Opernchören Deutschlands. In diesem Jahr wurde<br />

er in der Kritikerumfrage der Zeitschrift Opernwelt zum<br />

achten Mal als »Opernchor des Jahres« ausgezeichnet.<br />

Fausts Verdammnis<br />

von Hector Berlioz<br />

Premiere 30.10. 2011<br />

November 2011<br />

05.11. / 10.11. / 18.11. / 27.11.<br />

Dezember 2011<br />

15.12. / 22.12. / 28.12.<br />

Januar 2012<br />

03.01. / 06.01. / 14.01. / 24.01.<br />

Fotos: A.T. Schaefer<br />

Links: Robert Hayward<br />

als Méphistophélès,<br />

Staatsopernchor <strong>Stuttgart</strong><br />

Rechts: Anna Viebrock<br />

(Bühne und Kostüme),<br />

Jossi Wieler und Sergio<br />

Morabito (Regie und<br />

Dramaturgie) bei einem<br />

Arbeitstreffen vor dem<br />

Sonnambula-Modell.<br />

Zwischen Wildnis und Zivilisation<br />

Vincenzo Bellinis <strong>Die</strong> Nachtwandlerin<br />

feiert im Januar 2012 Premiere<br />

Für die Neuinszenierung von Bellinis La Sonnambula durch Jossi Wieler und<br />

Sergio Morabito kehrt Anna Viebrock als Bühnen- und Kostümbildnerin an die<br />

Oper <strong>Stuttgart</strong> zurück. <strong>Die</strong> drei haben hier 2002 bereits das Schwesterwerk der<br />

Nachtwandlerin, die ebenfalls im Jahr 1831 in Mailand uraufgeführte Norma<br />

erfolgreich auf die Bühne gebracht. Beide Werke komponierte der Belcanto-<br />

Komponist Bellini für die große Sängerdarstellerin Giuditta Pasta auf die eleganten<br />

Verse seines Librettisten Felice Romani. Und Romani griff in beiden<br />

Werken auf Vorlagen der damals aktuellen französischen Dramatik zurück,<br />

im Falle der Nachtwandlerin auf ein Ballettszenarium von Eugène Scribe in<br />

der Vaudeville-Bearbeitung <strong>Das</strong> schlafwandelnde Dorfmädchen von Armand<br />

d’Artois und Henri Dupin.<br />

Der Einsatz des Regieteams Wieler-Viebrock-Morabito für Norma wurde als<br />

die Zurückeroberung eines verschollenen Repertoires durch das zeitgenössische<br />

Musiktheater wahrgenommen. Im Verständnis Morabitos sind die Opern Bellinis<br />

eine Hommage an den Gesang, aber auch Geschenke an das Theater: „Wie im<br />

Falle der Norma weigern wir uns auch bei der Nachtwandlerin, die Wiederholungen<br />

der ‚Cabaletten‘ (also der zweiten, meist bewegteren dramatisch-virtuosen<br />

Schlusssätze der Arien) zu streichen, wie dies oft geschieht. Wie beim ‚Da capo‘<br />

der Barockoper scheint an diesen Stellen der Komponist dem Interpreten – dem<br />

Sänger und dem Regisseur – zuzurufen: ‚Bitte, übernehmen Sie!‘ “ Wieler, Viebrock<br />

und Morabito entdecken hier große kreative Spielräume. Wissen sich in dieser<br />

Entscheidung einig mit Gabriele Ferro, dem ehemaligen <strong>Stuttgart</strong>er Generalmusikdirektor,<br />

der für diese Produktion an die Oper <strong>Stuttgart</strong> zurückkehrt.<br />

<strong>Die</strong> Entscheidung für die Neuinszenierung dieses Werks fiel auch, weil dem<br />

Ensemble in Ana Durlovski eine herausragende Interpretin der Titelpartie<br />

angehört und in dieser Produktion an der Seite von Catriona Smith, Helene<br />

Schneiderman, Liang Li und Motti Kastón agieren wird. Für die männliche<br />

Hauptrolle des Elvino kehrt der brasilianische Tenor Luciano Botelho, der in<br />

dieser Spielzeit auch als Orpheus auf der Bühne der Oper <strong>Stuttgart</strong> steht, als<br />

Gast an das Haus zurück.<br />

Was haben die drei Theatermacher in dieser musikalischen Erzählung von<br />

einem nachtwandelnden Dorfmädchen an spannenden Themen entdeckt?<br />

Morabito: „Einerseits ist die Oper ein Stück über die Pubertät. In der Traumzeit<br />

von Bellinis ‚unendlichen Melodien‘ findet die Trance der absturzgefährdeten<br />

Nachtwandlerin und mit ihr die Krise der Adoleszenz zu berührendem<br />

Ausdruck. Andererseits ist das Stichwort „Traumzeit“ mit Bedacht gewählt,<br />

denn man kann mit dem Werk tatsächlich in einen ethnographischen Diskurs<br />

eintreten. Traumzeit, so heißt eine Kritik der „klassischen Ethnologie“, die der<br />

Völkerkundler Hans Peter Duerr 1978 vorgelegt hat. Mit einem zivilisierten Reisenden,<br />

dem Grafen Rodolfo, betreten wir die Welt eines abgelegenen Schweizer<br />

Alpendorfes. Dort sind wir mit merkwürdigen Ritualen konfrontiert, denn die<br />

Bewohner haben sich mit der Präsenz eines Gespenstes arrangiert, was der Graf<br />

als naiven Aberglauben abtut. Er vertritt die Stimme der aufgeklärten Vernunft<br />

und die Spielhandlung scheint ihm am Ende recht zu geben: <strong>Die</strong> Gespenstererscheinung<br />

soll niemand anderes als das schlafwandelnde Waisenmädchen<br />

Amina gewesen sein. Doch das Stück erzählt auch eine andere Wahrheit:<br />

<strong>Die</strong>ses Waisenmädchen könnte auch ein uneheliches Kind des Grafen selbst<br />

sein, der als junger Mann eine Frau des Dorfes geschwängert hatte, woraufhin<br />

er von seinen Eltern ins Ausland geschickt wurde, während seine verlassene<br />

Geliebte nach der Geburt des Kindes angeblich verstorben ist. Nun wird die<br />

Gespenstererscheinung von den Dorfleuten aber eindeutig als „unreine Hexe“<br />

beschrieben. Was, wenn es Aminas Mutter wäre, die als „haga-zussa“, auf dem<br />

„Hag“ (= der Hecke, dem Zaun) „sitzt“, der das Dorf von der Wildnis abgrenzt?<br />

Und verbirgt sich hinter dem scheinbar harmlosen „dénouement“ des Dramas<br />

nicht ein archaisches Gottesgericht? <strong>Die</strong> der Untreue verdächtigte und verstoßene<br />

Titelheldin wandelt auf dem Dachfirst der Mühle, bis statt ihrer nur die<br />

Trümmer der unter ihr schwankenden und brechenden Planke ins Mühlrad<br />

stürzen. Nicht anders als Norma bearbeitet also auch <strong>Die</strong> Nachtwandlerin tiefe<br />

Schichten unserer Zivilisation und ihrer Mythen, darunter einen so zentralen wie<br />

den der Jungfrauengeburt: auch die schwangere Maria musste durch die Einnahme<br />

von vergiftetem „Bitterwasser“ – so berichten es die apokryphen „Kindheitsevangelien<br />

Christi“ – eine Unschuldsprobe ablegen.“ <strong>Die</strong> Proben dieser neuen musik-<br />

theatralischen Erkundungs- und Entdeckungsfahrt beginnen Anfang Dezember.<br />

<strong>Die</strong> Nachtwandlerin<br />

von Vincenzo Bellini<br />

Januar 2012<br />

Premiere 22.01. / 25.01. / 28.01.<br />

Februar 2012<br />

03.02. / 05.02. / 22.02.<br />

März 2012<br />

03.03. / 06.03. / 10.03. / 13.03. / 18.03.<br />

<strong>Stuttgart</strong>er Bellini-Wochenende<br />

am 17.03. und 18.03.2012 mit u. a. Norma und <strong>Die</strong> Nachtwandlerin<br />

sowie der 3. Liedmatinee Hommage an Giuditta Pasta.<br />

Der Vorverkauf hierfür beginnt bereits ab 1. Dezember 2011.<br />

18<br />

<strong>Das</strong> <strong>Journal</strong> Nov. Dez. 2011 / Jan. 2012<br />

19<br />

Fotos: A.T. Schaefer


Ein Ballett<br />

wie ein<br />

Meisterwerk<br />

In der internationalen Kritikerumfrage der<br />

renommierten Fachzeitschrift TANZ<br />

wurde das <strong>Stuttgart</strong>er Ballett zur »Kompanie<br />

des Jahres« gewählt. Mit freundlicher<br />

Genehmigung der Zeitschrift drucken wir<br />

hier den Leitartikel für unsere Leser ab.<br />

<strong>Das</strong> <strong>Stuttgart</strong>er Ballett in der Spielzeit 2011-2012.<br />

