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Herausgegeben von Jan Caspers, Anne König, Vera Tollmann und ...

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WAS DU<br />

WISSEN<br />

SOLLTEST<br />

(DIE ZUKUNFT)<br />

<strong>Herausgegeben</strong> <strong>von</strong><br />

<strong>Jan</strong> <strong>Caspers</strong>, <strong>Anne</strong> <strong>König</strong>,<br />

<strong>Vera</strong> <strong>Tollmann</strong> <strong>und</strong> <strong>Jan</strong> Wenzel<br />

DIE ZUKUNFT, MÖGLICHERWEISE . . . . . . . . . . . . 2<br />

Editorial<br />

LEBEN IN DER EINFLUGSCHNEISE . . . . . . . . . . . 3<br />

Ein Gespräch mit Elsa Hourcade<br />

ANGEKOMMEN IN DER WIRKLICHKEIT . . . . . . . 5<br />

Ein Gespräch mit Eric Malitzke<br />

DIE KUNST DER KRISE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9<br />

Ein Gespräch mit Sonja Beeck<br />

ES KÖNNTE SICH GANZ VIEL ÄNDERN,<br />

WENN ES DIE PYRAMIDE GÄBE . . . . . . . . . . . . . . 10<br />

Ein Gespräch mit Ingo Niermann<br />

ÖFFENTLICHE KULTURFÖRDERUNG<br />

HAT ZUKUNFT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13<br />

Ein Gespräch mit Alexander Farenholtz<br />

WIR WOHNEN AN DER LÄRMMÜLLDEPONIE . . . . 14<br />

Ein Gespräch mit Thomas Pohl<br />

NO-GO-AREAS FÜR DIE ARBEIT! . . . . . . . . . . . . . 16<br />

Ein Gespräch mit Silke Steets<br />

MEIN MITBEWOHNER MARK . . . . . . . . . . . . . . . . 17<br />

Julian Kamphausen<br />

SOLDATEN SIND ... TRANSITPASSAGIERE . . . . . . 18<br />

Ein Gespräch mit Lutz Metzger<br />

KURZWEIL WÄHRT AM LÄNGSTEN . . . . . . . . . . 20<br />

Ein Gespräch zwischen Tobias Hülswitt <strong>und</strong> Ray Kurzweil<br />

DIE SUPPE MUSS UMGERÜHRT WERDEN . . . . 22<br />

Ein Gespräch mit Steffen Schuhmann<br />

GESPENSTER . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24<br />

<strong>Anne</strong> <strong>König</strong>


WAS DU WISSEN SOLLTEST (DIE ZUKUNFT)<br />

DIE ZUKUNFT,<br />

MÖGLICHERWEISE<br />

Editorial<br />

Schaut man sich derzeit im Feld der<br />

zeitgenössischen Kunst um, entsteht leicht<br />

der Eindruck, die ZUKUNFT sei das<br />

Thema der St<strong>und</strong>e. In erstaunlich vielen<br />

künstlerischen Arbeiten, Ausstellungsprojekten<br />

<strong>und</strong> Festivalankündigungen<br />

geistert der Begriff des Zukünftigen herum.<br />

Auffällig an der zu beobachtenden Häufung<br />

ist vor allem, dass das aktuelle Interesse<br />

an Zukunft unter neuen Vorzeichen zu<br />

stehen scheint. Denn es ist nicht mehr die<br />

Suche nach dem Utopia, die die Künstlerinnen<br />

<strong>und</strong> Künstler umtreibt, vielmehr<br />

versuchen sie in ihren Arbeiten nachzuvollziehen,<br />

in welchem Maße auch die<br />

noch vor uns liegende Zeit bereits als<br />

Ressource der Gegenwart aufgefasst wird.<br />

So untersucht zum Beispiel Katya Sander<br />

in ihrer Videoinstallation ›Darstellungen<br />

der Zukunft‹ (2008) die Mechanismen<br />

kapitalistischer Zukunftssteuerung,<br />

während sich die Autoren Paul Plamper<br />

<strong>und</strong> Julian Kamphausen in ihrem Hörspiel<br />

›Die Unmöglichen‹ (2008) mit der Pränataldiagnostik<br />

beschäftigen. Hier geht es<br />

darum, wie die Zukunft durch Techniken<br />

der Vorhersage, der Kontrolle <strong>und</strong> des Ausschlusses<br />

an der kurzen Leine der Ge genwart<br />

gehalten wird. Fast schon wie eine<br />

Revolte gegen solche Formen <strong>von</strong> Zukunfts-<br />

Besetzung wirkt dabei der Titel einer<br />

neuen Arbeit des britischen Künstlers Liam<br />

Gillick: »The future always acts differently<br />

– Die Zukunft verhält sich immer anders«.<br />

›Diskursdorf – Die Zukunft‹ überschrie<br />

ben Cora Hegewald <strong>und</strong> Benjamin<br />

Foerster-Baldenius einen dreitägigen Workshop,<br />

den das Thalia-Theater Halle im<br />

April in Kursdorf veranstaltete. Eingeladen<br />

waren 27 Referentinnen <strong>und</strong> Referenten,<br />

um über die Zukunft zu sprechen: Es ging<br />

in den drei Tagen um Utopien <strong>von</strong> Gestern,<br />

Zukunftsforen, Thinktanks <strong>und</strong> Science<br />

Fiction, um die Zukunft der Region <strong>und</strong> die<br />

des Flughafens, um die Zukunft der Biogenetik,<br />

der Theaterfestivals, der Stadt entwicklung,<br />

der Kulturförderung, der Mobilität<br />

<strong>und</strong> der Sprache – ein wahres Potpourri<br />

der Potentiale. Die beiden Workshop-<br />

Kuratoren hatten uns gefragt, ob wir ihre<br />

Arbeit dokumentierend begleiten würden. –<br />

Zwölf Minuten dauert die Zugfahrt<br />

<strong>von</strong> Leipzig oder Halle aus zum Flughafen.<br />

Hatte man sich hier vor einigen Jahren verplant<br />

oder würden die besseren Tage<br />

dieses Flughafens erst in der Zukunft beginnen?<br />

Durch die voll verglaste Fensterfront<br />

der gespenstisch leeren Mall sahen wir<br />

Kursdorf zum ersten Mal. Die Straße zum<br />

Dorf führt an einem Roll feld vorbei, auf<br />

dem jeden Tag Maschinen einer unbekannten<br />

Fluglinie auf ihren Abfl ug warten.<br />

Kursdorf war ein merk würdiger Ort. Eingeschlossen<br />

<strong>von</strong> Verkehrs infra struk turen –<br />

Autobahn, ICE-Trasse <strong>und</strong> Roll fel der –<br />

schien das Dorf selbst wie abgeschnitten<br />

<strong>von</strong> der Gegenwart. Die Mehrzahl der<br />

Häuser <strong>und</strong> Stallungen standen leer, obwohl<br />

alles bestens gepfl egt <strong>und</strong> erhalten<br />

wirkte, als wären die Bewohner plötzlich<br />

verschw<strong>und</strong>en. Hier <strong>und</strong> da gab es noch<br />

Anzeichen <strong>von</strong> Leben, aber es überwog der<br />

menschenleere Eindruck, den wir schon<br />

vom Flughafen kannten. Für den Workshop<br />

hatte man einige Gebäude temporär wieder<br />

nutzbar gemacht. Der April brachte Regen<br />

<strong>und</strong> Kälte. Nur in der mit einem Heizgebläse<br />

gewärmten winzigen Dorfkirche<br />

war es gelungen, eine angenehme Situation<br />

für die Gäste zu schaffen; im Gasthof <strong>und</strong><br />

in der Scheune musste man sich in eine<br />

der reichlich vorhandenen Leihdecken<br />

wickeln, um nicht zu sehr zu frieren.<br />

Was war das nur für ein Ort, um über die<br />

Zukunft zu sprechen? Drei Tage lang<br />

hörten wir zu, beobachteten, diskutierten<br />

<strong>und</strong> spazierten durch das Dorf <strong>und</strong> den<br />

Flughafen. Vieles blieb uns unklar.<br />

Wir erlebten Gesprächsformate, deren Sinn<br />

wir nicht verstanden. Wir hörten Beiträge,<br />

deren Bedeutung wir nicht begriffen.<br />

Wir sahen Flugzeuge vorbei rollen, deren<br />

Firmenzeichen wir nicht kannten. Nach<br />

den drei Tagen hatten wir vor allem<br />

Fragen. Aber gerade diese Fragen erwiesen<br />

sich als die beste Gr<strong>und</strong>lage für unsere<br />

weitere Arbeit. Sie führten uns zurück zu<br />

Referenten, mit denen wir dann ausführlichere<br />

Gespräche führten. Und sie führten<br />

uns zu Menschen, die sich intensiv mit<br />

dem Flughafen <strong>und</strong> seinem Beitrag für die<br />

Region befasst hatten.<br />

Erst mit der Zeit erhielten die Eindrücke<br />

der Diskursdorf-Tage so eine<br />

Ordnung. Es gab Themen, die wir aufgeschnappt<br />

hatten <strong>und</strong> nun intensiv<br />

weiterverfolgten, <strong>und</strong> es gab Lücken –<br />

Unartikuliertes, Vages, Ausgespartes – die<br />

uns erst im Nachhinein auffi elen. Und<br />

zunehmend hatten wir das Gefühl: Gerade<br />

in diesen Lücken stecken die Fragen<br />

der Zukunft.<br />

In dieser Zeitung, die im Laufe <strong>von</strong><br />

zwei Monaten entstand, überlagern sich<br />

verschiedene Themenstränge: Anfangs<br />

interessierten wir uns vor allem für<br />

individuelle Umgangsweisen mit Zukunft.<br />

Mit Silke Steets schrieben wir uns E-Mails<br />

über Deadline-Karten, Steffen Schuhmann<br />

machte uns die Bedeutung klar, die<br />

längerfristige Zeithorizonte nach wie vor<br />

besitzen. Wir wollten <strong>von</strong> unseren<br />

Gesprächspartnern wissen, ob fl exible <strong>und</strong><br />

kurzfristige Umgangsweisen mit Zeit solche<br />

längerfristigen Zeithorizonte, die ja den<br />

Begriff Zukunft eigentlich ausmachen,<br />

nicht längst entwertet haben <strong>und</strong> wie stark<br />

das permanente Nebeneinander unterschied<br />

licher Optionen <strong>und</strong> daraus erwachsende<br />

Ad-hoc-Strategien für sie handlungsleitend<br />

sind.<br />

Als wir bereits mitten in der redaktionellen<br />

Arbeit steckten, entschieden wir uns<br />

selbst, unsere Aufmerksamkeit ad hoc auf<br />

ein anderes Thema zu lenken: Das Bild der<br />

Flugzeuge mit dem Weltnetz als Logo, die<br />

wir in Kursdorf gesehen hatten, waren uns<br />

nicht aus dem Kopf gegangen.<br />

Wir hatten im Internet recherchiert; es<br />

handelte sich um World Airways, eine<br />

private Fluggesellschaft, die amerikanische<br />

Soldaten in die Krisengebiete im Irak <strong>und</strong><br />

in Afghanistan fl iegt – mit Tankstopp auf<br />

dem Flughafen Leipzig / Halle.<br />

Wir recherchierten weiter <strong>und</strong> führten<br />

Interviews: Mit dem Geschäftsführer des<br />

Flughafens Leipzig / Halle, Eric Malitzke,<br />

ebenso wie mit seinen Kritikern. Thomas<br />

Pohl <strong>von</strong> der Interessengemeinschaft<br />

Nachtfl ugverbot berichtete, dass, seit das<br />

B<strong>und</strong>esverwaltungsgericht 2006 die<br />

Nachtfl üge <strong>von</strong> Passagiermaschinen am<br />

Flughafen Leipzig / Halle untersagt hat, die<br />

amerikanischen Truppentransporte nachts<br />

wie Militärfl üge behandelt, tagsüber aber<br />

als zivile Transporte deklariert werden.<br />

Wir sahen bereits die St<strong>und</strong>e des<br />

Theaters gekommen, dessen gesellschaft liche<br />

Funk tion ja auch <strong>und</strong> besonders in der<br />

2<br />

Bear beitung <strong>von</strong> Widersprüchen auf offener<br />

Bühne besteht. Allerdings bringt wohl kein<br />

noch so spielerisches Gesprächsformat<br />

derart polarisierte Protagonisten an einen<br />

Tisch. Vielleicht ist es einem Medium wie<br />

der Zeitung – in ihrer Unmittelbarkeit<br />

praktisch die publizistische Entsprechung<br />

des Theaters – vorbehalten, den aktuellen<br />

Konfl ikt r<strong>und</strong> um den Flughafen Leipzig /<br />

Halle darzustellen. Je mehr sich unsere<br />

Recherchen konkretisierten, um so deut licher<br />

kamen die Signale <strong>von</strong> Seiten des Flughafens,<br />

dass auf seinem Gelände be stimmte<br />

Themen ein absolutes Tabu dar stel len<br />

<strong>und</strong> auch für die Kunst unausge sprochen<br />

bleiben müssen.<br />

Zugegeben, anfangs hegten wir<br />

Zweifel daran, ob ein halb verlassenes Dorf<br />

mitten auf dem Flughafengelände der<br />

richtige Ort sei, um über die Zukunft<br />

nachzudenken. In der Zwischenzeit haben<br />

wir unsere Meinung geändert. ›Diskursdorf‹<br />

funktio nierte wie ein Lackmustest für den<br />

öffent lichen Raum. Auf dem Flughafen<br />

war unter den gegebenen Umständen ein<br />

solches Unterfangen vielleicht <strong>von</strong> vornherein<br />

zum Scheitern verurteilt.<br />

Denn an diesem Ort wird die Zukunft<br />

durch Kon trolle <strong>und</strong> Ausschluss ans Gängelband<br />

gelegt. Kunst kann hier allenfalls als<br />

Camoufl age fungieren. Vom nahen Kursdorf<br />

aus wird deutlich, dass dieser Umgang<br />

mit der Zukunft eine Illusion darstellt.<br />

Denn auch für den Flughafen Leipzig/<br />

Halle gilt: »The future always acts<br />

differently – Die Zukunft verhält sich<br />

immer anders«.<br />

Impressum<br />

›Was Du wissen solltest (Die Zukunft)‹<br />

entstand als künstlerische Arbeit zum dreitägigen<br />

Symposium ›Diskursdorf –<br />

Die Zukunft‹ (11./12. <strong>und</strong> 19. April 2008).<br />

›Diskursdorf‹ ist Teil <strong>von</strong> ›AusFlugHafenSicht‹<br />

– ein temporärer Landschaftsgarten<br />

des Thalia Theater Halle, unterstützt durch<br />

›Theater der Welt 2008‹. Künstlerische<br />

Leitung: Benjamin Foerster-Baldenius <strong>und</strong><br />

Cora Hegewald.<br />

Die hier abgedruckten Beiträge geben nicht<br />

unbedingt die Meinung der <strong>Vera</strong>nstalter wieder.<br />

Herausgeber: <strong>Jan</strong> <strong>Caspers</strong>, <strong>Anne</strong> <strong>König</strong>,<br />

<strong>Vera</strong> <strong>Tollmann</strong>, <strong>Jan</strong> Wenzel<br />

Gestaltung: Ina Kwon, Helmut Völter<br />

Scherenschnitt: <strong>Jan</strong> <strong>Caspers</strong><br />

Lektorat: Wiebke Helms<br />

Druck: Union Druckerei Nohra bei Weimar<br />

Creative Commons Licence: by-nc-sa.<br />

Für alle Texte <strong>und</strong> Bilder gilt: Der Name des<br />

Urhebers muss genannt werden. Eine kommerzielle<br />

Nutzung ist nicht gestattet. Wenn ein<br />

Text bearbeitet wurde, muss das neu entstandene<br />

Werk unter einer Lizenz mit vergleichbaren<br />

Bedingungen weitergegeben werden.<br />

Alle Texte auf www.spectormag.net.<br />

Kontakt: spector@spectormag.net<br />

Dank an: Uwe Bautz, Sonja Beeck,<br />

Alexander Farenholtz,<br />

Benjamin Foerster-Baldenius, Cora Hegewald,<br />

Elsa Hourcade, Tobias Hülswitt, Thomas Irmer,<br />

Julian Kamphausen, Eric Malitzke,<br />

Lutz Metzger, Ingo Niermann, Thomas Pohl,<br />

Claudia Rast, Steffen Schuhmann,<br />

Stefan Shankland, Ria Staude, Silke Steets,<br />

Christian Tschirner, Kai Wenzel


WAS DU WISSEN SOLLTEST (DIE PERIPHERIE)<br />

LEBEN IN DER<br />

EINFLUGSCHNEISE<br />

Ein Gespräch mit der französischen<br />

Schauspielerin Elsa Hourcade,<br />

die Fragen stellten<br />

<strong>Jan</strong> <strong>Caspers</strong> <strong>und</strong> <strong>Anne</strong> <strong>König</strong><br />

Wie hast Du Gonesse bei Deinem ersten<br />

Besuch erlebt?<br />

Als ich das erste Mal nach Gonesse gefahren bin, sprach mich<br />

ein Mann auf der Straße an. »Du bist eine Fremde.« Ich blickte<br />

an mir herab. »Sehen Sie das an meiner Kleidung?« Er lachte.<br />

»Nein, Sie haben ständig ihren Kopf im Nacken <strong>und</strong> schauen<br />

nach jedem Flugzeug am Himmel. Das tun hier nur Fremde.«<br />

Und wirklich, nach einer Weile hörst du die Flugzeuge<br />

nicht mehr. Keiner hört sie mehr. Man kann sie fühlen, es fällt<br />

schwer, sich zu konzentrieren, wenn man mit den Leuten redet.<br />

Der Lärm ist nämlich nicht nur da, wenn die Flugzeuge direkt<br />

über dir sind, du hörst sie auch kommen <strong>und</strong> du hörst sie noch,<br />

wenn sie längst über dich hinweg geflogen sind. Es ist eine<br />

permanente Geräuschkulisse. Für mich war das wirklich eine<br />

körperliche Erfahrung. Im Maßstab der Menschheitsgeschichte<br />

passen wir uns an alle möglichen Umweltbedingungen an.<br />

Wie sich dieser Lärm auf die Ges<strong>und</strong>heit auswirkt? Sicherlich<br />

irgendwie, aber niemand hat das hier untersucht.<br />

Er ist bestimmt schädlich für das Gehirn <strong>und</strong> für das Gehör,<br />

das ist sicher. Man hat Konzentrationsprobleme, es gibt Schlaflosig<br />

keit. Tatsache ist auf jeden Fall, dass wir uns daran ge wöhnen<br />

können, so wie wir uns überhaupt an sehr viel gewöhnen<br />

können.<br />

Gibt es überhaupt keinen Protest gegen den<br />

Fluglärm?<br />

Ich glaube, der letzte organisierte Protest ist acht Jahre her.<br />

Natürlich klagen die Leute, wenn du sie danach fragst, aber andererseits<br />

vergessen sie es sofort wieder, weil sie so daran<br />

gewöhnt sind. Ich habe nie eine Beschwerde gehört, bis wir bei<br />

unseren Filmarbeiten mit Einwohnern <strong>von</strong> Saint-Blin eine<br />

Sequenz fünfzehn mal drehen mussten, immer in den Pausen<br />

zwischen zwei Überflügen.<br />

Du arbeitest gemeinsam mit der Künstlerin<br />

Sandrine Vivier. Sie ist vor Dir nach Gonesse<br />

gekommen. Sie wuchs in einer wohlhabenden<br />

Familie im Süden Frankreichs auf.<br />

Wie kam sie in ein Pariser Banlieue?<br />

Sandrine hatte gehört, dass ein kleines Filmfestival Video künstler<br />

suchte, die das Leben in einer Reihe <strong>von</strong> Vorstädten –<br />

Gonesse, Sarcelle, Saint-Denis, Pierrefitte – dokumentieren<br />

sollten. Sie bewarb sich <strong>und</strong> wurde angenommen, weil sie die<br />

einzige Künstlerin war, die vor schlug, für ein halbes Jahr<br />

dort hinzuziehen. Die anderen Künstler wohnten meist in Paris<br />

<strong>und</strong> wollten in diese Vorstädte pendeln. Sie schlug vor, ihre<br />

Sachen zu packen <strong>und</strong> einfach dort hinzuziehen.<br />

Und warum entschied sie sich dann, endgültig<br />

in Gonesse zu bleiben?<br />

Sie hatte das Gefühl, auch nach dem halben Jahr die Bewohner<br />

der Hochhaussiedlung Saint-Blin, mit denen sie arbeitete,<br />

nicht wirklich kennengelernt zu haben. Sie bat die Stadtverwaltung,<br />

ihren Aufenthalt zu verlängern, damit sie ihren ersten<br />

Film, ›Lost en Gonesse‹, fertig stellen könne. Und irgendwann<br />

fasste sie den Entschluss, sich dauerhaft niederzulassen.<br />

Sie hat mir einmal erklärt, dass das wie ein künstlerisches Experiment<br />

für sie sei, Wohnen <strong>und</strong> Arbeiten im ›Wilden Wes ten‹<br />

miteinander zu verknüpfen. Außerdem lernte sie jemanden<br />

kennen <strong>und</strong> verliebte sich.<br />

Die Menschen akzeptierten sie?<br />

Anfangs war es schwierig. Sie war immer mit ihrer Videokame<br />

ra unterwegs <strong>und</strong> wurde <strong>von</strong> vielen für eine Polizistin in<br />

Zivil gehalten. Man konnte sie einfach nicht in die gewohnten<br />

sozialen Muster einordnen: Sie war unverheiratet, hatte<br />

keine Verwandten in Saint-Blin, <strong>und</strong> sie ging keinem erkennbaren<br />

Beruf nach. Es wurde alles Mögliche über sie gesagt, die<br />

Leute hatten die abenteuerlichsten Theorien. Nachdem man sie<br />

zuerst für eine Polizistin hielt, glaubte man später, sie müsse<br />

sich sicher vor der Polizei verstecken. Als ich begann, mit<br />

ihr zu arbeiten, schien alles klar: Wir sind ein lesbisches Paar.<br />

Aber im Laufe der Zeit hat sich ein Vertrauensverhältnis<br />

aufgebaut, so dass Sandrine <strong>und</strong> ich heute sehr gut mit den<br />

Menschen dort zusammen leben <strong>und</strong> arbeiten <strong>und</strong> <strong>von</strong> ihnen<br />

akzeptiert werden.<br />

Gonesse ist ein Vorort im Nordwesten<br />

<strong>von</strong> Paris, der direkt in der Ein flugschneise<br />

des Flughafens Charles-de-<br />

Gaulles liegt. Zwischen 8 Uhr morgens<br />

<strong>und</strong> 20 Uhr abends fl iegen im Zwei-<br />

bis Dreiminutentakt Flug zeuge über die<br />

Häuser. Gonesse hat etwa 25.000 Einwohner<br />

<strong>und</strong> besteht aus zwei Teilen:<br />

Es gibt einem kleinen Altstadt kern mit<br />

einer Kirche <strong>und</strong> einem his to rischen<br />

Krankenhaus. Außen stehende verbinden<br />

mit Gonesse vor allem das Hochhaus<br />

viertel Saint-Blin, ein Monu ment<br />

Wo habt Ihr Euch kennengelernt?<br />

Wir haben uns bei dem Seminar einer Kulturstiftung getroffen,<br />

wo man über die Arbeit in den Banlieues sprach. Streitschlichtung<br />

<strong>und</strong> Banlieues, das war damals so eine Obsession.<br />

Ich arbeitete gerade an einem Theaterprojekt mit Banlieue-<br />

Bewohnern im Süden <strong>von</strong> Paris. Mir gefiel sehr gut, wie<br />

Sandrine ihre Arbeit beschrieb, <strong>und</strong> wir kamen ins Gespräch.<br />

Ein paar Wochen später rief sie mich an <strong>und</strong> sagte: »Okay,<br />

ich habe einen Vorschlag <strong>von</strong> einem Geschichtslehrer an einer<br />

Schule in Gonesse.« Er hatte eine sehr schwierige Klasse <strong>und</strong><br />

wollte den üblichen Lehrplan aufgeben <strong>und</strong> mit den Schülern<br />

an einem konkreten Projekt arbeiten, in dem sie sich mit<br />

Geschichte beschäftigen würden, aber auf eine persönlichere,<br />

künstlerische Art. Das war unser erstes gemeinsames Projekt.<br />

Es folgten viele, viele weitere.<br />

Als die Sozialwohnungen in Gonesse gebaut<br />

wurden, war da der Flughafen schon in<br />

Planung?<br />

Die Bauarbeiten für den Flughafen fingen 1966 an <strong>und</strong> das erste<br />

Terminal wurde 1974 eröffnet. Zehn Jahre zuvor war in Saint<br />

Blin der erste Block mit 594 Sozialwohnungen errichtet worden.<br />

Man wusste damals aber schon, dass in unmittelbarer Nähe ein<br />

Flughafen gebaut werden würde; die Flughafengesellschaft <strong>von</strong><br />

Orly hatte das Land bereits gekauft <strong>und</strong> die Planung auch<br />

schon begonnen. Trotzdem ist die Schalldämmung der Gebäude<br />

erbärmlich, vor allem die Fenster. Man kann die Nachbarn hören<br />

<strong>und</strong> natürlich die Flugzeuge. Die Scheiben vibrieren richtig<br />

vom Lärm, es wird aber nichts gemacht. Ansonsten sind<br />

die Wohnungen nicht schlecht, es sind zumeist Drei- oder Vierraumwohnungen.<br />

Aber der Lärm ist zum Verrücktwerden.<br />

Ist Saint-Blin eine reine Migrantensiedlung?<br />

Es wohnen da kaum Menschen, die aus Frankreich stammen.<br />

Man sieht das an den Briefkastenschildern. Es gibt kaum<br />

so typisch französische Nachnamen wie DuPont oder Durand.<br />

In meiner Kindheit, als ich in einem Vorort <strong>von</strong> Paris aufwuchs,<br />

war dort die Bevölkerung noch sehr gemischt. Bei uns haben<br />

Kinder verschiedenster Herkunft miteinander gespielt.<br />

In Orten wie Saint-Blin gibt es heute so viele Migranten, dass<br />

sie eine abgeschlossene Gemeinschaft bilden. Vor allem die<br />

älteren Menschen kommen fast ohne Französisch aus, weil sich<br />

ihr ganzes Leben im Banlieue abspielt.<br />

Mit welchen Erwartungen kommen die<br />

Migranten in Gonesse an <strong>und</strong> wie gestaltet sich<br />

dann ihr Leben?<br />

Bei der älteren Generation ist es kompliziert. Sie sind nach<br />

Frankreich gekommen, um dort Geld zu verdienen, <strong>und</strong> wollten<br />

dann wieder in ihre Heimat zurückkehren. Obwohl die meisten<br />

<strong>von</strong> ihnen in Gonesse unter sehr ärmlichen Bedingungen<br />

leben, schicken sie regelmäßig Geld nach Algerien, um dort ein<br />

Haus zu bauen. Ich hatte auch gedacht, dass sie irgend wann in<br />

Rente gehen <strong>und</strong> dann zurückkehren, aber sie bleiben. Es ist<br />

einfach zu kompliziert. Vor allem gibt es auch ein Gefühl der<br />

Scham, weil die Verwandten in der alten Heimat da<strong>von</strong> ausgehen,<br />

dass alle, die nach Frankreich gegangen sind <strong>und</strong> sogar<br />

in Paris wohnen, reich sein müssen. Sie sehen den Eiffelturm<br />

<strong>und</strong> sonst nichts. Dass die meisten Bewohner <strong>von</strong> Gonesse so<br />

gut wie nie nach Paris hineinfahren, können sie nicht begreifen.<br />

Und die Ausgewanderten belassen sie in diesem Glauben,<br />

um nicht bloßgestellt zu werden. Ihr Traum ist zur Lebenslüge<br />

geworden. Nur langsam gestehen sie sich <strong>und</strong> ihren Kindern<br />

ein, dass sie wohl nie mehr in ihre Heimat länder zurückkehren<br />

werden. Die meisten können sich nicht einmal leisten, in<br />

der alten Heimat beerdigt zu werden, obwohl ihnen das überaus<br />

wichtig ist. Sie werden im musli mi schen Friedhof in Gonesse<br />

begraben. Die jungen Menschen sagen, dass sie irgendwann<br />

aus Gonesse wegziehen wollen. Ich bin mir aber nicht<br />

sicher, ob sie das wirklich tun werden. Die meisten brechen<br />

schon früh die Schule ab. Sie finden keine Arbeit. In Gonesse<br />

können sie trotzdem durchkommen, sie bauen eine alternative<br />

Wirtschaft auf <strong>und</strong> fühlen sich vor allem sicher. Es ist ihre<br />

Heimat. Viele kommen aus muslimischen Familien mit einem<br />

starken Zusammenhalt. Es ist nicht leicht für sie, wegzugehen.<br />

des sozialen Wohnungs baus der<br />

sechziger Jahre. Heute leben in den<br />

Hochhäusern vor allem nordafrikanische<br />

Migranten. Manche <strong>von</strong> ihnen<br />

wohnen ihr ganzes Leben dort <strong>und</strong><br />

verlassen die neue Heimat nur selten.<br />

Die französische Schau spielerin<br />

Elsa Hourcade wuchs selbst in einem<br />

Banlieue <strong>von</strong> Paris auf <strong>und</strong> begann<br />

vor fünf Jahren, gemeinsam mit<br />

der bildenden Künsterlin Sandrine<br />

Vivier mit den Menschen in Gonesse<br />

zu arbeiten.<br />

Gonesse ist wirklich <strong>von</strong> Paris abgeschlossen?<br />

Es gibt die Péripherique, eine Ringautobahn. Sie umgibt Paris<br />

wie ein Burggraben. Die Péripherique ist wie eine Grenze.<br />

Es gibt zwar einen Vorortzug, mit dem man nach Paris hineinfahren<br />

kann. Die eigentliche Grenze ist aber anderer Natur:<br />

Die Menschen können sich einfach nicht vorstellen, warum sie<br />

nach Paris fahren sollten. Manche haben dort Verwandte,<br />

manchmal fahren Jugendliche einfach so in die Stadt, aber das<br />

sind ganz große Ausnahmen. Die meisten Leute, die ich in<br />

Gonesse kenne, fahren nie nach Paris hinein. Ihr gesamtes<br />

Leben spielt sich im Banlieue ab. Dieser Umstand wird <strong>von</strong> der<br />

Politik noch gefördert, da die Banlieue-Bewohner ohnehin als<br />

überflüssige Menschen betrachtet werden, die in der Stadt<br />

nicht gerne gesehen sind. Ich will die Schuld aber nicht allein<br />

auf die Politiker laden. Es gibt auch einen Mangel an Selbstbewusstsein<br />

<strong>und</strong> kultureller Offenheit bei den Menschen<br />

in Saint-Blin, die dazu führt, dass sie sich mehr nach innen wenden.<br />

Beides muss im Zusammenhang gesehen werden: Den<br />

Menschen fehlt der Wille, ihr Ghetto zu verlassen, <strong>und</strong><br />

gleichzeitig sind die Bahnhöfe <strong>und</strong> Züge, die sie dazu benutzen<br />

müssten, immer voller Polizisten.<br />

Protestieren die Menschen gegen ihre<br />

Situation?<br />

In den 80er Jahren wurden Polizeiautos, die nach Saint-Blin<br />

kamen, <strong>von</strong> den Hochhäusern aus mit Steinen <strong>und</strong> sogar Waschmaschinen<br />

beworfen. Es war so etwas wie eine gesetz lose<br />

Zone, was den Ort für Menschen ohne gültige Papiere,<br />

aber auch für Kriminelle attraktiv machte. Seitdem hat sich die<br />

Situation verbessert, aber der schlechte Ruf ist geblieben.<br />

Hat es auch Ausgangssperren gegeben?<br />

Eine Ausgangssperre hat es nur in Krisenzeiten gegeben.<br />

Es gibt da Sondergesetze, da kann man das machen. 2005, aber<br />

auch letztes Jahr, als die Unruhen wieder ausbrachen, wurde<br />

so ein Gesetz angewendet. Es ist besonders zugeschnitten auf<br />

Jugendliche unter 18. Aber es gibt auch ein Gesetz, das<br />

Versammlungen <strong>von</strong> jungen Leuten verbietet. Mehr als drei<br />

Leute dürfen im öffentlichen Raum nicht länger als eine halbe<br />

St<strong>und</strong>e ohne triftigen Gr<strong>und</strong> zusammenstehen. Die Polizei kann<br />

jederzeit die Personalien feststellen. Sie denken sich immer<br />

wieder neue Gründe aus, warum sie die Papiere kontrollieren.<br />

Es ist schon absurd. Sie können nicht einfach sagen, ich<br />

kontrolliere ihn, weil er schwarzer Hautfarbe ist oder arabisch<br />

aussieht, sie müssen sich irgendeinen Gr<strong>und</strong> ausdenken.<br />

Kann man die Bewohner <strong>von</strong> Banlieues wie<br />

Gonesse nur an der Hautfarbe erkennen oder<br />

auch an ihrer Sprache?<br />

Es gibt einen sehr starken Banlieuedialekt, eine Mischung aus<br />

arabischen <strong>und</strong> Romaakzenten, mit eigenem Wortschatz <strong>und</strong><br />

einer eigentümlichen Art der Wortverkehrung. Verlan heißt das,<br />

<strong>von</strong> ›parler en verlan‹, das heißt umgedreht ›à l’envers‹, im<br />

Gegenteil. Das Verlan kann hochkompliziert sein; ich verstehe<br />

es oft selbst nicht, obwohl ich viel mit Jugendlichen arbeite.<br />

Ich habe ja selbst als Kind den Dialekt gesprochen, aber heute<br />

bin ich zu alt, die Jugendlichen sprechen zu schnell <strong>und</strong> denken<br />

sich ständig neue Worte aus. In meiner Jugend war dieser<br />

Dialekt wirklich nur in den Pariser Banlieues zu hören, aber vor<br />

allem durch Reality TV-Sendungen hat er sich über ganz Frankreich<br />

ausgebreitet. Berühmte Fußballspieler wie Zinédine<br />

Zidane, die aus den Banlieues stammen, sprechen so.<br />

Und heute machen das alle nach. Das ist fast schon unheimlich,<br />

wie schnell das passiert ist. Eine ganze soziale Schicht<br />

benutzt diesen Dialekt, um sich zu identifizieren, um zu<br />

zeigen, dass man aus dem Ghetto kommt. Deshalb machen<br />

selbst die Kinder der Reichen in Paris diesen Dialekt nach.<br />

Man will sich heute eben mehr mit Gangsta-Rappern identi fizieren<br />

als mit Proust oder Deleuze.<br />

3


WAS DU WISSEN SOLLTEST (DIE WIRTSCHAFT)<br />

ANGEKOMMEN<br />

IN DER WIRKLICHKEIT<br />

Ein Gespräch mit Eric Malitzke,<br />

Geschäftsführer der<br />

Flughafen Leipzig / Halle GmbH,<br />

die Fragen stellten<br />

<strong>Jan</strong> <strong>Caspers</strong> <strong>und</strong> <strong>Anne</strong> <strong>König</strong><br />