09. • Kompanie des Jahres 09.<br />

<strong>Das</strong> <strong>Stuttgart</strong>er Ballett ist 50 Jahre alt und immer noch ein<br />

Familienbetrieb, dessen Ahn den Namen John Cranko trägt.<br />

Von ihm stammen die Leiter dieses Ballettwunders ab, Marcia<br />

Haydée einst, Reid Anderson heute. Crankos Schule, Crankos<br />

Werke, vor allem aber Crankos unbedingter Wille, das Ballett<br />

zu erneuern, machen das <strong>Stuttgart</strong>er Ballett zu einem Ort, der<br />

sich erfolgreich wie keine andere Truppe der eigenen Musealisierung<br />

entzieht.<br />

Drei Wochen lang Aufführungen, Gastspiele, Rückblicke, Aus-<br />

grabungen alter Stücke, eine Direktorenkonferenz und natürlich<br />

die obligatorische Gala: das 50. Jubiläum des <strong>Stuttgart</strong>er<br />

Balletts wurde im Februar mit einem riesigen Fest und Prominenz<br />

aus aller Welt begangen. Im Mittelpunkt aber standen die<br />

ehemaligen Tänzer: Intendant Reid Anderson hatte alle einge-<br />

laden, derer man habhaft werden konnte, und für die meisten<br />

von ihnen – das Bild bot sich immer wieder in den Foyers<br />

und Sälen – war es wie eine Rückkehr in den Schoß der Familie.<br />

<strong>Das</strong> etwas abgedroschene Schlagwort von der „<strong>Stuttgart</strong>er<br />

Ballettfamilie“ hilft tatsächlich, die Funktionsweise und die<br />

Seele dieser Kompanie zu verstehen, die bei all ihren jungen<br />

Tanzstars und modernen Choreografen noch immer stark aus<br />

ihrer Geschichte lebt.<br />

Seit John Crankos Tod vor fast 40 Jahren liegt die Leitung des<br />

<strong>Stuttgart</strong>er Balletts in der Familie. Noch immer sind es seine<br />

Geschöpfe, die an der Spitze der Kompanie stehen, nach seiner<br />

Muse Marcia Haydée nun der frühere Solist Anderson, noch<br />

immer studiert Crankos Choreologin Georgette Tsinguirides<br />

seine Werke ein. Der tote John Cranko ist der Klebstoff dieser<br />

höchst lebendigen Kompanie, intensiver noch wahrscheinlich<br />

durch seine Idee einer Ballettkompanie als durch seine wenigen<br />

Werke. Sein Genie und sein Nachruhm haben dem<br />

<strong>Stuttgart</strong>er Ballett den heutigen Status erfochten: die künstlerische<br />

Unabhängigkeit von der Oper oder einem übergeordneten<br />

Intendanten, eine solide finanzielle Basis, die eigene<br />

Schule. Crankos Nachfolger waren sorgfältig darauf bedacht,<br />

diese Grundlagen zu erhalten und zu mehren.<br />

Es hat sich kaum etwas geändert in <strong>Stuttgart</strong>, es gab nie<br />

einen radikalen Wechsel der Ästhetik (der vorsichtige Versuch<br />

Glen Tetleys in Richtung Modern Dance endete mit seiner<br />

Demission nach zwei Jahren) – niemand traut sich, am Fundament<br />

Cranko zu rütteln. <strong>Das</strong>s aus dem <strong>Stuttgart</strong>er Ballett<br />

trotzdem kein Museum, sondern ein sich ständig erneuerndes<br />

Zentrum choreografischer Kreativität geworden ist, auch daran<br />

ist der legendäre Gründervater schuld.<br />

Denn schon er war neugierig auf das, was seine Kollegen<br />

schufen. Anstatt sein Ballett ausschließlich auf seinen eigenen<br />

Stil einzuschwören, wollte er andere Handschriften sehen, lud<br />

die Konkurrenz nach <strong>Stuttgart</strong> ein, dachte an ein breites Repertoire<br />

und förderte den Nachwuchs. Mit dem, was sie von ihm<br />

gelernt hatte, formte seine Nachfolgerin Haydée eine durch<br />

und durch europäische Kompanie, lud zu den vielen eigenen<br />

Choreografen, zu John Neumeier, Jirˇí Kylián oder William Forsythe,<br />

auch noch Hans van Manen und Maurice Béjart ein.<br />

Reid Anderson holte später Mauro Bigonzetti oder Wayne Mc-<br />

Gregor, lange bevor sie überall in Mode kamen.<br />

In <strong>Stuttgart</strong> folgt man nicht den Trends, man setzt sie. Hier<br />

war stets auch das ganz Moderne möglich, und zwar auf der<br />

großen Bühne: Kenneth MacMillan durfte machen, was ihm das<br />

Royal Opera House verbot: eines der ersten Mahler-Ballette<br />

(„<strong>Das</strong> Lied von der Erde“), eines der ersten Ballette zu religiöser<br />

Musik („Requiem“), William Forsythes „Orpheus“ war 1979 für<br />

eine klassische Ballettkompanie recht radikal, Marco Goeckes<br />

„Orlando“ ist auch heute noch ein Wagnis für ein Haus dieser<br />

Größe. Den jungen Choreografen werden sehr große Freiheiten<br />

gewährt, und öfter als anderswo wurden die Direktoren dafür<br />

belohnt.<br />

Obwohl eine der vier großen Opernballettkompanien<br />

Deutschlands, steht <strong>Stuttgart</strong> nicht unbedingt für die Pflege der<br />

alten Klassiker. Natürlich werden auch sie getanzt und in seltenen<br />

Fällen sogar mustergültig neu inszeniert wie Haydées<br />

„Dornröschen“, aber seit Cranko steht hier die Suche nach<br />

neuen Handlungsballetten im Mittelpunkt. <strong>Stuttgart</strong> tanzt<br />

nicht in einer bestimmten Handschrift, es gibt hier keine<br />

tradierte, sorgsam bewahrte choreografische Sprache; die<br />

Charakteristika der Kompanie sind der dramatische Stil und<br />

die Intensität der Interpretation. Jedes Jahr schickt die John-<br />

Cranko-Schule offene, präsente und immer wieder erstaunliche<br />

Talente, mehr als die Hälfte des Ensembles stammt heute<br />

aus der eigenen Schule, das dürfte einzigartig in Deutschland<br />

sein. Und noch eine Tradition gibt es in <strong>Stuttgart</strong>: die Solisten<br />

werden aus der eigenen Kompanie herangebildet. Bei allem<br />

Spürsinn Reid Andersons für choreografische Talente ist sein<br />

gutes Auge für junge Tänzer seine wohl größte Gabe. Vor allem<br />

bei den Herren segeln derzeit in <strong>Stuttgart</strong> so viele Stars und so<br />

viele junge Talente durch die Lüfte, dass man leicht mehrere<br />

Kompanien mit ihnen bestücken könnte.<br />

Durch seine Programmierung fördert Anderson die Individualität<br />

seiner Tänzer, entwickelt ihre Persönlichkeiten. Obwohl das<br />

<strong>Stuttgart</strong>er Ballett heute eine optisch sehr schöne Kompanie ist<br />

(ihr Direktor huldigt dem Ideal der großgewachsenen Tänzer),<br />

liegt die Stärke des Ensembles kaum in der reinen Harmonie<br />

eines St. Petersburger oder Pariser Corps de ballet. Seine<br />

wichtigsten Eigenschaften sind die Hingabe, eine dramatische<br />

Unmittelbarkeit und der unbedingte Wille, jedes Ballett wie<br />

ein Meisterwerk aussehen zu lassen. <strong>Die</strong> Zukunft des Familien-<br />

modells ist offen: Wenn der heute 62-jährige Anderson einmal<br />

aufhört, dann stehen zwar genügend Leute bereit, die in <strong>Stuttgart</strong><br />

gelernt haben, die persönliche Verbindung zu Cranko aber<br />

wird aufhören.<br />

Angela Reinhardt (TANZ, tanz-zeitschrift.de)<br />

20<br />

<strong>Das</strong> <strong>Journal</strong> Nov. Dez. 2011 / Jan. 2012<br />

21<br />

Foto: Ulrich Beuttenmüller.


Böse, kleine<br />

Maschine<br />

<strong>Die</strong> Dramaturgin Sarah Israel befragte den<br />

Regisseur Kristo Šagor während der Proben,<br />

was ihn an »In weiter Ferne« fasziniert und<br />

warum er den Text von Caryl Churchill für das<br />

SCHAUSPIEL STUTTGART auf die Bühne bringt.<br />

„In weiter Ferne“ erzählt anhand der Protagonistin Joan die<br />

Entwicklung eines jungen Mädchens, dessen Bewusstsein für<br />

Unrecht und Gewalt früh im Leben korrumpiert wird. Schritt<br />

für Schritt zeichnet das Stück die Konsequenzen nach, die<br />

eine Lüge, verübt im kleinsten Familienkreis, nach sich ziehen<br />

kann. <strong>Das</strong> was vermeintlich behütet beginnt, lässt die Autorin<br />

Caryl Churchill in einem grausamen Endszenario, einem Zustand<br />

des absoluten Chaos und der Vernichtung gipfeln und<br />

legt dabei dar, dass der Terror, in dem die drei Figuren Joan,<br />

Harper und Todd am Ende (über)leben müssen, nicht ein von<br />

anderen erzeugter ist, sondern von ihnen selbst bedingt wurde.<br />

Sarah Israel: Du bist gerade in den Proben zu „In weiter<br />

Ferne“ – deine zweite Inszenierung hier in <strong>Stuttgart</strong> – und<br />

nach „Amphitryon“ durchaus ein ganz anderes Genre<br />

von Theaterstück. Wieso hast du dich für diesen Text<br />

entschieden?<br />

Kristo Šagor: Der Text ist wie eine böse, kleine Maschine, die<br />

reibungslos funktioniert. <strong>Die</strong> Sprache der Figuren ist knapp, die<br />

Konstruktion des Plots schmal. <strong>Das</strong> Stück wirkt verstörend. Ich<br />

mag, dass es so viele Fragen aufwirft und Antworten verweigert.<br />

<strong>Die</strong> drei beschriebenen Situationen sind so konkret, doch<br />

um sie herum schmatzt das Nichts. Damit handelt der Text<br />

auch vom Erzählen an sich: Jeder Satz konstruiert Realität.<br />

Caryl Churchill entwirft eine kryptische und zugleich mes-<br />

10. • Kristo Šagor 11. • Jan Neumann<br />

serscharfe Vision vom Weltuntergang. <strong>Das</strong> Stück handelt vom<br />

‚Größten Anzunehmenden Unfall‘, ohne dass es uns sagt, was<br />

für ein Unfall das ist. Vermutlich hat dieser Unfall in uns selbst<br />

stattgefunden: Etwas im Menschen ist kaputtgegangen, während<br />

er immer effektiver darin geworden ist, alles andere um<br />

sich herum kaputt zu machen.<br />

Sarah Israel: Welche Konflikte sind für dich<br />

grundlegend in diesem Stück?<br />

Kristo Šagor: <strong>Die</strong> Figuren versuchen, Verantwortung füreinander<br />

zu übernehmen. Aber was ist Verantwortung in einem<br />

totalitären System? Soll ich als Erwachsener einen Schutzbefohlenen<br />

auf die Linie der Partei bringen, weil ich glaube, dass<br />

er damit am besten lebt in diesem System, so wie es Harper<br />

mit ihrer Nichte Joan im ersten Akt tut, oder soll ich das nicht?<br />

Soll ich meinem geliebten Menschen, der sich mitten im Krieg<br />

nach der Ruhe zu Hause sehnt und deshalb von der Front desertiert<br />

ist, mit Wärme und Verständnis beistehen oder ihn<br />

zurück in die Pflicht treiben? Erzwinge ich die Angleichung<br />

deiner Meinung an meine, wenn ich weiß, dass deine Meinung<br />

nicht oder nicht mehr systemkonform ist und ermögliche dir<br />

so zu überleben, oder vertreibe ich dich ganz aus meinem<br />

Dunstkreis? Soll ich dich retten oder mich, oder soll ich darauf<br />

vertrauen, dass das kein Widerspruch sein muss?<br />

Sarah Israel: Was macht den Text in deinen Augen hier<br />

in <strong>Stuttgart</strong> zu dieser Zeit erzählenswert?<br />

Kristo Šagor: Ich glaube, spätere Generationen werden über<br />

uns als eine der Generationen sprechen, die noch in der Lage<br />

gewesen wären, „es“ zu verhindern. Und für „es“ lässt sich<br />

eine Menge einsetzen: das Massenaussterben von Tierarten,<br />

die Verwüstung ganzer Landstriche durch Radioaktivität und<br />

Chemie, der Klimawandel, die Ozonlöcher, das Auf-den-Kopf-<br />

Hauen aller Ressourcen.<br />

Es ist so schwer, bei sich selbst anzufangen, und so einfach,<br />

mit dem Zeigefinger auf andere zu zeigen: Wir gönnen den<br />

anderen sieben Milliarden Menschen nicht, wie wir achtzig<br />

Millionen Deutsche leben. Oder wir sind zu dumm, die Dimension<br />

zu begreifen, und zu ignorant, uns in Frage zu stellen.<br />

Deutschland ist erste Welt, <strong>Stuttgart</strong> Metropole. Wer soll anfangen<br />

was zu ändern, wenn nicht wir selbst?<br />

Der Theaterautor und Regisseur Kristo Šagor<br />

(*1976) realisiert mit „In weiter Ferne“<br />

seine zweite Regiearbeit am SCHAUSPIEL<br />

STUTTGART. In der letzten Spielzeit inszenierte<br />

er erfolgreich Kleists „Amphitryon“ im NORD.<br />

2008 wurde Kristo Šagor für seine Inszenierung<br />

„Törleß“ am Hamburger Schauspielhaus mit<br />

dem Deutschen Theaterpreis „Der Faust“<br />

ausgezeichnet.<br />

Sarah Israel: Caryl Churchill wird auf den deutschen<br />

Bühnen wenig gespielt, zählt jedoch zu den „grandes<br />

dames“ der englischen (zeitgenössischen) Dramatik.<br />

Was fasziniert dich an der Autorin besonders?<br />

Kristo Šagor: Caryl Churchill ist eine schlaue Autorin. Sie hat<br />

volle Kontrolle über ihren Text. Vom Wort über den Satz, den<br />

Szenen bis zur Gesamtform ist alles gebaut, entschieden. Sie ist<br />

in ihrem Werk einen spannenden Weg gegangen und hat über<br />

ein abstrakteres, formaleres Schreiben zurück zur Psycho-<br />

logie gefunden. Ihren letzten Texten merkt man diese Tiefe<br />

und Freiheit an: Sie sind psychologisch genau und wahnsinnig<br />

zugleich.<br />

Bei den Proben zu „In weiter Ferne“ geht es uns beispielsweise<br />

gerade darum, nach Gesten und Momenten von Grausamkeit<br />

zu suchen – Übergriffe, physische Bilder. <strong>Das</strong> Stück<br />

bietet einen offenen Raum. Es passiert uns immer wieder,<br />

dass Ernsthaftigkeit in gemeinsames Lachen kippt. <strong>Die</strong> Aufzählung<br />