Während des internationalen Festivals<br />

›Theater der Welt‹ im Juni wird das Flughafenge<br />

lände <strong>und</strong> die kleine, halbverwaiste Ortschaft<br />

Kursdorf für kurze Zeit auch zu einer<br />

Bühne für das Theater. Was hat Sie bewogen,<br />

dem Thalia-Theater Halle, das sich zuletzt<br />

vor allem mit ortsspezifi sch ausgerichteten<br />

Thea terformen einen Namen gemacht hat, den<br />

Flughafen als temporäre Spielstätte zu öffnen?<br />

Ein Flughafen ist in der heutigen Zeit mehr als nur<br />

Verkehrsinfrastruktur. Sicher, erstmal ist er so etwas wie<br />

eine Autobahn oder ein Bahnhof oder ein Hafen. Aber ein<br />

Flughafen ist mehr. Seine Funktion ist in der Region weithin<br />

spürbar. Er ist ein Ausfl ugsziel, ein Treffpunkt;<br />

hier fi nden Konferenzen statt. Ich denke, dass der Flughafen<br />

Leipzig / Halle mehr <strong>und</strong> mehr ein struktur gebendes<br />

Element für die Region werden wird, gerade was das<br />

Thema Logistik angeht. Damit verb<strong>und</strong>en ist immer auch<br />

eine gesellschaftliche Rolle <strong>und</strong> die geht über die rein kommerzielle<br />

Funktion <strong>und</strong> über Sachzwänge hinaus. Deshalb<br />

fi nde ich, hat auch Kunst Platz am Flughafen.<br />

Sie selbst sind seit fünf Jahren hier tätig. Ich<br />

habe gelesen, Sie sind der jüngste Flughafengeschäftsführer<br />

in Deutschland. Ihre Karriere<br />

hier begann zu einem Zeitpunkt, als auch<br />

der Flughafen durchgestartet ist. Wie empfi nden<br />

Sie diese Zeit?<br />

Ja, möglicherweise bin ich immer noch der jüngste Flughafengeschäftsführer,<br />

aber das wird ja irgendwann auch<br />

anders sein. – Alles in allem bin ich dankbar für die<br />

Möglichkeit, hier diesen Job zu machen. Leipzig ist eine<br />

tolle Stadt, die Aufgabe ist interessant <strong>und</strong> ich bin in den<br />

vergangenen fünf Jahren reicher geworden: reicher an<br />

Wissen, reicher an neuen Fre<strong>und</strong>en, reicher an der<br />

Erfahrung, weggegangen zu sein <strong>und</strong> woanders zu leben.<br />

Und das ist ja das Wesentliche.<br />

War es für die Entwicklung des Flughafens ein<br />

Vorteil, dass man die Aufgabe nicht an einen<br />

›alten Fuchs‹ übergeben hat, der vielleicht<br />

stärker in eingefahrenen Bahnen denkt <strong>und</strong><br />

handelt, sondern an jemanden, der – wie Sie –<br />

gerade erst an den Start ging?<br />

Oft ist es gut, wenn die Dinge sich ergänzen. Für einen<br />

Neuanfang ist es sicher nicht schlecht, jemanden zu haben,<br />

der schon andere Neuanfänge miterlebt hat. Ich verfügte<br />

nicht über diesen Erfahrungsschatz, aber ich hatte einige<br />

›alte Füchse‹ hier in der Mannschaft.<br />

Entsteht in einer solchen Umbruchsituation<br />

ein stärkerer Teamgeist, als man ihn auf einem<br />

großen <strong>und</strong> eingefahrenen Flughafen wie zum<br />

Beispiel dem Frankfurter Fraport fi ndet?<br />

Da<strong>von</strong> bin ich überzeugt. Wir sind eine kleine Mannschaft<br />

hier, die wirklich – gemessen an Vergleichsprojekten in der<br />

B<strong>und</strong>esrepublik – fast Unmögliches möglich gemacht hat,<br />

ein kleines Team, das tatsächlich bis nahezu zum Umfallen<br />

arbeitet. Wo man manchen hin <strong>und</strong> wieder vor sich selbst<br />

schützen muss, auch mal einen Schritt zurückzumachen.<br />

Aber das alles ohne Druck, da alle begeistert sind <strong>von</strong><br />

der Erkenntnis, was sich alles bewegen lässt. Letztes Jahr<br />

bin ich mit einem Teil meiner Führungsmannschaft einfach<br />

mal auf die Besucherterrasse hinauf <strong>und</strong> habe gesagt:<br />

»Guckt mal da rüber. Vor zwei Jahren war da nur Wald.<br />

Da war keine neue Start- <strong>und</strong> Landebahn, kein DHL-<br />

Gebäude, kein Flugzeughangar, da war nichts. Was man<br />

in so kurzer Zeit alles bewegen kann.« Das schweißt in der<br />

Tat zusammen, da<strong>von</strong> bin ich überzeugt.<br />

Wie viele Mitarbeiter haben Sie?<br />

Es sind um die 360 Mitarbeiter. Das ist eine ganz schlanke<br />

Besetzung.<br />

Als Geschäftsführer der Flughafen<br />

Leipzig / Halle GmbH zieht Eric Malitzke<br />

Lob <strong>und</strong> Kritik gleichermaßen auf sich.<br />

Anlässlich der Einweihung des DHL-<br />

Frachtdrehkreuzes überschrieb die<br />

Süddeutsche Zeitung ein Porträt über<br />

den 34-jährigen mit: »Der Überfl ieger«.<br />

Und Ralph Beisel, Hauptgeschäftsführer<br />

der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Verkehrsfl<br />

ughäfen, rühmt der Jung manager<br />

als das »größte Talent der Branche«.<br />

Auf gewachsen ist Eric Malitzke im<br />

hessischen Kelsterbach, einem Ort in<br />

der Einfl ugschneise des Frankfurter<br />

Wie viele Mitarbeiter haben Flughäfen <strong>von</strong><br />

vergleichbarer Größe?<br />

Schwierig zu sagen. – Wir haben hier inzwischen eine<br />

Verkehrs infrastruktur, die <strong>von</strong> ihrer Dimensionierung <strong>und</strong><br />

<strong>von</strong> den Potentialen her zu einer der ganz großen gehört,<br />

aber seit wir als kleiner Flughafen in das Rennen um das<br />

Thema Logistik eingestiegen sind, haben wir nur 50 Leute<br />

mehr eingestellt, während sich unsere Kapazitäten nahezu<br />

verdoppelt haben <strong>und</strong> sich auch das Geschäftsvolumen<br />

nahe zu verdoppelt hat. Das ist ein guter Maßstab um zu<br />

verdeutlichen, dass das Ganze fast mit der gleichen Rumpfmannschaft<br />

bewältigt wird, wie zu den Zeiten als wir ausschließ<br />

lich ein kleiner Passagierfl ughafen waren.<br />

Sie sagen Ihr Geschäftsvolumen hat sich<br />

nahe zu verdoppelt. Wie ist es bei den Passagierzahlen?<br />

Lassen Sie mich zur Beantwortung dieser Frage etwas<br />

ausholen: Ein Flughafen kann zweierlei Funktion erfüllen.<br />

Er kann das Ein- <strong>und</strong> Ausfallstor für eine Region sein, oder<br />

er kann als Drehscheibe fungieren. Im ersten Fall nährt<br />

er sich aus dem Potential einer Region – also dem Quellmarkt<br />

<strong>und</strong> dem Zielmarkt dieser Region; im zweiten Fall,<br />

als Drehscheibe, hat das, was auf dem Flughafen umgeschlagen<br />

wird, nichts mit der wirtschaftlichen Stärke der<br />

Region zu tun. Im Bereich des Passagierverkehrs sind <strong>und</strong><br />

werden wir immer Ein- <strong>und</strong> Ausfallstor für die Region<br />

bleiben. Das heißt, das Wachstum <strong>und</strong> die Potentiale sind<br />

determiniert über Effekte in der wirtschaftlichen Entwicklung<br />

der Region. Stichworte: Entwicklung des Pro-<br />

Kopf-Einkom mens; Entwicklung der Arbeitslosigkeit; wie<br />

viele Unter nehmen generieren Geschäftsreiseverkehr –<br />

das ist immer das stabile Rückgrad <strong>von</strong> Passierver bindungen<br />

– <strong>und</strong> wie attraktiv wird die Region als In-Coming-<br />

Ziel, wie viele Touristen zieht man im Wochenend- <strong>und</strong><br />

Städte touris musbereich an. Das sind die<br />

Rahmenbedingungen, unter denen sich der Flughafen als<br />

Passagierfl ughafen ent wickelt <strong>und</strong> da sehe ich geringe<br />

Wachstumspotentiale. Im Frachtverkehr dagegen sind wir<br />

als Flughafen Drehkreuz, das heißt, die Volumina <strong>und</strong> die<br />

Entwicklung werden nicht durch die wirtschaftliche<br />

Entwicklung der Region bestimmt, sondern durch die<br />

Weltkonjunktur. Als Drehkreuz werden wir schon 2009 in<br />

der Champions League der europäischen Frachtfl ughäfen<br />

angekommen sein. Denn uns ist es gelungen, hier einen<br />

Markt zu akquirieren, der nicht im kausalen Zusammenhang<br />

mit dieser Region steht, sondern der Verkehre<br />

bündelt, die aus Europa <strong>und</strong> der ganzen Welt kommen <strong>und</strong><br />

dorthin dann auch wieder weitergeschickt werden.<br />

Wie macht man einen Flughafen für den Logistikmarkt<br />

attraktiv? Ich nehme an, es hat einen<br />

harten Wettbewerb darum gegeben, wo DHL<br />

sein neues Frachtdrehkreuz bauen wird. Was<br />

sind die Standortvorteile ihres Flughafens?<br />

Der ausschlaggebende Punkt dafür, dass sich DHL<br />

letztlich für den Flughafen Leipzig/ Halle entschieden hat,<br />

war sicher die hervorragende Luftverkehrsinfrastruktur,<br />

die wir hier anbieten können. Hinzu kommt das Autobahnnetz,<br />

die A9 <strong>und</strong> die A14 haben jeweils einen eigenen<br />

Autobahnanschluss zum Flughafen sowie die Möglichkeit,<br />

Luftfracht mit dem Zug weiterzutransportieren. Man<br />

nennt das auch trimodale Verkehrsanbindung: Luft –<br />

Straße – Schiene. Wichtig war natürlich auch, dass hier<br />

viele qualifi zierte Arbeitskräfte zur Verfügung stehen<br />

<strong>und</strong> schlussendlich haben wir auch, was die Wirtschaftlichkeit<br />

angeht, ein angemessenes Angebot gemacht.<br />

Damit meinen Sie den uneingeschränkten<br />

Nachtfl ug?<br />

Nein, damit meine ich die Konditionen. Es muss ja wettbewerbsfähig<br />

sein. Das heißt, es geht bei solchen<br />

Flughafens. Von klein auf haben ihn<br />

Flug zeuge fasziniert. Als er 2003<br />

Geschäftsführer des Flughafens Leipzig /<br />

Halle wurde, »dümpelte« – wie die<br />

Süddeutsche Zeitung schreibt – »der in<br />

den neunziger Jahren mit einer<br />

Milliarde Euro modernisierte sächsische<br />

Regional fl ughafen wirtschaftlich vor<br />

sich hin.« Eric Malitzke hat erreicht,<br />

dass er in diesem Jahr zum drittgrößten<br />

deutschen Luftfrachtfl ughafen aufsteigt.<br />

Dass ein solcher Entwicklungssprung<br />

auch Kon fl ikte mit sich bringt, weiß<br />

der Flughafenchef.<br />

Entscheidungen immer auch um Wirtschaftlichkeit. Das<br />

Nacht fl ug thema ist da eine unabdingbare Voraussetzung,<br />

ohne die auch das beste wirtschaftliche Angebot nicht halten<br />

würde. Denn wenn es ein Nachtfl ugverbot gibt, dann<br />

ist DHL wieder weg <strong>und</strong> somit auch ein paar tausend Jobs.<br />

Wie bei jedem Unternehmen stellt sich sicher<br />

auch bei Ihnen die Frage nach der Wirtschaftlichkeit<br />

– auch wenn bei Verkehrsinfra -<br />

strukturen wie der Bahn anhaltend darüber<br />

diskutiert wird, ob Wirtschaftlichkeit das wichtigste<br />

Kriterium sein darf. Ziehen die Eigentümer<br />

des Flughafens, also zum Beispiel<br />

das Land Sachsen, bereits Gewinne aus ihrem<br />

Engagement oder ist der Flughafen für seine<br />

Gesellschafter ein einkalkuliertes Zuschussgeschäft,<br />

weil die Infrastruktur selbst<br />

schon ein Gewinn ist?<br />

Zunächst – ich halte es für durchaus hinterfragenswert,<br />

ob der Staat sich aus kurzfristigen haushalterischen Überlegungen<br />

aus seiner staatlichen Fürsorgepfl icht für<br />

Verkehrsinfrastrukturen zurückziehen sollte. Für mich ist<br />

das Thema der Bahnprivatisierung ein heikles Thema.<br />

Jedem ist klar, dass die B<strong>und</strong>esrepublik im Wettbewerb<br />

um die Ansiedlung <strong>von</strong> Unternehmen den Vorteil hat, dass<br />

sie über hervorragende Verkehrsinfrastrukturen verfügt.<br />

Verkehrsinfrastrukturen wie zum Beispiel Flughäfen,<br />

deren Planung <strong>und</strong> Bau oft ein bis zwei Jahrzehnte dauert,<br />

sind eine langfristige, strategische Angelegenheit. Diese<br />

mit kurzfristigen Kapitalinteressen zu vermengen, sehe<br />

ich persönlich kritisch. Nun sind Flughäfen im Gegensatz<br />

zu anderen Verkehrsträgern als privatwirtschaftliche<br />

Unternehmen organisiert. Das ist auch der einzige Gr<strong>und</strong><br />

dafür, weshalb nach ihrer Wirtschaftlichkeit gefragt wird.<br />

Dabei darf man die volkswirtschaftlichen Effekte nicht<br />

übersehen, die unbestritten sind. Das heißt, der Segen für<br />

die Gesellschafter ist erstmal, dass der Flughafen<br />

Leipzig / Halle eine der größten Arbeitsstätten Ostdeut schlands<br />

ist. Irgendwann in diesem Jahr werden hier auf<br />

dem Gelände des Flughafens 4.500 Mitarbeiter tätig sein.<br />

Und der betriebswirtschaftliche Effekt ist zumindest so,<br />

dass es kein Zuschussgeschäft mehr ist, dass das operative<br />

Geschäft sich trägt <strong>und</strong> dass es auch mit DHL besser wird.<br />

Sicher, wenn wir nach den Statuten des HGB am Ende<br />

des Jahres die Bücher aufstellen müssen, stehen da keine<br />

schwarzen Zahlen, aber das ist den Abschreibungsregeln<br />

einer so großen, neuen Infrastruktur geschuldet.<br />

Während der Workshop-Tage in Kursdorf sind<br />

mir Flugzeuge aufgefallen, die eine schematische<br />

Darstellung des Globusnetzes auf dem<br />

Heckfl ügel hatten. Dass es das Logo der Fluggesellschaft<br />

World Airways ist, habe ich<br />

mir dann sagen lassen. Die Fluggesellschaft<br />

transportiert mit Zwischenstopp in Leipzig<br />

amerikanische Soldaten in die Kriegsgebiete<br />

im Irak <strong>und</strong> in Afghanistan. Das heißt, dass<br />

der Flughafen auch für militärische Zwecke<br />

genutzt wird. Wird dabei nicht die rechtliche<br />

Unterscheidung <strong>von</strong> Zivilem <strong>und</strong> Militärischem<br />

aufgeweicht?<br />

Das ist eine vielschichtige Betrachtung. Rein formal<br />

handelt es sich nicht um militärische Verkehre, weil wir es<br />

mit zivilen Fluggesellschaften zu tun haben. Faktisch<br />

fl iegen diese Fluggesellschaften zum Teil im Auftrag der<br />

Militärs, das ist richtig.<br />

Jetzt gibt es eine rechtliche Diskussion – die ist unstrittig<br />

zugunsten des Flughafens zu entscheiden –, weil wir<br />

Verträge mit zivilen Fluggesellschaften haben, die eigene<br />

kommerzielle Entscheidungen treffen. Wir haben keinen<br />

Vertrag mit dem Militär. Und dann gibt es eine moralische<br />

Diskussion, die – sagen wir mal – ausgiebig in der<br />

5


WAS DU WISSEN SOLLTEST (DIE WIRTSCHAFT)<br />

Öffentlichkeit geführt wird. Bei dieser Diskussion muss<br />

ich mich fragen, warum wird sie geführt? Das Problem ist<br />

doch: Wann immer sie in unserer Gesellschaft etwas<br />

verändern wollen oder müssen, was unstrittig auch Effekte<br />

auf Nachbarschaften hat, fi nden sie eine Opposition.<br />

Das ist normal. Wir befi nden uns in einem System, in dem<br />

sie, wenn sie sich für irgendetwas entscheiden, zwangsläufi<br />

g immer auch zu etwas anderem Nein sagen müssen.<br />

Das ist so. Und unsere Gegner haben festgestellt, dass<br />

sie es unheimlich schwer haben, auch medial. Denn es geht<br />

ja auch um mediale Aufmerksamkeit bei den Flughafengegnern.<br />

Sie haben es schwer, gegen DHL <strong>und</strong> die nach weislich<br />

jetzt schon über zweitausend geschaffenen Jobs anzukommen.<br />

Und da kommt dann das Thema Militär, denn<br />

wenn sie in ihrer Argumentation verkaufen, die Moral auf<br />

ihrer Seite zu haben, dann machen sie es ihrem Gegner<br />

schwer zu argumentieren. Denn wer die Moral auf seiner<br />

Seite hat, hat natürlich Recht.<br />

Nun will ich den moralischen Aspekt nicht aussparen –<br />

aber auf der anderen Seite steht immer die Situation, dass<br />

man, wie ich zum Beispiel, <strong>Vera</strong>ntwortung zu tragen hat<br />

hier in der Region. Da kommt dann eine zivile Airline <strong>und</strong><br />

sagt, passen sie mal auf, wir machen das <strong>und</strong> das Geschäft<br />

<strong>und</strong> wir würden hier gern hinkommen. Am Verhandlungstisch<br />

sitzt dann beispielweise auch der Leiter einer<br />

Betriebsküche, die die Bordverpfl egung für Flugzeuge<br />

herstellt, <strong>und</strong> der sagt: »Malitzke, wir wollten unsere<br />

Betriebsküche hier zumachen, aber wenn wir die kriegen,<br />

dann können wir 65 Jobs retten.« So, dann sind sie also<br />

am überlegen, was machst du jetzt? Soll ich jetzt diesen<br />

zivilen Airlines sagen, hier nicht, ich mag euren Auftraggeber<br />

nicht, <strong>und</strong> das was die amerikanische Administration<br />

macht, halte ich moralisch für mindestens<br />

bedenklich? Mit dem Wissen um diese 65 Arbeitsplätze<br />

muss ich Ihnen ehrlich sagen, bin ich Überzeugungstäter,<br />

auf diesen K<strong>und</strong>en will ich nicht verzichten. Auch weil<br />

ich nicht glaube, dass sich eine US-amerikanische Administration<br />

beeindrucken lässt, wenn ich erkläre, dass<br />

ich das für fragwürdig halte. — Was ich tue.<br />

Aber es geht darum, abzuwägen, wie viel Idealismus kann<br />

ich, ohne dass das Unternehmen hier <strong>und</strong> auch Teile<br />

der wirtschaftlichen Entwicklung in der Region Schaden<br />

nehmen, zu meiner Handlungsmaxime, <strong>und</strong> zwar<br />

zu meiner ausschließlichen Handlungsmaxime, machen.<br />

Inzwischen ist es so, dass die besagte Betriebsküche<br />

130 Leute beschäftigt, dass wir selbst in unserem Abfertigungsbereich<br />

etliche Leute eingestellt haben, zwei Einzelhändler<br />

hier noch in dem Bereich tätig sind, wo die Soldaten<br />

sich aufhalten. Ich würde sagen, da hängen<br />

inzwischen gut <strong>und</strong> gerne 200 Jobs daran. – So, das ist<br />

meine Antwort auf den moralischen Teil der Diskussion.<br />

Und es gibt noch eine andere Antwort: Dass das, was hier<br />

stattfi ndet, auch überall sonst stattfi ndet. An zig deutschen<br />

<strong>und</strong> europäischen Zivilfl ughäfen. Und da regt<br />

sich keiner auf.<br />

Ich weiß <strong>von</strong> keinem Flughafen in Deut schland,<br />

wo das auch passiert.<br />

Das passiert in Köln / Bonn, in Frankfurt-Hahn, also an<br />

jedem Flughafen. – Das mag verwegen klingen, aber<br />

machen Sie sich einmal Folgendes klar: Dieser Flughafen<br />

ist weithin sichtbar in der Landschaft, wenn diese Flüge<br />

wirklich rechtlich ein Problem darstellen würden, können<br />

sie da<strong>von</strong> ausgehen, dass ich das nicht machen könnte.<br />

Da hätte sich längst jemand gef<strong>und</strong>en, der sagen würde:<br />

»Herr Malitzke, is’ nicht!« – Ich habe keinen Vertrag mit<br />

dem Militär, <strong>und</strong> selbst wenn ich das hätte, das würde<br />

nicht gegen die Statuten eines zivilen Verkehrsfl ughafens<br />

verstoßen. Daran ist rechtlich, so sehr das auch immer<br />

wieder behauptet wird, nichts auszusetzen. Juristisch<br />

ist es völlig unbedenklich. Das Thema ist ein moralisches<br />

Thema, aber das lässt sich nun schwer objektiv erklären.<br />

– Sehen Sie, es kann auch sein, dass auf einem Flieger<br />

einer der uns wohlbekannten Passagier-Airlines ein<br />

Asylant sitzt, der abgeschoben wird, der dahin zurückgebracht<br />

wird, wo ihm vielleicht die Todesstrafe droht.<br />

Das ist moralisch vielleicht auch bedenklich.<br />

Sie wollen sagen, es fi ndet trotzdem statt.<br />

Da sind Begleitbeamte dabei, der Flug wird<br />

ganz normal im Reisebüro gebucht, <strong>und</strong><br />

die Beamten kommen dann hier vorbei, <strong>und</strong><br />

Sie würden das nur mitkriegen, –<br />

Ich kriege das überhaupt nicht mit –<br />

– denn die steigen wie ganz normale Passagiere<br />

ein. Es ist möglich, dass das hier<br />

auf ihrem Flughafen passiert, so wie es in<br />

Berlin <strong>und</strong> Frankfurt / Main auch passiert.<br />

Das ist richtig.<br />

Die amerikanischen Soldaten, die hier<br />

zwischen landen, werden ja als Transit passagiere<br />

gezählt. Wenn man auf die Statistik<br />

schaut, dann hat sich ihre Zahl in der letzten<br />

Zeit sehr stark entwickelt. Für den Flughafen<br />

ist das, wie sie sagen, positiv. Auch was<br />

die Passagierzahlen betrifft …<br />

Die statistischen Effekte sind mir völlig gleich. Glauben sie<br />

mir, ich würde diese Flüge am liebsten aus der Statistik<br />

raus lassen, denn jeder sagt, das sind gar keine echten<br />

Passagiere. Ich habe aber laut den Statuten des statistischen<br />

B<strong>und</strong>esamtes überhaupt nicht die Möglichkeiten,<br />

sie herauszulassen.<br />

Im Moment gibt es in der Öffentlichkeit einigen<br />

Unmut über den Flughafen. Der Knackpunkt<br />

sind vor allem die Nachtfl üge, die jetzt,<br />

wo DHL seinen Betrieb aufgenommen hat,<br />

deutlich zunehmen. Auf welche Weise verfolgt<br />

der Flughafen, wie sich seine betriebliche<br />

Entwicklung auf das direkte Umfeld auswirkt?<br />

Wie reagieren Sie auf die Beschwerden?<br />

Und welche Spielräume bestehen eigentlich,<br />

um auf sie zu reagieren?<br />

Als wir den Antrag für die Entwicklung des Flughafens zu<br />

einem Frachtdrehkreuz gestellt haben, haben wir <strong>von</strong><br />

Anfang an gesagt, Frachtfl üge bedeuten Nachtfl üge. Wir<br />

sind insbesondere <strong>von</strong> einem überproportionalen<br />

Wachstum zur Nachtzeit ausgegangen, <strong>und</strong> das haben wir<br />

öffentlich <strong>von</strong> Anfang an auch bek<strong>und</strong>et. Die Prognosen,<br />

die wir abgegeben haben, bildeten die Gr<strong>und</strong>lage für<br />

die Berechnung <strong>von</strong> Schallschutzmaßnahmen. Denn wir<br />

haben auch gesagt, es wird ein passives Schallschutzprogramm<br />

geben, um so gut wie möglich zu kompensieren,<br />

was an Schall emittiert werden wird. Da ist der Flughafen<br />

seinerseits in der Pfl icht, <strong>und</strong> der kommt er auch nach.<br />

Denn die Betroffenheiten sind unstrittig. Aber neben<br />

dieser Erkenntnis <strong>und</strong> dem Anerkennen <strong>von</strong> Betroffenheiten<br />

ist es so, wie es <strong>von</strong> den Flughafengegnern<br />

artikuliert wird, teilweise recht fragwürdig. Plötzlich sind<br />

alle überrascht, dass da Flugverkehr stattfi ndet. Die<br />

Start- <strong>und</strong> Landebahn Nord, die im Jahr 2000 in Betrieb<br />

gegangen ist, ist im Jahr 1997 durch ein Planfeststellungsverfahren<br />

gegangen <strong>und</strong> zwar mit einer Prognose <strong>von</strong><br />

130.000 Flugbewegungen pro Jahr ohne irgendwelche<br />

Einschränkungen. Heute sind wir bei zirka 65.000 Bewegungen<br />

angelangt. Das heißt, wir sind also noch nicht mal<br />

bei dem, was für die Nordbahn prognostiziert wurde<br />

ohne Nachtbeschränkung. Und jetzt fragt jeder, wie das<br />

stattfi nden kann <strong>und</strong> ob das überhaupt rechtmäßig ist,<br />

dass nachts Flugzeuge fl iegen. – Ja, natürlich. Klar!<br />

Natürlich sind wir uns bewusst, dass es wie bei jeder wirtschaftlichen<br />

Entwicklung auch Effekte gibt, die nachteilig<br />

sind für die Betroffenen. Jede Form der wirtschaftlichen<br />

Entwicklung in einem gesellschaftlichen Zusammenleben<br />

hat Effekte, auch negative Effekte, bei einem Flughafen<br />

ist es Fluglärm. Aber wir haben noch lange nicht das<br />

erreicht, was wir 1997 kommuniziert haben bei dem Bau<br />

der Start- <strong>und</strong> Landebahn Nord. Und wir haben seit<br />

dem ich hier bin – seit 2003 – sowohl im förmlichen Planungsprozess<br />

als auch in inzwischen über 70 freiwilligen<br />

Informationsveranstaltungen öffentlich gesagt, es geht<br />

um Frachtfl üge, es geht um Nachtfl üge! Und die Entwicklung<br />

zu einem Frachtdrehkreuz, wie wir es beantragt<br />

haben, wollen wir auch so fortführen. Und dieses Zugeständnis<br />

an den Flughafen, dass man sagt: »Wir wissen,<br />

der Flughafen ist wichtig, <strong>und</strong> er soll sich auch entwickeln,<br />

aber ohne Nachtfl ug«, das kann sich jeder schenken.<br />

Seit der Absichtserklärung der Deutschen Post im Jahre<br />

2004, dass Leipzig zum Drehkreuz für DHL werden<br />

soll, redet ganz Mitteldeutschland da<strong>von</strong>, Logistikregion<br />

werden zu wollen. Ich glaube, es gibt nicht mehr so<br />

viele Chancen, die diese Region im Moment greifbar hat,<br />

um den Menschen, die hier leben <strong>und</strong> leben bleiben<br />

wollen, maß gebliche wirtschaftliche Entwicklungen bieten<br />

zu können. Und wenn wir das wollen, braucht es den<br />

Flughafen, <strong>und</strong> wenn wir den Flughafen wollen, braucht<br />

es Nachtfl üge. Das ist <strong>und</strong> bleibt ein unaufl ösbarer<br />

Zielkonfl ikt!<br />

Wie viele Arbeitsplätze sollen denn hier<br />

entstehen?<br />

Als ich 2003 kam, waren auf dem Flughafen <strong>und</strong> in dessen<br />

Umfeld ungefähr 1.500 Leute beschäftigt. Aktuell sind<br />

es zirka 4.300. DHL hat selbst schon 2.200 Leute<br />

eingestellt <strong>und</strong> hält an Planungen fest, bis 2012 3.500 Jobs<br />

schaffen zu wollen. Inzwischen hat beispielsweise auch<br />

Lufthansa Cargo angekündigt, hierher zu kommen <strong>und</strong><br />

hier 1.000 neue Jobs zu schaffen. Es gibt also die Nachfolgeeffekte,<br />

die wir uns erhofft haben.<br />

Was für Arbeitsplätze entstehen hier?<br />

Ich habe eine leise Ahnung, worauf Sie hinauswollen. —<br />

Heute ist ein Artikel in der Leipziger Volkszeitung,<br />

da wurden zwei Beschäftigte <strong>von</strong> DHL interviewt. Ich sage<br />

Ihnen ehrlich, ich halte die Diskussion um unterbezahlte,<br />

geknechtete Menschen für verlogen. Wir haben in diesem<br />

Land Vertragsfreiheit, <strong>und</strong> ich kenne keinen Fall, in<br />

6


WAS DU WISSEN SOLLTEST (DIE WIRTSCHAFT)<br />

dem irgendjemand mit der Pistole gezwungen wurde, einen<br />

Arbeitsvertrag zu unterschreiben. Ist mir nicht bekannt.<br />

Das heißt, es muss Konditionen geben in einem ganz<br />

normalen Markt <strong>von</strong> Angebot <strong>und</strong> Nachfrage, wo sich<br />

Menschen dazu bewegen, einen Arbeitsvertrag zu unterschreiben,<br />

das mal vorab.<br />

DHL selbst bezahlt für Jobs, die die geringste Form der<br />

Qualifi zierung benötigen, ein Eingangsgehalt <strong>von</strong> 7,50 Euro<br />

die St<strong>und</strong>e. Das ist immer die einzige Zahl, die genannt<br />

wird. Und dazu wird dann immer erklärt, das sind 1-Euro-<br />

Jobber, das sind nur Teilzeitjobs <strong>und</strong> was nicht noch alles.<br />

Also: DHL hat einen Tarifvertrag mit ver.di, die zahlen<br />

über den Tarif des Postzustellergewerbes <strong>und</strong> stellen<br />

nur unbefristete Arbeitsverträge aus. Tatsächlich haben<br />

sie einen großen Teil Teilzeitverträge ausgeschrieben,<br />

ab 22 St<strong>und</strong>en, aber alles unter 40 St<strong>und</strong>en wird als Teilzeit<br />

beschäftigung bezeichnet, das heißt, auch jemand, der<br />

38,5 St<strong>und</strong>en arbeitet, ist teilzeitbeschäftigt. Es gibt da<br />

keine Differenzierung. Mittlerweile ist es so, dass ein<br />

Großteil derer, die mit 22 St<strong>und</strong>en angefangen haben, bei<br />

nahezu 40 St<strong>und</strong>en angekommen sind, allein, weil der<br />

Betrieb so gut läuft. Hinzu kommt: Ein großer Teil der<br />

Leute, die dort anfangen, kommen aus der Arbeitslosigkeit<br />

<strong>und</strong> sind fünfzig Jahre <strong>und</strong> älter. Unsere Gegner haben<br />

es erfolgreich geschafft, immer wieder zu proklamieren,<br />

dass es geknechtete 1-Euro-Jobber sind, aber das<br />

ist wirklich nicht der Fall.<br />

Wenn man zwischen fünfzig <strong>und</strong> sechzig Jahre<br />

alt ist, sind die Chancen auf dem Arbeitsmarkt<br />

nicht mehr so groß. Da sitzt dann die Pistole,<br />

<strong>von</strong> der Sie erst sprachen, im eigenen<br />

Portemonnaie …<br />

Und welche Chancen hatten die Leute vor DHL?<br />

Das will ich gar nicht zur Diskussion stellen,<br />

ich sage nur, welche individuellen Zwänge auch<br />

dahinter stehen, bei der Entscheidung für<br />

einen bestimmten Job.<br />

Ja, das ist richtig. Sie werden Mühe haben, zu vergleichbaren<br />

Löhnen in einer Region wie München Leute zu<br />

bekommen. Aber da haben sie Vollbeschäftigung. Das muss<br />

man einfach anerkennen. – Und deshalb, ich schätze die<br />

kritische Redakteurszunft sehr, aber man muss schon<br />

ein bisschen aufpassen, sich nicht immer einseitig auf die<br />

Seite der Entrechteten <strong>und</strong> Entmachteten zu stellen.<br />

Immer diese Frage: Na, was sind denn das für Jobs? Das<br />

sind doch gar keine richtigen Jobs. – Doch das sind richtige<br />

Jobs! In dieser Region mangelt es doch nicht an Ingenieursstellen,<br />

sondern an Jobs für Leute, die überhaupt erst<br />

einmal wieder in den Arbeitsmarkt integriert werden müssen.<br />

Deshalb ist DHL für mich in der Region ein ganz<br />

wichtiger Arbeitgeber, heute <strong>und</strong> in der Zukunft.<br />

Sie haben im Laufe unseres Gesprächs schon<br />

mehrfach <strong>von</strong> den Gegnern des Flughafens<br />

gesprochen. Es gibt Gegenwind, das ist in der<br />

letzten Zeit deutlich zu spüren. Was ist in einer<br />

solchen Situation die Vision, an der Sie<br />

festhalten, die Sie motiviert? Welche Rolle soll<br />

der Flughafen in Zukunft spielen, <strong>und</strong> wie wird<br />

sich Ihrer Meinung nach die Region durch den<br />

Flughafen verändern, nicht nur innerhalb der<br />

nächsten fünf Jahre, sondern langfristig?<br />

Meine Vision ist es, dass es mit der Logistik gelingt, einen<br />

Wirtschaftszweig zu etablieren, der hier Tausende <strong>von</strong><br />

Jobs schaffen wird, <strong>und</strong> dass der Flughafen Leipzig / Halle<br />

dessen Nukleus ist. Irgendwann wird es, wie wir alle<br />

wissen, die Transfermittel aus dem Westen, die Förder programme,<br />

etc pp. nicht mehr geben. Das heißt, wenn es<br />

uns in den nächsten Jahren nicht gelingt, mehr <strong>und</strong> mehr<br />

eigenständige Branchen zu etablieren, die Menschen<br />

<strong>und</strong> Familien in Lohn <strong>und</strong> Brot zu bringen, wird es uns<br />

nach dem Auslaufen bestimmter Förderprogramme noch<br />

weit aus weniger gelingen. Meine Vision ist, dass der<br />

Flughafen dazu beiträgt, aus der Region Leipzig/ Halle eine<br />

Wachs tums region deutlichen Ranges zu machen, dass<br />

es gelingt, jungen Leuten hier eine Perspektive zu bieten,<br />

<strong>und</strong> dass auch eine Menge <strong>von</strong> Heimkehrern hier<br />

anheuert, Leute, die aus dem Westen zurückkommen,<br />

weil sie plötzlich die qualifi zierten Jobs hier fi nden, die es<br />

vorher nicht gab. Ich wünsche mir, dass der Flughafen<br />

auch zum Vermarkter dieser Region als Logistikregion<br />

wird <strong>und</strong> dass er selbst als Arbeitsstätte, spätestens<br />

in zehn Jahren, eine Schallmauer <strong>von</strong> 10.000 Jobs durchbricht.<br />