von Nationalitäten, Tierarten und Berufsgruppen, die<br />

allesamt im Krieg miteinander sind, bringt uns immer wieder<br />

abwechselnd zum Lachen und erzwingt dann genaue Konstruktion:<br />

Wer sind für uns die ‚Krokodile‘, wer sind für uns die<br />

‚Rehe‘? Ich finde es wunderbar, wenn die Schauspieler einen<br />

Satz sagen, der komplett wahnsinnig klingt, ich aber merke,<br />

dass sie ihn sich selbst glauben.<br />

In weiter Ferne<br />

von Caryl Churchill<br />

Regie: Kristo Šagor, Bühne: Christl Wein,<br />

Kostüme: Sebastian Kloos,<br />

Musik: Sebastian Katzer,<br />

Dramaturgie: Sarah israel<br />

Mit: Marietta Meguid, Sarah Sophia Meyer<br />

und Fridolin Y. Sandmeyer<br />

Premiere am 11. November 2011, 20 Uhr,<br />

NOrD (Löwentorbogen, S-Nord)<br />

Vorstellungen nur bis 4. Dezember 2012<br />

Foto: Helge Ferbitz<br />

„Man hat das Scheitern so lange vor sich,<br />

bis es einen zum Lachen bringt.“<br />

(Samuel Beckett)<br />

Nichts ist einfacher, als über Komik zu lachen –<br />

und nichts schwerer als zu beschreiben, wie sie<br />

funktioniert. In Jan Neumann kurzer Komödie<br />

„Knolls Katzen“ sitzt ein Mann namens Wagner<br />

im Zuschauerraum, als kurz vor Vorstellungsbeginn<br />

sein Handy klingelt. Ein folgenschweres<br />

Versäumnis wird ihm durch den Anrufer ins<br />

Bewusstsein gerufen, das er jetzt wenn schon<br />

nicht mehr zu reparieren, so doch zu kaschieren<br />

bemüht ist. Es beginnt eine eskalierende Folge<br />

von Missverständnissen und Klärungsanrufen,<br />

die weitere Missverständnisse provozieren, begleitet<br />

von ständigen Entschuldigungen beim<br />

Sitznachbarn. <strong>Die</strong>ser Text, in dem die Rettungsversuche<br />

schlimmer als die vermeintliche Katastrophe<br />

geraten, ist für sich allein eine Fundgrube<br />

für alle Spielarten des Komischen.<br />

<strong>Das</strong> Dramolett „T9“ versammelt eine Herrenrunde<br />

beim allabendlichen Bier. Außer einsilbigen<br />

Sätzen sagen sie nicht viel, ab und zu versuchen<br />

sie den Chinesen etwas zu fragen, der<br />

hinter der geschlossenen Scheibe fernsieht und<br />

aus diesen zwei Gründen nichts hört, und neben<br />

dem Chinesen und der Vermutung, dass Chinesen<br />

Hunde essen, liefern die unterschiedlichen<br />

Handymodelle das einzige Gesprächsthema:<br />

»Jürgen zeigt sein Handy. / Heiner: Silber ist<br />

scheiße. / Özgür: Und deins? / Heiner: Meins ist<br />

rot. / Heiner zieht sein Handy. / Heiner: Da bitte.<br />

/ Jürgen: Rot. / Klaus: Ganz schön rot. / Heiner:<br />

<strong>Das</strong> ist normal rot. / Özgür: <strong>Das</strong> ist echt rot. /<br />