Das ist mein Wunsch.<br />

Das wäre jetzt ein gutes Schlusswort –<br />

Wenn jetzt nicht noch zwei, drei Fragen wären.<br />

Genau. Ich habe gleich noch eine: Und zwar<br />

würde ich gern noch einmal auf die amerikanischen<br />

Truppentransporte zurückkommen,<br />

die über den Flughafen Leipzig / Halle <strong>von</strong><br />

zivilen Luftfahrtunternehmen abgewickelt<br />

werden. Diese Flüge machen ja nicht nur ein<br />

oder zwei Prozent der Passagierbewegungen<br />

aus, sondern sind, wie Sie sagten, für<br />

den Flughafen ein wichtiger K<strong>und</strong>e, der<br />

Arbeitsplätze sichert. Warum gehen Sie mit<br />

diesem Akquise-Erfolg nicht ähnlich wie<br />

bei DHL an die Öffentlichkeit? Oder anders<br />

gefragt, sehen Sie eine konkrete Gefahr, durch<br />

diesen K<strong>und</strong>en ins Zielvisier des inter na tionalen<br />

Terrorismus zu kommen, <strong>und</strong> scheuen<br />

deshalb die Öffentlichkeit, wie es <strong>von</strong><br />

Kritikern dieser Flüge behauptet wird?<br />

Ich habe schon beschrieben, wie schwer es ist, gegen Leute<br />

zu argumentieren, die behaupten, die Moral auf ihrer<br />

Seite zu haben. Daneben gibt es noch ein zweites Thema,<br />

nämlich die schönen Ängste. Und das wird natürlich auch<br />

bewusst in einem Zusammenhang gemacht. Natürlich<br />

müssen wir anerkennen, dass der B<strong>und</strong>esinnenminister<br />

schon seit Jahren erklärt, dass auch die B<strong>und</strong>esrepublik<br />

ein Ziel für Anschläge sein kann, dass es ein Gefährdungspotential<br />

gibt. Europa insgesamt ist ein potentielles Ziel<br />

für medienwirksame Attentate. Aber ganz ehrlich, wie mit<br />

einem solchen Thema umgegangen wird, ist bisweilen<br />

regelrecht unanständig – es werden bewusst Ängste in der<br />

Bevölkerung geschürt.<br />

Für den Flughafen Leipzig / Halle ist es so: Ein Flughafen<br />

ist ein Sicherheitsbereich, per Defi nition. Was hier<br />

stattfi ndet, fi ndet in einem separaten Terminal statt, in<br />

beträchtlicher Entfernung zu allem anderen kommerziellen<br />

Verkehr. Das hier ist kein Militärstützpunkt,<br />

sondern hier fl iegen zivile Airlines, die Militärpersonal an<br />

Bord haben, das hier lediglich umsteigt. Die übrigen in<br />

Anspruch genommenen Dienstleistungen, wie beispielsweise<br />

Betankung, werden <strong>von</strong> am Flughafen ansässigen<br />

Firmen erbracht – wie für alle anderen Airlines auch.<br />

Die Sicherheitsmaßnahmen, so wie sie an einem Flughafen<br />

notwendig sind, werden hier eingehalten, Und natürlich<br />

gibt es im Luftverkehr insgesamt eine hohe Wahrnehmung<br />

<strong>von</strong> Gefährdungspotentialen. Wenn es darum geht, wie<br />

freizügig wir über bestimmte Themen berichten –<br />

weil sie sagten, DHL wird doch auch lauthals proklamiert,<br />

welche Erfolge das sind <strong>und</strong> was dahinter steckt –,<br />

dann komme ich wieder zu dem Thema, der Flughafen<br />

Leipzig / Halle ist ein privatrechtlich organisiertes<br />

Unternehmen <strong>und</strong> in dieser Eigenschaft auch Vertragspartner<br />

seiner K<strong>und</strong>en. Wir sind nicht diejenigen, die<br />

gegen den Willen der K<strong>und</strong>en irgendwelche Daten Preis<br />

geben. Ich erkläre auch nicht, wie viele Passagiere die<br />

Air France zwischen Leipzig <strong>und</strong> Paris Charles de Gaulles<br />

fl iegt. Sondern das muss die Air France schon selbst<br />

kommunizieren. Wenn die das getan hat, dann plappere<br />

ich das möglicherweise nach, aber gr<strong>und</strong>sätzlich ist es so,<br />

dass wir nicht diejenigen sind, die mit den Zahlen oder<br />

den Fakten der K<strong>und</strong>en hausieren gehen.<br />

Das ist sozusagen eine Frage der Diskretion.<br />

Das sind individuelle Vertragsvereinbarungen, <strong>und</strong> es ist<br />

immer noch nicht so, dass ich ein Einsehen habe, diese<br />

Vertragsgr<strong>und</strong>lagen offen zu legen. Oder bestimmte Zahlen<br />

<strong>und</strong> Daten, denn die können leicht unter den Konkurrenzschutz<br />

fallen. Sie müssen bedenken, auch diese zivilen<br />

Airlines stehen im Wettbewerb zu anderen zivilen Airlines,<br />

die dasselbe Geschäft betreiben, <strong>und</strong> auch wir als<br />

Flughafen stehen in Konkurrenz zu anderen Flughäfen.<br />

Um unser Gespräch abzur<strong>und</strong>en, würde ich<br />

gern noch einmal auf das Theater zurückzukommen<br />

–<br />

Ach richtig, wir kommen ja eigentlich vom Theater.<br />

Es gibt ja eine ganze Reihe <strong>von</strong> <strong>Vera</strong>nstaltungen.<br />

Sie haben anfangs beschrieben, dass<br />

der Flughafen für die Region auch strukturgebend<br />

wirksam sein will. Sehen sie die Patenschaften<br />

mit Stadttheatern <strong>und</strong> Fechtclubs<br />

als Teil dieser Philosophie?<br />

Ganz klar. – Die langweilige Antwort für einen Interviewer<br />

wäre jetzt: Exakt. Aber vielleicht sollte ich doch etwas<br />

ausführlicher werden: Ja, der Flughafen macht das nicht<br />

erst seit dem Projekt des Thalia-Theaters – auf das ich<br />

mich sehr freue –, sondern wir hatten hier zum Beispiel<br />

auch internationale Fechtturniere. Natürlich haben wir als<br />

Flughafen auch einen Tag der offenen Tür, <strong>und</strong> zu Weihnach<br />

ten spielt beispielsweise das große Orchester der B<strong>und</strong>es<br />

polizei hier am Terminal. Also dieser Flughafen kann,<br />

um der Funktion, die er für die Region spielt, Ausdruck<br />

zu ver leihen, für alles andere mitgenutzt werden – solange<br />

der ursprüngliche Zweck damit nicht in Frage gestellt<br />

oder behindert wird.<br />

7


WAS DU WISSEN SOLLTEST (DIE STADT)<br />

DIE KUNST DER KRISE<br />

Ein Gespräch mit der Stadtplanerin<br />

Sonja Beeck,<br />

die Fragen stellte <strong>Jan</strong> Wenzel<br />

— In der Broschüre, die das Bauhaus Dessau zur<br />

IBA Stadtumbau 2010 in Sachsen-Anhalt herausgegeben<br />

hat, heißt es: Eines der Ziele sei, die Städte zukunftsfähig<br />

zu machen. Was ist dafür notwendig? Oder anders gefragt:<br />

Gibt es gegenwärtig eine Angst vor der Zukunft?<br />

— Angst ist vielleicht übertrieben. Aber es gibt ein Unwohlsein,<br />

was die Zukunft angeht. Wir haben bisher wenig Erfahrung<br />

damit, was ein Weniger bedeuten kann. Was Wachsen heißt,<br />

wissen die Stadtplaner. Das ist etwas, was wir jahrzehntelang<br />

eingeübt haben. Das Schrumpfen einer Stadt ist ein unkontrollierter<br />

Prozess <strong>und</strong> es fällt nach wie vor schwer, darin eine<br />

Chance zu sehen. Es ist gewagt, <strong>von</strong> dem Weniger als Chance<br />

zu sprechen. So weit sind wir überhaupt nicht. – Weniger ist<br />

erst einmal weniger <strong>und</strong> langsamer ist langsamer. Und dieses<br />

Weniger ist auch nicht generell eine gute Botschaft. Die Städte<br />

verlieren an Kraft. Das ist vollkommen klar. Dennoch glaube<br />

ich, dass man sich als Stadt auf einem geringeren Niveau sehr<br />

gut stabilisieren kann, vielleicht sogar qualitativ wachsen.<br />

Das sollte das Ziel der gemeinsamen Anstrengung sein. Das<br />

ist, was wir mit Zukunftsfähig-Machen meinen. Wir arbeiten<br />

intensiv mit den Verwaltungen, mit der örtlichen Politik <strong>und</strong><br />

auch mit den Bürgern <strong>und</strong> versuchen, Hilfestellungen zu geben.<br />

— Wie gehen Sie dabei vor?<br />

— Einerseits werden große Visionen entwickelt, damit eine<br />

Stadt so wie hier in Dessau einen eigenen Schrumpfungspfad<br />

einschlägt. Die Stadt Dessau zerlegt einen viel zu großen<br />

Stadtkörper in einzelne urbane Inseln <strong>und</strong> dazwischen werden<br />

Landschaftszonen ausgewiesen. Das ist ein ganz neues,<br />

großes, radikales <strong>und</strong> komplexes Bild der Stadt. Bis das umgesetzt<br />

ist, dauert es noch dreißig Jahre. Da geht die Stadt jetzt<br />

energisch vor das Schritt für Schritt zu tun. In anderen Städten<br />

sind es vielleicht die kleinen Strategien, die man gemeinsam<br />

entwickelt. Interessant ist zum Beispiel unsere Zusam men arbeit<br />

mit den homöopathischen Ärzten in Köthen.<br />

— Können Sie mir erzählen, was sie gemeinsam<br />

ausprobiert haben?<br />

— Köthen ist die Stadt, in der Samuel Hahnemann, der Erfinder<br />

der Homöopathie, lange Zeit gewirkt hat. Köthen ist auch eine<br />

schöne Residenzstadt mit einer schönen Bausubstanz <strong>und</strong> einer<br />

intakten Innenstadt. Sie verströmt eine kulturell niveauvolle<br />

Atmosphäre mit dem intensiven Bemühen um die Musik<br />

<strong>von</strong> Bach. Köthen erscheint heiler <strong>und</strong> heiterer als viele andere<br />

Städte mit den gleichen Problemen. Ich weiss nicht genau wie<br />

ich das beschreiben soll. Den Köthenern ist seit langem klar,<br />

dass die große industrielle Zukunft nicht ihr wirtschaftliches<br />

Standbein sein wird. Und so findet Stück für Stück eine Öffnung<br />

in Richtung Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Wissensgesellschaft statt.<br />

Gerade im Ausland wird die kleine Stadt in Sachsen-An halt als<br />

die Wiege der Homöopathie bezeichnet. Es lag große Aufmerksamkeit<br />

darauf, die Homöopathie wieder in diesem Ort<br />

heimisch werden zu lassen. Da gibt es dann ganz praktische<br />

Bausteine, wie den Aufbau einer Akademie für Homöopathie,<br />

an der man einen Mastersstudiengang an bieten möchte,<br />

die europäische Zentralbibliothek für Homöo pa thie zieht nach<br />

Köthen, es finden Kongresse homöopa thi scher Ärzte statt,<br />

so dass die Besucherzahlen steigen. Aus dieser Situation<br />

heraus entstand vor vier Jahren die Idee, mit den homöopathischen<br />

Ärzten eine Arbeitsgruppe zu gründen <strong>und</strong> zu überlegen,<br />

was wir Stadtplaner <strong>von</strong> der Homöopathie lernen könnten.<br />

Die Gruppe besteht aus den <strong>Vera</strong>ntwortlichen der Bauverwaltung,<br />

der örtlichen Wohnungsgesellschaft, Experten des<br />

IBA Büros <strong>und</strong> homöopatischen Ärzten aus ganz Deutschland.<br />

Anfangs haben uns alle für verrückt gehalten.<br />

— Was haben Sie gemeinsam unternommen?<br />

— Wir haben sehr problematische Situationen in der Stadt<br />

identi fiziert. Eine wesentliche Frage war, was macht man mit<br />

Gebieten, in denen kein Nutzungsdruck mehr herrscht, die man<br />

aber trotzdem nicht komplett liegen lassen kann. Wir haben uns<br />

solche Gebiete nach der Anamnesetechnik der Homöopathen<br />

angeschaut <strong>und</strong> versucht, die Bürger anders zu befragen.<br />

Wir wollten <strong>von</strong> ihnen wissen, wie sie selbst die Veränderungen<br />

beschreiben <strong>und</strong> wie sie diese Veränderungen empfinden.<br />

Das hört sich esoterisch an, aber es waren sehr interessante<br />

Beobach tungen, <strong>von</strong> denen uns die Anwohner berichtetet<br />

haben. Zum Beispiel gibt es in Köthen die Ludwigstraße, die<br />

eine deprimierende Atmosphäre ausstrahlt. Sie liegt am Rande<br />

der Innenstadt <strong>und</strong> hat ein gründerzeitliche Struktur. Während<br />

der DDR-Zeit ist der Stuck <strong>von</strong> den Häusern entfernt worden.<br />

Ungefähr ein Drittel der unsanierten <strong>und</strong> leer stehenden<br />

Häuser gehören der Köthener Wohnungsgesel lschaft. Sie<br />

wirken in ihren braun-grauen Fassaden trostlos. Ihr Abriss ist<br />

beschlossen, obwohl die gute Lage der Ludwigstraße dagegen<br />

spricht <strong>und</strong> jedem das Herz blutet aus der geschlossenen<br />

Bebauung die ›Zahnlücken‹ herauszureißen. Die Straße zeigt<br />

eine soziale Gemengelage aus sozial schwierigen Milieus <strong>und</strong><br />

Hausbesitzern <strong>und</strong> Bewohnern, die seit je her in der Ludwig<br />

straße wohnen. Die städtebauliche Anamnese, die einem<br />

Erstgespräch mit einem homöopathischen Arzt ähnelt, ist ein<br />

ganz wichtiger Baustein. Als nächstes folgt aufgr<strong>und</strong> der<br />

Analyse die Impulssetzung nach einem Ähnlichkeitsprinzip.<br />

Ob Krisen für eine Stadt heilsam sein<br />

können, wird momentan in der<br />

Kleinstadt Köthen untersucht. Sie ist<br />

eine <strong>von</strong> siebzehn Städten in Sachsen-<br />

Anhalt, die an der ›Internationalen<br />

Bauausstellung Stadtumbau 2010‹<br />

beteiligt sind. Unter Laborbedingungen<br />

Die Frage lautet, wie man mittels einer Reiztherapie auch im<br />

städtischen Bereich einen Impuls setzen kann, der dem<br />

Ausgangspunkt ähnelt, aber trotzdem unschädlich ist <strong>und</strong><br />

etwas anderes in Gang bringt.<br />

— Wie haben Sie das in der Ludwigstraße gemacht?<br />

— An einem Abend im Dezember haben wir die<br />

Straßenbeleuchtung für 25 Minuten ausgeschaltet, danach die<br />

›Abrisskandidaten‹ mit Theaterscheinwerfern angestrahlt <strong>und</strong><br />

dann die Anwohner zu einer Versammlung im Hotel auf der<br />

Ecke eingeladen. Hier konnten wir nur die schlechte Nachricht<br />

des geplanten Abrisses überbringen. Diese Geste – das Licht<br />

geht aus – hat natürlich viel Betroffenheit bei den Bürgern<br />

freigesetzt. Zwei St<strong>und</strong>en lang sind sie uns sehr lautstark an gegangen,<br />

weil wir ihnen mitteilen mussten, dass viele Häuser in<br />

der Straße abgerissen werden müssen, aber wir trotzdem<br />

keinen Plan dafür haben, wie die Zukunft der Straße aussieht.<br />

Der Planer hat keinen Plan. Das verunsichert, war aber seriös,<br />

denn es gibt Gebiete in der Stadt, die keinerlei Nutzungsdruck<br />

erwarten. Erst nach zwei St<strong>und</strong>en drehte sich die angespannte<br />

Situation <strong>und</strong> der erste Nachbar fragte: »Was würde denn<br />

ein Gr<strong>und</strong>stück kosten, wenn ich es kaufen würde?« Er sagte, er<br />

habe durchaus Interesse seine Eltern auf dem Nach bar gr<strong>und</strong>stück<br />

unterzubringen. Wir würden gern eine Solaranlage bauen,<br />

sagten die Nächsten. Und so kam dann Stück für Stück Bewegung<br />

in die Straße, indem die Nachbarn ange fangen haben,<br />

mit der Wohnungsbaugesellschaft als Eigen tümerin ins Gespräch<br />

zu kommen. Die Frage, die wir uns dabei ständig gestellt<br />

haben, ist, wie beobachtet man solche Prozesse? Wie notiert<br />

man sie <strong>und</strong> aus welchen Dingen zieht man die richtigen<br />

Schlüsse? Es ist wichtig, dass wir lernen, Prozesse anders<br />

zu betrachten, zu bewerten <strong>und</strong> diese Erfahrungen in ganz ausführlichen<br />

Protokollen aufzuschreiben: Wer hat was gesagt,<br />

was ist auffällig gewesen an den Aussagen oder an der räumlichen<br />

Situation – das sind wirklich lange Protokolle.<br />

— Eine permanente Rekapitulation –<br />

— Eine permanente Verlaufsbeobachtung dieser Situation.<br />

Was relativ aufwändig ist <strong>und</strong> was wir als Planer auch nicht<br />

gewohnt sind.<br />

— Warum machen Sie das?<br />

— Damit man weiß, wann man welche Entscheidungen<br />

getroffen hat. Das hat für die akute Situation nicht sofort einen<br />

Mehrwert, aber wir erhoffen uns <strong>von</strong> diese sorgfältigen<br />

Dokumentationen, dass man in einer anderen Situation noch<br />

einmal auf das Beispiel Ludwigstraße zurückgreifen kann.<br />

Daran arbeiten wir in Köthen.<br />

— Wenn man sich die Homöopathie als Metapher<br />

anschaut, wo lägen dann die Schnittpunkte zur Planung?<br />

— Wie schon gesagt: In der Anamnese, Analyse <strong>und</strong> in der<br />

Impulssetzung nach einem Ähnlichkeitsprinzip, eben auch<br />

durch das Erzeugen <strong>von</strong> Störungen <strong>und</strong> Kunstkrankheiten <strong>und</strong><br />

in der sorgfältigen Prozessbeobachtung, <strong>und</strong> vor allem im<br />

Vertrauen in Prozesse. Der homöopathische Arzt hat ein tiefes<br />

Vertrauen, dass aus dem Prozess etwas entstehen wird <strong>und</strong><br />

er hat eine f<strong>und</strong>ierte Routine, Prozesse zu strukturieren.<br />

Der Patient wird nach Ende der Behandlung nie wieder an demselben<br />

Punkt sein wie vorher – es gibt keine Stagnation. Das<br />

ist, glaube ich, die große Anleihe, die man bei den homöopathischen<br />

Ärzten machen kann.<br />

— Weil sie keinen Idealzustand im Auge haben?<br />

— Ja, weil es in der Homöopathie keine Definition <strong>von</strong><br />

Ges<strong>und</strong>heit gibt. Ges<strong>und</strong> ist der, der sich ges<strong>und</strong> fühlt, selbst<br />

wenn er objektiv ein Leiden hat. Jemand kann einen gebrochenen<br />

Arm haben, sich aber trotzdem fit <strong>und</strong> munter fühlen. Das<br />

ist dann nicht das Problem. Denn es gibt ein subjektives<br />

Empfinden <strong>von</strong> Ges<strong>und</strong>heit jenseits der objektiven Diagnose.<br />

— Wie versteht Homöopathie das Objekt, das sie bearbeitet<br />

– also den Kranken, den Patienten, im Unterschied<br />

zu einem Schulmediziner?<br />

— Ich denke, Homöopathie verfolgt einen genuin subjektiven<br />

Ansatz, auch wenn objektive Laborwerte mit einbezogen<br />

werden. Aber einen menschlichen Körper anhand <strong>von</strong> Werten<br />

objektiv durchzuchecken, das ist nur die eine Ebene der<br />

Betrachtung. Wirklich entscheidend ist das subjektive Empfinden<br />

<strong>und</strong> die Person, <strong>und</strong> beides ist schwer auf eine Stadt<br />

übertragbar.<br />

— Was steht dem entgegen?<br />

— Ein städtischer Organismus ist natürlich multipolar. Ein Arzt-<br />

Patientenverhältnis hingegen ist eine simple bipolare Situa tion.<br />

Man kann bestimmte Metaphern herausnehmen, aber gr<strong>und</strong>sätzlich<br />

kann man solche Dinge nicht 1:1 übertragen.<br />

— Ich bin gespannt, wie es mit der Ludwigstraße weitergegangen<br />

ist?<br />

— In der Ludwigstraße sind drei Häuser abgerissen worden,<br />

für vier Häuser hat sich ein Nachbar gef<strong>und</strong>en. Es werden noch<br />

weitere abgerissen werden. Mittlerweile arbeiten wir eher<br />

an dem sozialen Gefüge der Straße. Eine auffällige Aussage<br />

bei der letzten Anamnese war, dass es keine schönen<br />

Menschen in der Ludwigstraße gebe, dass es alles so grau <strong>und</strong><br />

trist sei. Im Moment nimmt eine Fotografin die Menschen in der<br />

Ludwigstraße auf. Im Juni wird es eine Fotoausstellung geben,<br />

erforscht das Bauhaus Dessau dort<br />

wie Städte zukunftsfähig gemacht<br />

werden können. Sonja Beeck ist<br />

daran beteiligt, neue Werk zeuge der<br />

Stadtentwicklung zu erpro ben.<br />

Kommunikation ist dabei oft wichtiger<br />

als architektonische Neuerungen.<br />

um zu schauen, was das eigentlich für ein Begriff <strong>von</strong> Schönheit<br />

ist, den die Anwohner vermissen, denn das soziale Gefälle<br />

ist sehr groß. Mit solchen Interventionen machen wir<br />

Schritt für Schritt weiter.<br />

— Könnte man das Prinzip, das sie verfolgen auch mit<br />

›Do-Little‹ umschreiben – also wenig zu tun <strong>und</strong> nicht mit<br />

der großen Planerkeule auf eine Situation los zu gehen?<br />

— Ja sicher, das ist eine ganz wichtiger Punkt, auch weil<br />

Förder mittel endlich sind. Man hat mit Fördermitteln schon<br />

vielen Städten geschadet. Und irgendwie ist es sehr wichtig,<br />

dass man mit wenig Geld <strong>und</strong> kleinen Schritten auskommt.<br />

Das soll kein Plädoyer dafür sein, dass wenig Geld wünschenswert<br />

ist. Andererseits garantiert viel Geld nicht eine nachhaltige<br />

Entwicklung. Manchmal ist es wichtig, dass man mit den<br />

kleinen Schritten vorwärts kommt, einen Lernprozess erfährt<br />

<strong>und</strong> weiß, wie man miteinander <strong>und</strong> mit der Entwicklung einer<br />

Stadt besser umgeht. Das braucht andere Quellen als<br />

Geld. In Köthen bedanken wir uns für das Engagement der<br />

hömöopahischen Ärtzte.<br />

— Wird Kommunikation inzwischen für die Stadt entwicklung<br />

wichtiger als bauliche Veränderungen?<br />

— Ich würde sagen: Ja, weil es überhaupt keine Notwendigkeit<br />

gibt, viel zu bauen. Wichtiger ist die Gestaltung einer Vorstellung<br />

<strong>von</strong> Zukunft: Welche Pläne, welche Ziele hat man, was<br />

ist einem wichtig, was will man erhalten, was kann wegfallen.<br />

Solche Fragen sind wichtig, <strong>und</strong> darüber muss man reden.<br />

In den schrumpfenden Regionen heißt Bauen vor allem, Dinge<br />

zu ergänzen, Dinge auch einmal auszuwechseln, die nicht<br />

mehr tauglich sind <strong>und</strong> für eine wirklich gute neue Idee einen<br />

neuen Raum zu schaffen. Aber im Gr<strong>und</strong>e gibt es Hväuser<br />

<strong>und</strong> Bausubstanz genug.<br />

— Sie sprechen <strong>von</strong> Stadtplanung als offenem Prozess –<br />

trotzdem die Frage, wie wichtig sind dafür auch langfristige<br />

Zeitperspektiven?<br />

— Ich glaube, es ist immer richtig, langfristige Ziele zu verfolgen,<br />

weil man entsprechend Entscheidungen in eine bestimmte<br />

kohärente Ordnung bringen kann. Das verkürzt die Irrtümer<br />

<strong>und</strong> die Fehlerfrequenzen. Deshalb ist jede Stadt, die langfristige<br />

Ziele formulieren kann, einen großen Schritt weiter.<br />

Gleich zeitig ist es schwierig, solche Ziele zu benennen, damit<br />

wird sehr viel Scharlatanerie betrieben. Ich bin der Über zeugung,<br />

dass Städte wie Charaktere sind <strong>und</strong> dass es immer <strong>von</strong><br />

der konkreten Konstellation der lokalen Akteure abhängt, ob<br />

sie ihre Ziele härter oder weicher fassen.<br />

Der nächste Punkt ist natürlich, dass innerhalb einer städtischen<br />

Gemeinschaft gern unterschiedliche Ziele gesehen<br />

werden. Das ist eine Frage der Verhandlung vor Ort; welche<br />

Ziele mit welcher Konsequenz nach vorn geschossen werden.<br />

Für die einen ist ökologischer Umbau das Ziel, für andere<br />

die Vollbeschäftigung <strong>und</strong> für wieder andere ein gut funktionierendes<br />

soziales Netz, geringe Neben kos ten für jeden Bürger<br />

<strong>und</strong> wirtschaftliche Prosperität. Es gibt ein Set <strong>von</strong> Entwicklungs<br />

zielen, die eine Stadt in ver schie denen Wertigkeiten<br />

aufbauen kann.<br />

— Welche Rolle spielt Kultur in diesen Umbauprozessen?<br />

Hilft sie kurzfristig dabei eine Identität zu markieren oder<br />

ist es mehr?<br />

— Künstlerische Prozesse haben oft die Funktion, einer<br />

Gemein schaft oder einer Situation einen Spiegel vor zu halten,<br />

Dinge zu überhöhen, oder überhaupt einer Situation einen<br />

Reflektionsraum zu geben. Oft ist es ein Gewinn, die eigene<br />

Situation spielerisch oder ernst, bildhaft oder in einer Aktion zu<br />

überhöhen, <strong>und</strong> dann eine Diskussion anzuzetteln. Darin liegt<br />

die große Rolle <strong>von</strong> Kunst <strong>und</strong> Kultur in diesen Zeiten –<br />

eine ganz wichtige Rolle. Weil: Kultur darf das tun, was ein<br />

Stadtrat manch mal nicht entscheiden oder auch nicht so sagen<br />

kann. Sie schmeißt einfach den Stein nach vorn. Was dann im<br />

Verfahren oder im Gesetz herauskommt, ist eine andere Sache.<br />

— Ist das, um auf die Metapher der Homöopathie zurückzukommen,<br />

auch eine Art Parallelreiz? Dass im Bereich<br />

der Kunst das Überraschende eher möglich ist, etwas, was<br />

an anderer Stelle aber eigentlich nötig wäre?<br />

— Ja, das kann man so sagen. In der Homöopathie gibt es<br />

direkte Äquivalente zur Provokation in der Kunst. Künstler<br />

dürfen auch etwas Provozierendes machen <strong>und</strong> dadurch etwas<br />

anregen. Das darf Planung nicht. Planung darf nicht provozieren<br />

<strong>und</strong> sie soll Krisen vermeiden. Kunst hin gegen darf<br />

provozieren <strong>und</strong> eine Krise erzeugen. Genau das tun die<br />

Homöopathen auch. Das wäre auch für Planer eine wichtige<br />

Technik, die Störung <strong>und</strong> die Krise als kreatives Moment<br />

einzubeziehen. Aber das ist in unseren Verfahren noch nicht<br />

möglich. Man kann keinen Auftrag vergeben an eine Gruppe<br />

<strong>von</strong> Planern, eine kurzfristige Krise auszulösen.<br />

— Warum kann man das nicht?<br />

— Weil es dem Selbstverständnis <strong>von</strong> Politik <strong>und</strong> Planung<br />

widerspricht. Im öffentlichen Sektor geht es schon um die<br />

Wahrnehmung <strong>von</strong> <strong>Vera</strong>ntwortung <strong>und</strong> den Schutz der Bevölkerung.<br />

Daher muss man Umwege nehmen über Experimente<br />

<strong>und</strong> Kultur. Manchmal würde ich es mir wünschen, aber<br />

die Krisen entstehen auch <strong>von</strong> selber.<br />

9


WAS DU WISSEN SOLLTEST (DIE GLOBALISIERUNG) 10<br />

ES KÖNNTE SICH<br />

GANZ VIEL ÄNDERN,<br />

WENN ES DIE<br />

PYRAMIDE GÄBE<br />

Ein Gespräch mit dem Autor<br />

Ingo Niermann, die Fragen stellte<br />

<strong>Vera</strong> <strong>Tollmann</strong><br />

In Umbauland entwickelst Du die Idee einer Pyramide,<br />

die als globale Begräbnisstätte zum Beispiel<br />

in Sachsen-Anhalt entstehen könnte. Was hat<br />

ein kulturgeschichtlich bedeutendes Bauwerk wie<br />

eine Pyramide mit der Zukunft zu tun? Ist es nicht<br />

eher ein folkloristischer Gedanke, heute eine<br />

Pyramide zu bauen?<br />

Mich interessieren Pyramiden eigentlich gar nicht, weder das<br />

esoterisch Aufgeladene an ihnen, noch ihre strenge Form.<br />

Es ist einfach eine sehr stabile Bauform. Vor allem, wenn man<br />

etwas baut, was keine feste Zielgröße hat, was immer weiter<br />

wachsen soll. Ein Quader, der sich immer weiter vergrößert, ist<br />

viel komplizierter <strong>und</strong> nicht so stabil. Darum die Pyramide.<br />

Die Pyramide ist wie ein abstrakter Berg. Dass sie eine antike<br />

Konnotation hat, damit kann man spielen <strong>und</strong> muss es auch<br />

tun, aber das war nicht der Gr<strong>und</strong>, sich für diese Form zu entscheiden.<br />

Wir haben im Verein ganz am Anfang darüber gesprochen,<br />

ob man nicht eine zeitgemäßere Form finden müsse,<br />

etwa die einer Hyperbel. Ich fand den Vorschlag zu willkürlich.<br />

Die Pyramide hingegen hat <strong>von</strong> Anfang an ihre Form, du kannst<br />

schon mit fünf Steinen eine bauen.<br />

Bei dem internationalen Architekturwettbewerb,<br />

den Ihr für den Bau der Friedhofspyramide ausgeschrieben<br />

hattet, fällt auf, dass drei <strong>von</strong> vier<br />

Büros in Asien beheimatet sind. Hat diese<br />

Wahl damit zu tun, dass Japan der Inbegriff für<br />

eine vergangene Zukunft <strong>und</strong> China der für die<br />

kommende ist?<br />

Das war eigentlich Zufall. Ich kenne mich mit Architektur gar<br />

nicht so gut aus. Dann hatten wir die Idee, dass Rem Kolhaas<br />

den Jury-Vorsitz machen könnte <strong>und</strong> auch nach Architekten<br />

sucht. Seine Auswahl haben wir dann zusammen besprochen.<br />

Wir haben auch andere Leute aus der Jury gefragt wie Stefano<br />

Boeri <strong>und</strong> das Architekturbüro Atelier Bow-Wow aus Tokio<br />

<strong>und</strong> MADA s.p.a.m. aus Shanghai tauchten auf. Ai Weiwei<br />

kannte ich bereits aus meiner Zeit in Peking. Eigent lich hatten<br />

wir noch ein Büro aus Miami eingeladen, Arqui tectonica,<br />

das aber abgesagt hat, weil ihnen unser Vorhaben zu heikel war.<br />

Deren Arbeit kann man als seltsames Spät-Memphis [Anm.<br />

postmodernes Mailänder Designerkollektiv der 1980er Jahre]<br />

beschreiben. Koolhaas’ Idee war es, vor allem alte Architekten<br />

einzuladen. Das hat aber nicht geklappt.<br />

Alte Leute, weil sie dem Tod näher sind?<br />

Ja. Ungers ist dann gestorben, der war schwer krank. Bei ihm<br />

war es ein bisschen zu nah am Tod gefragt. Laurinda Spear <strong>von</strong><br />

Arquitectonica ist auch schon älter, <strong>und</strong> sie hat anfangs sofort<br />

ja gesagt. Erst später haben wir darüber nachgedacht, dass<br />

Japan <strong>und</strong> China tatsächlich strategisch günstige Länder<br />

wären. Japan hat eine Kremierungsrate <strong>von</strong> 100 Prozent, <strong>und</strong> in<br />

China gibt es anscheinend sogar eine Kremierungspflicht;<br />

Von Ingo Niermann erschien 2003 der<br />

Proto kollband ›Minusvisionen. Unter nehmer<br />

ohne Geld‹, in dem Gespräche mit<br />

gescheiterten Unternehmensgründern<br />

ver sammelt sind. Mit einem der »Unternehmer<br />

ohne Geld«, dem Wirt schafts wissenschaftler<br />

Jens Thiel aus Erfurt, denkt<br />

Ingo Niermann heute darüber nach,<br />

eine Pyramide in Sachsen-Anhalt zu<br />

bauen. Entgegen gängiger Zukunfts vorstel<br />

lungen <strong>von</strong> einem län ge ren <strong>und</strong><br />

techno ideren Leben planen die beiden<br />

ein kollektives Grab für Angehö rige aller<br />

Religionen. Investoren gibt es bisher<br />

keine, die Kulturstiftung des B<strong>und</strong>es hat<br />

die Entwicklungsphase finanziert. In<br />

seinem Buch ›Umbauland‹ (2007) stellt<br />

also auch 100 Prozent. Als ein möglicher Standort, wenn er<br />

denn nicht in Deutschland wäre, tauchte plötzlich Miami auf,<br />

weil: tolles Klima, ohnehin schon Touristenziel <strong>und</strong> viele alte<br />

Leute. Dort gibt es ein liberales Bestattungsrecht, das private<br />

Friedhöfe erlaubt. Dabei gibt es schon ziemlich viele<br />

Möglichkeiten in Amerika: die Asche einfach ausstreuen, die<br />

Asche mit nach Hause nehmen. Bei uns soll es eine Mischform<br />

aus anonymer <strong>und</strong> persönlicher Bestattung geben, denn<br />

man wird Teil dieser Pyramide, aber darin lokalisierbar sein.<br />

Man ist nicht irgendwo.<br />

Müssen Zukunftsentwürfe heute pragmatisch<br />

ausfallen?<br />

Nach pragmatischen Lösungen wird immer gesucht, das ist<br />

nichts besonderes. Auch innerhalb einer radikalen Revolution<br />

geht es sehr bald darum, Lösungen zu finden, wie man konkret<br />

mit einer Situation verfährt <strong>und</strong> sie nicht einfach sich selbst<br />

überlässt. Wie sich das Marx noch in einem Hegelianischen<br />

Geschichtsmodell gedacht hat, dass nur ein bestimmter<br />

Stand der Produktionsmittel erreicht sein müsse <strong>und</strong> dann<br />

laufe alles <strong>von</strong> selber. Dabei hat er sich kaum Gedan ken<br />

darüber gemacht, wie seine Zielgesellschaft aussehen könnte.<br />

Die Vorschläge in ›Umbauland‹ unterscheiden sich <strong>von</strong> anderen<br />

pragmatischen Ansätzen darin, dass ich versucht habe,<br />

pragmatisch als billig zu denken, als kostengünstige Lösung.<br />

Denn ich habe in Deutschland beobachtet, dass die großen<br />

politischen Debatten eigentlich immer Umverteilungsdebatten<br />

sind. Entweder <strong>von</strong> reich nach arm oder erst mal zu reich hin<br />

mit der Idee, dass das Geld irgendwann zu den Armen<br />

runtersackt; also erst mal Steuererleichterung für die Reichen<br />

schaffen <strong>und</strong> dann profitieren irgendwann die Armen da<strong>von</strong>.<br />

Oder aber man gibt es den Armen, die geben ganz viel Geld aus<br />

<strong>und</strong> dann profitieren auch die Reichen da<strong>von</strong>. Das sind die<br />

zwei wesentlichen Modelle, mit denen die ganze Zeit hin <strong>und</strong><br />

her argumentiert wird. Gleichzeitig merkt man aber, dass durch<br />

die Globalisierung <strong>und</strong> dadurch, dass die Steuerrate schon<br />

einen bestimmten Prozentsatz erreicht hat, gar nicht mehr viel<br />

Spiel da ist, Geld hin- <strong>und</strong> her zu schieben.<br />

Die Große Pyramide, eine prototypische Grabstätte<br />

für alle, ist auch als wirtschaftliches Triebwerk<br />

für die Region gedacht, in der sie gebaut wird.<br />

Warum interessierst Du Dich überhaupt dafür,<br />

über Deutschland als Wirtschaftsstandort nachzudenken?<br />

Mich hat die wirtschaftliche <strong>und</strong> politische Zukunft <strong>von</strong><br />

Deutschland nie besonders interessiert. Ich hatte nie patriotische<br />

Gefühle, aus denen heraus ich mich um Deutschland<br />

kümmern müsste. Ich fand nur diese Debatten langweilig.<br />

Und dann habe ich angefangen, mit Fre<strong>und</strong>en rumzuspinnen.<br />

Für mich war es wie ein Rätsel, das man lösen will; das kann<br />

einfach nicht alles sein, was man denken kann. Der andere<br />

er diese zusammen mit neun weiteren<br />

»deutschen Visionen« vor. Niermann hat<br />

viele Ideen für die Zukunft, fühlt sich<br />

deswegen selbst aber nicht besser auf sie<br />

vorbereitet. — Das Gespräch findet in<br />

seiner Pankower Woh nung statt. Dort ist<br />

es so ruhig wie kaum an einem anderen<br />

Ort in Berlin – für ihn aber könnte es noch<br />

ruhiger sein. Durch das große Fenster<br />

im Berliner Zimmer sieht man die S-Bahn-<br />

Gleise <strong>und</strong> den alten Mauer streifen.<br />

Niermann stellt chinesischen Grüntee<br />

auf den Tisch <strong>und</strong> gibt mir sein gerade erschienenes<br />

Buch ›China ruft dich‹.<br />

Es enthält ausführ liche Interviews mit in<br />

Peking lebenden Chi ne sen <strong>und</strong> Aus ländern<br />

über deren Leben.<br />

Ansatz in dieser Marx’schen Linie ist, zu sagen, man brauche<br />

erst mal einen anderen technischen Stand <strong>und</strong> dann löse sich<br />

alles <strong>von</strong> selbst. Man investiert in Forschung, muss warten <strong>und</strong><br />

dann wird es schon. Ich dachte aber, ob man nicht auch für<br />

die jetzige Gesellschaft Lösungen finden kann. Darum heißt<br />

das Buch ›Umbauland‹: Ich sehe die Gesellschaft wie ein Haus,<br />

das man schon hat <strong>und</strong> aus dem man versucht, mit wenigen<br />

Mitteln was anderes zu machen. Das ist ein neuer Pragmatismus.<br />

Ein Pragmatismus, der sonst nicht ungewöhnlich ist.<br />

Dass man an etwas Existierendes anknüpft?<br />

Ja, man knüpft immer an etwas an. Pragmatismus aber auch,<br />

weil man einen Dreh sucht, um unter den großen Debatten<br />

durchzutauchen.<br />

Wie ernst meinst Du es mit einem neuen Wirtschaftsmodell<br />

für Deutschland? Ist die Pyramide<br />

Parodie oder Masterplan?<br />

Normalerweise werden Bücher zu der Frage, wie das Land<br />

geändert werden kann, ganz anders. Die gehen <strong>von</strong> nur einer<br />

Idee aus <strong>und</strong> sind 250 bis 300 Seiten dick. Der Autor muss mit<br />

einem bestimmten missionarischen Gestus auftreten, <strong>und</strong><br />

der geht mir komplett ab. Ich finde die Ideen wirklich gut, aber<br />

wollte gleich einen Haufen hinwerfen. Hier habt ihr gleich<br />

zehn, <strong>und</strong> dafür braucht man auch nur siebzig Seiten.<br />

Würdet Ihr bei dem Pyramiden-Projekt bei einer<br />

möglichen Realisierung denn als Unter nehmer<br />

auftreten oder gebt Ihr das Projekt an diesem<br />

Punkt ab?<br />

Ich komme ja eigentlich <strong>von</strong> der Literatur her <strong>und</strong> deswegen<br />

ist das Nachdenken über Zukunft für mich eine andere Form <strong>von</strong><br />

Fiktion. Man hat plötzlich diese Möglichkeit, dass sie doch<br />

Wirklichkeit werden könnte. Aber es muss nicht sein. Ich war<br />

mit der Pyramide in jedem Stadium sehr glücklich. Schon<br />

in dem Moment, als ich sie mir ausgedacht habe, war ich sehr<br />

glück lich. Auch als klar war, dass man einen Verein gründen<br />

<strong>und</strong> alles mal versuchen kann. Wir haben die Pyramide auf<br />

Dessau als möglichen Standort hin gedacht. Zuerst sagten sie,<br />

kommt doch mal her. Dann schien sich die Neugier wieder umzukehren.<br />

Jetzt gibt es ein stärkeres politisches Interesse.<br />

Wir haben die Pyramide im Bauhaus Dessau vorgestellt, mit<br />

Unterstützung der Grünen, <strong>und</strong> dann standen auch Leute<br />

<strong>von</strong> der FDP <strong>und</strong> der Linken auf <strong>und</strong> sagten, wir wollen die<br />

Pyramide. Das war ein toller Moment. Alle Ideen in ›Umbauland‹<br />

sind so abgefasst, dass ich nichts dagegen hätte, wenn<br />

sie realisiert würden. Aber ich selber kann es nicht leisten.<br />

Du willst damit kein Geld verdienen?<br />

Ich kann vielleicht eine Beteiligung halten, aber ich kann nicht<br />

Bauherr werden, das geht überhaupt nicht. Das ist für Jens<br />

[Thiel], mit dem ich zusammenarbeite, anders. Jens ist Ökonom<br />

<strong>und</strong> hat sich im letzten Jahr wahnsinnig in die Detailfragen


WAS DU WISSEN SOLLTEST (DIE GLOBALISIERUNG) 11<br />

reingekniet. Ihn habe ich schon für das ›Minusvisionen‹-Buch<br />

interviewt. Darin geht es um Unternehmer, die nicht vorrangig<br />

durch monetäre Interessen getrieben werden, sondern<br />

bei denen die unternehmerische Idee im Vordergr<strong>und</strong> steht.<br />

Die Pyramide ist eine tolle Idee, aber ich kann überhaupt nicht<br />

einschätzen, wie das Ganze ausgeht. Noch wurde keine<br />

Gesellschaft gegründet <strong>und</strong> wurden keine Investoren angesprochen.<br />

Dabei geht es darum, dass man am Anfang ein paar<br />

Millionen hat, um ein F<strong>und</strong>ament zu bauen <strong>und</strong> das gr<strong>und</strong>legende<br />

Marketing hinzubekommen. Man kann sich aber auch<br />

vorstellen, <strong>und</strong> das finde ich noch schöner, auf einem ebenen<br />

felsigen Untergr<strong>und</strong> einfach loszulegen. Dann braucht man<br />

am Anfang kaum Geld. Es reicht, wenn ein Feldweg zur<br />

Pyramide hinführt. In Deutschland ist das aber wegen der<br />

strengen Bauvorschriften nicht möglich.<br />

Wo ordnest Du Euer Pyramidenvorhaben etwa<br />

zwischen der kasachischen, <strong>von</strong> Norman Foster<br />

entworfenen Friedenspyramide in Astana <strong>und</strong><br />

der japanischen Utopie einer Unterwasserpyramide,<br />

der sogenannten X-Seed 4000, ein?<br />

Wollt Ihr beides sein, Machtdemonstration <strong>und</strong><br />

Schutzbunker?<br />

Diese Unterwasserpyramide kenne ich gar nicht. Ich kenne nur<br />

die Idee zum größten Bauwerk, das aussieht wie ein riesiger<br />

Berg aufeinandergestapelter Kästen.<br />

Das Pyramidenprojekt X-Seed 4000 lässt sich<br />

vielleicht mit der Biosphere II vergleichen, inklusive<br />

Friedhof.<br />

Wie gesagt, ich kenne nur die Vision für eine Pyramide vor<br />

Tokio, die Shimizu Mega City Pyramid – ich glaube, auf einer<br />

künstlichen Insel, die gleichzeitig als Wetterwall fungieren soll.<br />

Auf der Insel könnten dann 750.000 Menschen wohnen <strong>und</strong><br />

800.000 arbeiten. Das ist aber sehr spekulativ. Und das Tolle an<br />

der Großen Pyramde ist, mal ein großes Bauwerk zu errichten,<br />

in das man nicht reingehen kann.<br />

Selbst in die Chinesische Mauer kann man<br />

reingehen ...<br />

Ja, kann man da rein? An einigen Stellen vielleicht. Aber gut,<br />

die Große Mauer ist auch schon älter. Heute bedeutet<br />

Monumente zu errichten, nur Fassaden zu bauen. Innendrin<br />

findet man dann das Übliche vor, Büros <strong>und</strong> Wohnräume.<br />

Lauter Landmarks hat man gebaut, die aussehen wie Skulpturen.<br />

Man könnte denken, Architekten sind eigentlich die<br />

modernen Bildhauer, die das machen, was Künstler sich heute<br />

nicht mehr trauen. In der Kunst würde man denken, was ist<br />

denn das für ein Kitsch. Aber in der Architektur lebt das bunt<br />

<strong>und</strong> munter fort. Man macht da weiter, wo Henry Moore aufgehört<br />

hat. Das Monumentale besteht nur noch aus der Fas sade<br />

<strong>und</strong> Büros, Büros, Büros. Die Gestaltung der Innenräume<br />

ist im Vergleich zum Außen immer recht bescheiden.<br />

Was denkst Du, warum diese Form der Architektur<br />

gut funktioniert, warum gerade da<strong>von</strong> jetzt viel<br />

gebaut wird?<br />

Weil es kapitalistisch wertvoll ist?<br />

Klar, es ist ein Geschäftsmodell. Eine unverwechselbare Verpackung<br />

soll den verwechselbaren Inhalt aufwerten. Eigent lich<br />

ganz einfach nachzuvollziehen. Aber was es nicht mehr gibt:<br />

dass man etwas irgendwo hinsetzt, das nur massiv <strong>und</strong><br />

groß ist. Selbst durch das Berliner Holocaust-Mahnmal kann<br />

man wandeln.<br />

Neulich sagte der amerikanische Erfinder<br />

Ray Kurzweil in einem Interview, dass es bei allem<br />

Neuen einzig auf das richtige Timing ankäme.<br />

Denkst Du, jetzt ist der richtige Zeitpunkt für Euer<br />

Bauvorhaben?<br />

Das kann man ja nie so genau wissen. Vielleicht braucht es<br />

noch zwanzig, dreißig Jahre. Gr<strong>und</strong>sätzlich, glaube ich, ist das<br />

Timing gut, weil momentan ein neues Nachdenken über Bestattungsformen<br />

stattfindet. Bisher gibt es da nur den Friedwald,<br />

das Ausstreuen <strong>von</strong> Asche oder die Option, die Urne<br />

einfach mit nach Hause zu nehmen. Diese Konzepte schließen<br />

immer noch an das bürgerliche Verdrängen des Todes an.<br />

Der Fried wald ist irgendwo außerhalb, weit weg <strong>und</strong> einfach<br />

ein Wald. Wenn man die Asche mit nach Hause nimmt, hat man<br />

vielleicht privat ein Andenken, aber im öffentlichen Raum<br />

ist es weg. Dass man im öffentlichen Raum mit Tod konfrontiert<br />

wird, ist lange her. Um 1800 herum wurden die Friedhöfe raus<br />

geschafft aus dem Stadtzentrum, weil die Städte so sehr gewachsen<br />

waren. Seitdem wird der Tod verdrängt, durch Altenheime<br />

sogar die Zeit vor dem Tod. Genau das würde die<br />

Pyramide ändern. Darum wäre sie nicht nur, wenn sie funktionieren<br />

würde, ein interessantes Geschäftsmodell – Tourismus<br />

<strong>und</strong> damit einer Region den Aufschwung bringend <strong>und</strong> so<br />

weiter. Du musst Dir vorstellen, dass um die Pyramide herum<br />

ganz viele Leute trauern würden, sie wäre ein lauter Ort, wo<br />

man nicht mit dem Tod alleine ist. Als meine Oma gestorben ist,<br />

ging es darum, dass man sich zusammenreißt. Die direkten<br />

Hinterbliebenen gelten als tapfer, wenn sie nicht weinen.<br />

Das ist doch fürchterlich. Warum soll man nicht weinen <strong>und</strong><br />

auch mit ganz vielen anderen Menschen weinen, gleichzeitig<br />

<strong>und</strong> kreuz <strong>und</strong> quer? Ich sehe keinen Gr<strong>und</strong>, warum es immer<br />

nur diese eine Horde aus Angehörigen sein soll, die sich<br />

für drei St<strong>und</strong>en trifft. Nach der Beerdigung gibt es keinerlei<br />

kollektive Trauer mehr. Ich glaube, es könnte sich ganz viel<br />

ändern, wenn es die Pyramide gäbe.<br />

Dass man also etwas aus der muslimischen<br />

Kultur lernt?<br />

Ich glaube, auch in Deutschland war das früher anders. Im<br />

Alten Rom <strong>und</strong> Griechenland bestellte man Klageweiber, die<br />

ganz besonders exaltiert Trauer zeigten, wie eine Hebamme<br />

für den Tod. Früher hat man eine bestimmte Zeit lang Schwarz<br />

getragen. Es ist auf jeden Fall höchste Zeit für die Pyramide,<br />

<strong>und</strong> es haben sich auch schon Leute aus über sechzig Ländern<br />

auf unserer Website angemeldet. Ich dachte zuerst, dass<br />

viel mehr Vorbehalte kommen. Und vereinzelt kamen die auch:<br />

Monumentalarchitektur, das gab es doch in Deutschland zuletzt<br />

bei den Nazis, <strong>und</strong> da gab es auch ganz viele Tote. Es sei ein<br />

Zusammendenken <strong>von</strong> überhaupt nicht monumentalen Massengräbern<br />

in Nazideutschland, wo Tote in die Gruben gekippt<br />

wurden, <strong>und</strong> <strong>von</strong> Germania-Träumen.<br />

In letzter Zeit scheinst Du Dir sehr universa lis tische<br />

Gedanken zu machen. In dem Reisebuch<br />

Metan schreibst Du zusammen mit Christian<br />

Kracht die Menschheitsgeschichte neu, wie es im<br />

Klappentext heißt, <strong>und</strong> die geplante Große<br />

Pyramide soll in Sachsen-Anhalt als Denkmal zu<br />

Ehren der Menschheit entstehen. Worin liegt für<br />

dich der Vorteil einer so umfassenden Herangehens<br />

weise?<br />

Ich habe Philosophie studiert <strong>und</strong> mein erster Roman, ›Der<br />

Effekt‹, – am zweiten schreibe ich immer noch – ist Philosophie<br />

mit anderen Mitteln. In dem Roman habe ich alles unbestimmt<br />

gelassen, ich habe der Stadt keinen Namen gegeben.<br />

Es ist eine protomoderne Stadt. Jahre später, in Peking hatte<br />

ich das Gefühl, das ist eigentlich die Stadt, die ich damals<br />

beschrieben habe. Insofern war es schon etwas in die Zukunft<br />

gedacht. Allgemeine Fragen beschäftigen mich einfach.<br />

Einerseits will ich alles verstehen, dann folge ich einzelnen<br />

Geschichten, wie auch in meinem Chinabuch.<br />

Ich versuche beides zu maxi mieren, was schon ein bisschen<br />

verwegen ist.<br />

Soll die Pyramide eine Touristenattraktion werden?<br />

Wie viel hat die Pyramide mit Disneyland zu tun?<br />

Als Attraktion verstehe ich sie auf jeden Fall. Das Radikale<br />

besteht nicht darin, dass wir aus dem Tod Disneyland machen,<br />

sondern eine Themenstadt gründen wollen, die auch ohne<br />

Casinos <strong>und</strong> Achterbahn funktioniert. Dadurch wird natürlich<br />

diese Stadt ganz anders. Gerade beschäftige ich mich mit<br />

Dubai. Ich kann mir vorstellen, dass die Stadt Dubai noch in<br />

was ganz anderes kippen kann. Die Idee bei Dubai ist, auf<br />

die vielen Änderungen noch weitere drauf zu setzen. Für viele<br />

ist Dubai ein sehr langweiliger Ort. Und das ist er auch erst<br />

mal. Es ist immer noch eine Kleinstadt.<br />

Findest Du den Gedanken attraktiv aus Dubai<br />

einen interessanten Ort zu machen?<br />

In Dubai gibt es eine gigantische Immobilienblase, <strong>von</strong> der<br />

niemand weiß, wie sie eigentlich gefüllt werden soll. Es werden<br />

unglaublich viele Häuser gebaut, aber niemand weiß, wer da<br />

eigentlich rein soll. Das finde ich interessant an Dubai, es wird<br />

so weit wie möglich getrieben. Die wissen ganz genau, dass<br />

es eine Blase ist. Die Häuser wechseln unheimlich schnell den<br />

Besitzer, aber bleiben leer. Der neue Besitzer verkauft es<br />

wieder für 20, 30 oder 40 Prozent mehr. Ich bin gespannt, wie<br />

sich die internationale Immobilienkrise auf diese Vorgänge<br />

auswirkt. Es gibt auch Regionen, wo es nicht so ist. In London<br />

City merkt man <strong>von</strong> der Immobilienkrise gar nichts. Da geht es<br />

einfach weiter. Was die in Dubai versuchen, <strong>und</strong> das ist das<br />

Interessante, die sagen: Klar wird es irgendwann einen Crash<br />

geben, aber dann ist alles schon gebaut. Dann steht man<br />

plötzlich da <strong>und</strong> muss sich überlegen, was man mit all dem<br />

Zeug macht, so wie es jetzt aussieht. An dem Punkt setzt mein<br />

nächstes Buch mit sehr fantastischen Ideen an.<br />

Und wie geht es jetzt mit der Pyramide weiter?<br />

Es wird einen Businessplan geben, den man Investoren zeigen<br />

kann. Das ist die eine Sache. Und die andere ist, konkret<br />

mit interessierten Orten zu sprechen, erst einmal vor allem<br />

mit Dessau.<br />

Wie wichtig ist Dir persönlich Zukunft als Vorstellungsperspektive?<br />

Findest du es wichtig, dass<br />

man Pläne für die Zukunft macht?<br />

Ich finde es sehr, sehr spannend an die Zukunft zu denken.<br />

Wir leben wirklich in einer Zeit massiver Unterschiede,<br />

für jeden Ort auf der Welt bedeutet Zukunft was ganz anders.<br />

Man kann nicht mehr sagen – wie man es lange Zeit gedacht<br />

hat –, wir, der Westen sei für viele Regionen die Zukunft. Aber<br />

es muss auch nicht sein, dass andere Regionen Mitteleuropa<br />

einfach überholen – was sie in vielerlei Hinsicht tatsächlich<br />

tun. Die eine Zukunft, wie man sie sich das 20. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

hindurch vorgestellt hat – Hochhäuser, fliegende Autos <strong>und</strong> so<br />

weiter –, gibt es nicht mehr. Deswegen war es mir bei ›Umbauland‹<br />

wichtig, dass die Ideen überhaupt nichts mit neueren<br />

technischen Errungenschaften zu tun haben. Jetzt erlebt man<br />

eine neue Hungerkatastrophe. Die letzten zwanzig Jahre lang<br />

ging es immer darum, dass es ein Umverteilungsproblem<br />

sei. Eigentlich würde genug produziert, aber das Problem sei,<br />

dass nicht alle Leute genug Geld haben, um sich etwas zu<br />

kaufen. Und jetzt merkt man plötzlich, dass man an eine Grenze<br />

kommt. Beim Öl ist man ja schon an der Grenze angekommen.<br />

Auf einmal kann die Zukunft in allen möglichen Dingen<br />

bestehen. Früher bestand die Zukunft zum Beispiel in synthetischer<br />

Nahrung. Es kann plötzlich auch eine ganz neue Vegetarier-<br />

oder Veganer-Bewegung entstehen als die einzige<br />

Chance, wie alle noch genug zu essen hätten. Auch die chinesische<br />

Ein-Kind-Politik kann eine ganz andere Bedeutung<br />

bekommen. Zwangsmaßnahmen können aus einem Weltinteresse<br />

wieder aktuell werden. Genau wie es darum geht, eine<br />

Vereinbarung gegen den Klimawandel zu finden, könnte es<br />

auch ein Weltnahrungsabkommen geben: Wie viel Fleisch darf<br />

jeder Mensch essen? Müssen Länder mit hohem Fleischkonsum<br />

in Zukunft Strafe zahlen?<br />

Joseph Vogl spricht da<strong>von</strong>, dass im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

ein Gefühl für die Gleichzeitigkeit möglicher,<br />

paralleler Leben entstanden ist. Kleinste Abweichungen,<br />

winzige Alternativen können größtmögliche<br />

Divergenzen erzeugen. Wie lange planst<br />

Du Dein Leben voraus? Weißt Du, was Du in einem<br />

halben Jahr machen wirst <strong>und</strong> wie stellst Du Dir<br />

Dein Leben in fünf Jahren vor?<br />

Irgendwie verdammt wenig eigentlich. [lacht] Im Vergleich dazu,<br />

wie viel Gedanken ich mir über die Zukunft mache! Ich habe<br />

manchmal das Gefühl, ich lebe selbst parallel zur Welt. Ich lebe<br />

in einer Postadoleszenzphase, die bald zwanzig Jahre andauert<br />

<strong>und</strong> irgendwann folgt das Alter. Für andere Leute kann sich<br />

diese Zeit strukturieren, indem sie Kinder bekommen, eine<br />

feste Anstellung haben oder in einem bestimmten Karrierelevel<br />

ankommen. All das gibt es in meinem Leben nicht. Ich habe<br />

erreicht, vom Schreiben irgendwie leben zu können, mein Einkom<br />

men setzt sich aber jedes Jahr anders zusammen. Normaler<br />

weise gibt es diese Schriftstelleridee, dass man ein Buch<br />

nach dem anderen schreibt, dann schließt man einen Vertrag ab<br />

<strong>und</strong> erhält einen Vorschuss für das nächste Buch. Das Ziel ist,<br />

dass man sich soweit etabliert, dass dem eigenen Schreibtempo<br />

entsprechend Geld reinkommt. Eine zeitlang kann man<br />

das noch mit Stipendien auffüllen, aber irgendwann kommt man<br />

über die Grenze. Spätestens mit vierzig muss es dann funktionieren.<br />

Aber das gibt es nicht mehr, so eine Peter-Handke-<br />

Karriere. Man kann sich darauf nicht verlassen, selbst wenn du<br />

einen Bestseller schreibst. Ich finde das keine blöde Entwicklung,<br />

denn sonst kann es auch schrecklich langweilig sein.


WAS DU WISSEN SOLLTEST (DIE VERANTWORTUNG)<br />

ÖFFENTLICHE<br />

KULTURFÖRDERUNG<br />

HAT ZUKUNFT<br />

Ein Gespräch mit Alexander Farenholtz,<br />

Vorstand <strong>und</strong> Verwaltungsdirektor der<br />

Kulturstiftung des B<strong>und</strong>es,<br />

die Fragen stellte <strong>Jan</strong> Wenzel<br />

Bei dem Workshop in Kursdorf gab es während<br />

des Panels ›Die Zukunft der Arbeit‹<br />

eine Situation, in der Sie außergewöhnlich<br />

leidenschaftlich reagiert haben. Benjamin<br />

Foerster-Baldenius sprach im Zusammen -<br />

hang mit dem Flughafen da<strong>von</strong>, dass es viel<br />

unkomplizierter sei, mit privaten Unternehmen<br />

ein Kunstprojekt zu stemmen, als<br />

mit Hilfe der öffentlichen Hand. Warum hat<br />

Sie diese Aussage zu Widerspruch gereizt?<br />

Gr<strong>und</strong>sätzlich mag es ja richtig sein, dass<br />

vieles mit privater Unterstützung einfacher<br />

geht. Aber eine Betrachtung der Kulturförderung<br />

zu verkürzen auf die Kompliziertheiten,<br />

die mit öffentlicher Förderung<br />

verb<strong>und</strong>en sind, fi nde ich nicht sachgerecht.<br />

Denn die Zahl derjenigen, die die<br />

Chance haben, <strong>von</strong> einem Unternehmen<br />

oder einer Privatperson Geld zu bekommen,<br />

ist verschwindend gering, wenn man<br />

es mit dem vergleicht, was durch öffentliche<br />

Mittel an Förderung für Kulturprojekte<br />

ausgegeben wird. Im Hinblick auf<br />

die Abwicklung ist es sicher einfacher,<br />

einen privaten Partner zu haben, der eine<br />

Gr<strong>und</strong>sympathie für ein bestimmtes<br />

Projekt hat <strong>und</strong> der großzügig sein kann,<br />

weil es sein eigenes Geld ist. Ich empfehle<br />

jedem, der an private Gelder herankommt,<br />

diese Chance zu nutzen – schon um die<br />

öffentlichen Mittel zugunsten derjenigen zu<br />

schonen, die diese Möglichkeit nicht haben.<br />

Bei öffentlichen Förderungen mag das<br />

komplizierter sein, aber da handelt es sich<br />

auch um Steuergelder, die wir alle unter<br />

Nöten aufbringen müssen. Im Umgang mit<br />

diesen Geldern gibt es eine hohe<br />

<strong>Vera</strong>ntwortung, das liegt auf der Hand.<br />

Bei öffentlicher Kulturförderung ist der<br />

Aufwand bei der Verwaltung <strong>und</strong><br />

Abrechnung der Gelder recht hoch – aber<br />

gibt es nicht auch bei privater Förderung<br />

Erwartungen an diejenigen, denen Geld zur<br />

Verfügung gestellt wird?<br />

Ehrlich gesagt, nicht nur Erwartungen,<br />

sondern manchmal regelrecht Besetzungen.<br />

Ich fi nde, es macht nach wie vor einen<br />

Unterschied, ob eine öffentliche <strong>Vera</strong>nstaltung<br />

durch irgendeinen Firmennamen<br />

markiert ist oder durch öffentliche Mittel<br />

fi nanziert wird <strong>und</strong> dann dort steht:<br />

Finanziert durch das Land Baden-Württemb<br />

erg oder das Land Sachsen-Anhalt<br />

oder die Kulturstiftung des B<strong>und</strong>es eben.<br />

Vor kurzem hatte ich ein Gespräch mit<br />

einem Vertreter eines wichtigen Museums<br />

in München, einer Stadt, wo man noch<br />

verhältnismäßig schnell an private Mittel<br />

herankommt. Er sagte, es ist in der<br />

Tat komplizierter, mit der öffentlichen<br />

Hand Fördermittel abzurechnen, aber sie<br />

ziehen diese Möglichkeit trotzdem vor,<br />

um die Privatisierung kultureller Angebote<br />

nicht noch zu beschleunigen.<br />

Der Workshop in Kursdorf kreiste um das<br />

Thema Zukunft. Was denken Sie, wie wird<br />

sich die gesellschaftliche Stellung <strong>von</strong><br />

Kultur verändern, wenn die Privatisierung<br />

kultureller Angebote fortschreitet? Wo sehen<br />

Sie die Chancen, aber auch die Risiken eines<br />

verstärkten kulturellen Engagements<br />

privater Unternehmen?<br />

Was sich verändert, ist der Stellenwert <strong>von</strong><br />

bürgerschaftlicher <strong>Vera</strong>ntwortung für<br />

Kultur, aber auch für Soziales oder Sport.<br />

Die Frage ist, gibt es jenseits der staatlichen<br />

Fürsorge – also der staatlichen<br />

<strong>Vera</strong>ntwortung – für bestimmte Aufgaben<br />

auch so etwas wie eine bürgerschaftliche<br />

Verpfl ichtung, die aus der Sozialgeb<strong>und</strong>enheit<br />

des Eigentums erwächst?<br />

Auf mich wirkt diese Vorstellung immer<br />

etwas romantisch. Aber ich will gar nicht<br />

bestrei ten, dass die Kultur in unserer<br />

Gesellschaft durch solche vorkapitalis tischen<br />

oder früh kapitalistischen Haltungen<br />

mit geprägt ist ...<br />

Sie meinen Mäzenatentum?<br />

Macht es einen Unterschied, ob eine<br />

Kulturveranstaltung <strong>von</strong> der öffent li chen<br />

Hand oder <strong>von</strong> privaten Sponsoren<br />

gefördert wird? Alexander Farenholtz<br />

ist ein ausgewiesener Spezialist,<br />

wenn es um die wirtschaft liche Seite<br />

<strong>von</strong> Kultur geht. Anfang der neunziger<br />

Jahre war er als Geschäftsführer<br />

für das Bestehen der documenta IX<br />

Was Mäzenatentum geleistet hat <strong>und</strong> noch<br />

leistet, basiert ja in gewisser Weise auf<br />

dem Gutdünken desjenigen, der privilegiert<br />

ist. Die Vorstellung, dass aus Privilegien<br />

auch Pfl ichten erwachsen, will ich dabei<br />

gar nicht diskreditieren, das ist ja durchaus<br />

wünschenswert. Persönlich neige ich aber<br />

mehr der Vorstellung zu, dass es bestimmte<br />

Ansprüche der Bürgerinnen <strong>und</strong> Bürger<br />

gegenüber ihrem Staat gibt – wozu auch<br />

der Anspruch auf Kultur gehört.<br />

An sprüche, die sich die Bürger erstritten<br />

haben <strong>und</strong> immer neu erstreiten müssen.<br />

Aber deshalb arbeite ich wahrscheinlich<br />

auch bei der Kulturstiftung des B<strong>und</strong>es <strong>und</strong><br />