Heiner: Ja und. / Klaus: <strong>Die</strong> sind jetzt alle Silber.<br />

/ Heiner: Scheiße sind die jetzt. / Sie stecken die<br />

Handys wieder weg und trinken.«<br />

Bei der nächsten Runde beschließen sie, dem<br />

fehlenden Kumpel eine sms zu schreiben. Dabei<br />

spielt ihnen die political correctness des einge-<br />

bauten Lexikons eine Reihe von Streichen, die in<br />

folgender Nonsensefrage auf den Punkt gebracht<br />

wird, „Wieso kann er Hitler und Saddam<br />

und Osterweiterung aber schwul nicht?“ und nur<br />

noch durch die Antwort des Kollegen überboten<br />

wird, in der dieselbe Rechtschreibschwäche, die von allem der<br />

Ausgang war, sich unbekümmert offen-bart: „Hab Ärger mit<br />

Anita Bis morgen ihr schwülen Säue.“<br />

Mögen Dramolette wie „Knolls Katzen“ und „T9“ um der Komik<br />

willen geschrieben worden sein, so gilt das nicht für „Fundament“,<br />

die Stückentwicklung, bei der ich Jan 2009 begleiten<br />

durfte, und auf die ich mich jetzt konzentrieren möchte. Hier<br />

widmet sich Neumann den Themen, die ihn am stärksten umtreiben:<br />

Religion, Krankheit, Altern, Tod. Hier zeigt sich auch,<br />

dass in ihm – wie vielleicht in jedem großen Komiker – ein verkappter<br />

Tragiker steckt, ein Romantiker und ein Melancholiker.<br />

In „Fundament“ gibt es einen jungen Aktivisten in einer WG,<br />

der vor lauter nachvollziehbaren Missständen auf der Welt<br />

nicht weiß, wo er anfangen soll, sie zu retten. In seiner Verzweiflung<br />

schleudert er einen nichtendenwollenden Elendsmonolog<br />

aus sich heraus, der in der absurden Frage gipfelt,<br />

was er auf sein Transparent schreiben soll. Komisch ist nicht<br />

nur die Trivialität der zu treffenden Entscheidung angesichts<br />

der wortreich konstatierten globalen Problemlage, komisch ist<br />

auch die akribische Aufzählung alles Schrecklichen, welche so<br />

unterschiedliche Skandale wie die Lüge, was im Essen ist, die<br />

Genitalverstümmelung von Mädchen oder das Verschwinden<br />

der Arten zu einer diffusen Gesamtkatastrophe einebnet. Der<br />

Erzähler der Szene kommentiert die damit kontrastierenden<br />

Alltagsstreitigkeiten, Betrügereien und Eifersüchteleien in der<br />

WG mit dem ironischen Satz: „Man sieht, auch zu Hause hängt<br />

in einer globalisierten Welt alles mit allem zusammen.“ Womit<br />

wir wieder auf Abstand gehalten wären von der allzu wahren,<br />

aber unerträglichen Erkenntnis, dass wir in unserem relativ geschützten<br />

Eck auf Kosten der übrigen Welt vor uns hin privatisieren.<br />

Der Verzweiflungsausbruch des Möchtegernaktivisten<br />

demonstriert uns so plastisch unsere eigene Ohnmacht, dass<br />

wir schon wieder lachen müssen und darüber Erleichterung<br />

Ganz nah bei<br />

seinen Figuren<br />

Auszüge aus der Laudatio zur Verleihung des<br />

Förderpreises für Komische Literatur an Jan Neumann,<br />

gehalten von der Dramaturgin Kekke Schmidt<br />

in Kassel am 25. Februar 2011.<br />

verspüren. Gleichzeitig erkennen wir uns wieder in der Gleichgültigkeit<br />

der Welt – aber Neumann reibt uns diese Schuld<br />

nicht aufdringlich unter die Nase, sondern macht sie spürbar,<br />

ohne unsere Gegenwehr zu mobilisieren. Vielmehr eröffnet<br />

das Lachen einen Ausweg.<br />

Reizt der junge Aktivist durch seine allzumenschliche Überforderung<br />

zum Lachen, so eine andere Figur aus dem Stück,<br />

Dr. Friedrich Kremm, durch seine Überperfektion. Der gute<br />

Mensch mit Hybridauto und Sozialengagement, glücklicher Ehe<br />

mit beruflich erfolgreicher Frau, Architektenhaus, Designergarten<br />

und dem richtigen Rotwein, der jeden Tag Benachteiligte<br />

beglückt, kreative Projekte fördert, für Gerechtigkeit sorgt und<br />

außerdem noch guten Sex mit seiner Frau hat, Spaß und Ernst<br />

mit seinen Kindern, Erfolg in seiner Werbeagentur, dieser<br />

Mann ist so erkennbar übertrieben mit allen guten Gaben und<br />

Geistern gesegnet; in seinen perfekten Tag passt soviel mehr<br />

als in unseren gewöhnlichen, dass er in uns gar keine Abwehrkräfte<br />

mehr weckt, sondern nur noch Lust und Vergnügen. <strong>Das</strong><br />

ins Positive Überzogene selbst ist es, das uns entlastet von dem<br />

Druck, perfekt sein zu müssen. Wir lachen, weil wir die Richtigkeit<br />

des Anliegens spüren und zugleich die Unmöglichkeit,<br />

ihm zu genügen, aber nicht als qualvolles Ungenügen, sondern<br />

als hinzunehmende menschliche Grenze. Vielleicht ist es<br />

angesichts von soviel Vollkommenheit doch Gottes ausgleichende<br />

Gerechtigkeit, dass bei dem Bombenanschlag auf den<br />

Bahnhof, der die fünf Hauptfiguren von „Fundament“ miteinander<br />

verklammert, Dr. Friedrich Kremm umkommen muss,<br />

während etwa der junge Aktivist am Leben bleibt, und sogar<br />

endlich weiß, was er auf sein Transparent schreiben soll.<br />

Eine weitere Figur, die am Leben bleibt, und bei der man dies<br />

auch als ausgleichende Gerechtigkeit werten möchte, ist die<br />

Angestellte Bettina Lauterbach, die bei dem Workshop „Blockaden<br />

lösen durch kreatives Malen auf Stoff“ ungewollt einen<br />

Mit „Fundament“ legte der 1975 in München geborene<br />

Autor, Schauspieler und Regisseur Jan Neumann<br />

seine erfolgreiche erste Stückentwicklung für das<br />

SCHAUSPIEL STUTTGART vor. Alternierend zu diesen<br />

aufwändigen Stückentwicklungen verfasst Neumann<br />

auch Auftragswerke und inszeniert Stücke anderer<br />

Autoren, wie „Tod eines Handlungsreisenden“ von<br />

Arthur Miller im NORD in der Spielzeit 2010/11. Im<br />

Frühjahr 2011 wurde er für seine Texte mit dem Förder-<br />

preis für Komische Literatur ausgezeichnet.<br />

existentiellen Offenbarungseid leistet. Der Kurs-<br />

titel reizt zugegebenermaßen eher billig zum<br />

Lachen, das Raffinierte ist aber, dass Neumann<br />

der wohlfeilen Albernheit von Esoterik-Gurus und<br />

Selbsterfahrungsgruppen nur en passant erliegt<br />

und eine tiefer grundierte ansteuert. Bettina<br />

meldet sich überraschend zu Wort, um ihre<br />

Dankbarkeit für den Workshop zum Ausdruck<br />

zu bringen, doch der positive Impetus bricht ihr<br />

unter der Hand immer mehr weg, bis von ihr ein<br />

heulendes Häuflein Elend übrig bleibt, das die<br />

Ausgangsbehauptung, alles im Griff zu haben,<br />

anschaulich Lügen straft: Versagensängste, Kon-<br />

takt zu den Töchtern verloren, der Mann schläft<br />

nicht mehr mit ihr, Entfremdung, Todesgedanken.<br />

Aus der Aussage „Mir geht es gut Ich meine<br />

Ich hab einen Job und einen Mann und der<br />

hat auch einen Job und wir haben zwei Autos<br />

und zwei Töchter und.“ – in dieser Reihenfolge! –<br />

mit den komischen weil überflüssigen Präzisierungen<br />

wie „Und wir wohnen in einem schönen<br />

Haus also Reiheneckhaus also das sind drei<br />

Häuser und eins davon ist unsers also ein Drittelreihenhaus<br />

sozusagen und das gehört uns<br />

also der Bank da zahlen wir natürlich noch ab<br />

natürlich“ ist ein Auflösungsprozess geworden,<br />

der einen zum Lachen und Weinen zugleich<br />

reizt. Tragikomisch ist die Tatsache, dass Bettinas<br />

Schmerz sich vor allem an Nebenschauplätzen<br />

austobt wie bei ihren Makeup an den Wänden<br />

verteilenden pubertierenden Töchtern und einer<br />

Putzfrau, die – Zitat – „putzt aber die putzt<br />

nicht gut Also die ist aus dem Kosovo und putzt<br />

halt so gut sie kann Ich mein das jetzt nicht<br />

rassistisch aber wenn sie geputzt hat muss ich<br />

noch mal alles also putz ich einfach noch mal<br />

alles und Ich komm da manchmal nicht hinter-<br />

her wenn sie putzt und ich putz und dann ist da doch überall<br />

wieder Makeup und dann denk ich eben das macht keinen<br />

Sinn alles obwohl alles gut ist.“<br />

In dieser Nähe zu seinen Figuren, in der Lächerlichkeit und<br />

Größe ihrer Sehnsüchte und ihres Scheiterns, ist Neumann ganz<br />

in seinem Element. Er hat unendlich viel Humor, ein untrügliches<br />

Gespür für Situationskomik, ein feines Ohr für die komischen<br />

Ungereimtheiten mündlicher Rede. Auch für Kalauer<br />

und Plattheiten ist er sich nicht zu schade, da bricht schon<br />

mal der Komödiant in ihm durch, oder, bei den Stücken, die er<br />

während und parallel zur Inszenierungsarbeit entwickelt und<br />

dann nächtlich schreibt, der Regisseur, der sich in die Einfälle<br />

seiner Schauspieler verliebt. Was man vergeblich bei ihm suchen<br />

wird, ist Zynismus.<br />

Es klingt sicher altmodisch, wenn ich sage, dass er dazu<br />

die Menschen zu sehr liebt, dass er sie nie aus höherer Warte<br />

verlacht, sondern immer in dem Wissen, mit ihnen im selben<br />

Boot zu sitzen.<br />

Uraufführung: Frey!<br />

Eine Stückentwicklung von Jan Neumann<br />

Regie: Jan Neumann, Bühne: Matthias Werner,<br />

Kostüme: Dorothee Curio, Musik: Thomas Osterhoff,<br />

Dramaturgie: Kekke Schmidt<br />

Mit: Silja Bächli, Gabriele Hintermaier, Matthias Kelle,<br />

Sebastian Röhrle, Jens Winterstein<br />

Premiere am 17. Dezember 2011, 20 Uhr,<br />

NOrD (Löwentorbogen, S-Nord)<br />

Vorstellungen nur bis 22. Januar 2012<br />

22<br />

<strong>Das</strong> <strong>Journal</strong> Nov. Dez. 2011 / Jan. 2012<br />

23<br />

Foto: Karoline Bofinger


Proben zum Musiktheaterprojekt smiling doors. Uraufführung am 16. Dezember 2011.<br />

12. • <strong>Die</strong> Junge Oper<br />

Der Wert ist<br />

das Leben selbst<br />

Lange Nasen, lächelnde Türen und Junge<br />

Oper: Barbara Tacchini, die Leiterin der<br />

Jungen Oper im Gespräch mit Patrick Hahn<br />

Patrick Hahn: <strong>Die</strong> Oper ist eine Kunstform, die ungefähr<br />

vierhundert Jahre alt ist. Vergleicht man das zum Beispiel<br />

mit der Malerei, ist das noch recht jung. Was ist<br />

dann also „Junge Oper“?<br />

Barbara Tacchini: <strong>Die</strong> Junge Oper <strong>Stuttgart</strong> ist eine Institution,<br />

gewissermaßen eine „kleine Schwester“ der großen Oper. Wir<br />

leisten einerseits Vermittlung zu den Produktionen der Oper<br />

<strong>Stuttgart</strong>, seit 1998 produziert die Junge Oper auch selbst Musiktheaterwerke<br />

speziell für Kinder und Jugendliche.<br />

Warum bedarf es eigener Stücke für Kinder und Jugendliche?<br />

<strong>Die</strong> Stoffe und Konflikte, die für gewöhnlich auf der Opernbühne<br />