nicht bei irgendeiner privaten Stiftung.<br />

Mir hat auf einer privaten Englandreise die<br />

Haltung eines älteren britischen Ehe paares<br />

gefallen, die sich über die aus unerfi ndlichen<br />

Gründen geschlossenen Tore eines<br />

Schlossmuseums irgendwo auf dem Lande<br />

mit dem Ausruf empörten: »It belongs to<br />

the Nation!«, womit sie offen k<strong>und</strong>ig<br />

sich selber auch ganz persön lich meinten.<br />

Das korrespondiert übrigens mit dem<br />

verbreiteten ehrenamtlichen Engage ment<br />

vieler Briten im kulturellen Bereich.<br />

Oft ist die Frage, wie gestaltet sich das<br />

Verhältnis zwischen demjenigen, der Geld<br />

gibt <strong>und</strong> demjenigen, der es in Anspruch<br />

nimmt. Welche Prinzipien wären für Sie da<br />

besonders wichtig?<br />

Die Kulturstiftung des B<strong>und</strong>es unter scheidet<br />

sich <strong>von</strong> anderen staatlichen Förderungen<br />

unter anderem dadurch, dass wir<br />

häufi g auch an inhaltlichen Debatten<br />

teilnehmen. Sei es, dass wir Projekte selber<br />

entwickeln, sei es, dass wir im Zuge der<br />

Realisierung gefragt werden, weil man bei<br />

uns einen gewissen Sachverstand<br />

vermutet.<br />

So etwas ist auf der einen Seite außerordent<br />

lich erfreulich – so verstehen wir uns<br />

auch, als Partner, deswegen gibt es bei<br />

uns auch keine Zuwendungsbescheide,<br />

sondern es gibt Verträge auf gleicher Augenhöhe<br />

– auf der anderen Seite ist natürlich<br />

die Einfl ussnahme desjenigen, der über<br />

das Geld verfügt, immer ein zweischnei diges<br />

Schwert. Man muss da sehr stark<br />

acht geben, dass man den Umstand,<br />

derjenige zu sein, der das Geld hat, nicht<br />

dazu missbraucht, Positionen, die der<br />

Partner <strong>von</strong> sich aus nicht vertreten würde,<br />

durchzusetzen.<br />

Ich finde die Selbstbeschränkung, <strong>von</strong> der<br />

Sie sprechen, sehr wichtig. Machen Sie eine<br />

solche Haltung auch öffentlich?<br />

Nein, als Haltung thematisieren wir das<br />

nicht. Worauf wir aufmerksam machen, ist,<br />

dass durch uns öffentliche Mittel zur<br />

Förderung <strong>von</strong> Kultur eingesetzt werden.<br />

Damit das auch in Zukunft so bleibt, ist es<br />

meiner Meinung nach wichtig, sichtbar<br />

zu machen, wo überall öffentliche Mittel<br />

Ver wendung fi nden. Der Zweck ist natürlich<br />

auch, die Proportionen zwischen<br />

den öffentlichen Beiträgen, <strong>und</strong> den verhältnismäßig<br />

geringen privaten Mitteln,<br />

die in die Kultur fl ießen, deutlich zu<br />

machen. Das ist politisch enorm wichtig,<br />

auch weil wir dafür streiten müssen, dass<br />

der öffentliche Anteil in Zukunft nicht<br />

geringer wird.<br />

In den Gesprächen, die wir für die Dokumentation<br />

des Diskursdorf-Workshops führen,<br />

interessiert uns immer auch, welchen<br />

Stellenwert die Zukunft als Zeithorizont für<br />

den Einzelnen hat, wie weit man vorausplant<br />

<strong>und</strong> wie stark man das eigene Leben<br />

<strong>von</strong> Unwägbarkeiten <strong>und</strong> überraschenden<br />

Wendungen durchzogen sieht. Wie ist das<br />

bei Ihnen?<br />

Mein bisheriges berufl iches Leben hat sich<br />

sehr stark in Zeiträume <strong>von</strong> fünf Jahren<br />

unterteilt. Meist habe ich fünf Jahre lang<br />

eine Aufgabe gemacht <strong>und</strong> bin dann<br />

zu etwas anderem gewechselt. Das ist<br />

eigentlich seit meinem Studium so. Nach<br />

drei bis vier Jahren setzt eine innere<br />

Unruhe ein, <strong>und</strong> ich sage mir, jetzt ist es<br />

Zeit, mir etwas Neues auszudenken.<br />

Das ändert sich, je älter man wird <strong>und</strong><br />

sieht, dass nicht mehr so viele Fünfjahre szyklen<br />

zu erwarten sind. – Wenn man<br />

länger als drei oder vier Jahre in einer Position<br />

arbeitet, lernt man aber etwas, was<br />

sich bei kürzeren Zeiträumen in der Regel<br />

vermeiden lässt, nämlich, dass einem<br />

Fehler, die man gemacht hat, irgendwann<br />

wieder begegnen. Das ist ein sehr<br />

gutes Korrektiv.<br />

Vor einigen Wochen habe ich ein Interview<br />

mit dem Philosophen Ludger Heidbrink über<br />

die kulturelle Dimension des Klimawandels<br />

geführt. Heidbrink äußerte die Hypothese,<br />

dass uns das Imaginations potential für die<br />

Zukunft abhanden ge kom men sei.<br />

Gleichzeitig kann man im kulturellen Feld<br />

in den letzten Monaten ein wachsendes<br />

In teresse am Thema Zukunft entdecken.<br />

Was ist Ihre Meinung, wie wichtig<br />

ist es, gesellschaftliche Zukunftsbilder zu<br />

formulieren, sie spielerisch zu erproben<br />

oder kritisch zu testen?<br />

So allgemein lässt sich das schwer beantworten.<br />

Da kommt man schnell zu Plattitüden.<br />

Damit kann ich eigentlich immer<br />

weniger anfangen. – Aber ich gebe<br />

Ihnen ein Beispiel, weil es eine Diskussion<br />

13<br />

verantwortlich, ab 1997 hat er als Leiter<br />

des Kulturprogramms <strong>und</strong> Gesamtprokurist<br />

auf die Expo 2000 in Hannover<br />

zugearbeitet. Dabei nahm seine Karriere<br />

ihren Anfang in der Politik. Seit 2002<br />

bestimmt er als Vor stand <strong>und</strong> Verwaltungsdirektor<br />

die Ge schicke der Kulturstiftung<br />

des B<strong>und</strong>es maßgeblich mit.<br />

widerspiegelt, die wir heute in unserem<br />

Team geführt haben. Da war die Frage,<br />

ob wir als Stiftung nicht stärker im Internet<br />

kommunikativ vertreten sein sollten –<br />

zum Beispiel in Form eines Blogs.<br />

Die Gefahr könnte sein, dass wir uns ansons<br />

ten abkoppeln <strong>von</strong> einer jungen Generation<br />

<strong>von</strong> Akteuren, für die das Alltag ist.<br />

Ich habe mir die Frage gestellt, ob man<br />

einen solchen Trend ohne Weiteres<br />

übernehmen muss, oder ob nicht vielmehr<br />

der Anspruch sein müsste, Kom mu ni kationsformate<br />

zu fi nden, die eine persönliche<br />

Begegnung wieder verstärken.<br />

Wir haben dann als Ergebnis dieser Diskussion<br />

überlegt, vielleicht könnte ein Charakteristikum<br />

der Blogs der Kultur stiftung<br />

des B<strong>und</strong>es sein, dass sie immer in irgendeiner<br />

Form mit tatsächlichen Begeg nungen<br />

– mit abschließenden, beglei tenden oder<br />

solchen, die man gerade be ginnt – verknüpft<br />

sein könnten. Die Vorstellung, dass<br />

uns jetzt lauter Leute irgendwie anmorsen<br />

auf diesen Blogs <strong>und</strong> dass das im Gr<strong>und</strong>e<br />

genommen ohne jede Reaktion bleibt,<br />

kam mir vor wie ein Beichtstuhl, wo<br />

irgendjemand vor sich hin blubbert, aber<br />

es passiert nichts, außer, dass er sich selber<br />

erleichtert fühlt. Und die Funktion, die<br />

müssen wir nicht übernehmen. Ich weiß<br />

nicht, wie sehen Sie das?<br />

Aus meiner Perspektive als Künstler <strong>und</strong><br />

Publizist können Blogs relevant sein sowohl<br />

als Ergänzung, aber auch als ernst zu<br />

nehmendes Korrektiv <strong>und</strong> Gegenbild zu den<br />

so genannten alten Medien, beispielsweise<br />

den Tageszeitungen. Das hat sich neulich im<br />

Zusammenhang mit dem Tibet-China-<br />

Konflikt wieder bewiesen. Auch der Perlentaucher,<br />

dessen englischsprachige Ausgabe<br />

›signandsight‹ die Kulturstiftung des Bu n -<br />

des gefördert hat, berücksichtigt in seiner<br />

Feuilleton-Auslese seit einiger Zeit Blog-<br />

Beiträge. Denn es gibt viele Blogs neben den<br />

privatistischen Beichtstühlen, <strong>von</strong> denen Sie<br />

sprechen, die ähnlich wie ein Feuilleton<br />

Kultur <strong>und</strong> Gesellschaft reflek tie ren.<br />

Nur ist es nicht so einfach, genau diese Blogs<br />

zu finden. Wenn die Kultur stif tung des<br />

B<strong>und</strong>es einen Blog einrichten würde, dann<br />

könnten darin wissenswerte Informationen<br />

in Bezug auf die Entwicklung der Förderpolitik<br />

zu lesen sein, denn darin kennt<br />

sich Ihre Stiftung aus. Außerdem könnten<br />

Sie das Entstehen programmatischer<br />

Förderschwerpunkte dort transparent<br />

machen, indem Sie etwa einzelne Rechercheschritte<br />

veröffentlichen oder die Relevanz<br />

einzelner Themen diskutieren. Das sind sehr<br />

spontane Ideen. – In den meisten Fällen<br />

wird ein Blog <strong>von</strong> einem Autor oder einer<br />

Autorin <strong>und</strong> deren jeweiligen Interessen <strong>und</strong><br />

Meinung belebt. Es wäre interessant zu<br />

sehen, wie sich ein solches Prinzip auf eine<br />

Institution übertragen lässt.


WAS DU WISSEN SOLLTEST (DIE DEMOKRATIE) 14<br />

»WIR WOHNEN AN DER<br />

LÄRMMÜLLDEPONIE«<br />

Ein Gespräch mit Thomas Pohl,<br />

Vorstandsmitglied der IG Nachtfl<br />

ugverbot Leipzig/ Halle e.V.,<br />

die Fragen stellten <strong>Jan</strong> <strong>Caspers</strong><br />

<strong>und</strong> <strong>Jan</strong> Wenzel.<br />

— War die Nordbahn des Flughafens schon in Planung als<br />

sie 1996 ihr Haus in Rackwitz bauten?<br />

— Ja, es gab bereits eine Grobplanung. Nur, dass die Bürger<br />

darüber nichts erfahren haben. Im Gegenteil, der Bürgermeister<br />

der Gemeinde Rackwitz als Verkäufer des Gr<strong>und</strong>stücks,<br />

hatte uns versichert, dass es keine Absichten zum Ausbau des<br />

Flughafens gibt. Da er als Bürgermeister automatisch in<br />

der Fluglärmkommission des Flughafens Mitglied war, wusste<br />

er <strong>von</strong> den Ausbauplänen <strong>und</strong> hat uns im Prinzip belogen.<br />

Auch auf Nachfragen der Gr<strong>und</strong>stücksinteressenten kamen<br />

<strong>von</strong> ihm immer wieder abwiegelnde Äußerungen. Den Satz,<br />

»das Lauteste, was Sie hier hören werden, ist das Rauschen<br />

der Pappeln«, haben viele <strong>von</strong> uns noch im Ohr. Als die<br />

Nordbahn dann im Jahr 2000 in Betrieb ging, habe ich das erste<br />

Mal begriffen, was Fluglärm ist. Vorher dachte ich, okay, das<br />

wird nicht schlimmer sein, als wenn ein großer LKW die Straße<br />

entlangfährt, außerdem will man ja der wirtschaftlichen<br />

Entwicklung des Flughafens nicht entgegenstehen. Ich habe<br />

mich damals auch noch nicht an den Protesten beteiligt, denn<br />

ich dachte: Das wird schon nicht so schlimm.<br />

— Herr Pohl, wie würden Sie Fluglärm beschreiben?<br />

— Fluglärm ist der schädlichste Lärm aller Verkehrsträger. Sie<br />

hören aus der Entfernung ein Dröhnen, so eine Art Grollen,<br />

<strong>und</strong> denken, ist das jetzt der Beginn eines starken Gewitters?<br />

Aber das Geräusch wird immer stärker, immer stärker, <strong>und</strong><br />

dann denken Sie, das Ding muss doch jetzt bald mal über dem<br />

Haus sein. Wenn wir dann endlich überflogen worden sind,<br />

dauert es noch etwa eine Minute bis der Lärm verschw<strong>und</strong>en<br />

ist, dann kommt aber schon das nächste Flugzeug, das<br />

Ganze geht <strong>von</strong> Neuem los. Bei uns im Wohngebiet gibt es<br />

in 300 Meter Höhe Überflüge mit teils über 90 dB(A).<br />

Dabei soll man normalerweise ab 80 dB(A) einen Hörschutz<br />

tragen. Das Dröhnen ist manchmal so stark, dass die Wände<br />

wackeln <strong>und</strong> die Heizkörper im Haus anfangen zu vibrieren.<br />

Auch, weil da alte, zu Frachtmaschinen umgebaute, ausrangierte<br />

Passagierflugzeuge landen. Da helfen keine Lärmschutz<br />

fenster!<br />

— Seit wann haben Sie die Probleme mit dem Fluglärm?<br />

— Im Prinzip seit der Inbetriebnahme der Nordbahn im Jahr<br />

2000. Wobei die Anzahl der Flüge, <strong>und</strong> damit auch der Fluglärm,<br />

in den letzten Jahren stark angestiegen ist. Darunter fällt<br />

nicht nur der unerträgliche Überfluglärm, sondern auch der<br />

Bo den lärm. Der ist vor allem im Leipziger Westen, in Lützschena,<br />

in Stahmeln, in Wahren stark. Dort wurde im Frühjahr dieses<br />

Jahres auch die Südabkurvung wieder in Betrieb genommen.<br />

Unter den Einflugschneisen, die in der Nacht beflogen wer -<br />

den, sind es ungefähr 100.000 Menschen, die in jeder Nacht um<br />

ihren Schlaf gebracht werden. Hier darf nachts uneingeschränkt<br />

alles fliegen, was in Europa auch gerade noch so zugelassen<br />

ist. Das ist einmalig auf europäischen Zivilflughäfen. Sie finden<br />

keinen vergleichbaren Flughafen, wo nachts ganz offiziell soviel<br />

Lärm erlaubt ist. Nach dem Urteil des B<strong>und</strong>esverwaltungsgerichtes<br />

hat das Regierungspräsidium Leipzig als so genannten<br />

Ausgleich für die Bevölkerung Passagiermaschinen in der<br />

Nacht <strong>von</strong> 23.30 bis 5.30 Uhr verboten. Das war das kleinste<br />

Übel. Aber ohne die Anwohnerproteste wäre selbst das nicht<br />

passiert. Condor <strong>und</strong> Air Berlin haben dagegen sofort Klage<br />

eingereicht. Dazu gab es schon ein Eilverfahren, das die beiden<br />

Fluggesellschaften vor dem B<strong>und</strong>esverwaltungsgericht verloren<br />

haben. Das Hauptsacheverfahren findet voraussichtlich<br />

am 15. Juli 2008 in Leipzig statt.<br />

— Sie haben vor kurzem auf einer Demonstration vor<br />

der Leipziger Nikolaikirche den Flughafen als »Lärmmülldeponie<br />

Europas« bezeichnet. Liegt in den fehlenden<br />

Nacht flugauflagen nicht ein Standortvorteil, der dem<br />

Flughafen Wettbewerbsvorteile bringt?<br />

— Auf jeden Fall ist das ein Standortvorteil für den Flughafen,<br />

dass keine Rücksicht auf die Belange der Anwohner genommen<br />

werden muss. Für die Menschen in der Region ist das der<br />

Super-Gau. Es gibt schon einige Anwohner, die sich in ärztliche<br />

Behandlung begeben haben, weil sie durch permanenten<br />

Schlaf mangel unter Bluthochdruck leiden. Nur in der Nacht<br />

<strong>von</strong> Sonnabend auf Sonntag können wir relativ gut durchschlafen,<br />

spätestens in der Nacht <strong>von</strong> Sonntag auf Montag ist<br />

Thomas Pohl engagiert sich in der IG<br />

Nachtfl ugverbot Leipzig/Halle e.V. –<br />

einem Verein mit 330 Mitgliedern <strong>und</strong><br />

einigen zehntausend Sympathisanten.<br />

Er hat triftige Gründe. Denn das<br />

Fertighaus, das er sich 1996 mit seiner<br />

Familie in Rackwitz bei Leipzig gebaut<br />

hat, steht inzwischen direkt in der<br />

Einfl ugschneise der Nordbahn des<br />

Flughafens.<br />

der Fluglärm so stark, da schlafen wir erst schlecht ein, <strong>und</strong><br />

spätestens dann um 3.00 Uhr ist die Nacht für uns zu Ende.<br />

Im Minutentakt donnern dann die Frachtmaschinen über unser<br />

Wohngebiet, dann liegen wir im Bett <strong>und</strong> zählen die Flieger bis<br />

zum Weckerklingeln. Und das geht dann die ganze Woche so.<br />

Der Flughafen sagt, das müsst ihr hinnehmen, weil Arbeitsplätze<br />

geschaffen werden. In den Zeitungen liest man, dass bei<br />

DHL 3.500 Arbeitsplätze entstehen sollen. Weitere 10.000<br />

sollen wohl im Umfeld geschaffen werden. Auch die Zahl <strong>von</strong><br />

100.000 Arbeitsplätzen wurde schon genannt. Über Sinn oder<br />

Unsinn solcher Prognosen wird nicht diskutiert.<br />

Wir gehen da<strong>von</strong> aus, dass es bei diesem hohen Automati sierungs<br />

grad nicht mehr als 1.600 Vollzeitarbeitsplätze werden.<br />

Erst werden hier Millionensubventionen für die Ansiedlung<br />

abgefasst <strong>und</strong> dann zieht man bei Protesten weiter. Dann geht<br />

das Spiel <strong>von</strong> vorn los. In Brüssel wurden bei der Verlage rung<br />

des Drehkreuzes über 1.500 Menschen in Vollzeit entlassen,<br />

in Köln/Bonn hat sich DHL zurückgezogen, <strong>und</strong> auch in Berlin<br />

wurden Menschen entlassen. Ganz aktuell berichtet DHL<br />

über die Schließung seines Drehkreuzes im amerika nischen<br />

Wilmington, dort stehen 4.000 Arbeitnehmer vor dem Aus.<br />

Es werden vielmehr Menschen entlassen, als nun eingestellt<br />

werden. Aber da<strong>von</strong> hören sie bei all dem Jubel, den die Presse<br />

verbreitet, nichts.<br />

— Sehen Sie im Flughafen ein Beispiel wirtschaftlicher<br />

Deregulierung?<br />

— Das könnte man so sehen. Denn den Rechtsrahmen für den<br />

Flughafen gibt das Regierungspräsidium in einem so genannten<br />

Planfeststellungsbeschluss vor. Dieser Planfeststellungsbeschluss<br />

ist schon einmal geändert <strong>und</strong> einmal ergänzt<br />

worden – der gesetzliche Rahmen wird dabei maximal aus genutzt.<br />

In der EU dürfen Flugzeuge der Chapter-3- <strong>und</strong> der<br />

Chapter-4-Kategorie fliegen. Aber man muss auch wissen, je<br />

größer das Flugzeug ist <strong>und</strong> je mehr Fracht es transportieren<br />

kann, umso lauter darf es auch in absoluten Werten sein.<br />

So ist beispielsweise eine MD 11 in der Chapter-4-Kategorie,<br />

das heißt, sie ist in der leisesten Kategorie eingestuft, aber<br />

auf gr<strong>und</strong> ihrer Größe ist es das mit Abstand lauteste Flugzeug<br />

überhaupt. Jeder Flughafenbetreiber tut gut daran, mit den<br />

Anwohnern einen Kompromiss zu suchen. Der Flughafenchef<br />

hier ist daran überhaupt nicht interessiert. Er ist kompromisslos<br />

<strong>und</strong> spricht ständig nur <strong>von</strong> einem »Zielkonflikt«, der<br />

2004 hatte DHL entschieden, sein Frachtdrehkreuz<br />

<strong>von</strong> Brüssel nach Leipzig zu<br />

verlagern. In der belgischen Hauptstadt<br />

war aufgr<strong>und</strong> <strong>von</strong> Anwohnerprotesten<br />

eine Ausweitung des Nachtfl ugverkehrs<br />

politisch nicht druchsetzbar. Seit DHL<br />

im April dieses Jahres den Betrieb seines<br />

neuen Drehkreuzes in Leipzig aufgenommen<br />

hat, schlafen Thomas Pohl <strong>und</strong><br />

seine Familie schlechter.<br />

nicht zu lösen sei <strong>und</strong> damit hat sich die Sache für ihn erledigt.<br />

Schlimm genug, dass man ein Luftfrachtdrehkreuz mitten<br />

in eine dicht besiedelte Region, wie es Leipzig/ Halle ist, implantiert<br />

hat, das war auch keine wirtschaftliche Entscheidung, es<br />

war ganz klar eine politische Entscheidung.<br />

Und als ob der Lärm, der <strong>von</strong> diesem Frachtdrehkreuz ausgeht,<br />

nicht schon genug ist, nein, man installiert auch gleich noch<br />

eine Militärdrehscheibe, mit all dem zusätzlichen Fluglärm.<br />

Diese Militärflüge waren nicht Gegenstand des Planfeststellungsbeschlusses.<br />

Das Regierungspräsidium wäre norma lerweise<br />

jetzt in der Pflicht, die harten Vorgaben der B<strong>und</strong>esver<br />

waltungsrichter umzusetzen <strong>und</strong> die Anwohner vor weitergehendem<br />

Lärm zu schützen. Das machen sie aber nicht,<br />

sie sagen, ihnen seien die Hände geb<strong>und</strong>en. Das ist doch eine<br />

Farce.<br />

— Vereinfacht gesagt, der Freistaat müsste jetzt gegen<br />

sich selbst entscheiden.<br />

— Ja. – Meiner Meinung nach war das Verfahren <strong>von</strong> Anfang<br />

auf Konfrontation angelegt. Wahrscheinlich hat die Lan desregierung<br />

in Sachsen gedacht, im Osten geht alles, da klagt<br />

schon niemand, wenn sie mit dem Totschlagargument<br />

Arbeitsplätze kommt. Aber da hat sich die Politik gründlich ver -<br />

spekuliert. Bereits im Jahr 2002 hat der Europäische Gerichtshof<br />

für Menschenrechte in Straßburg nach Anwohner klagen<br />

für London-Heathrow die bis dato stattfindenden 17 Nachtflüge<br />

als Menschenrechtsverletzung verurteilt. Darauf hin durfte<br />

nachts nicht mehr über Heathrow geflogen werden.<br />

Hier in Leip zig fliegt allein schon DHL mit etwa 60 Frachtmaschinen<br />

in jeder Nacht. Dazu kommen dann noch die Flüge<br />

<strong>von</strong> LufthansaCargo mit ihren lauten MD 11 <strong>und</strong> die schon erwähnten<br />

Truppentransporte. Außerdem wurde am Flughafen<br />

eine Wartungsbasis gebaut, um eines der größten Frachtflug -<br />

zeuge der Welt, die Antonov 124-100, zu jeder Tages- <strong>und</strong><br />

Nachtzeit warten zu können. Eingesetzt wird sie überwiegend<br />

für das (vorläufige) NATO-Militärprojekt SALIS (Strategic<br />

Airlift Interim Solution). Bei Anforderung darf der russische<br />

Großraumtransporter zu jeder Tages- <strong>und</strong> Nachtzeit in internationale<br />

Kriegseinsätze fliegen. Beauftragt mit den Transpor ten<br />

im geschätzten Umfang <strong>von</strong> 1,2 Milliarden Euro, ist das<br />

›zivile‹ Unternehmen Ruslan Salis GmbH, ein Tochterunternehmen<br />

einer russischen Firma mit Sitz am Flughafen Leipzig/<br />

Halle. Sechzehn NATO-Mitglieder können Aufträge vergeben,


WAS DU WISSEN SOLLTEST (DIE DEMOKRATIE) 15<br />

die dann innerhalb <strong>von</strong> 72 St<strong>und</strong>en abgewickelt werden.<br />

Herr Malitzke, der Geschäftsführer des Flughafens, sprach vor<br />

kurzem da<strong>von</strong>, in wenigen Jahren könnte sich die Anzahl der<br />

Nachtflüge verdoppeln. – Das ist reiner Sarkasmus gegenüber<br />

den Anwohnern. Wir schätzen, dass hier jetzt schon jede<br />

Nacht mindestens 75 Flugzeuge über unsere Köpfe donnern.<br />

Der Flughafen hat eine Kapazität pro Bahn <strong>von</strong> ungefähr<br />

40 Flugzeugen in der St<strong>und</strong>e. Das heißt, 80 Flugzeuge auf beiden<br />

Bahnen wären eine Vollauslastung pro St<strong>und</strong>e. Da können<br />

Sie sich vorstellen, wie viele Flugzeuge hier pro Nacht zwischen<br />

22.00 <strong>und</strong> 6.00 Uhr künftig noch starten <strong>und</strong> landen<br />

könnten. Der Lärm heute ist erst der Anfang. Denn es gibt im<br />

Planfeststellungsbeschluss keine Kontingentierung.<br />

— Sie weisen auf Ihrer Homepage auf ein Verfahren hin,<br />

das der EU-Wettbewerbskommissar seit 2006 gegen den<br />

Leipziger Flughafen führt. Warum?<br />

— Das Verfahren betrifft die staatlichen Beihilfen an den<br />

Flughafen beziehungsweise an DHL. Es geht darum, dass sie<br />

als nicht rechtskonform angesehen werden, weil DHL<br />

schon 28 % direkte Subventionen für ihre Investition am Flughafen<br />

bekommen hat, womit die maximale Förderung ausgeschöpft<br />

ist, die an ein Wirtschaftsunternehmen gehen kann.<br />

70,8 Millionen Euro, bezahlt vom Freistaat Sachsen. Beim Bau<br />

der Südbahn geht man da<strong>von</strong> aus, dass sie nur für DHL gebaut<br />

worden ist, damit DHL uneingeschränkt fliegen kann. Der<br />

Bau der Südbahn war eine Gr<strong>und</strong>vorausetzung für die Zusage<br />

<strong>von</strong> DHL, sich hier anzusiedeln. Die interkontinental-taugliche<br />

Nordbahn hatte gerade mal eine Auslastung <strong>von</strong> 25 %. Das<br />

ist der EU-Kommission zu Recht ein Dorn im Auge, daher<br />

finden derzeit immer noch Ermittlungen statt. Außerdem sind<br />

die Mieten, die DHL für die Infrastruktur des Flughafens bezahlen<br />

muss, nicht marktüblich, sie liegen weit darunter. Hinzu<br />

kommen vergleichsweise niedrige Start- <strong>und</strong> Landeentgelte.<br />

Je mehr DHL-Flugzeuge fliegen, umso billiger wird es für jedes<br />

einzelne Flugzeug. DHL wird <strong>von</strong> den meisten Lokalpolitikern<br />

als ein Leuchtturm bezeichnet, auf den die Region nicht verzich<br />

ten kann. Es heißt, das DHL-Luftfrachtdrehkreuz wird<br />

ge braucht, damit der Flughafen wirtschaftlich arbeiten kann.<br />

Aber genau das Gegenteil ist der Fall. Seit Jahren zahlen<br />

die Anteil seigner etwa 37 Millionen Euro Steuergelder im Jahr<br />

für die Verluste des hochdefizitären Flughafens. Die EU geht<br />

da<strong>von</strong> aus, dass aufgr<strong>und</strong> der mit DHL abgeschlossenen<br />

Verträge die Verluste des Flughafens weiter steigen werden.<br />

Der Flug ha fen kann so nicht wirtschaftlich betrieben werden.<br />

Die Verein ba rung mit DHL nennt außerdem namentlich<br />

Frachtunterneh men, die sich nicht am Vorfeld niederlassen<br />

dürfen. Auch das ist ein Verstoß gegen den Wettbewerb<br />

in der EU.<br />

— Was ist Ihre Interpretation, warum schließt ein Unter nehmen<br />

solche Vereinbarungen?<br />

— Man will auf Teufel komm raus DHL an sich binden. Als Un -<br />

ter nehmen wäre ich auch froh, wenn man mir für die näch sten<br />

30 Jahre den Ausschluss jeglicher Nachtflugbeschrän kungen<br />

vertraglich garantieren würde. Sollte es im Laufe <strong>von</strong> drei<br />

Jahrzehnten irgendeine gesetzliche Beschränkung für die<br />

Nacht geben, kostet das den Freistaat Sachsen 500 Mio. Euro.<br />

Eine halbe Milliarde Euro, ein Wahnsinn! Der Flughafen wird<br />

<strong>von</strong> der Mitteldeutschen Flughafen AG betrieben, die auch den<br />

Flughafen Dresden betreibt. Den größten Anteil am Unternehmen<br />

hat mit über 73 % das Land Sachsen. Sachsen-Anhalt,<br />

Leipzig <strong>und</strong> Dresden halten geringere Anteile. Die Stadt Halle<br />

besitzt seit Mai 2008 nur noch einen symbolischen Anteil<br />

<strong>von</strong> 0,2 %. Private Anteilseigner gibt es nicht. Die wären bei<br />

den hohen Verlusten des Flughafens schon lange pleite!<br />

— Sie leisten als Verein sehr viel Recherchearbeit,veröffent<br />

lichen Zahlen über Flugbewegungen <strong>und</strong> Angaben zu<br />

dem laufenden EU-Verfahren. Ist es für Sie als Bürger<br />

schwierig, an dieses Material heranzukommen?<br />

— Wir investieren in die Recherchearbeit sehr viel Zeit. Aber<br />

nur so kann man die Verstrickung <strong>von</strong> Wirtschaft <strong>und</strong> Politik<br />

aufdecken. Wir staunen immer wieder über die Skrupellosigkeit<br />

der Lobbyisten. Wie am Flughafen ohne Aufklärung der Bevöl<br />

kerung Fäden gesponnen werden, erschreckt uns seit langem.<br />

Deshalb ist die Klage der Anwohner nur allzu verständlich,<br />

sonst käme wahrscheinlich nichts da<strong>von</strong> ans Tageslicht. Der<br />

Flughafen hält sich mit Informationen komplett zurück, alles sei<br />

Betriebsgeheimnis, heißt es lapidar. Selbst die Passagierstatis<br />

tik ist nicht transparent. Angaben darüber, wo die Passagiere<br />

herkommen <strong>und</strong> wo sie hingeflogen sind <strong>und</strong> um was für<br />

Transitpassagiere es sich hier handelt – alles Fehlanzeige. Der<br />

Flughafen Leipzig/Halle hat nach unserem Kenntnisstand fast<br />

ausschließlich amerikanische US-Soldaten als Transitpassa<br />

giere. Die Flugzeuge machen hier eine Zwischenlandung, um<br />

neu aufgetankt zu werden. Außerdem werden die Soldaten<br />

mit Lebensmitteln versorgt. Weiter geht es dann in die Kriegsgebiete.<br />

Wenn zum Beispiel für März 2008 46.393 Transit pas -<br />

sa giere in der uns vorliegenden Statistik bei insgesamt<br />

179.520 Passagieren genannt werden, können Sie da<strong>von</strong> ausge<br />

hen, dass es sich bei den Transitpassagieren um US-Soldaten<br />

handelt, die auf dem Weg in den Irak oder nach Afghanistan<br />

hier zwischenlanden. Jeder 4. Passagier in der offiziellen<br />

Passagierstatistik ist mittlerweile ein US-Soldat.<br />

— Der Begriff Frachtdrehkreuz ist bekannt. Was ist ein<br />

Militär drehkreuz?<br />

— Georg Milbradt, der damalige Ministerpräsident, hatte sich<br />

massiv dafür eingesetzt, dass Leipzig/ Halle das Frachtdreh -<br />

kreuz bekommt. Die Vision eines Interkontinentalflughafens, wie<br />

sie Anfang der neunziger Jahre bestand, war wie eine Seifenblase<br />

zerplatzt. Angesichts der derzeitigen Entwicklung am<br />

Flughafen bekommt das Wort ›Interkontinental‹ eine ganz neue<br />

Bedeutung. Vor allem für den Transport <strong>von</strong> Paketen <strong>und</strong><br />

US-Soldaten werden die Interkontinentalverbindungen genutzt.<br />

Ob das wirklich im öffentlichen Interesse liegt?<br />

In der Zeit, als die Ansiedlung <strong>von</strong> DHL in greifbare Nähe<br />

rückte, wurden auch schon Fäden mit dem amerikanischen Verteidigungsministerium<br />

gesponnen, um diesen Flughafen mit<br />

seiner 24-stündigen uneingeschränkten Betriebserlaubnis auch<br />

vom US-Militär nutzen zu können. Dass der Flughafen nicht<br />

nur Frachtdrehkreuz, sondern auch Militärdrehkreuz geworden<br />

ist, wird vom Flughafen <strong>und</strong> <strong>von</strong> der Politik vehement bestritten.<br />

Die US-Truppentransporte, die <strong>von</strong> Privatunternehmen durchgeführt<br />

werden, sind funktional betrachtet Militärflüge.<br />

Sie werden vom Air Mobility Command (Hauptkommando der<br />

US-amerikanischen Luftwaffe) geplant, also <strong>von</strong> einem Teil<br />

des amerikanischen Verteidigungsministeriums. Die GIs werden<br />

mit einem Zwischenstopp auf dem Flughafen Leipzig/ Halle,<br />

der zum Auftanken gebraucht wird, in den Irak oder nach<br />

Afghanistan geflogen oder kommen <strong>von</strong> da. Wir haben viele<br />

Fotos da<strong>von</strong> gemacht. Und in diese Kriesengebiete wird vom<br />

Flughafen aus auch übergroßes Militärgerät geflogen, zum<br />

Beispiel Panzer, Hubschrauber <strong>und</strong> andere Waffen. Das geht alles<br />

über den Flughafen Leipzig/Halle – aber als Bürger erfährt<br />

man darüber offiziell nichts. Wir haben Anfragen an den<br />

sächsischen Landtag gestellt, an die B<strong>und</strong>esregierung <strong>und</strong> uns<br />

wurde immer wieder versichert, es fänden keine Flüge zu militärischen<br />

Zwecken statt. Der Flughafen wird angeblich nicht militärisch<br />

genutzt. Die Soldatentransporte sind zivile Flüge,<br />

die mit zivilen Fluggesellschaften <strong>und</strong> zivilem Personal die<br />

Amerikaner in den Urlaub fliegen. Wenn das wirklich Urlaubsflüge<br />

wären, dann wären sie als Passagierflüge nachts nach<br />

dem Beschluss des Regierungspräsidiums eigentlich verboten.<br />

Da sind es dann doch auf einmal wieder militärische Anforderungsverkehre.<br />

Je nachdem, wie es gerade gebraucht wird.<br />

— Soldaten werden <strong>von</strong> zivilen Fluggesellschaften<br />

transportiert, was dann gleich keine militärische Bewegung<br />

mehr sein soll – an diesem Punkt wird ja auch eine<br />

elementare rechtliche Unterscheidung ausgehebelt: die<br />

zwischen Zivilem <strong>und</strong> Militärischem. Das ist eine juridische<br />

Unterscheidung, die über Jahrh<strong>und</strong>erte gewachsen ist,<br />

die hier aufs Spiel gesetzt wird.<br />

— Ja, die Bezeichnung Militärflüge hat man gründlich vermieden,<br />

um die Bevölkerung nicht zu beunruhigen. Diese Flugbewegungen<br />

sind natürlich in dem Lärmschutzkonzept, das<br />

vom Regierungspräsidium als bestes Lärmschutzkonzept der<br />

Welt bezeichnet wurde, nicht erfasst. Der damals zugr<strong>und</strong>e<br />

gelegte Flugzeugmix verschiebt sich immer mehr in Richtung<br />

lauter Militärflugzeuge. DHL rühmt sich ja, mit relativ leisen<br />

Flugzeugen zu fliegen, aber für ihre Subunternehmer, osteuropäische<br />

Gesellschaften aus Polen oder Russland, fühlen sie<br />

sich nicht verantwortlich. Die fliegen teilweise mit Turbopropmaschinen,<br />

die mehr als 40 Jahre auf dem Buckel haben.<br />

— Wo fanden die Zwischenstopps, die für die amerikanischen<br />

Truppentransporte nötig sind, statt, bevor sie über<br />

den hiesigen Flughafen abgewickelt wurden?<br />

— In Shannon in Irland. Dort gibt es einen großen Militärflug<br />

platz, wo weit <strong>und</strong> breit kein Mensch wohnt. Trotzdem kam<br />

es in Shannon aufgr<strong>und</strong> <strong>von</strong> Bürgerprotesten zu einer<br />

Nachtflug einschränkung, was dem Militär nicht gepasst hat.<br />

Sollten wir mit unserer Klage nach Nachtflugeinschränkungen<br />

keinen Erfolg haben, werden wir schon im Jahr 2009 den<br />

eine millionsten US-Soldaten pro Jahr am Flughafen Leipzig/<br />

Halle begrüßen können.<br />

— Sie stellen die Rechtmäßigkeit diese Flüge auch in<br />

Frage?<br />

— Ja, es ist ein Klagepunkt. Die Entscheidung dazu soll am<br />

15. Juli fallen. Aber vielleicht wird das B<strong>und</strong>esverwaltungsgericht<br />

nicht die letzte Instanz für uns sein. Es gibt dann noch<br />

die Möglichkeit, dass wir uns an das B<strong>und</strong>esverfassungs -<br />

gericht <strong>und</strong> an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte<br />

in Straßburg wenden.<br />

— Was ist für Sie der Gr<strong>und</strong>, diese Flüge in Frage zu<br />

stellen?<br />

— Diese Flüge verstoßen gegen das Völkerrecht. Der Flug ha fen<br />

verdient mit diesen Unterstützungsleistungen schmut ziges<br />

Geld, er verdient an Kriegen mit. Primär sind es aber auch ges<strong>und</strong>heitliche<br />

Aspekte für die Anwohner. Es gibt mehrere große,<br />

europaweite Studien, die eindeutig nach gewiesen haben, dass<br />

ein großer Teil der Bevölkerung bei ständig ausgesetztem<br />

Fluglärm unter Bluthochdruck, Immun schwäche oder Krebs<br />

leidet. Sogar die Menschen, die gut schlafen, weil sie vielleicht<br />

Lärmschutzfenster oder einen festen Schlaf haben, bekommen<br />

oft im Schlaf erhöhten Blutdruck bei Lärmereignissen. Auf<br />

Dauer wächst dadurch das Herzinfarktrisiko. Ich kenne einige,<br />

die jetzt schon Medikamente einnehmen, um den Lärm irgendwie<br />

auszuhalten. Der Mensch braucht den Schlaf wie das Essen<br />

<strong>und</strong> das Trinken. Dieser nächtliche Fluglärm macht die Menschen<br />

auf Dauer krank <strong>und</strong> das wird vorsätzlich <strong>von</strong> den <strong>Vera</strong>ntwort<br />

lichen geduldet.<br />

— Der Flughafen gilt als Motor für die wirtschaftliche<br />

Ent wicklung der Region. Wie schätzen Sie die gesellschaftliche<br />

<strong>Vera</strong>ntwortung dieses Unternehmens ein?<br />

— Das Unternehmen hat eine sehr hohe gesellschaftliche <strong>Vera</strong>ntwortung.<br />

Es überzieht die Region schließlich jede Nacht mit<br />

einem riesigen Lärmteppich. Der ist nach Lesart des Regierungs<br />

präsidium 44 km lang <strong>und</strong> über 6 km breit. Auch die<br />

Luft wird durch die vielen Flüge nicht besser. DHL unterstützt<br />

finanziell die Kultur, den Sport <strong>und</strong> die Jugendarbeit. Das<br />

muss man unumw<strong>und</strong>en zugeben. Auch Gemeinden haben<br />

schon Schecks erhalten. Früher hat die Öffentlichkeitsabteilung<br />

des Flughafens die Zeitung ›Towerblick‹ für die Anwohner<br />

heraus gebracht. Aber diese Propaganda hat abgenommen, wir<br />

kriegen den ›Towerblick‹ seit dem vergangenen Jahr nicht mehr.<br />

— Was hat sie am ›Towerblick‹ gestört?<br />

— In seiner Zeitung pries der Flughafen unter anderem sein<br />

überragendes Lärmschutzkonzept. Niemand müsse sich wegen<br />

des Lärms Gedanken machen, jeder könne weiterhin ruhig<br />

schlafen. Dann frage ich mich, warum sich im Umfeld<br />

mittlerweile an die 20 Bürgerinitiativen gegen den Flug- <strong>und</strong><br />

Bodenlärm gebildet haben?<br />

Der Flughafen hat in der Öffentlichkeit sein positives Image<br />

mehr <strong>und</strong> mehr verloren, auch durch die vielen Proteste<br />

in der letzten Zeit. Die nächste Demo ist schon geplant. Deswegen<br />

werden jetzt Marathonläufe am Flughafen veranstal tet,<br />

Volleyballturniere durchgeführt; man holt Sport <strong>und</strong> Kultur<br />

an den Flughafen, damit auch etwas Positives über ihn berichtet<br />

wird. Aber dadurch werden die Probleme der Anwohner <strong>und</strong><br />

des Flughafens nicht geringer. Leipzig ist die Stadt der<br />

friedlichen Revolution; die B<strong>und</strong>esrepublik hält sich offiziell<br />

aus dem Irakkrieg heraus, <strong>und</strong> auf dem Flughafen werden völkerrechtswidrige<br />

Unterstützungsleistungen geduldet. Das<br />

ist schon ein Widerspruch, den sich die Bewohner der Städte<br />

Leipzig <strong>und</strong> Halle nicht gefallen lassen. Deshalb ist unser<br />

großes Ziel, im laufenden Verfahren vor dem B<strong>und</strong>esverwaltungs<br />

gericht auch die Militärflüge schnellstmöglich zu verhindern.<br />

Ich denke, wir haben da sehr gute Chancen.


WAS DU WISSEN SOLLTEST (DIE ZEIT)<br />

NO-GO-AREAS<br />

FÜR DIE ARBEIT!<br />

Ein E-Mail-Interview mit der<br />

Soziologin Silke Steets,<br />

die Fragen stellte <strong>Jan</strong> Wenzel<br />

Ich würde mich gern mit Dir darüber<br />

austauschen, wie wichtig Zukunft für Dich<br />

ist. Teilst Du meine Beobachtung, dass die<br />

Zeitperspektive, die sich mit dem Begriff<br />

Zukunft verbindet, für die Organisation des<br />

eigenen Lebens heute kaum noch eine<br />

Bedeutung hat, weil wir alle mehr <strong>und</strong> mehr<br />

ad hoc, aus der Situation heraus handeln?<br />

Wir sind zukunftsblind. Allerdings nicht,<br />

weil wir Angst vor der Zukunft verspüren,<br />

sondern aus einem Wissen heraus, wie<br />

ungewiss <strong>und</strong> voller ungeahnter Möglich -<br />

keiten – im Guten wie im Schlechten – die<br />

Zukunft ist.<br />

Wie wichtig ist für mich ein Nach denken<br />

über die Zukunft? Wenn ich mal ganz<br />

untheoretisch, das heißt spontan, auf<br />

mein eigenes Leben blicke, dann überwiegt<br />

der Eindruck, dass mir die wirklich entscheidenden<br />

Dinge tatsächlich zufällig passiert<br />

sind. Ich hatte nie einen fest gefügten<br />

Lebens- oder gar Karriereplan, der<br />

mich auf sicherem Weg durch Schule <strong>und</strong><br />

Studium in den Beruf geführt hätte.<br />

Das heißt nicht, dass es nie Ziele gab,<br />

aber diese waren hinsichtlich ihres zeit lichen<br />

Horizonts immer klar als Begrenzung<br />

eines Abschnitts (Projekts) defi niert, was<br />

ich immer als Entlastung empf<strong>und</strong>en habe.<br />

Irgendwie wollte ich eben das Abi schaffen,<br />

habe mich dann – weil der SPIEGEL im<br />

Sommer 1993 eine Studie über frustrierte<br />

Lehrer veröffentlichte – in letzter Sek<strong>und</strong>e<br />

gegen ein Lehramts- <strong>und</strong> für ein Soziologiestudium<br />

entschieden (mit dem man ja<br />

alles <strong>und</strong> nichts werden kann), habe 1999<br />

mein Diplom gemacht, bin dann eigent lich<br />

über private Umwege <strong>und</strong> weil ich nach<br />

dem Diplom nichts Besseres zu tun hatte,<br />

am Bauhaus in Dessau gelandet, wo ich im<br />

Bauhaus-Kolleg zur Stadt- <strong>und</strong> Raumsoziologin<br />

wurde. In dieser Zeit erschien<br />

gerade das Buch Raumsoziologie <strong>von</strong><br />

Martina Löw. Ein Fre<strong>und</strong> <strong>von</strong> mir stellte<br />

den Kontakt zu ihr her, wir trafen uns in<br />

Berlin, <strong>und</strong> sie wurde meine Doktormutter<br />

<strong>und</strong> kurze Zeit später meine Chefi n an<br />

der TU Darmstadt, wohin sie als Professorin<br />

berufen worden war. Viele Wendepunkte<br />

in dieser kurzen Lebensskizze würde ich<br />

tatsächlich dem Lola-rennt-Prinzip folgend<br />

als Zufall charakterisieren, weshalb ich<br />

mich gerne (<strong>und</strong> oft sehr konsequent)<br />

einem Nachdenken über die eigene Zukunft<br />

verweigere. Kommt eh wie’s kommt <strong>und</strong><br />

lief ja auch bislang alles ganz gut.<br />

Als Soziologin weiß ich, dass man<br />

das, was ich da gerade aufgeschrieben<br />

habe, als »Biographisierung« bezeichnet.<br />

Damit ist das Ins-Verhältnis-Setzen lebensgeschichtlicher<br />

Vergangenheit, Gegen -<br />

wart <strong>und</strong> Zukunft gemeint, also die<br />

Kon struktion einer eigenen Geschichtlich -<br />

keit. Der Soziologe Gunter Weidenhaus hat<br />

das em pirisch untersucht, indem er sich<br />

<strong>von</strong> verschiedenen Menschen deren Leben<br />

hat erzählen lassen. Er unterscheidet<br />

drei »Modi der Biographisierung«, den<br />

»linearen«, den »zyklischen« <strong>und</strong> den<br />

»blasenhaften« Modus. Lineare Biographisierungen<br />

folgen einer starken logischen<br />

Verknüpfung zwischen Vergangenheit,<br />

Gegenwart <strong>und</strong> Zukunft. Die Zukunft<br />

ist deshalb wichtig, weil sie planend angeeignet<br />

wird. Zyklische Formen der<br />

Biographisierung zerstören die Zukunft,<br />

indem sie eine sich täglich wiederholende<br />

Gegenwart in die Zukunft ausdehnen.<br />

Der blasenhafte Modus entspricht wohl am<br />

ehesten dem, was ich für mein Leben<br />

gerade erzählt habe.<br />

Creative Industries – hinter diesem<br />

Schlagwort verbergen sich die Initiatoren<br />

<strong>von</strong> lokalen Filmprojekten, die Betreiber<br />

<strong>von</strong> Clubs oder auch freie Architektinnen,<br />

Autoren <strong>und</strong> Künstlerinnen. Als<br />

Soziologin ist Silke Steets oft selbst Teil<br />

der Phänomene, die sie theoretisch<br />

Man denkt in zeitlich begrenzten Projekten<br />

(Zeitblasen). Vergangenheit, Gegenwart<br />

<strong>und</strong> Zukunft sind eigenständige lebens geschichtliche<br />

Zeiten, die nicht logisch auf -<br />

einander aufbauen <strong>und</strong> eher unverb<strong>und</strong>en<br />

nebeneinander stehen. Die Zukunft bleibt<br />

kontingent, damit aber auch offen.<br />

Die Unsicherheit, die eine solche Situation<br />

zwangsläufi g erzeugt, wird – so schreibt<br />

Weidenhaus – <strong>von</strong> den Leuten, die in Zeitblasen<br />

leben, durch eine Verdrängung<br />

des Nachdenkens über die Zukunft bewältigt.<br />

Für unsere Generation scheint mir<br />

dies recht typisch zu sein.<br />

Dass man die Zukunft auf sich zukommen<br />

lässt, keinen Lebensplan mehr hat, kann<br />

einen riesigen Gewinn an Möglichkeiten<br />

bedeuten. Individuell scheint mir das sehr<br />

plausibel. Trotzdem die Frage: Lässt<br />

sich eine individuelle, <strong>von</strong> Brüchen markierte<br />

Alltagserfahrung noch mit einem<br />

langfristigen, kollektiven Denken verbinden?<br />

Oder anders: Alexander Kluge spricht in<br />

›Die Maßverhältnisse des Politischen.<br />

Vorschläge zum Unterscheidungsvermögen‹<br />

da<strong>von</strong>, dass alle Prozesse, die Gemein -<br />

wesen <strong>und</strong> gesellschaftlichen Reichtum herstellen,<br />

lange Fristen haben. Welche Formen<br />

der Organisation wären geeignet, um trotz<br />

des kurzen Zeithorizontes, in dem man das<br />

eigene Leben organisiert, die langen Zeitmaße,<br />

durch die gesellschaftliche Prozesse<br />

charakterisiert sind, weiterhin mitgestalten<br />

zu können?<br />

Um den eigenen, <strong>von</strong> Brüchen markier<br />

ten, persönlichen Zeithorizont mit einer<br />

längerfristigen Gestaltung gesellschaftlicher<br />

Prozesse zu verknüpfen, bedarf es<br />

aus meiner Sicht einer Veränderung auf der<br />

Ebene der ERFAHRUNG. Die zielorientier -<br />

ten Entwicklungsperspektiven <strong>und</strong> ›großen<br />

Erzählungen‹ der Moderne (die mit linearen<br />

Biographisierungsmodi korrespon dieren)<br />

sind obsolet geworden, <strong>und</strong> ich fi nde, es<br />

lohnt sich aufgr<strong>und</strong> ihrer Determi niertheit<br />

<strong>und</strong> der Absolutheit ihres An spruchs auch<br />

nicht, um sie zu trauern. Mit dem Verlust<br />

der ›großen Erzählungen‹ ist nämlich<br />

eins entstanden: eine ›offene‹ Zukunft <strong>und</strong><br />

damit die erste Voraussetzung dafür, um<br />

überhaupt sinnvoll politisch han deln<br />

zu können. Das Problem ist nur, dass wir<br />

offensichtlich nicht mehr so recht wissen,<br />

wohin wir wollen (<strong>und</strong> woher wir kommen),<br />

dass uns also die ERFAHRUNG einer<br />

längerfristigen Zeitperspektive zu fehlen<br />

scheint.<br />

Für den Raum hat Fredric Jameson<br />

1984 diesen Verlust <strong>von</strong> Erfahrung sehr<br />

anschaulich erklärt, <strong>und</strong> zwar am Beispiel<br />

des Bonaventure Hotels im Zentrum <strong>von</strong><br />

L.A., das für Jameson zum Sinnbild dessen<br />

wird, was er den »postmodernen Hyperraum«<br />

nennt. Er beschreibt das mit Glas fassaden<br />

ummantelte Hotel als »totalen«<br />

Raum, als in sich vollständige Miniaturstadt,<br />

die die (echte) Stadt außerhalb des<br />

Gebäudes zum Bild <strong>von</strong> sich selbst mache.<br />

Im Inneren inspiriere das Hotel die Besucher,<br />

den körperlich erfahrbaren Durchgang<br />

durch das Gebäude als Erzählung,<br />

als Fiktion zu erleben. Diese Raumerfahrung<br />

werde durch die zahlreichen Rolltrep -<br />

pen <strong>und</strong> verglasten Fahrstühle des Gebäudes<br />

unterstützt. Allerdings fehle den<br />

»postmodernen Subjekten« (noch) der ent -<br />

sprechende Wahrnehmungsapparat, um<br />

sich in diesem Raum zurechtzufi nden.<br />

Die Distanz zwischen wahrnehmendem<br />

Subjekt <strong>und</strong> wahrgenommenem Objekt,<br />

die notwendig ist für das Erfassen<br />

<strong>von</strong> Perspektive <strong>und</strong> Volumen, gehe im<br />

Bonaventure Hotel verloren. Man stehe<br />

buchstäblich ›bis zum Hals‹ in diesem<br />

Hyperraum. Jamesons These lautet deshalb,<br />

»dass es dem postmodernen Hyperraum<br />

gelungen ist, die Fähigkeit des<br />

individuellen menschlichen Körpers zu über-<br />

schreiten, sich selbst zu lokalisieren, seine<br />

unmittelbare Umgebung durch die Wahrnehmung<br />

zu strukturieren <strong>und</strong> kog ni tiv<br />

seine Position in einer vermeß baren äuße-<br />

ren Welt durch Wahrnehmung <strong>und</strong> Erkenntnis<br />

zu bestimmen«. Der neue Raum<br />

kann nur in Bewegung darge stellt <strong>und</strong><br />

erfahren werden. Jameson überträgt dies<br />

nun auf die Situation der postmo der nen<br />

Subjekte, welche er als Dilemma bezeich -<br />

net, das in der »Unfähigkeit unseres<br />

Bewußtseins« besteht, »das große, globale,<br />

multinationale <strong>und</strong> dezentrierte Kommunikationsgefl<br />

echt zu begreifen, in dem wir<br />

als individuelle Subjekte gefangen sind«.<br />

Notwendig sei deshalb eine Ȁsthetik nach<br />

dem Muster der Kartographie«. Diese<br />

müsse die kognitiven <strong>und</strong> pädagogischen<br />

Dimensionen der politischen Kunst <strong>und</strong><br />

Kultur in den Vordergr<strong>und</strong> rücken.<br />

Mit anderen Worten: Um im Spätkapitalis<br />

mus Kritik zu üben bzw. um politisch<br />

handeln zu können, muss man wissen, wo<br />

man steht. Etwas Ähnliches müsste man<br />

aus meiner Sicht mit der Dimension der<br />

Zeit, die ja ähnlich wie der Raum nur noch<br />

fragmentiert wahrgenommen wird,<br />

machen. Eine Ȁsthetik nach dem Muster<br />

der Kartographie« wäre dann eine, die<br />

die Verwobenheit <strong>von</strong> Vergangenheit, Gegen<br />

wart <strong>und</strong> Zukunft wieder ERFAHRBAR<br />

macht.<br />

Gr<strong>und</strong>sätzlich finde ich die Idee,<br />

Fredric Jamesons Idee der Kartographie<br />

analog zur Analyse des zeitgenössischen<br />

Raums auch auf den Aspekt der Zeit anzuwenden,<br />

sehr überzeugend. Da dabei<br />

imaginäre Karten entstünden, würde mich<br />

interessieren, ob Du mir ein oder zwei dieser<br />

Zeitkarten beschreiben könntest? Wie würde<br />

ein Atlas für solche Zeitkartographien<br />

aussehen? – Ich stelle mir zum Beispiel ein<br />

Kapitel mit Deadline-Karten vor, die die<br />

unübersichtliche Landschaft der zu knapp<br />

gewordenen Zeit <strong>und</strong> die Vielzahl der<br />

individuellen Strategien, sich in dieser verbauten<br />

Landschaft zu bewegen, visualisieren<br />

<strong>und</strong> damit kollektiv erfahrbar machen<br />

könnten. Wäre das denkbar?<br />

Die Idee der Deadline-Karten könnte<br />

in der Tat sehr erhellend sein, denn der<br />

individuelle Umgang mit der Fragmentiertheit<br />

<strong>und</strong> Knappheit der Zeit ist sehr unter<br />

schiedlich, wenngleich das Phänomen<br />

<strong>von</strong> verschiedenen Menschen ähnlich<br />

wahr genommen wird. Mir kommt die Zeit<br />

manch mal vor wie eine Decke, an der man<br />

an allen (Projekt-)Ecken <strong>und</strong> Enden versucht<br />

zu ziehen, nur um zu der schlichten<br />

Einsicht zu gelangen, dass die Decke<br />

einfach zu klein ist <strong>und</strong> man durch das<br />

Ziehen in eine Richtung an der anderen<br />

Ecke kalte Füße bekommt.<br />

Eine Form mit der zu kurzen, zerstückelten<br />

Zeit umzugehen ist das vielbe<br />

schworene Multitasking, also das<br />

gleich zei tige Arbeiten an unterschiedlichen<br />

Din gen. Karten, die die Komplexität des<br />

Parallel arbeitens, somit all die Anfänge<br />

<strong>und</strong> Enden <strong>und</strong> Verwobenheiten <strong>von</strong> Projekten<br />

<strong>und</strong> Aufgaben zeigen, könnten ge rade<br />

die Er fahrung, dass alles ein Anfang<br />

<strong>und</strong> ein Ende hat, verdeutlichen. Denn das<br />

ist es, was beim Multitasking oft verloren<br />

16<br />

refl ektiert. So wie in ihren aktuellen Buch<br />

›Wir sind die Stadt. Kulturelle Netzwerke<br />

<strong>und</strong> die Konstituion städtischer<br />

Räume in Leipzig‹, in dem sie beschreibt<br />

wie sich das kulturelle Selbstverständnis<br />

der ostdeutschen Großstadt im letzten<br />

Jahrzehnt gewandelt hat.<br />

geht: Weil man nie wirklich fertig ist, ist<br />

die Erfahrung da<strong>von</strong>, etwas abzuschließen,<br />

sehr ephemer geworden. Deadline-Karten<br />

könnten genau diese Endpunkte markieren<br />

<strong>und</strong> damit in Wert setzen.<br />

Eine andere Form des Umgangs<br />

mit Zeitknappheit ist die Entwicklung <strong>von</strong><br />

Zeit routinen. Der Soziologe Anthony<br />

Giddens sagt, dass Routinen im Alltag so<br />

etwas wie ›Seinsgewissheit‹ schaffen. Sie<br />

funktio nie ren als Strukturen, über die wir<br />

nicht mehr jeden Tag neu nachdenken<br />

müssen (was ja auch Zeit kostet), die uns<br />

natürlich auch manchmal einengen, die<br />

da durch aber an anderer Stelle Energien<br />

freisetzen können. Wenn ich mich jeden<br />

Mit tag mit einem Kollegen zum Essen<br />

ver ab rede, dann habe ich jeden Mittag tatsächlich<br />

eine St<strong>und</strong>e, in der ich nicht vor<br />

dem Computer sitze. Dann sind meine<br />

Augen erholt <strong>und</strong> der Magen gefüllt <strong>und</strong><br />

danach geht alles vielleicht viel schneller.<br />

Kinder sind auch ein guter Taktgeber<br />

für Zeitroutinen. Man darf nur nicht gegen<br />

sie (also die Zeitroutinen <strong>und</strong> natürlich<br />

auch nicht gegen die Kinder) arbeiten,<br />

man sollte sie vielmehr als Ermöglichungsstruk<br />

tur begreifen. Routine-Karten<br />

könn ten Zeitinseln abbilden, sowas wie<br />

No-Go-Areas für die Arbeit.<br />

Und dann fällt mir zu guter Letzt<br />

noch eine Zeitstrategie ein, die man mit<br />

Tocotronic vielleicht am besten als Kapitulation<br />

bezeichnen könnte, das heißt auf<br />

unser Thema bezogen als Verweigerung der<br />

Effi zienzsteigerung der Zeit. Denn sowohl<br />

Multitasking als auch Routinen als<br />

auch Deadline-Karten sind Strategien des<br />

Umgangs mit einer extern vorgegebenen<br />

(<strong>und</strong> damit auch gr<strong>und</strong>sätzlich akzeptier<br />

ten) Struktur. In der Geschichte der<br />

Kartographie gibt es Karten, deren Zweck<br />

nichts anderes war als die Instrumentalisierung<br />

des Raums. Man denke an die<br />

Karten der Landvermesser <strong>und</strong> Seefahrer,<br />

die ihr Wissen über den Raum zur Vermarktung<br />

bzw. Kolonialisierung des Raums<br />

verwendet haben. Effi zienzverweigerungsarten<br />

müssten ähnlich der Karten, die<br />

zum Beispiel Guy Debord <strong>von</strong> Paris<br />

gezeichnet hat, die gefühlten, die direkt<br />

auch körperlich <strong>und</strong> emotional erfahrenen,<br />

die qualitative Zeiteinheiten zeigen, in<br />

einen Zusammenhang bringen <strong>und</strong> damit<br />

als relevant <strong>und</strong> wichtig markieren. Ich<br />

stelle mir vor, dass man darauf Tätigkeiten<br />

abbildet, in denen man gemeinhin gerne<br />

die Zeit vergisst, was natürlich individuell<br />

sehr unterschiedlich ist, was zum Beispiel<br />

ein Frühstück mit der Lieblingszeitung<br />

sein könnte, Spielen mit Kindern,<br />

das Treffen mit alten Fre<strong>und</strong>en, der Besuch<br />

einer Ausstellung, die Fahrt mit einem<br />

Boot, (Tag-)Träume, ein Spaziergang, die<br />

Zigarette (oder zwei) vorm Schlafengehen<br />

etc. Vielleicht könnte man auch Lange -<br />

weile kartieren, das könnte doch eine wirk -<br />

lich spannende Karte werden ...


WAS DU WISSEN SOLLTEST (DIE KONTROLLE)<br />

MEIN MITBEWOHNER<br />

MARK<br />

Julian Kamphausen<br />

2<br />

3<br />

4<br />

1<br />

6<br />

1<br />

Mein ehemaliger Mitbewohner Mark arbeitet<br />

jetzt bei einer amerikanischen Firma:<br />

›ReproGenetics Institute‹.<br />

Die Firma expandiert im Moment stark.<br />

Sie ist Vorreiter bei einer neuen Diagnosetechnik:<br />

Präimplantationsdiagnose.<br />

5<br />

2<br />

Bei der Präimplantationsdiagnose entnimmt<br />

man Embryonen, die durch künst liche Befruchtung<br />

erzeugt wurden, je eine Stammzelle.<br />

3<br />

Dieser Stammzelle werden dann die Chromosomen<br />

entnommen, um die komplette DNA<br />

des möglichen Menschen zu entschlüsseln.<br />

4<br />

Auf der DNA sucht man nach Mutationen die<br />

später zu Behinderungen oder Krankheiten<br />

führen. Hier sieht man zum Beispiel links das<br />

Brustkrebs-Gen <strong>und</strong> auf Chromosom 14 das<br />

Alzheimer-Gen.<br />

8<br />

5<br />

So sieht es dann komplizierter aus.<br />

Mittlerweile können 7000 Mutationen erkannt<br />

werden, die zu späteren Erkrankungen <strong>und</strong><br />

Behinderungen führen. Auf diese Weise<br />

können dann garantiert ges<strong>und</strong>e Embryonen<br />

eingepflanzt werden.<br />

6<br />

Die Nachfrage nach dieser Methode ist so<br />

hoch, dass die Firma inzwischen acht Kliniken<br />

weltweit betreibt, die diese Methode anbieten.<br />

Hier ist die Filiale in Larnaca auf Zypern<br />

zu sehen.<br />

7<br />

§ 1 Mißbräuchliche Anwendung <strong>von</strong><br />

Fortpfl anzungstechniken<br />

(1) Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit<br />

Geldstrafe wird bestraft, wer<br />

1. auf eine Frau eine fremde unbefruchtete Eizelle<br />

überträgt,<br />

2. es unternimmt, eine Eizelle zu einem anderen<br />

Zweck künstlich zu befruchten, als eine<br />

Schwangerschaft der Frau herbeizuführen, <strong>von</strong><br />

der die Eizelle stammt,<br />

3. es unternimmt, innerhalb eines Zyklus mehr als<br />

drei Embryonen auf eine Frau zu übertragen,<br />

4. es unternimmt, durch intratubaren<br />

Gametentransfer innerhalb eines Zyklus mehr<br />

als drei Eizellen zu befruchten,<br />

5. es unternimmt, mehr Eizellen einer Frau zu<br />

befruchten, als ihr innerhalb eines Zyklus<br />

übertragen werden sollen,<br />

6. einer Frau einen Embryo vor Abschluß seiner<br />

Einnistung in der Gebärmutter entnimmt, um<br />

diesen auf eine andere Frau zu übertragen oder<br />

ihn für einen nicht seiner Erhaltung dienenden<br />

Zweck zu verwenden, oder<br />

7. es unternimmt, bei einer Frau, welche bereit ist,<br />

ihr Kind nach der Geburt Dritten auf Dauer zu<br />

überlassen (Ersatzmutter), eine künstliche<br />

Befruchtung durchzuführen oder auf sie einen<br />

menschlichen Embryo zu übertragen.<br />

(2) Ebenso wird bestraft, wer<br />

1. künstlich bewirkt, daß eine menschliche<br />

Samenzelle in eine menschliche Eizelle<br />

eindringt, oder<br />

2. eine menschliche Samenzelle in eine<br />

menschliche Eizelle künstlich verbringt,<br />

ohne eine Schwangerschaft der Frau<br />

herbeiführen zu wollen, <strong>von</strong> der die Eizelle<br />

stammt.<br />

(3) Nicht bestraft werden<br />

1. in den Fällen des Absatzes 1 Nr. 1, 2 <strong>und</strong> 6 die<br />

Frau, <strong>von</strong> der die Eizelle oder der Embryo<br />

stammt, sowie die Frau, auf die die Eizelle<br />

übertragen wird oder der Embryo übertragen<br />

werden soll, <strong>und</strong><br />

2. in den Fällen des Absatzes 1 Nr. 7 die<br />

Ersatzmutter sowie die Person, die das Kind auf<br />

Dauer bei sich aufnehmen will.<br />

(4) In den Fällen des Absatzes 1 Nr. 6 <strong>und</strong> des<br />

Absatzes 2 ist der Versuch strafbar.<br />

17<br />

7<br />

In Deutschland ist die Nachfrage zwar sehr<br />

groß, aber die Methode ist durch das deutsche<br />

Embryonenschutzgesetz verboten.<br />

8<br />

Daher plant das ›ReproGenetics Institute‹ in<br />

Deutschland eine Vorklinik zu gründen, in der<br />

die ersten Behandlungsschritte (Hormonbehandlung,<br />

Samenspende, Ei-Entnahme <strong>und</strong><br />

künstliche Befruchtung) durchgeführt werden.<br />

Dann fliegt die potentielle Mutter für nur drei<br />

Tage nach Zypern, wo die eigentliche Analyse<br />

<strong>und</strong> das Einpflanzen vorgenommen werden.<br />

Deswegen wird ein Standort in Flug hafennähe<br />

bevorzugt. Im Gespräch sind der Flughafen<br />

Lübeck <strong>und</strong> der Flughafen Leipzig/ Halle, wobei<br />

letzterer favorisiert wird, wegen seiner Nähe<br />

zu Polen, wo auch eine hohe Nachfrage durch<br />

eine ähnliche Gesetzes lage gebremst wird.<br />

Mark hat mir erzählt, dass die häufigen<br />

Kindstötungen in den neuen B<strong>und</strong>esländern<br />

in der amerikanischen Presse Aufmerksamkeit<br />

erregt haben. Und die Projektmanager vom<br />

›ReproGenetics Institute‹ gehen da<strong>von</strong> aus,<br />

dass die Gestaltungsmöglichkeit <strong>und</strong><br />

Sicherheit, die die Präimplantationsdiagnose<br />

Paaren mit Kinderwunsch bietet, hier vielleicht<br />

Zuversicht <strong>und</strong> Angstfreiheit bieten könnte.