verhandelt werden, interessieren einen doch eher im<br />

Erwachsenenalter. Mit 14 Jahren beschäftigt man sich eher<br />

noch nicht mit Eheproblemen und die antike Mythologie ist<br />

einem meist herzlich egal. Wir suchen daher nach Stoffen, die<br />

Kinder oder Jugendliche besonders interessieren und machen<br />

damit spannendes Musiktheater.<br />

Was sind das für Stoffe?<br />

Brennende Themen wie: Was heißt Erwachsenwerden? Was<br />

bedeutet Selbstbestimmung? Wie geht man mit Freiheit um?<br />

Wie stehe ich zu meiner Kultur, zu meiner Erziehung? Wie will ich<br />

sein als Mensch, wie will ich leben? Wo finde ich eigene Wege?<br />

In welcher Welt leben wir und wie verhalte ich mich dazu?<br />

Theater für Kinder und Jugendliche findet an vielen<br />

Opernhäusern auf kleinen Nebenspielstätten statt. Auch<br />

in <strong>Stuttgart</strong> hat die Junge Oper ihren „Stammsitz“ im<br />

Kammertheater. Mit Pinocchios Abenteuer von Jonathan<br />

Dove hat sie jedoch gemeinsam mit der „großen Schwester“<br />

ein veritables Familienstück für das Opernhaus entwickelt<br />

...<br />

<strong>Die</strong>ses Stück unternimmt einen Spagat zwischen dem Stamm-<br />

publikum der Oper und Schulklassen, es ist ein Stück sowohl<br />

für Kinder als auch für Erwachsene. Beide Gruppen erleben<br />

wahrscheinlich etwas sehr Unterschiedliches während einer<br />

Vorstellung: Kinder verfolgen gebannt die Geschichte eines<br />

Stücks Holz, das lebendig wird, die Puppe, die ihrem Vater<br />

davonrennt, nicht artig ist und dann allerlei schlimme Dinge<br />

durchlebt – eine moralische Geschichte also, die stark durch<br />

ihre Entstehungszeit geprägt ist, als in Italien erstmals die<br />

Schulpflicht eingeführt worden ist. Man leidet mit der Figur<br />

und ist am Ende insgeheim enttäuscht, wenn Pinocchio ein<br />

echter, braver Junge geworden ist, und seine anarchischen<br />

Kanten „abgehobelt“ sind. Welche Folgen es hat, wenn alle<br />

Menschen einer einheitlichen Erziehung unterzogen werden<br />

ist wiederum auch für Erwachsene spannend. Ähnlich bei der<br />

Figur der Blauen Fee: Kinder lieben sie als Zauberwesen, das<br />

Nasen wachsen und wieder verschwinden lassen kann, für deren<br />

Eltern ist vielleicht spannend zu sehen, dass die Blaue Fee<br />

für die Erziehung, die sie schenkt, Liebe möchte. Und wenn sie<br />

diese Liebe nicht bekommt, nutzt sie ihre Macht, den kleinen<br />

Pinocchio in eine unangenehme Lage zu bringen, aus der sie<br />

ihn wieder erlösen kann ...<br />

An junge Menschen ab elf bis ins junge Erwachsenenalter<br />

richtet sich der Jugendclub, mit dem die Junge Oper für<br />

gewöhnlich einmal im Jahr ein Projekt erarbeitet. In diesem<br />

Jahr trägt das Projekt den Titel smiling doors – und<br />

die Gruppe setzt sich diesmal etwas anders zusammen als<br />

üblich. Was verbirgt sich hinter den „lächelnden Türen“?<br />

smiling doors erarbeiten wir mit Element 3, einer Künstlergruppe<br />

aus Freiburg, die schon seit mehreren Jahren Projekte mit<br />

krebskranken Kindern und Jugendlichen durchführt. Auch an<br />

smiling doors nehmen Kinder und Jugendliche teil, die an Krebs<br />

erkrankt sind oder diese Krankheit schon einmal besiegt haben.<br />

Wie ist die Junge Oper auf diese Kinder zugegangen?<br />

In Zusammenarbeit mit dem Olgahospital in <strong>Stuttgart</strong>, das<br />

den Kontakt zu jungen Menschen hergestellt hat, von denen<br />

viele mit der Frage leben: Bricht die Krankheit wieder aus? Wie<br />

üblich gab es auch eine Ausschreibung für alle Interessenten,<br />

in der wir angedeutet haben, dass es in unserem Projekt um<br />

Werte im Zusammenleben ginge. Anders als üblich musste<br />

man beim Casting daher nicht zeigen, ob man spielen, singen<br />

oder tanzen kann. <strong>Das</strong> Casting bestand aus einem Gespräch,<br />

in dem wir mit den Bewerbern diskutiert haben, warum sie an<br />

dem Projekt teilnehmen möchten.<br />

Steht also der Austausch im Zentrum des Projekts?<br />

Zwischen jungen Menschen, die in ihrem Leben bereits<br />

einmal in eine Grenzsituation geraten sind und anderen<br />

jungen Menschen, denen – wie sicher auch vielen Erwachsenen<br />

– die Vorstellungskraft fehlt, wie es ist, mit<br />

einer existenziellen Grenze konfrontiert zu sein?<br />

Ja, sowohl der Austausch innerhalb der Gruppe als auch der<br />

Austausch zwischen der Gruppe und dem Publikum – denn<br />

das Ziel des Projekts ist von Beginn an, ein Musiktheater zu<br />

kreieren. Doch der Weg dahin ist sehr persönlich für jeden<br />

Beteiligten und wir haben lange überlegt, ob wir ihn gehen<br />

sollen. Ausschlaggebend war am Ende, dass ich der Meinung<br />

bin, dass die jungen Menschen, die an unserem Projekt mitwirken,<br />

etwas Wichtiges zu sagen haben – weil sie eine besondere<br />

Erfahrung in sich tragen. Eine Krankheit verschiebt<br />

die Wahrnehmung von Werten im Leben und erzwingt eine<br />

Beschäftigung mit dem Thema Tod. Ein Thema, das im Jugendalter<br />

oft noch weit weg scheint. Was heißt überhaupt<br />

„gesund“ und was ist „krank“? Einige der „gesunden“ Kinder<br />

haben Geschwister durch den Krebs verloren und haben sich<br />

angemeldet, um sich mit dieser Erfahrung zu beschäftigen,<br />

andere haben Freunde, die erkrankt sind, wieder andere suchen<br />

einfach nur den Austausch.<br />

Aber sind das nicht alles Fragen für den Philosophieunterricht<br />

oder für die Sitzung mit der Therapeutin? Warum<br />

ist diese Auseinandersetzung etwas für das Theater?<br />

<strong>Die</strong>se Frage unterstellt, dass es einen therapeutischen Wert<br />

für die Mitwirkenden gäbe. Davon gehe ich grundsätzlich aus,<br />

dies ist aber nur ein Aspekt des Projekts. Denn in smiling doors<br />

geht es gerade darum, Dinge, die in einer Therapiesitzung<br />

thematisch werden können, in einem künstlerischen Prozess<br />

eigenständig zu formen. Ein Kunstprojekt kann nie eine Therapie<br />

ersetzen. Dafür gibt es Freiheit in der Kunst. Ein Gefühl,<br />

das man vielleicht mit Worten gar nicht ausdrücken kann, findet<br />

seine Form in einem Klang oder in einem Raum. Zu Beginn<br />

hat unsere Bühnenbildnerin den Teilnehmern zunächst „Baumaterial“<br />

zur Verfügung gestellt. z.B. Türen, Matratzen, Aquarien,<br />

Plastiktüten. Dann haben wir abgewartet, was passiert:<br />

Wie drückt sich das Gefühl von Angst oder Bedrängtheit in<br />

einem Raum aus? Und wie klingt die Musik dazu? Dabei entstehen<br />

Kunstgebilde, die dann in ihrer Bedeutung offen sind.<br />

Eine Geschichte, die man niemals selbst mit Worten auf der<br />

Bühne erzählen könnte, weil die Emotionen viel zu stark sind,<br />

lässt sich in der künstlerischen Umformung objektivieren. So<br />

wird die Kunst zugleich zu einem Schutz für die Intimität einer<br />

ganz persönlichen Erfahrung.<br />

Bedient sich das Theater in so einem Projekt – das immerhin<br />

von erwachsenen Kunstschaffenden angeleitet wird<br />

– nicht am Schmerzpotenzial dieser jungen Menschen?<br />

Fotos: Koen Bollen<br />

Tina Hörhold (Pinocchios Abenteuer)<br />

Wird man als Zuschauer nicht automatisch zum Voyeur?<br />

<strong>Die</strong> Gefahr ist da. Daher lasse ich die Mitwirkenden in ihren<br />

Entscheidungen frei: Es ist ihr Stück. Wir coachen sie, geben<br />

Ideen. In den ersten Wochen haben wir viel darüber gesprochen,<br />

was die Bedingungen für Kunst sind. Darüber, dass ein<br />

Künstler nicht irgendetwas macht, sondern zunächst sein Material<br />

bestimmt: sein Tonmaterial, sein Instrumentarium, seine<br />

Farben. Verwende ich Türen? Oder verwende ich lieber Kissen?<br />

Unsere wesentliche Vorgabe war lediglich: Wir machen<br />

keinen Pop und kein Musical, sondern wir schaffen ein Musiktheater,<br />

bei dem wir selber die Klänge und die Geschichten suchen.<br />

Es käme mir parasitenhaft vor, wenn ich die Mitwirkenden<br />

interviewt hätte und selbst daraus ein Stück schriebe. Wir<br />

haben eine strikte Trennung. Eine Psychologin führt mit den<br />

Mitwirkenden Gespräche. Doch diese bleiben in dem Raum, in<br />

dem sie stattfinden und die Jugendlichen entscheiden selbst,<br />

was sie von diesen Gedanken auf die Bühne bringen.<br />

Wie werden Gedanken schließlich zu einem Stück?<br />

Man sammelt zunächst ganz viel. <strong>Die</strong> Kids schreiben Texte<br />

über Fragen, die in Improvisationen entstehen, zum Beispiel:<br />

Wie stelle ich mir den Himmel vor? Wer bin ich eigentlich? Aus<br />

unseren Improvisationen mit Instrumenten gehen schließlich<br />

Kompositionen hervor. Der Dramaturg beobachtet, welche<br />

Themen sich durchziehen und kann die Jugendlichen darauf<br />

hinweisen. Inzwischen gibt es ein Textbuch. Es geht darin um<br />

die Geschichte von zwei Geschwistern, von denen eines stirbt.<br />

Und darum, dass Zeit nicht alle Wunden heilt. Geht das Leben<br />

einfach weiter, wenn jemand gestorben ist? Wie? Im Bühnenbild<br />

drückt sich das in einem Raum aus, in dem nichts verschoben<br />

werden darf – denn das ist ja ein ganz schmerzhafter<br />

Moment, wenn nach einem Tod ein Zimmer ausgeräumt wird,<br />

selbst wenn es irgendwann ein Moment der Bewältigung sein<br />

kann.<br />

24 <strong>Das</strong> <strong>Journal</strong> Nov. Dez. 2011 / Jan. 2012<br />

25<br />

12.<br />

Welche rolle spielt die Musik?<br />

Meistens steht sie für bestimmte Gefühlszustände. Es gibt<br />

immer wieder Erinnerungen. Der Mensch, der gestorben ist,<br />

kommt hier zu Wort. Im gegenwärtigen Stadium wird die Musik<br />

von den Jugendlichen gewissermaßen auf eine eher filmmusikalische,<br />

atmosphärische Weise eingesetzt.<br />

Ausgangspunkt für das Projekt war ein roman von Janne<br />

Teller, in dem es um Werte geht: Spielt dieses Buch noch<br />

eine rolle, oder ist es inzwischen in den Hintergrund gerückt?<br />

Wir haben den Roman mit dem Titel Nichts. Was im Leben<br />

wichtig ist in der ersten Woche gemeinsam gelesen und fanden<br />

ihn sehr aufregend. Als Motiv haben die Kids die nihilistische<br />

Grundbehauptung mitgenommen: Wenn ich nur zum Sterben<br />

geboren bin, dann macht doch alles keinen Sinn. Interessant war<br />

jedoch, dass die Jugendlichen eine sehr klare Meinung hatten,<br />

dass in diesem Roman ein ganz großes Missverständnis über<br />

Werte vorherrscht. Sie haben in unseren Gesprächen festgestellt:<br />

Der Wert ist das Leben selbst. Es sind Momente des<br />

Glücks, für die man lebt.<br />

Zu solchen Glücksmomenten, an die sich mancher vielleicht<br />

gerne zurück erinnert, gehört das Einschlafen mit<br />

einer Gutenachtgeschichte, oder, schöner noch, mit einem<br />

Gutenachtlied. Nun haben Wiegenlieder in jüngerer Zeit<br />

eine renaissance erfahren und auch die Junge Oper hat<br />

ein ganz besonderes „Wiegenliedprojekt“ ins Leben gerufen.<br />

Was war der Anlass dafür?<br />

Als ich zuletzt Kindern von Freunden abends eine Geschichte<br />

vorgelesen habe, dachte ich, dass es doch eigentlich auch für<br />

Erwachsene ganz schön sein müsste, die Geschichte einmal<br />

nicht selbst zu erzählen, sondern selbst wie ein Kind eine<br />

Geschichte erzählt zu bekommen und dabei einschlafen zu<br />

können. Außerdem sind Pyjama-Parties bei Kindern äußerst<br />

beliebt. Unser Schlafkonzert ist eine Verbindung von beidem:<br />

Eine Übernachtungsparty für Kinder und ihre Begleitpersonen,<br />

bei denen alle in den Schlaf gesungen werden mit Liedern und<br />

Harfenklängen.<br />

Wäre das nicht Besorgnis erregend, wenn sich herum<br />

spricht, dass die Junge Oper zum Einschlafen ist?<br />

Ich denke nicht. Denn normalerweise bewirken wir genau das<br />

Gegenteil.<br />

Vielen Dank für das Gespräch.<br />

Pinocchios Abenteuer<br />

von Jonathan Dove<br />

November 2011<br />

13.11. (nm) Familienvorstellung<br />

14.11. (vm) Schulvorstellung<br />

Dezember 2011<br />

12.12. Familienvorstellung<br />

13.12. (vm) Schulvorstellung<br />

18.12. Familienvorstellung<br />

19.12. Familienvorstellung<br />

Schlafkonzert<br />

Dezember 2011<br />

09.12., 19:00 Uhr bis 10:00 Uhr am 10.12.<br />

10.12., 19:00 Uhr bis 10:00 Uhr am 11.12.<br />

smiling doors<br />

Dezember 2011<br />

Uraufführung 16.12. / 17.12. / 20.12. / 21.12.<br />

Foto: Martin Sigmund


Seit wann arbeiten Sie an den Württem-<br />

bergischen <strong>Staatstheater</strong>n und wie viele Botenmeister<br />

gibt es an den <strong>Staatstheater</strong>n?<br />

Ich bin seit 6 Jahren am Haus. Insgesamt sind wir am Haus<br />

vier Botenmeister, wobei ein Kollege in der Kostümabteilung<br />

beschäftigt ist.<br />

26<br />

01<br />

02<br />

Was macht eigentlich ein Botenmeister?<br />

Wir Botenmeister sind zuständig für den Postversand,<br />

die Hauspost-Verteilung, verschiedenste Botengänger aller<br />

Art. Hinzu kommt die Verwaltung und Bereitstellung<br />

der Programmhefte und aller Publikationen in den verschiedenen<br />

Spielstätten. Wir organisieren außerdem die<br />

Drucksachen für die Verwaltung. Also sozusagen alles,<br />

was mit Papier zu tun hat.<br />

03<br />

Können Sie überschlagen, wie viele gelaufene<br />

Kilometer am Tag und letztlich in einer Spielzeit da<br />

so zusammen kommen?<br />

Im Schnitt dürften das 8 km pro Tag sein, also kommen wir<br />

in einer Spielzeit auf über 2.200 km. <strong>Das</strong> ist mehr als einmal<br />

zu Fuß von <strong>Stuttgart</strong> nach Lissabon oder nach Moskau.<br />

Plus • 10 Fragen an ...<br />

Raphael Agurkis, Leiter der Botenmeisterei<br />

„Hier ist kein Tag wie<br />

der andere“<br />

Raphael Agurkis in der Botenmeisterei<br />

04<br />

Wie wird man Botenmeister?<br />

Eine Ausbildung für den Beruf des Botenmeisters gibt es nicht,<br />

aber eine Ausbildung im Postbetrieb oder als Lagerfachkraft<br />

ist sehr vorteilhaft. Wir sind alle Quereinsteiger. Ich habe zum<br />

Beispiel eine Ausbildung als Drucker und eine langjährige<br />

Führungsposition bei einem Lebensmittelhersteller gehabt,<br />

bevor ich mich bei den <strong>Staatstheater</strong>n beworben habe.<br />

05<br />

Wie kamen Sie ans Theater?<br />

Durch reinen Zufall. Ich wollte eine berufliche Veränderung<br />

und wieder mit Papier zu tun haben. In der Zeitung habe ich<br />

dann die Stellenausschreibung gelesen und mich beworben.<br />

Bei den <strong>Staatstheater</strong>n zu arbeiten, war schon immer ein<br />

heimlicher Traum von mir. Wenn ich im Schauspielhaus eine<br />

Vorstellung besucht habe, war ich immer begeistert und<br />

dachte, hier würde ich gerne irgendwie arbeiten. Es gehört<br />

immer auch sehr viel Glück dazu.<br />

06<br />

Was war bisher die größte Herausforderung?<br />

<strong>Die</strong> größte Herausforderung gab es so bei mir nicht. Es sind<br />

die vielen Kleinigkeiten bei der täglichen Arbeit – Dinge<br />

unter großem Zeitdruck zu bewältigen. Wir arbeiten für alle<br />

drei Sparten, da gibt es immer wieder nicht planbare<br />

Situationen, und diese erfolgreich zu bewältigen, das ist<br />

unser Salz in der Suppe.<br />

Impressum: Herausgeber <strong>Die</strong> <strong>Staatstheater</strong> <strong>Stuttgart</strong> // Geschäftsführender Intendant Marc-Oliver Hendriks // Intendant Oper <strong>Stuttgart</strong><br />