WAS DU WISSEN SOLLTEST (DER KRIEG) 18<br />

»SOLDATEN SIND …<br />

TRANSITPASSAGIERE«<br />

Ein Gespräch mit Lutz Metzger,<br />

Mitglied der Aktionsgemeinschaft<br />

Flughafen NATO-FREI,<br />

die Fragen stellten <strong>Anne</strong> <strong>König</strong><br />

<strong>und</strong> <strong>Jan</strong> <strong>Caspers</strong><br />

Wie haben die Anwohner reagiert, als<br />

Sie Ihnen <strong>von</strong> der geplanten militärischen<br />

Nutzung des Flughafens berichteten?<br />

Als ich ab März 2006 zum Beispiel in<br />

Schkopau, Hohenheida <strong>und</strong> in anderen<br />

Sä len der Flughafenumgebung auftrat,<br />

waren viele der Anwohner verblüfft, wenn<br />

ich ihnen <strong>von</strong> den Plänen zur militärischen<br />

Nutzung des Flughafens berichtet<br />

habe. Viele konnten es gar nicht glauben.<br />

Inzwischen sind sie geläutert. Es dröhnt<br />

<strong>und</strong> brummt über ihren Köpfen, vor<br />

allem nachts wird es immer heftiger. Die<br />

Leute suchen sehr verärgert nach Aus -<br />

wegen. Wenn ich ihnen jetzt sage, das ist<br />

aber nicht nur die NATO, die über<br />

Leipzig Militärfrachten fl iegen lässt, dann<br />

erschrecke ich sie nur wieder. Viele Bürger,<br />

die gegen den Fluglärm demonstrieren,<br />

wollen schon nicht mehr hören,<br />

wie schlimm es noch werden könnte.<br />

Inzwischen hat auch die sächsische Landesregierung<br />

die militärische Nutzung des<br />

Flughafens Leipzig/ Halle offiziell eingeräumt.<br />

Wie wird der Flughafen konkret<br />

militärisch genutzt?<br />

Man müsste verschiedene Aspekte nennen:<br />

Seit 2006 betreibt die russische Volga-<br />

Dnepr-Gruppe <strong>und</strong> die ukrainische Antonov<br />

Airlines am Flughafen Leipzig/ Halle die<br />

Ruslan SALIS GmbH. Mehrere Antonov<br />

An-124-100 Maschinen stehen hier bereit,<br />

um jederzeit Militärfracht an jeden<br />

Krisenherd der Welt fl iegen zu können. Die<br />

Stationierung, die Leipzig zum bedeutendsten<br />

europäischen Drehkreuz für Groß -<br />

waf fen werden lässt, verfolge auch »humanitäre<br />

Ziele«, heißt es <strong>von</strong>seiten der Dresdner<br />

Staatskanzlei dazu. Ich habe auch<br />

nichts gegen Starts <strong>und</strong> Landungen <strong>von</strong><br />

Antonov-Maschinen vorzubringen, wenn<br />

diese wahrhaft Frieden schaffend,<br />

zur Katastrophenhilfe oder auch nur<br />

kom mer ziell genutzt werden. Wir haben<br />

logistisch, fi nanziell <strong>und</strong> technologisch<br />

gesehen alle Möglichkeiten, weltweit<br />

zu helfen, aber wir tun es nicht genügend.<br />

Der Militär bereich dagegen wird ständig<br />

weiter aus gebaut.<br />

Nicht nur Ruslan SALIS, auch DHL ist<br />

inzwischen auf diesem Sektor tätig. Dabei<br />

ist die Posttochter nicht nur für die<br />

Feld post der deutschen Soldaten im Auslands<br />

einsatz zuständig; die B<strong>und</strong>eswehr<br />

ist gerade im Begriff, ihre gesamten<br />

Logistik aufgaben an Schenker <strong>und</strong> DHL<br />

zu über tragen.<br />

Und ein dritter Aspekt sollte nicht vergessen<br />

werden – auch wenn der Flughafen<br />

argumentiert, dass es sich dabei um keine<br />

militärischen Flüge handelt: In Leipzig/<br />

Halle landen täglich amerikanische GIs<br />

zwischen, die auf dem Weg in den Irak <strong>und</strong><br />

nach Afghanistan sind oder <strong>von</strong> dort in<br />

die USA zurück transportiert werden. In<br />

Zivilmaschinen, das ist richtig, aber eben<br />

in Zivilmaschinen, mit denen eine eindeutig<br />

militärische Aufgabe erfüllt wird,<br />

die des Truppentransports.<br />

Können Sie die Aktivitäten der Ruslan<br />

SALIS GmbH genauer beschreiben?<br />

Die Ruslan SALIS GmbH ist eine private<br />

Firma, die im Auftrag der NATO <strong>und</strong> der<br />

EU für das Projekt SALIS (Strategic Airlift<br />

Interim Solution) arbeitet. Entgegen den<br />

Beschwichtigungen der NATO, nur temporäre<br />

Transportengpässe überbrücken<br />

zu wollen, weisen alle Anzeichen darauf<br />

hin, dass das Projekt SALIS dauerhaft ausgebaut<br />

<strong>und</strong> noch erweitert werden soll.<br />

Die Ruslan SALIS-Halle, die das russischukrainische<br />

Unternehmen am Flughafen<br />

Leipzig/ Halle unterhält, ist nicht besonders<br />

groß, sie ist die alte Wartungshalle des<br />

Flughafens. Vor ihr haben bis zu zehn<br />

Antonov-Maschinen Platz. Wohlgemerkt:<br />

Bei diesem Flugzeug handelt es sich<br />

um eines der größten Transportfl ugzeuge<br />

der Welt. Es kann bis zu 120 Tonnen Mate<br />

rial laden <strong>und</strong> ist den Konkurrenz modellen<br />

<strong>von</strong> Boeing weit überlegen.<br />

Wohin gehen solche Flüge?<br />

Die Aktionsgemeinschaft »Flughafen<br />

NATO-FREI« wurde im März 2006 in<br />

Leipzig gegründet. Die Gruppe protestiert<br />

gegen die militärische Nutzung des<br />

Flughafens Leipzig/Halle. Lutz Metzger<br />

ist bekennender Pazifi st, er arbeitet als<br />

Deeskalationstrainer <strong>und</strong> engagiert sich<br />

gegen Gewalt <strong>und</strong> Rassismus. Schon vor<br />

der Gründung der Aktionsgemeinschaft<br />

war er in den Vororten <strong>von</strong> Leipzig<br />

Die Waffen, die mit den Antonov-Maschinen<br />

transportiert werden, sind zum<br />

Beispiel für die riesigen US-Stützpunkte in<br />

Katar oder in Bahrein bestimmt, aber<br />

auch für die vier großen US-Luftstützpunkte<br />

im Irak. Aber das Bestimmungsziel<br />

der Transporte kann genauso gut Temez<br />

in Usbe kistan, Kabul in Afghanistan<br />

oder die US-Basis Ircelik in der Türkei<br />

sein.<br />

Können Sie ein Beispiel nennen, was da<br />

transportiert wird?<br />

Logistisch war es zum Beispiel in diesem<br />

Jahr kein Problem, als die kanadische<br />

Afghanistan-Truppe <strong>von</strong> der B<strong>und</strong>eswehr<br />

unentgeltlich 20 Kampf- <strong>und</strong> zwei<br />

Bergepanzer vom Typ Leopard 2A6M<br />

erhielt, diese Panzer nach Kabul zu transportieren.<br />

Das Rüstungsunternehmen Krauss-Maffei<br />

Wegmann lieferte bereits am 2. August<br />

2007 den ersten Leopard 2A6M CAN mit<br />

einer Antonov 124-100, stationiert in<br />

Leipzig/Halle, an die kanadischen Streitkräfte.<br />

Das Problem dabei war: Bisher war<br />

es Konsens für alle B<strong>und</strong>esregierungen,<br />

keine Rüstungsgüter in Spannungsgebiete<br />

zu exportieren. Der B<strong>und</strong>essicherheitsrat<br />

– ein geheim tagender Unterausschuss des<br />

Kabinetts – hat über jeden Ausfuhr -<br />

antrag zu befi nden. In diesem Gremium<br />

sitzen die Kanzlerin, die Minister für Ver -<br />

tei digung, des Äußeren, Inneren, der<br />

Wirt schaft <strong>und</strong> Finanzen sowie der Generalinspekteur<br />

der B<strong>und</strong>eswehr. Der B<strong>und</strong>essicherheitsrat<br />

entschied, dass die zwanzig<br />

Leo 2-Panzer an die Kanadier nur ver<br />

mietet werden, was ein Schlupfl och darstellt,<br />

um die Exportrestriktion zu umge<br />

hen, weil die Regierung der Meinung ist:<br />

Leasing stellt kein Exportgeschäft dar.<br />

Welchen Umfang haben die Aktivitäten der<br />

Ruslan SALIS?<br />

Im Jahr 2006 wurden zum Beispiel<br />

220 Flü ge durchgeführt <strong>und</strong> 13.500 Tonnen<br />

transportiert. Dabei erwirtschaftete das<br />

Unternehmen einen Gewinn <strong>von</strong><br />

70.2 Mil lion US-Dollar. Neben den bereits<br />

genannten Fluggesellschaften fl iegen<br />

aber auch andere Antonov-124 oder Boing-<br />

747-Maschinen unter Firmierungen wie<br />

AirBridgeCargo oder Polet Airlines<br />

Company schwerstes Kriegsgerät über<br />

Leipzig/ Halle, zum Beispiel in den<br />

Mittleren Osten.<br />

Welcher Zusammenhang besteht zwischen<br />

den unternehmerischen Aktivitäten <strong>von</strong><br />

Ruslan SALIS <strong>und</strong> der Flughafen Leipzig/<br />

Halle GmbH?<br />

Ob nun Panzer, gepanzerte LKWs oder wie<br />

zur Zeit Transport- <strong>und</strong> Kampfhubschrauber<br />

vom Typ Mi-17 transportiert werden,<br />

es handelt sich bei diesen Transfers immer<br />

auch um Transportkapazitäten. Die Flughafengesellschaft<br />

erwirtschaftet ihren<br />

Gewinn durch Landeentgelte <strong>und</strong> durch<br />

Gebühren für die Nutzung ihrer Rollbahnen<br />

<strong>und</strong> Immobilien. Der Flughafen profi<br />

tiert also direkt <strong>von</strong> den Militärtransporten.<br />

Wahrscheinlich ist es für den Flughafen<br />

der einfachste Weg, schwarze Zahlen<br />

zu schreiben.<br />

Sie erwähnten die Transporte <strong>von</strong> amerikanischen<br />

Militärangehörigen durch zivile<br />

Fluggesellschaften. Wie viele GIs landen auf<br />

dem Flughafen Leipzig/Halle zwischen?<br />

Nur einmal, Anfang 2007, hat die Flughafen<br />

GmbH den genauen Anteil <strong>von</strong> militärischem<br />

Personal an den Transitpassagieren<br />

unterwegs, um Anwohner <strong>und</strong> Mitglieder<br />

der IG Nachtfl ugverbot über die voraussichtliche<br />

militärische Nutzung des<br />

Flughafens zu informieren. Dafür hatte er<br />

öffentlich zugängliches Material <strong>von</strong> der<br />

B<strong>und</strong>eswehr eingesehen, in dem Investitions-<br />

<strong>und</strong> militärische Nutzungspläne für<br />

den südwestlichen Teil des Flughafens<br />

bereits vereinbart waren.<br />

in einer Pressemitteilung veröffentlicht.<br />

2006 waren es demnach 240.000 Soldaten,<br />

die hier zwischenlandeten. Seitdem<br />

wurden keine weiteren offi ziellen Zahlen<br />

he raus gegeben.<br />

Wie erhalten Sie dann Angaben über den<br />

Umfang dieser Transporte, gibt es ein Gesetz,<br />

damit man solche Informationen als<br />

Bürger bekommt?<br />

Es gibt das B<strong>und</strong>esinformationsgesetz,<br />

das jedem Bürger das Recht gibt, nachzufra<br />

gen <strong>und</strong> Antworten zu bekommen.<br />

Wir haben auch in der sächsischen Staatskanz<br />

lei Leute in Amt <strong>und</strong> Würden, die<br />

darauf achten, dass unseren Bürgerrechten<br />

entsprochen wird. Nur ist die Flughafengesellschaft<br />

zur Zeit überhaupt nicht<br />

angetan, irgendetwas zu beantworten.<br />

Man verschanzt sich dort hinter Anordnungen<br />

der deutschen Flugsicherung, das sei<br />

alles einfach Transit. Um zu erfahren,<br />

wie viele amerikanische Soldaten auf<br />

dem Flughafen zwischenlanden, kann ich<br />

natürlich sagen: Okay, ich schaue<br />

mir die Transitzahlen an. Die Zahl der


WAS DU WISSEN SOLLTEST (DER KRIEG) 19<br />

Transitreisenden auf dem Flughafen<br />

Leipzig/ Halle ist derzeit fast dreimal so<br />

hoch wie auf dem größten deutschen<br />

Pa ssa gierfl ughafen in Frankfurt/Main,<br />

ob wohl hier kaum jemand umsteigt.<br />

Was passiert auf dem Flughafen genau, wenn<br />

eine Maschine mit GIs zwischenlandet?<br />

Die GIs steigen aus, weil das Flugzeug aufgetankt<br />

wird. Dann werden sie in Bussen<br />

zum Terminal A gefahren <strong>und</strong> bleiben so im<br />

Transitbereich. Zwischen den Angestellten,<br />

auch den Sicherheitskräften, <strong>und</strong> den<br />

GIs fi nden keine Gespräche statt. Das ist<br />

wohl auch gar nicht erwünscht.<br />

Hat Ihre Gruppe Kontakte zu amerikanischen<br />

GIs?<br />

Wir haben Kontakt zu einigen Dissidenten,<br />

die in Deutschland leben. Über ein Netzwerk<br />

<strong>von</strong> europäischen Friedensorganisationen<br />

ist es möglich, Informationen<br />

über Beratungsstellen <strong>und</strong> dergleichen an<br />

die US-SoldatInnen <strong>und</strong> ihre Familien<br />

zu verteilen. Erwähnen kann ich hier die<br />

guten Kontakte zu den auch in Deutschland<br />

tätigen Friedensgruppen Munich<br />

American Peace Committee (MAPC) oder<br />

American Voices Abroad (AVA) Military<br />

Project.<br />

Wer hat außerdem noch Kontakt zu<br />

den GIs?<br />

Neulich habe ich erfahren, dass eine Notärztin<br />

zum Flughafen geholt wurde, weil<br />

einige GIs im Flugzeug kollabiert waren.<br />

Da kommen junge Frauen <strong>und</strong> Män -<br />

ner trau matisiert aus Einsätzen wieder.<br />

Sie sind nur noch schwer zu transportieren.<br />

Bei Halle wird jetzt ein Krankenhaus<br />

eingerichtet, das mit Hubschraubern<br />

vom Flughafen aus schnell erreichbar<br />

ist, um Verw<strong>und</strong>ete, aber vor allem auch<br />

seelisch strapazierte Menschen medizinisch<br />

zu versorgen. Auch auf diese Weise<br />

wird der Krieg hier in unserer Region<br />

alltägliche Realität.<br />

2003, in der Zeit, als die völkerrechtswidrige<br />

Invasion im Irak begann, gab es in<br />

Leipzig wie in vielen anderen Städten große<br />

Protestdemonstrationen. Bis zu 30.000 Bürgerinnen<br />

<strong>und</strong> Bürger waren Montag für<br />

Montag auf der Straße, um friedlich gegen<br />

den Krieg zu demonstrieren. Uns würde<br />

interessieren, wie die Leipziger Lokalpolitiker<br />

auf die jetzigen Truppentransporte reagiert<br />

haben?<br />

Der Oberbürgermeister der Stadt Leipzig,<br />

Burkhard Jung, sitzt im Aufsichtsrat des<br />

Flughafenkonsortiums <strong>und</strong> hat dort der<br />

extraterritorialen Benutzung durch das<br />

US-Militär ausdrücklich zugestimmt, weil<br />

die Amerikaner sehr gut zahlen. Als ihn<br />

am 29. Februar diesen Jahres ein Friedensforscher<br />

auf einer öffentlichen <strong>Vera</strong>nstaltung<br />

in Leipzig darauf ansprach <strong>und</strong><br />

fragte, ob er sich als Oberbürgermeister<br />

<strong>von</strong> Leipzig damit nicht zum Komplizen für<br />

möglicherweise ganz andere Transportinhalte<br />

mache, antwortete Burkhard Jung,<br />

er wolle ganz bewusst nicht wissen, was<br />

da transportiert <strong>und</strong> zwischengelandet<br />

werde. Eben weil, wie er wiederholte, die<br />

Bezahlung sehr gut sei <strong>und</strong> das Ganze ein<br />

lukratives Geschäft darstellen würde.<br />

Bei der <strong>Vera</strong>nstaltung in Kursdorf hatte<br />

ich den technischen Leiter des Flughafens<br />

darauf angesprochen, wie groß der<br />

Um fang militärischer Transporte ist.<br />

Da meinte er, es gäbe keine militärischen<br />

Transporte, weil die alle mit Privatmaschinen<br />

fliegen.<br />

World Airways, North American Airlines<br />

<strong>und</strong> die ATA-Group sind einige <strong>von</strong> vielen<br />

amerikanischen Fluglinien, die vom<br />

Pen tagon ihre Aufträge bekommen <strong>und</strong><br />

damit ihre Gewinne machen – teilweise<br />

schon seit dem Koreakrieg. In den<br />

neunziger Jah ren haben die Vereinigten<br />

Staaten ihre Ressourcen <strong>und</strong> Streitkräfte<br />

umgelagert. Zum Beispiel konnte<br />

George Bush senior seine Streitkräfte<br />

nicht kostengünstig in den Nahen Osten<br />

verlagern, er musste sie damals schon nach<br />

wenigen Monaten wieder aus dem Irak<br />

abziehen, denn dieser Krieg war fi nanziell,<br />

technologisch <strong>und</strong> logistisch nicht mehr<br />

tragbar. George Bush junior hat dann diese<br />

privaten Wirtschaftsunternehmungen<br />

– nach der ideologischen Wirtschaftstheorie<br />

der Chicagoer Schule <strong>und</strong> ihrem<br />

neolibe ralen Vordenker, Milton Friedman –<br />

zugelassen. Donald Rumsfeld, der vorletzte<br />

US-Verteidigungsminister, hat bei<br />

Friedman studiert. Man kann sagen,<br />

er hat seine Ideen sogar radikalisiert, denn<br />

in seiner Amtzeit begann Rumsfeld, dem<br />

Staat die Kontrolle über das Militär<br />

zu entziehen <strong>und</strong> militärische Aufgaben<br />

mehr <strong>und</strong> mehr in Privatunternehmen<br />

auszulagern. Man darf nicht vergessen:<br />

Im Irak, dem Flugziel der meisten<br />

›Transitpassagiere‹, wurde die Infrastruk -<br />

tur komplett zerstört, um sie dann privatwirtschaftlich<br />

neu aufzubauen. Das<br />

al les sind Zeichen eines neuen globalen<br />

Wirtschaftens, das wir auch hier in Leipzig<br />

spüren können.<br />

Die Privatisierung des Militärischen, ist<br />

das eine Entwicklung die sich vor allem auf<br />

Amerika beschränkt?<br />

Nein, ganz <strong>und</strong> gar nicht. Das ist eine<br />

Praxis, die inzwischen weltweit Schule<br />

macht: Auch in Deutschland soll die<br />

gesamte Basislogistik der B<strong>und</strong>eswehr,<br />

also die Lagerhaltung sowie der Transport<br />

auch <strong>von</strong> Waffen <strong>und</strong> Munition, <strong>von</strong> DHL<br />

<strong>und</strong> Schenker übernommen haben.<br />

Allein der erste Auftrag hat nach Branchenschätzungen<br />

einen Wert <strong>von</strong> 800 Millionen<br />

Euro. Die Logistik der B<strong>und</strong>eswehr<br />

wird auf insgesamt drei Milliarden Euro<br />

geschätzt.<br />

Welche Konsequenzen hat eine solche Privatisierung<br />

des Militärischen für die über<br />

Jahrh<strong>und</strong>erte gewachsene rechtliche Unterscheidung<br />

<strong>von</strong> Zivilem <strong>und</strong> Militärischem?<br />

Ich kann Ihnen sagen, welche rechtlichen<br />

Gr<strong>und</strong>lagen den gesellschaftlichen <strong>Vera</strong>ntwortungsträgern<br />

gr<strong>und</strong>sätzlich<br />

<strong>und</strong> gr<strong>und</strong>gesetzlich verbieten, aus unserem<br />

zi vil genutzten Interkontinentalfl<br />

ughafen einen global agierenden Interventionshub<br />

zu machen.<br />

Das beginnt bei den Genfer Konventionen,<br />

auch Genfer Abkommen genannt: das<br />

sind zwischenstaatliche Abkommen <strong>und</strong><br />

eine wichtige Komponente des humanitären<br />

Völkerrechts. Sie enthalten für den<br />

Fall eines Krieges beziehungsweise<br />

eines internationalen oder nicht-internationalen<br />

bewaffneten Konfl ikts Regeln für<br />

den Schutz <strong>von</strong> Personen, die nicht an den<br />

Kampfhandlungen teilnehmen. Das<br />

Völkerstrafgesetzbuch (VStGB) regelt in<br />

Deutschland die Folgen der Straftaten<br />

gegen das Völkerrecht. Von der UN-Charta<br />

brauchen wir da gar nicht zu reden. Es ist<br />

Artikel 26 des Gr<strong>und</strong>gesetzes, der hier<br />

gr<strong>und</strong>sätzlich missachtet wird. Darin steht:<br />

»Handlungen, die geeignet sind <strong>und</strong> in<br />

der Absicht vorgenommen werden,<br />

das friedliche Zusammenleben der Völker<br />

zu stören, insbesondere die Führung<br />

eines Angriffskrieges vorzubereiten,<br />

sind verfassungswidrig.«<br />

Ihre Gruppe setzt sich intensiv mit der<br />

militärischen Nutzung des Flughafens auseinander.<br />

Wie geht der Flughafen mit dieser<br />

Kritik um?<br />

Die Sicherheitskonzepte am Flughafen sind<br />

sehr resolut. Wenn wir am Flughafen ankommen,<br />

ist es wieder <strong>und</strong> wieder vorgekom<br />

men, dass die Sicherheitskräfte schon<br />

da stehen <strong>und</strong> sagen: »Wir dachten, Sie<br />

kommen gar nicht, Herr Metzger.« Mit<br />

Handschlag werde ich begrüßt. Seitdem<br />

wir den Tornado beschmiert haben,<br />

sind sie sauer auf mich. Sollen sie<br />

auch sein. Nur macht das die weitere<br />

Arbeit nicht einfacher.<br />

Was haben Sie mit dem Tornado gemacht?<br />

Zur Eröffnung der Südbahn gab es ein<br />

Volks fest mit Flugschau. Dort standen<br />

Antonov-Maschinen, Aufklärungsfl ugzeuge<br />

AWACS <strong>und</strong> ein B<strong>und</strong>eswehr-Tornado –<br />

nun, nicht eine <strong>von</strong> den sechs Maschinen,<br />

die in Afghanistan waren, aber ein<br />

seriengleiches Flugzeug – <strong>und</strong> alle, auch<br />

Mütter mit ihren Kindern, durften das<br />

kleine Treppchen hochsteigen <strong>und</strong> in den<br />

Tornado krabbeln. Wir sind als Frie densgruppe<br />

hingegangen <strong>und</strong> haben den<br />

Tornado mit Ketchup bespritzt. Unser<br />

Er folg war, dass danach sofort die Flugschau<br />

weiträumig abgesperrt wurde.<br />

Welche anderen Mittel setzen Sie zum<br />

Protest ein?<br />

Wir gehen mit Transparenten zum Flughafen,<br />

auf denen steht »Nein, zur Militärisierung<br />

unseres Flughafens« oder<br />

»Nein zum Kriegsfl ughafen«. Wenn die GIs<br />

kom men, steht »Sir, no Sir« – ein alter<br />

Slogan kritischer amerikanischer Soldaten,<br />

noch aus dem Vietnamkrieg – sowie die<br />

Telefonnummer einer Rechtsberatung für<br />

amerikanische Soldaten drauf. Wir versuchen<br />

auch, die Touristen, die zum Checkin<br />

gehen, aufzuklären. »Hallo, wenn du<br />

dich jetzt in die Maschine setzt, lies doch<br />

mal, was hier am Flughafen los ist.«<br />

Können Sie dort ohne weiteres Flugblätter<br />

verteilen?<br />

Wenn wir uns anmelden, dann dürfen<br />

wir gar nichts. Wenn die S-Bahn einfährt,<br />

dann stehen schon zehn Beamte <strong>von</strong> der<br />

Bun des polizei dort. Wir kommen uns<br />

vor wie Hooligans vor einem Fußballspiel.<br />

Dann werden wir <strong>von</strong> zirka 20 Sicherheits<br />

kräften mit Schlips <strong>und</strong> Jackett durch<br />

den ganzen Terminal B geführt. Man<br />

kommt sich schon fast wie eine Re gierungsdelegation<br />

vor. Wir können nur unangemeldete<br />

Aktionen starten, aber über die<br />

kann ich natürlich nicht reden. Was<br />

ich aber sagen kann: Bei allen Aktionen<br />

der »AG Flughafen NATO-FREI« ist<br />

das Ziel, den Gedanken der Rüstungskonversion<br />

wieder in die Bevölkerung zu tragen.<br />

Wir erleben hier in Leipzig gerade die politisch<br />

gewollte Inversion, die schleichende<br />

Militarisierung unseres Alltags.


WAS DU WISSEN SOLLTEST (DAS WÜNSCHEN) 20<br />

KURZWEIL<br />

WÄHRT AM LÄNGSTEN<br />

Der Berliner Autor Tobias Hülswitt<br />

trifft den amerikanischen<br />

Zukunftsforscher Ray Kurzweil<br />

Ovid beendete seine Metamorphosen mit den<br />

Versen: »Die Menschen werden mich lesen,<br />

<strong>und</strong> im Gedächtnis aller Zeiten / Werde ich […]<br />

leben.« Wie klingt das für Sie?<br />

Bis vor kurzem hatten wir keine Möglichkeit, die scheinbare<br />

Zwangsläufi gkeit <strong>von</strong> körperlichem Verfall <strong>und</strong><br />

Tod auf zuheben. Unser Bewusstsein kommt uns jedoch<br />

nicht vergänglich vor, sondern scheint dauerhaft. Trotzdem<br />

müssen wir beobachten, dass Menschen sterben. Also<br />

haben wir verschiedene Theorien entwickelt, warum sie,<br />

auch wenn ihr Leben zeitlich begrenzt scheint, in Wahrheit<br />

ewig leben: durch Wiedergeburt, in einem ewigen Leben<br />

im Himmel oder im Gedächtnis der Nachfahren. Und wir<br />

erdenken philosophische Gründe, warum der Tod etwas<br />

Positives <strong>und</strong> Befreiendes ist <strong>und</strong> es nicht gut wäre,<br />

das Leben ins Unendliche zu verlängern. Die Ver drän gung<br />

der Tatsache, dass der Tod eine unermesslich schreckenerregende<br />

Vorstellung ist – ganz zu schweigen <strong>von</strong> dem<br />

Leiden, das damit einhergeht –, ist weit verbreitet.<br />

Wir hängen an unseren Rationalisierungen, die es uns<br />

erlau ben, im Angesicht der heraufziehenden Tragödie<br />

weiter zumachen. Solange wir keine Alternative hatten,<br />

war das vernünftig. Heute haben wir allerdings eine Alterna<br />

tive. Auch wenn wir die nötigen Mittel noch nicht zur<br />

Hand haben, besitzen wir doch das Wissen, wie wir<br />

bis zu dem Zeitpunkt leben können, an dem sie zur Verfügung<br />

stehen werden. Mit dem heutigen Wissen können<br />

selbst Angehörige meiner Generation in fünfzehn Jahren<br />

noch bei guter Verfassung sein. Dann wird es möglich<br />

sein, unser biologisches Programm durch Biotechnologie zu<br />

modifi zieren, was uns lange genug leben lassen wird, bis<br />

uns die Nanotechnologie befähigt, ewig zu leben.<br />

War die Angst vor dem Tod der Ausgangspunkt<br />

Ihrer Arbeit?<br />

Nein. Mein Denken besitzt zwei Ursprünge. Ich bin Erfi nder,<br />

<strong>und</strong> meine Produkte sollen das richtige Timing haben.<br />

Die meisten Erfi nder scheitern nicht, weil ihre Ideen<br />

schlecht sind, sondern weil ihr Timing falsch ist. Deshalb<br />

untersuchte ich technologische Trends <strong>und</strong> sah, dass<br />

die Entwicklungen der Rechnerleistung <strong>und</strong> der Leistungsfähigkeit<br />

<strong>von</strong> Kommunikationstechnologien vorhersagbar<br />

sind. Ich arbeite heute mit zehn Leuten, die Daten aus verschiedenen<br />

Feldern zusammentragen, anhand deren wir<br />

mathematische Modelle entwickeln. Diese ermöglichen<br />

uns genaue Prognosen. Auf diese Weise haben wir zuletzt<br />

eine taschenformatgroße Lesemaschine für Blinde<br />

entwickelt. 2002 errechneten wir, dass die dafür benötigte<br />

Technik 2006 – in der richtigen Größe, mit der richtigen<br />

Leistungsstärke <strong>und</strong> zum richtigen Preis – zur Verfügung<br />

stehen würde. Also begannen wir die Entwicklung 2002,<br />

um 2006 mit dem Produkt fertig zu sein. Mit denselben<br />

mathematischen Modellen kann man nun nicht nur<br />

fünf oder zehn, sondern zwanzig, dreißig Jahre vorausschauen.<br />

Wegen der explosiven Natur, der exponentiellen<br />

Beschleunigung technischer Entwicklung <strong>und</strong> weil<br />

Informationstechnologien dieser Beschleunigung unterliegen,<br />

kam ich zu dem Schluss, dass 2045 die Singularität<br />

stattfi nden wird: Das Ereignis also, hinter das wir <strong>von</strong><br />

Ray Kurzweil ist als Computerwissenschaftler,<br />

Autor <strong>und</strong> Unternehmer<br />

weltweit bekannt. Seit über vier Jahrzehnten<br />

arbeitet er – auch im Selbstversuch<br />

– an der Idee, das menschliche<br />

Leben durch computerbasierte<br />

Methoden <strong>und</strong> Programme zu verlängern.<br />

Bevor er seine Firma Kurzweil<br />

Music Systems für elektronische Musikinstrumente<br />

gründete, hatte er bereits<br />

auf Wunsch <strong>von</strong> Stevie Wonder eine<br />

Lesemaschine für Blinde erfun den.<br />

Ray Kurzweil wurde 1948 als Sohn einer<br />

jüdischen Migrantenfamilie in<br />

New York geboren <strong>und</strong> studierte am<br />

heute nicht weiter in die Zukunft schauen können, da dann<br />

artifi zielle Intelligenz die menschliche überholen wird.<br />

Sie erwähnten einen zweiten Urspung ihres<br />

Denkens.<br />

Der liegt darin, dass ich an Diabetes Typ II er krankte, als<br />

ich fünf<strong>und</strong>dreißig war. Die her köm mliche<br />

Herangehensweise machte es schlim mer. Also ging ich das<br />

Problem als Ingenieur <strong>und</strong> Wissenschaftler an. Ich<br />

sammelte Informationen <strong>und</strong> heilte so meinen Diabetes<br />

durch Nahrungsergänzungsmittel <strong>und</strong> Umstellungen<br />

im Lebensstil; heute bin ich völlig symp tomfrei. Damals<br />

begriff ich, dass man Ges<strong>und</strong>heitsprobleme mit der<br />

richtigen Kombination <strong>von</strong> Ideen überwinden kann. Und<br />

wenn es mit Diabetes möglich ist, dann kann man, zumindest<br />

ich, das mit jeder Krankheit tun.<br />

Schließlich bekam ich ein weiteres Ges<strong>und</strong>heitsproblem:<br />

das sogenannte mittlere Alter, diese Beschleunigung des<br />

Alterns <strong>von</strong> Menschen um die fünfzig. Ich glaube, ich habe<br />

auch diese Herausforderung gemeistert. Bei bestimmten<br />

Alterstests kommt bei mir vierzig heraus, obwohl ich<br />

sechzig bin. Ich messe regelmäßig sechzig verschiedene<br />

Blutwerte, zudem mein Gedächtnis, die Reaktionszeit <strong>und</strong><br />

das Tastempfi nden. In fünfzehn Jahren, wenn ich<br />

chronologisch 75 Jahre alt bin, möchte ich biologisch 38<br />

sein. Dann werden wir unsere Biochemie neu programmieren<br />

können, <strong>und</strong> später kommen die Nanobots, winzige<br />

Roboter, die wir in unseren Blutkreislauf einspeisen.<br />

Werden wir durch die Verbindung <strong>von</strong> Mensch<br />

<strong>und</strong> künstlicher Intelligenz fähig sein, unser<br />

Wissen <strong>und</strong> sogar persönliches Erleben kabellos<br />

direkt <strong>von</strong> Hirn zu Hirn zu übertragen?<br />

Unser Körper scheint eine festgelegte physische Form zu<br />

besitzen. Unsere Gehirne sind in einem Schädel ein gesperrt<br />

<strong>und</strong> überlappen nicht physisch mit anderen<br />

Gehirnen. Daher pfl egen wir die Vorstellung der einzigartigen<br />

Identität jedes einzelnen Individuums. Computer<br />

sind anders. Man könnte eine Million <strong>von</strong> ihnen nehmen<br />

<strong>und</strong> einen einzigen Prozessor daraus machen, <strong>und</strong> danach<br />

könnten es wieder eine Million Computer werden.<br />

Sprich: Computer können sich mitsamt ihrer Identität <strong>und</strong><br />

all ihrer Software problemlos mit anderen Computern<br />

verbinden <strong>und</strong> sich wieder isolieren. Die Identität eines<br />

Computers beruht auf seiner Software. Wenn Ihr Notebook<br />

stirbt, können Sie die Software einfach <strong>von</strong> einem Back-up<br />

auf einen anderen Computer spielen, <strong>und</strong> Ihr Notebook<br />

ist wieder am Leben.<br />

In Bezug auf uns selbst leben wir mit der Vorstellung,<br />

dass die Software sterben muss, wenn die Hardware<br />

kaputtgeht – denn das ist der Tod: Unsere Hardware geht<br />

kaputt. Bei Computern haben wir diese Erwartung nicht.<br />

Indem wir also unsere Biologie immer mehr ablegen <strong>und</strong><br />

computerähnlicher werden <strong>und</strong> uns mit unseren<br />

Computern verbinden, bis schließlich der Computeranteil<br />

unserer Intelligenz eine Milliarde mal leistungsstärker<br />

sein wird als ihr biologischer Anteil, werden wir dieselben<br />

Fähigkeiten besitzen. Wir werden unsere Intelligenz<br />

verschmelzen <strong>und</strong> uns wieder trennen können, genauso,<br />

wie es Computer heute tun. Wenn wir tiefer in das<br />

Massachusetts Institute of Technology.<br />

Vieles <strong>von</strong> dem, was Kurzweil in seinen<br />

Büchern, etwa 1990 in ›The Age of<br />

Intelligent Machines‹, prophezeit, ist<br />

heute längst Alltag: Computer schla gen<br />

Schachgroßmeister, das Internet durchdringt<br />

unser Leben. — Für das Gespräch<br />

in seinem Büro in einem Vorort <strong>von</strong><br />

Boston nimmt sich Ray Kurzweil so viel<br />

Zeit, als habe er da<strong>von</strong> im Überfl uss.<br />

Auf seinem Schreibtisch stehen die gesammelten<br />

Abenteuer des Science-<br />

Fiction-Helden Tom Swift Jr., die er als<br />

Junge verschlungen hat.<br />

Bewusstsein eines anderen Menschen eindringen können,<br />

indem wir unser Denken mit seinem auf intimste Weise,<br />

mit Hilfe nichtbiologischer Intelligenz, verbinden,<br />

so wird sich das sehr positiv auf das Mitgefühl <strong>und</strong> das<br />

gegenseitige Verständnis auswirken.<br />

Gibt es nicht heute bereits Möglichkeiten,<br />

unsere Empathiefähigkeit zu steigern, zum<br />

Beispiel – idealerweise weltanschauungsneutrale<br />

– Formen der Meditation oder ganz<br />

einfach das Gespräch? Warum sollten wir,<br />

die wir solche Möglichkeiten heute nicht<br />

nutzen, in der Zukunft, die Sie beschreiben,<br />

darin besser werden?<br />

Wir teilen Wissen <strong>und</strong> Ideen auch heute durch Sprache<br />

<strong>und</strong> sind in der Lage, mit anderen Menschen mitzuempfi<br />

nden. Und wir haben die Gehirnstrukturen, die<br />

Neuronen <strong>und</strong> Spindelzellen, die uns das Mitfühlen <strong>und</strong><br />

Miterleben bis zu einem gewissen Grad ermöglichen,<br />

im Gehirn ausgemacht. Und wir besitzen bereits eine<br />

gewisse Fähigkeit, unser Denken zu denkenden Entitäten<br />

zu verbinden, die aus vielen verschiedenen Menschen<br />

bestehen. Kommunikationstechnologien wie das Internet<br />

erlauben es uns, weltumspannend zu kommunizieren<br />

<strong>und</strong> Gemeinschaften zu schaffen, die vor einigen<br />

Jahrzehnten noch nicht existierten. Dies sind zutiefst<br />

demokratisierende Technologien.<br />

Um den Alterungsprozess zu verlangsamen,<br />

nehmen Sie 250 Nahrungsergänzungspillen<br />

pro Tag.<br />

Ich bin mittlerweile auf zweih<strong>und</strong>ert, durch Effi zienzsteigerung.<br />

Ich nehme allerdings nicht einfach willkürlich<br />

irgendwelche Mittel, geleitet <strong>von</strong> Aberglaube oder vagen<br />

Ahnungen. Mein Programm ist sehr konservativ, auch<br />

wenn es aggressiv wirken mag. Es stehen wissenschaft liche<br />

Beweise hinter allem, was ich tue <strong>und</strong> empfehle. Wenn<br />

etwas zu Recht umstritten ist, wie menschliche Wachstumshormone,<br />

dann nehme <strong>und</strong> empfehle ich es nicht. Und<br />

mit Mitteln, über deren Wirkungen wir nicht genug<br />

wissen, experimentiere ich nicht. Außerdem führe ich, wie<br />

gesagt, regelmäßig zahlreiche Tests durch, um zu sehen,<br />

wie es mir geht. Ich mache das seit zwanzig Jahren, <strong>und</strong> es<br />

geht mir sehr gut. Mein Cholesterinspiegel, der vor<br />

25 Jahren bei 2,80 lag, liegt heute bei 1,30, <strong>und</strong> ich könnte<br />

viele andere Werte aufzählen, die ideal eingestellt sind.<br />

Mein Hormonspiegel entspricht einem Dreißig- oder<br />

Vierzigjährigen, <strong>und</strong> ich bin sechzig. Ich schlafe gut, <strong>und</strong><br />

ich bin immer noch sehr produktiv.<br />

Wann nehmen Sie all diese Pillen?<br />

Über den ganzen Tag verteilt.<br />

Denken Sie manchmal, der Tod könnte eine<br />

interessante Erfahrung sein, die Sie verpassen<br />

werden?<br />

(Überlegt lange) Na ja – man kann kaum wissen, wie diese<br />

Erfahrung sein wird.<br />

Ich kenne sogar Leute, die sagen, es wird eine<br />

grandiose Erfahrung.