Jossi Wieler // Intendant <strong>Stuttgart</strong>er Ballett Reid Anderson // Intendant Schauspiel <strong>Stuttgart</strong> Hasko Weber // redaktion Oper <strong>Stuttgart</strong>: Sara Hörr,<br />

Claudia Eich-Parkin <strong>Stuttgart</strong>er Ballett: Vivien Arnold Schauspiel <strong>Stuttgart</strong>: Ingrid Trobitz, Simone Voggenreiter // Gestaltung Bureau Johannes Erler //<br />

Druck Bechtle Druck&Service // Titelseite Elizabeth Wisenberg, <strong>Stuttgart</strong>er Ballett. Foto: Christian Wiehle redaktionsschluss 31. Okt. 2011 //<br />

Hausanschrift <strong>Die</strong> <strong>Staatstheater</strong> <strong>Stuttgart</strong>, Oberer Schlossgarten 6, 70173 <strong>Stuttgart</strong> / Postfach 10 43 45, 70038 <strong>Stuttgart</strong>.<br />

Foto: Matthias Dreher<br />

<strong>Das</strong> schönste oder vergnüglichste Erlebnis?<br />

... ist mein Geheimnis.<br />

Meine Lieblingsinszenierung...<br />

... war „Figaros Hochzeit“ im Schauspielhaus unter der Intendanz<br />

Friedrich Schirmer und im Ballett „E dward II.“, weil<br />

mir dieses Stück den Zugang zum Ballett ermöglicht hat.<br />

<strong>Das</strong> wünsche ich mir ...<br />

Mal 4 Wochen lang mit meinem Snowboard die schönsten<br />

Tiefschneeabhänge der Alpen ersteigen und meine Spur in<br />

den Schnee zeichnen.<br />

Förderer des<br />

<strong>Stuttgart</strong>er Balletts<br />

07<br />

08<br />

09<br />

Theater ist für mich ...<br />

Kein Tag wie der andere.<br />

10<br />

Partner der Oper <strong>Stuttgart</strong><br />

Förderer des <strong>Stuttgart</strong>er Balletts<br />

FESTSPIELHAUS BADEN-BADEN<br />

21. bis 27. Dezember 2011<br />

Mariinsky-Ballett<br />

st. PetersBurg<br />

Schwanensee<br />

Anna Karenina<br />

Don Quixote<br />

Ballett-Gala<br />

P<br />

beim <strong>Staatstheater</strong> <strong>Stuttgart</strong><br />

Landtag<br />

Konrad-Adenauer-Straße 3, 70173 <strong>Stuttgart</strong> 175 Plätze<br />

Ihr Partner rund ums Parken<br />

Parkraumgesellschaft<br />

Baden-Württemberg Baden-Württemberg mbH<br />

in der Kulturmeile<br />

P P Haus der Geschichte<br />

TIPP<br />

Landesbibliothek<br />

Konrad-Adenauer-Straße 10, 70173 <strong>Stuttgart</strong> 420 Plätze<br />

P P Staatsgalerie<br />

TIPP<br />

- Durchgehend geöffnet -<br />

jede angefangene ½ Stunde 1 €<br />

Tageshöchstsatz 12 €<br />

Flanier-Pauschale Mo - Sa 15 - 6 Uhr max. 5 €<br />

Abend-Pauschale Mo - Sa 18 - 6 Uhr max. 4 €<br />

Sonn- u. Feiertags-Pauschale ab 6 Uhr max. 4 €<br />

Dauerparkberechtigung pro Monat inkl. USt. 115,61 €.<br />

- Durchgehend geöffnet -<br />

jede angefangene ½ Stunde 1 €<br />

Tageshöchstsatz 12 €<br />

Abend-Pauschale Mo - Sa 18 - 6 Uhr max. 4 €<br />

Sonn- u. Feiertags-Pauschale ab 6 Uhr max. 4 €<br />

Konrad-Adenauer-Straße 3, 70173 <strong>Stuttgart</strong> 59 Plätze<br />

- Durchgehend geöffnet -<br />

jede angefangene ½ Stunde 1 €<br />

Tageshöchstsatz 12 €<br />

TIPP<br />

Konrad-Adenauer-Straße 32, 70173 <strong>Stuttgart</strong> 123 Plätze<br />

- Durchgehend geöffnet -<br />

jede angefangene ½ Stunde 1 €<br />

Tageshöchstsatz 12 €<br />

TIPP<br />

Flanier-Pauschale Mo - Sa 15 - 6 Uhr max. 5 €<br />

Abend-Pauschale Mo - Sa 18 - 6 Uhr max. 4 €<br />

Sonn- u. Feiertags-Pauschale ab 6 Uhr max. 4 €<br />

Dauerparkberechtigung pro Monat inkl. USt. 115,61 €.<br />

Abend-Pauschale Mo - Sa 18 - 6 Uhr 4 €<br />

Sonn- u. Feiertags-Pauschale ab 6 Uhr 4 €<br />

Huberstr. 3 · 70174 <strong>Stuttgart</strong> · pbw@pbw.de<br />

Tel.: 0711/89255-0 · Fax: -599 · www.pbw.de<br />

förderverein der staatstheater stuttgart e.v.<br />

AUFFÖRDERUNG<br />

<strong>Die</strong> <strong>Stuttgart</strong>er <strong>Staatstheater</strong> bieten Oper, Ballett und<br />

Schauspiel auf höchstem Niveau. Private Förderung trägt dazu bei, dieses<br />

heraus ragende und umfassende Kulturprogramm aufrecht<br />

zu erhalten.<br />

<strong>Das</strong> Engagement des Fördervereins der <strong>Staatstheater</strong> <strong>Stuttgart</strong><br />

reicht von der Unterstützung von Theaterprojekten an Schulen,<br />

der Finanzierung von Stipendien bis hin zur Förderung<br />

besonders wichtiger Produktionen.<br />

Als Mitglied oder Stifter sind Sie bei uns in bester Gesellschaft.<br />

Erleben Sie Theater hautnah – bei Proben, Sonderveranstaltungen<br />

und exklusiven Gesprächen mit den Künstlern der <strong>Staatstheater</strong>.<br />

Wir informieren Sie gerne:<br />

förderverein der staatstheater stuttgart e.v.<br />

Tübinger Straße 33, 70178 <strong>Stuttgart</strong><br />

Telefon 0711.12 43 41 35,<br />

Telefax 0711.12 74 60 93<br />

info@foerderverein-staatstheater-stgt.de<br />

www.foerderverein-staatstheater-stgt.de<br />

Konto-Nr. 2413004, BLZ 600 501 01<br />

FFS11_XXXX_AZ_BEL.indd 1 28.10.11 11:48<br />

21./22. Dez.<br />

23./25. Dez.<br />

26. Dez.<br />

27. Dez.<br />

Tickets von 36 bis 120 Euro erhalten Sie über unser Service-Center: 0 72 21/30 13-101. Gerne senden wir Ihnen unser neues Festspielhaus-Magazin kostenfrei zu. www.festspielhaus.de<br />

© NAtAShA RA ziNA/photocASe/zweiDReieiNS


Karten und<br />

Informationen<br />

unter<br />

0711. 20 2090<br />

und www.<br />

staatstheaterstuttgart.de

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