WAS DU WISSEN SOLLTEST (DAS WÜNSCHEN) 21<br />

(Lacht) Und dann, was passiert danach? Es gibt ja<br />

Menschen, die in diesen Prozess eingetreten sind, die für<br />

klinisch tot erklärt worden <strong>und</strong> zurückgekommen sind.<br />

Sie haben nichts Transzendentales zu berichten. Wenn es<br />

dort schöne Prozesse gibt, dann werden wir sie erfahrbar<br />

machen können, ohne zu sterben. Wir müssten nur<br />

herausfi nden, was für Prozesse das wären. Ich denke, die<br />

Einstellung der Leute, die Sie erwähnt haben, ist nur eine<br />

weitere Rationalisierung, um sich einzureden, dass der Tod<br />

etwas Gutes ist, um nicht der Tatsache ins Auge zu sehen,<br />

dass er in Wahrheit eine furchtbare Tragödie ist.<br />

Warum werden radikale Lebensverlängerungs<br />

maßnahmen in Amerika früher auf Akzeptanz<br />

stoßen als in Europa?<br />

Das ist eine gute Frage. Der Widerstand gegen gentechnisch<br />

veränderte Organismen ist in Europa ebenfalls<br />

stärker als in den USA. Vielleicht ist für Europa die eigene<br />

Geschichte wertvoller, was zu einer Angst vor dem Wandel<br />

führen kann. Die Vereinigten Staaten haben den Geist<br />

der Grenzüberschreitung. Es gab im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert die<br />

geographische Grenze im Sinne der offenk<strong>und</strong>igen<br />

Bestimmung des ›Manifest Destiny‹, in der sie ihr Staatsgebiet<br />

ausweiteten, <strong>und</strong> es gab auch immer einen Drang,<br />

die Grenzen der Vergangenheit aufzubrechen, in den<br />

Weltraum zu steigen, <strong>und</strong> auch das Risikokapital wurde<br />

in den USA erf<strong>und</strong>en …<br />

Im Großen <strong>und</strong> Ganzen hat sich die ganze Welt an diesem<br />

Vorbild orientiert, der Gr<strong>und</strong>satz des Unternehmertums<br />

<strong>und</strong> Risikokapitals ist keine ausschließlich amerikanische<br />

Erscheinung mehr, aber er hat hier seinen Ursprung.<br />

Es gibt diesen amerikanischen Drang zur Überwindung<br />

<strong>von</strong> alten Grenzen, <strong>von</strong> alten Beschränkungen. Unsere<br />

begrenzte Lebenszeit ist eine große Beschränkung. Es ist<br />

wirklich ziemlich tragisch. Ich meine, gerade dann, wenn<br />

den Menschen etwas gelingt <strong>und</strong> sie endlich herausgef<strong>und</strong>en<br />

haben, wie sie ihren Beitrag zur Kunst oder zur<br />

Wissenschaft leisten oder gute Beziehungen führen<br />

können, müssen sie sterben. Wir könnten aus der Weisheit<br />

der Menschen einen echten Nutzen ziehen. Und diese<br />

Vorstellung, es gäbe nur begrenzte Ressourcen <strong>und</strong> dass<br />

die ganze Energie <strong>und</strong> das Wasser für so viele Menschen<br />

nicht ausreichen würde, ist unsinnig. Die neuen Technologien<br />

werden eine unglaubliche Steigerung der Roh -<br />

stoffquellen herbeiführen. Allein im Sonnenlicht steht uns<br />

zehntausendmal mehr Energie zur Verfügung als wir<br />

heute verbrauchen. Es gibt ausreichend Rohstoffe, wenn<br />

wir erst einmal Dinge wie die Nanotechnologie anwenden.<br />

Also, in Europa gibt es starke technologiefeindliche<br />

Strömungen <strong>und</strong> vielleicht auch einen engeren Bezug zu<br />

dieser überlieferten Herleitung, der Tod sei etwas Gutes,<br />

weil er dem Leben eine Bedeutung verleihe.<br />

Sie meinen, weil die Amerikaner die Alte Welt<br />

hinter sich gelassen haben, ist es für sie<br />

auch einfacher, alte Vorstellungen hinter sich<br />

zu lassen?<br />

In der Tat, <strong>und</strong> die Vereinigten Staaten sind die Völker<br />

der Welt, wissen Sie, es gibt Europäer in Amerika, aber<br />

eben auch Afrikaner oder Chinesen. Wir haben alle Völker<br />

der Welt versammelt, weshalb es keine übermäßige<br />

Bindung an eine bestimmte Kultur gibt. Es gibt so eine<br />

Art neue Weltkultur. Und eine neue Weltkultur kommt<br />

überall auf der Welt zum Vorschein, weil das Internet die<br />

ganze Welt verbindet, aber in den Vereinigten Staaten<br />

hatten wir die Völker der Welt <strong>von</strong> Anfang an versammelt.<br />

Zu Beginn unseres Gesprächs habe ich aus<br />

Ovids Metamorphosen zitiert. Ich möchte gerne<br />

noch einmal auf die Rolle der Erzählung<br />

zurückkommen. Menschen, denen Geschichten<br />

im aristotelischen Sinne erzählt werden,<br />

glauben in der Regel daran, selbst ein geschlossenes<br />

Wesen mit einem wahren inneren Selbst<br />

zu sein. Das wahre innere Selbst ist jedoch –<br />

genauso wie eine übergeordnete aristotelische<br />

Dramaturgie – ein metaphysisches Konzept.<br />

Diese Vorstellungen verursachen eine permanent<br />

verzerrte Weltsicht. Wenn man nun<br />

Youtube als eine Erzählung betrachtet, ist das<br />

anders. Es gibt kein wahres inneres Selbst;<br />

wenn alle ›Szenen‹ oder Erzähleinheiten<br />

weggenommen werden, bleibt nichts übrig.<br />

Alles ist ersetzbar. Ist das die Erzählung der<br />

Zukunft?<br />

Bei einer näheren Betrachtung <strong>von</strong> Erscheinungen wie<br />

Youtube oder Blogs wird deutlich, dass diese sich aus<br />

der Weisheit der Massen nähren, die nicht zentral geleitet<br />

wird wie ein aristotelischer Erzählentwurf. Sie sind<br />

vielmehr selbstorganisierend, tragen aber am Ende dennoch<br />

ein hohes Maß an Weisheit in sich. Ein einzelner Blog<br />

für sich mag nur eine Aneinanderreihung kleiner Lichter<br />

sein, aber die Blogosphäre als Ganzes versteht es, die<br />

Wahrheit einer Situation äußerst wirkungsvoll offen zulegen.<br />

Google greift nicht auf einen eigenen Karteikasten<br />

zurück, um zu entscheiden, welcher Link erscheint, wenn<br />

du nach einem Elefanten suchst – es ist ein selbstorganisierendes<br />

System, das auf den Entschei dungen <strong>von</strong><br />

Millionen Menschen beruht. Es zapft in der Tat die<br />

Weisheit der Massen an. Und so ermöglichen uns diese<br />

neuen Technologien, aus der Gesamtheit unserer Geister<br />

einen Übergeist zu schaffen, der selbst den hellsten Geist<br />

zu übertreffen vermag. Der Unterschied zwischen<br />

einzelnen Menschen ist nicht so groß, aber wenn du wirklich<br />

Millionen <strong>und</strong> Abermillionen <strong>von</strong> Menschen anzapfen<br />

kannst, führt das zu Einsichten, die anders niemals<br />

möglich wären. Geschichtenerzählen hat seine Grenzen,<br />

wie man am Beispiel <strong>von</strong> Hollywood sehen kann, wo es ein<br />

ganz bestimmtes Muster gibt, das zum Beispiel am Ende<br />

die Liebe siegt, <strong>und</strong> bestimmte Regeln, so dass du schon<br />

erkennen kannst, wie die Geschichte ausgehen wird,<br />

auf der Gr<strong>und</strong>lage dieser alles bestimmenden Muster.<br />

Das wirkliche Leben ist meistens unordentlicher. Obwohl<br />

die Menschen eine Vorstellung <strong>von</strong> der Geschichte ihres<br />

eigenen Lebens haben, wobei sie darüber häufi g die eigentliche<br />

Komplexität ihres Lebens übersehen. Ich glaube,<br />

wir können zu tieferen Einsichten gelangen, indem wir uns<br />

mit der ungeordneten Wirklichkeit beschäftigen. Es gibt<br />

einen Inhalt, der über irgendwelche Filmchen auf Youtube<br />

<strong>und</strong> den Inhalt <strong>von</strong> Blogs hinaus geht, der aus gegenseitiger<br />

Interaktion besteht <strong>und</strong> selbstorganisierend ist,<br />

<strong>und</strong> dieser Inhalt führt zu tiefen Einsichten.


WAS DU WISSEN SOLLTEST (DAS GESTALTEN) 22<br />

» DIE SUPPE MUSS<br />

UMGERÜHRT WERDEN «<br />

Ein E-Mail-Interview mit<br />

Steffen Schuhmann,<br />

die Fragen stellte <strong>Vera</strong> <strong>Tollmann</strong><br />

— Wie wichtig ist so etwas wie Zukunft heute eigentlich<br />

noch? Ähnelt unser Leben nicht dem <strong>von</strong> ›Lola rennt‹? –<br />

Jeder Tag bringt h<strong>und</strong>erte Situationen, aus denen sich erst<br />

die Richtung des nächsten Tages ergibt. Ist dabei ein<br />

Zeithorizont, wie er einmal mit dem Wort Zukunft<br />

umschrieben wurde, nicht längst aus dem Blick geraten?<br />

— Mir nicht.<br />

— Auch weil wir mehr <strong>und</strong> mehr dazu übergegangen sind,<br />

ad hoc zu entscheiden.<br />

— Ich versuche ad hoc zu vermeiden – das bringt auf lange<br />

Sicht (Zukunft!) nichts.<br />

— Wie wichtig ist für Dich ein Nachdenken über die<br />

Zukunft?<br />

— Zukunft beschäftigt mich ganz gewaltig. Ich arbeite in einem<br />

Kollektiv <strong>von</strong> Designern. Wir sind überzeugt, dass unser Tun<br />

<strong>und</strong> Lassen unter anderem auch eine politische Dimension<br />

hat – <strong>und</strong> Politik heißt Zukunft verhandeln. Unsere Maxime ist:<br />

Wir arbeiten an Entwürfen für eine bessere Welt. Viel mehr<br />

Zukunftsmusik geht nicht, oder?<br />

— Wie stellt Ihr Euch denn die bessere Welt vor? Wie sehen<br />

Eure Entwürfe aus? Orientiert Ihr Euch dabei an<br />

den Visionen der Moderne oder woran knüpft Ihr an?<br />

— Die Moderne – nett. Sie hat ein so positives Menschenbild.<br />

Das ist mir sympathisch. Anknüpfen möchte ich aber lieber am<br />

Konkreten, an einem Gespräch vor einem Dorfkiosk, an eine<br />

Randnotiz in der Zeitung, an Fragen <strong>von</strong> Leuten, die uns bitten,<br />

sie zu unterstützen. Aus drei Problemen lässt sich eine Lösung<br />

machen. Wir haben zum Beispiel aus Leerstand, fehlendem<br />

Austausch zwischen Studenten <strong>und</strong> mangelndem kulturellen<br />

Angebot in Frankfurt/Oder das ›verbuendungshaus fforst‹<br />

entwickelt – ein selbstverwaltetes, internationales Studentenwohnheim<br />

an der Oder. Darauf kann man nun trefflich seine<br />

jeweilige Vision einer besseren Welt projizieren. Vielleicht<br />

ist es sogar ein Beitrag zum Klimaschutz, indem es Ressourcen<br />

schont. Jeder darf sich da was wünschen … Fakt ist aber:<br />

Es reagiert auf einen konkreten Bedarf. Wohnheimplätze zu<br />

polnischen Preisen in der Frankfurter Innenstadt gab es bisher<br />

nicht. – Unsere Entwürfe sind keine Masterpläne. Sie sind<br />

Beispiele. Sie sind pragmatisch, sie sind realisierbar, sie laden<br />

ein, sie nachzumachen.<br />

— Ist das Beispiel Frankfurt/ Oder prototypisch für Eure<br />

Arbeitsweise?<br />

— Was dort geklappt hat – mit den Möglichkeiten visueller<br />

Kommunikation <strong>und</strong> dem Vermitteln <strong>von</strong> konkretem Wissen,<br />

eine langlebige Struktur zu etablieren –, ist für uns zumindest<br />

ein Maßstab für vergleichbare Projekte.<br />

— In ihrem Buch ›Wir nennen es Arbeit – die digitale<br />

Bohème oder intelligentes Leben jenseits der Festanstellung‹<br />

proklamieren Holm Friebe <strong>und</strong> Sascha Lobo, dass die<br />

Zukunft in der flexiblen selbstständigen <strong>und</strong> digitalen<br />

Arbeit liegt, sie lebten bereits deren Prototyp. Wie stehst Du<br />

zu diesem zukunftsoptimistischen Konzept?<br />

— Ich habe in den letzten Jahren kein ärgerlicheres Buch<br />

gelesen als ›Wir nennen es Arbeit‹. Die ZIA [Zentrale<br />

Als Reaktion auf den ›Aufstand der<br />

Anständigen‹ im Herbst 2000 fand sich<br />

an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee<br />

eine Arbeitsgruppe junger Kommunikationsdesigner<br />

zusammen, die mit<br />

›Anschlaege gegen Rechts?‹ das erste<br />

Projekt erarbeitete, das unter<br />

www.anschlaege.de veröffentlicht wurde.<br />

In Berlin Hellersdorf bezogen die drei<br />

Gestalter – Axel Watzke, Christian Lagé<br />

<strong>und</strong> Steffen Schuhmann – 2003 für<br />

Intelligenz-Agentur] ist ein gutes Beispiel für erfolgreiche<br />

Kreative. Für ihren kollektiven Ansatz, ihre vorzeigbaren Erfolge<br />

ver dienen sie allen Respekt. Aber es ist völlig größen wahnsinnig,<br />

dieses Modell zu verallgemeinern (insbesondere über<br />

die eigene Branche hinaus) <strong>und</strong> sich selbst zur Avantgarde zu<br />

krönen. Ein Modell für die Kastanienallee ist kein Modell.<br />

Ich zum Beispiel arbeite in Lichtenberg. Und andere sind ar beitslos<br />

in Zittau oder Bremerhaven.<br />

— Was denkst Du, wie Du in Zukunft Geld verdienen wirst?<br />

— Bisher verdiene ich mein Geld mit Gestaltung. Da mir<br />

das Freude macht, möchte ich dieses Modell in die Zukunft<br />

verlängern.<br />

— Du hast in Berlin an der Publikation ›Plan B. Kultur<br />

wirtschaft in Berlin‹ mitgearbeitet, die sich mit dem<br />

kulturellen Bereich als Arbeitsfeld beschäftigt. Zu welchem<br />

Ergebnis seid Ihr dabei gekommen?<br />

— Das Buch hat über 400 Seiten <strong>und</strong> arbeitet nicht auf ein<br />

finales Statement, sondern auf eine ganze Bandbreite <strong>von</strong> Standpunkten<br />

<strong>und</strong> Äußerungen hin – es streut eine ganze Reihe<br />

Zweifel, Scherze <strong>und</strong> Vorschläge in die Kulturwirtschaftsdebatte.<br />

Zum Beispiel: Sind Selbstständige, die weniger als ein<br />

Busfahrer verdienen, eigentlich Unternehmer? Was kostet<br />

Kreativität? Wie kann man sich ökonomisch organisieren, um<br />

tatsächlich vorwärts zu kommen? Hat Berlin wirklich Interesse<br />

an einer Entwicklung <strong>von</strong> Kreativwirtschaft, oder braucht die<br />

Stadt die Kreativen nur als Hefe im Immobilienmarkt?<br />

— Neulich lautete ein Vorschlag einer Münchner Konferenz<br />

zur Zukunft der Städte, dass man als Reaktion auf<br />

die globale Erderwärmung Reihen <strong>von</strong> Häusern abreißen<br />

könnte, um Lüftungsschneisen zu generieren. Im Zu sammenhang<br />

mit Eurem ›Dostoprimetschatjelnosti‹-Projekt<br />

wurdet Ihr bestimmt oft gefragt, wie die Städte der Zukunft<br />

aussehen könnten?<br />

— Klar. Aber bei ›Dostoprimetschatjelnosti‹ ging es weniger<br />

um eine Zukunftsversion für Städte im Allgemeinen. Es<br />

ging darum, das Potential <strong>von</strong> Plattenbauten zu untersuchen<br />

<strong>und</strong> in der Folge, dem medial vorbereiteten Massenabriss<br />

dieser Häuser zur Mietpreisstabilisierung in den Arm zu fallen.<br />

— Was sind denn für Dich urbane Zukunftsvisionen, <strong>und</strong><br />

was könnte das Baumaterial der Zukunft sein?<br />

— Stärkere Besteuerung <strong>von</strong> Erbe <strong>und</strong> Kapitalerträgen. Zerschlagung<br />

<strong>von</strong> Monopolen. Die Suppe muss umgerührt werden.<br />

Chancengleichheit ist das ›Baumaterial‹. Der Rest ist – zugespitzt<br />

– Kosmetik an der Stadt. Was nicht heißt, dass man damit<br />

nichts erreichen kann.<br />

— Was könnte das konkret heißen oder wie stellst Du Dir<br />

die Umsetzung vor? Sozialistische Prinzipien in unsere<br />

neoliberale Marktwirtschaft unterzubringen? Oder denkst<br />

Du an die Revolution?<br />

— Wenn eine Bürogemeinschaft einen gemeinsamen Kopierer<br />

hat, könnte man dies als einen Schritt hin zur Vergesel lschaftung<br />

<strong>von</strong> Produktionsmitteln deuten. Dieselbe Bürogemeinschaft<br />

beschäftigt jedoch unter Umständen auch ein<br />

halbes Dutzend unbezahlter Praktikanten. Was ist das nun?<br />

mehrere Wochen mit dem Titel<br />

›Dostoprime tschatjel nosti‹ [russ. Sehenswürdig<br />

keiten] einen zum Abriss<br />

bestimmten Platten bau <strong>und</strong> luden dazu<br />

inter nationale Künstler <strong>und</strong><br />

Künstlerinnen ein. Die seit Bestehen<br />

<strong>von</strong> anschlaege.de realisierten Projekte<br />

haben eines gemein sam: Sie greifen<br />

mit den Mitteln <strong>von</strong> Gestaltung direkt<br />

in gesellschaftliche Situationen <strong>und</strong><br />

politische Debatten ein.<br />

Sozialistisch? Neoliberal? – Meiner Meinung nach, kommen wir<br />

nicht viel weiter, wenn wir <strong>von</strong> ›sozialistischen Prinzipien‹, ›neoliberaler<br />

Marktwirtschaft‹ oder ›Revolution‹ reden, weil diese<br />

Begriffe nicht mehr durchschlagen, nicht mehr kon kret verwendet<br />

<strong>und</strong> verstanden werden. Steuerrecht (darin steckt ja mit<br />

etwas Phantasie das Verb ›steuern‹) dagegen ist sehr konkret.<br />

Ein Kartellamt ist auch nichts Abstraktes. Wir haben sogar eine<br />

Verfassung, in der die Sozialbindung des Eigentums verankert<br />

ist. Eine Struktur ist also im Gr<strong>und</strong>e angelegt – es gilt ihre<br />

Möglichkeiten auszureizen. Die Verfassung wörtlich zu nehmen,<br />

ist nicht revolutionär. Allerdings wurde 1989 in der DDR an fangs<br />

auch nur eingefordert, was in der Verfassung verbrieft war.<br />

— Die funktional geordnete Stadt der Moderne hat ausgedient,<br />

weil ja auch das eigene Leben nicht mehr funktional<br />

geordnet ist. Alexander Mitscherlich meinte schon Anfang<br />

der siebziger Jahre, dass die Funktionstrennung viel<br />

zu viel Zeit kosten würde. Am besten wäre heute ein Arbeits-<br />

<strong>und</strong> Wohnhaus mit Kindergarten direkt gegenüber. –<br />

Seid Ihr nicht sogar mit Euren Büros in einen ehemaligen<br />

Kindergarten eingezogen?<br />

— Das Schöne an der Stadt der Moderne ist doch, dass sie ein<br />

utopisches Potential hat. Dass sie dienen möchte, nicht beherrschen.<br />

Unser Atelier befindet sich in einem ehemaligen<br />

Kindergarten in Berlin-Lichtenberg. Wir sitzen in einer Mustersiedlung<br />

aus den sechziger <strong>und</strong> siebziger Jahren. Die kann man<br />

sehr gut nutzen. Man muss nur die Möglichkeiten der vorhandenen<br />

Räume entdecken. Unsere Erfahrung dabei: Diese<br />

Räume lassen viel zu. Gerade ein gemeinsames, interdiszi plinäres<br />

Arbeiten ist hier viel leichter als in den Ladenlokalen<br />

der Gründerzeitstadt. Und die soziale Infrastruktur (Kindergärten!)<br />

ist in diesen Gegenden sehr gut ausgebaut. Die<br />

Trennung <strong>von</strong> Wohn- <strong>und</strong> Arbeitsort ist wichtig. Sie ermöglicht<br />

Feierabend, Freizeit, Regeneration, soziale Kontakte,<br />

auch über das eigene Milieu hinaus (das ist das Problem bei<br />

Holm Friebe), Bildung.


WAS DU WISSEN SOLLTEST (DIE ATMOSPHÄRE)<br />

GESPENSTER<br />

<strong>Anne</strong> <strong>König</strong><br />

Kursdorf, den 11. April 2008<br />

Es ist schwierig, im Dorf eine Kochplatte zu<br />

finden, die noch funktioniert. Ein Mann<br />

hat mich mit einem vielsagenden Blick in die<br />

Sechs verwiesen. Ich schiebe meinen Kinderwagen<br />

die Dorfstraße entlang. Bei den<br />

meisten Häusern sind die Rollläden heruntergelassen.<br />

Ob sie noch bewohnt sind, kann<br />

man nicht genau erkennen. Hinter den Eigenheimen<br />

auf der rechten Straßenseite steht eine<br />

hohe rote Mauer, die Grenze zum Flughafen.<br />

Während ich durchs Dorf laufe, fährt im<br />

Schritttempo hinter der Mauer ein Flugzeug,<br />

<strong>von</strong> dem man nur den oberen Teil sieht.<br />

Wie eine Haifischflosse schiebt es sich über<br />

dem Mauerrand <strong>und</strong> den Dächern der Häuser<br />

entlang. An dem Heckflügel ist als Logo<br />

ein schematisierter Globus angebracht. Diese<br />

Fluglinie habe ich noch nie gesehen. Ihren<br />

Namen kann ich nicht lesen, er wird <strong>von</strong> der<br />

Mauer verdeckt.<br />

Haus Sechs steht am Rande des<br />

Dorfes. Es ist ein verlassenes Eigenheim mit<br />

einem veralgten Tümpel im Garten. Hinterm<br />

Zaun gackern ein paar Hühner. Wer die<br />

hier wohl versorgt? In Kursdorf wohnten bis<br />

vor wenigen Jahren noch 300 Menschen. Jetzt<br />

sind es nur noch 50. Mit dem Ausbau das<br />

Flughafens Leipzig/ Halle verschlechterte sich<br />

die Wohnsituation für die Kursdorfer erheblich.<br />

Denn der kleine Ort mit einer Feldsteinkirche<br />

aus dem 14. Jahrh<strong>und</strong>ert lag plötzlich<br />

direkt zwischen den Rollfeldern. Die Flughafen<br />

GmbH bot den Bewohnern neue<br />

Gr<strong>und</strong>stücke im Nachbarort an <strong>und</strong> kaufte die<br />

Häuser <strong>von</strong> den Leuten ab, die gern umziehen<br />

wollten. Jetzt stehen die meisten Eigenheime<br />

schon leer.<br />

Hier haben alle Häuser einen Teich,<br />

sagt die Assistentin, die mir fre<strong>und</strong>lich die<br />

Tür <strong>von</strong> Haus Sechs aufschließt. Ein weiß gefliester<br />

Flur mit kleiner Treppe führt ins Haus.<br />

Ich stelle meinen Kinderwagen ab <strong>und</strong> nehme<br />

meine Tochter heraus. In der Küche befindet<br />

sich eine kleine Kochstelle. Zwei Herdplatten<br />

stehen auf übereinander gestapelten<br />

roten Getränkekisten. Leere Marmeladengläser<br />

<strong>und</strong> Weinflaschen sind an die Fußbodenleiste<br />

geschoben. In der Mitte des Raums ist ein alter<br />

Tisch mit Sitzgelegenheiten aus roten<br />

Getränke kisten. Ein universelles Möbel, aber<br />

mit unbequemer Sitzfläche. War nicht <strong>von</strong><br />

Stühlen die Rede? Ich schiebe eine herumliegende<br />

Zeitung unter. Das Geschirr wird im<br />

Bad gespült – die einzige Stelle im Haus,<br />

wo noch Wasser fließt. Das größte Zimmer in<br />

der unteren Etage ist mit roter Teppichware<br />

ausgelegt, neben dem Kamin liegen ein paar<br />

Holzscheite – so, als hätten sie die früheren<br />

Besitzer dort liegen gelassen. Oder haben<br />

die neuen Bewohner schon kalte Füße bekommen<br />

<strong>und</strong> sich an den sorgsam aufge schichteten<br />

Holzscheiten im Garten bedient, um das<br />

ausgekühlte Haus zu beheizen? Was wäre,<br />

wenn plötzlich die früheren Besitzer in der Tür<br />

stünden? Und was ist eigentlich mit den<br />

Hühnern im Garten? Diese Gedanken kämpfe<br />

ich gleich in mir nieder, weil ich hier nichts<br />

zu suchen habe – außer einer funktionierenden<br />

Kochplatte. Ich kratze aus einem Topf die<br />

festgeklebten Essenreste vom Vortag <strong>und</strong><br />

spüle ihn im Bad aus. Mit dem Geschirrhandtuch<br />

wische ich das Gefäß mehrmals ab,<br />

aber es trocknet nicht. Der Handtuchstoff<br />

fühlt sich neu an, als ob er noch nicht<br />

gewaschen wurde. Ich stelle den feuchten Topf<br />

auf den Ofen. Auf der heißen Herdplatte<br />

zischen die Wassertröpfchen. Der Gemüsebrei<br />

benötigt mindestens eine Viertelst<strong>und</strong>e, bis<br />

er im Wasserbad erwärmt ist. Ich breite meine<br />

Jacke auf dem Fußboden aus <strong>und</strong> lege mein<br />

Kind darauf. Es weint. Babys sind erbarmungs -<br />

los. Wenn ihnen eine Atmosphäre nicht gefällt,<br />

schreien sie solange, bis man geht.<br />

Meist fluchtartig. Ich kann hier nicht sofort<br />

verschwin den, sondern muss warten, bis<br />

das Essen warm ist. Ich nehme sie wieder auf<br />

den Arm, sie beruhigt sich. Ich schaue<br />

mich etwas um.<br />

Die universellen roten Getränkekisten<br />

bilden den Unterbau für mehrere Betten, die<br />

im ehemaligen Wohnzimmer stehen. Die weiß<br />

bezogenen Kissen <strong>und</strong> Decken sind über ein-<br />

Oben: Filmstill aus ›Die innere Sicherheit‹<br />

(2001) <strong>von</strong> Christian Petzold<br />

Unten: Kursdorf 2008, Foto <strong>Jan</strong> Wenzel<br />

ander geworfen. Daneben liegen große<br />

blaue Ikea-Tüten, aus denen Schuhe, Bücher,<br />

Stadtpläne <strong>und</strong> Anziehsachen herausschauen.<br />

Dieses Interieur hat etwas Improvisiertes,<br />

aber nicht wie beim Zelten auf dem Campingplatz<br />

oder in einer Berghütte, wo man sich<br />

freiwillig mit Wasser aus der Regentonne<br />

wäscht <strong>und</strong> auf ein Plumpsklo geht, weil es<br />

ja romantisch ist, auch mal so ganz einfach zu<br />

leben. Nein, in diesem Haus herrscht eine<br />

erzwungene, unfreiwillige Improvisation – an<br />

den Geschirrtüchern kleben noch die<br />

Preisschilder, die Bettwäsche kommt direkt<br />

aus der Verpackung, das Mobiliar besteht aus<br />

praktischen Getränkekisten, die man rasch<br />

wieder ihrer ursprünglichen Verwendung<br />

zuführen kann. Die Gegenstände hier scheinen<br />

nur für einen vorübergehenden Zweck an geschafft<br />

worden zu sein, für eine kurze<br />

Zwischen zeit, um sie dann schnell wieder zu<br />

entsorgen. Das Haus gleicht einem Lager,<br />

das sich über zwei Etagen breit gemacht hat.<br />

Mir fällt eine Filmsequenz aus<br />

›Die innere Sicherheit‹ <strong>von</strong> Christian Petzold<br />

ein, die Stelle, als die halbwüchsige Tochter<br />

den letzten bewohnbaren Unterschlupf für ihre<br />

Familie findet. Die Eltern sind seit Jahren auf<br />

der Flucht, haben kein Geld mehr <strong>und</strong> stehen<br />

kurz vor dem endgültigen Aus. Die fünfzehnjährige<br />

Jeanne hat sich an der portugiesischen<br />

Küste in Heinrich, einen deutschen Surfer,<br />

verliebt. Er erzählt ihr <strong>von</strong> der Villa Stahl<br />

in Hamburg – einem leer stehenden Haus mit<br />

Swimming Pool mitten im Wald. Die Villa wird<br />

zum letzten Zufluchtsort für die Familie.<br />

In der Nacht beobachten die drei vom Auto<br />

aus, wie sicher die Gegend ist. Der Vater hat<br />

einen Plan der benachbarten Häuser gezeichnet<br />

<strong>und</strong> notiert, in welchen Fenstern das<br />

Licht ausgeht. Als alles dunkel ist, betreten<br />

die drei die Villa. Der Vater bricht die Glastür<br />

<strong>von</strong> der <strong>Vera</strong>nda mit einem Brecheisen auf, die<br />

Tochter hält die Taschenlampe. Er prüft den<br />

Sicherungskasten <strong>und</strong> schaltet den Strom ein.<br />

Sie laufen durch das verlassene Haus <strong>und</strong><br />

inspizieren die Räume, die spärlich ein gerichtet<br />

sind. Betten <strong>und</strong> Sessel sind mit weißen<br />

Bettlaken verhängt. Im Flur stehen braune<br />

Ledersessel, die der Platz für das 24-stündige<br />

Wache-Halten werden. Die Familie schlägt ihr<br />

Lager in der Villa auf. Für wie lang, das ist<br />

ungewiss. Der Vater versteckt das Auto.<br />

Das Haus ist ein Transitraum mit funktionstüchtigem<br />

Fluchtweg <strong>und</strong> Notausgang.<br />

Ich rühre den Gemüsebrei mit einem<br />

Löffel um. Beim Blick aus dem Fenster sehe<br />

ich den leer stehenden griechischen Gasthof,<br />

der gleich neben dem Rollfeld vis-á-vis<br />

<strong>von</strong> Haus Sechs steht – nur ein brachliegendes<br />

Feld trennt die beiden Gebäude. Wer wohnt in<br />

diesem Dorf noch, wo alle Häuser verlassen<br />

wirken <strong>und</strong> man nicht weiß, ob die Rollläden<br />

herunter gelassen sind, weil niemand mehr da<br />

ist oder gerade, weil doch noch jemand da<br />

ist? Haben sich die letzten Kursdorfer hinter<br />

ihren fest verschlossenen Toren <strong>und</strong> Fenstern<br />

24<br />

verschanzt, um im Gesamtbild des Ortes<br />

nicht aufzufallen? Sind es ein paar Alte,<br />

die der Lärm <strong>und</strong> das Kerosin in der Luft nicht<br />

vertreiben konnten? Wer würde freiwillig<br />

hierher ziehen, wo die Flugzeuge bedrohlich<br />

nah vor dem Wohnzimmerfenster entlang<br />

rollen <strong>und</strong> das Dröhnen der Motoren das<br />

veralgte Wasser im Tümpel erzittern lässt? Ein<br />

Ort, an dem man sich nicht länger niederlassen<br />

möchte. Ein Transitraum für diejenigen,<br />

die immer schnell die Zelte ab brechen müssen.<br />

Der Flughafen vor der Haus tür als ideale<br />

Fluchtmöglichkeit?<br />

Aus Vorsicht wird allein Jeanne zum<br />

Einkaufen in die Stadt geschickt. Sie ist<br />

unverdächtig, deshalb muss sie die Familie<br />

versorgen. Die Fünfzehnjährige, die in ihrem<br />

Leben nie eine richtige Schule besucht hat,<br />

nutzt die täglichen Einkäufe, um Gleichaltrigen<br />

zu begegnen. Mit Plastiktüten bepackt streift<br />

sie durch Musikläden <strong>und</strong> Modegeschäfte<br />

<strong>und</strong> rennt erschrocken da<strong>von</strong>, als eine<br />

Alarmanlage anspringt, weil sie CDs geklaut<br />

hat. Sie schaut sich um, ob ihr jemand gefolgt<br />

ist. Ohne weitere Zwischenfälle bringt sie das<br />

Diebesgut <strong>und</strong> die Einkäufe in die Villa.<br />

Sie geht nicht durch den Vordereingang ins<br />

Haus, sondern klettert <strong>von</strong> einem Waldweg<br />

aus über den Zaun ins Gr<strong>und</strong>stück. Die<br />

Nachbarn haben noch nichts <strong>von</strong> den heimlichen<br />

Bewohnern bemerkt.<br />

Der Gemüsebrei ist endlich warm.<br />

Ich schütte das Glas in einen Teller <strong>und</strong> verbrenne<br />

mir die Finger. Als ich mich mit meiner<br />

Tochter auf einer der roten Sitzkisten in<br />

der Küche niedergelassen habe, klappt plötzlich<br />

die Haustür. Ich schrecke zusammen.<br />

Eine Stimme ruft vom Treppenhaus: »Bei Euch<br />

ist alles klar? Bleibt mal schön im Warmen.«<br />

Energische Schritte stapfen die Treppe hoch.<br />

Nach zwei Minuten geht die Klospülung.<br />

Gleich wird sie vor mir stehen, denke ich.<br />

Jeanne trifft in Hamburg Heinrich, den<br />

Surfer <strong>von</strong> der portugiesischen Küste, wieder.<br />

Er wohnt in einem Jugendheim unweit der<br />

Villa Stahl. Das jahrelange Versteckspiel fliegt<br />

auf, als Jeanne ihm gesteht, dass ihre<br />

Familie keiner Sekte angehört, sondern im<br />

Untergr<strong>und</strong> lebt.<br />

Die junge Frau trägt einen kurzen<br />

Rock <strong>und</strong> schwarze Lederstiefel. Sie<br />

wirkt etwas über dreht. Entrüstet erzählt sie<br />

mir, dass die letzte Nacht die schlimmste in<br />

ihrem Leben gewesen ist. Kein Auge habe sie<br />

vor Kälte zuge macht. Wirklich, es sei die<br />

schlimmste Nacht gewesen. Die Schlimmste,<br />

wiederhole ich. Das kommt vor. Ich frage,<br />

was sie hier macht. Sie hilft dem Koch beim<br />

Catering, aber eigentlich ist sie Schauspielerin.<br />

Meine Tochter reagiert auf die fremde<br />

Frau gereizt, sie zappelt auf meinem Schoß<br />

herum <strong>und</strong> isst ihren Gemüsebrei nicht.<br />

Ich rede ihr gut zu: Einen Löffel für Luise,<br />

einen für die bunte Wiese, einen für den<br />

Osterhas’, der auf dieser Wiese saß, einen<br />

Löffel für den Hans, einen für den<br />

Katzenschwanz, einen für die kleine Maus,<br />

einen für das große Haus ...

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