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Autismus-Spektrum-Störungen: Forschung und Praxis im Dialog

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<strong>Autismus</strong>-<strong>Spektrum</strong>-<strong>Störungen</strong><br />

<strong>Forschung</strong> <strong>und</strong> <strong>Praxis</strong> <strong>im</strong> <strong>Dialog</strong><br />

E. Duketis<br />

Klinik für Psychiatrie <strong>und</strong> Psychotherapie des Kindes- <strong>und</strong> Jugendalters<br />

Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt/Main<br />

www.kgu.de/zpsy/kinderpsychiatrie<br />

Fotos 4–6: Stefanie Hafner<br />

Erscheinungsbilder<br />

1


Tiefgreifende Entwicklungsstörungen nach ICD-10<br />

<strong>Autismus</strong>...<strong>und</strong> was noch?<br />

Frühkindlicher <strong>Autismus</strong><br />

Atypischer <strong>Autismus</strong><br />

Rett-Syndrom<br />

Sonstige desintegrative Störung des Kindesalters<br />

Überaktive Störung mit Intelligenzminderung <strong>und</strong><br />

Bewegungsstereotypien<br />

Asperger-Syndrom<br />

Sonstige / n.n.b. tiefgreifende<br />

Entwicklungsstörung<br />

Triade der Beeinträchtigungen<br />

• Qualitative Beeinträchtigung der sozialen Gegenseitigkeit<br />

• Qualitative Beeinträchtigung der Kommunikation<br />

(<strong>und</strong> Sprache)<br />

• Eingeschränkte Interessen <strong>und</strong> stereotype Verhaltensmuster<br />

Abnorme Entwicklung vor dem 3. Lebensjahr<br />

2


Die <strong>Autismus</strong>-Triade<br />

Beeinträchtigung der sozialen Gegenseitigkeit I<br />

• Mangel <strong>im</strong> nonverbalen Verhalten<br />

– eingeschränkter Blickkontakt &<br />

wenig gerichtete M<strong>im</strong>ik & Gestik<br />

– schwaches soziales Lächeln<br />

• Mangel an geteilter Aufmerksamkeit<br />

oder Freude mit Anderen<br />

– Kind lenkt Aufmerksamkeit Dritter<br />

nicht auf Dinge<br />

– Wenig gemeinsame Interessen gesucht<br />

• Mangelnde Fähigkeit, Kontakte zu<br />

Gleichaltrigen herzustellen<br />

Die <strong>Autismus</strong>-Triade<br />

Beeinträchtigung der sozialen Gegenseitigkeit II<br />

• Mangel an sozio-emotionaler Gegenseitigkeit<br />

– Keine oder unangemessene Annäherungsversuche<br />

– Unangemessene Reaktion auf Annäherungen Anderer<br />

– Mangelndes Einfühlungsvermögen<br />

– Fehlende Einschätzungsfähigkeit sozialer Signale<br />

Drei Typen sozialer Defizite<br />

Nach Wing & Gould<br />

3


Die <strong>Autismus</strong>-Triade<br />

Beeinträchtigung der Kommunikation (& Sprache)<br />

• 1/3 der Kinder entwickeln keine od. nur eingeschränkte Sprache<br />

• Bei eingeschränkter Sprache kaum Kompensation durch Gesten<br />

• Stereotype <strong>und</strong>/oder eigentümliche sprachliche Äußerungen<br />

– Wortneubildungen (Neologismen)<br />

– Vertauschung der Personalpronomina<br />

– Verzögerte Echolalie (Worte nachsprechen)<br />

• Bei unauffälliger Sprache, trotzdem Störung der Kommunikation<br />

– mangelnde Fähigkeit, eine Konversation zu beginnen oder<br />

aufrechtzuerhalten<br />

– Monologisieren oder gestelzte Sprache<br />

Die <strong>Autismus</strong>-Triade<br />

Eingeschränkte Interessen <strong>und</strong> stereotypes Verhalten<br />

Stereotype Handlungen / Spezialinteressen<br />

• Zwanghaftes Festhalten an nicht-funktionalen<br />

Handlungen<br />

• Haften an best<strong>im</strong>mten Themen & Ritualen<br />

Repetitive motorische Manierismen<br />

• Drehen der Finger vor den Augen,<br />

Schaukeln, Auf- <strong>und</strong> Abhüpfen<br />

Sensorische Interessen / Phänomene<br />

• Ungewöhnliches Interesse an sensorischen<br />

Teilaspekten von Dingen<br />

(Struktur, Geräusch, Geschmack, Geruch)<br />

• Sensorische Abnormalität<br />

(Über- oder Unterempfindlichkeit)<br />

4


<strong>Autismus</strong>-<strong>Spektrum</strong>- wo endet es?<br />

Frühkindlicher<br />

<strong>Autismus</strong><br />

Low-functioning-<strong>Autismus</strong><br />

Atypischer <strong>Autismus</strong><br />

Asperger-Syndrom<br />

High-functioning-<strong>Autismus</strong><br />

sonst. TES<br />

Subklinische Varianten<br />

Vergleich der <strong>Autismus</strong>-<strong>Spektrum</strong>-<strong>Störungen</strong><br />

Alter bei<br />

Erstmanifestation<br />

Geschlechter-<br />

Verhältnis (m:w)<br />

Frühkindlicher <strong>Autismus</strong> Atypischer<br />

<strong>Autismus</strong><br />

Symptomatik • Mangel sozialer Interaktion<br />

• Auffällige Kommunikation<br />

• Repetitive Verhaltensweisen<br />

• Kein symbolisches Spiel<br />

Sprache<br />

Intelligenz<br />

Motorik<br />

Asperger-Syndrom<br />

< 3 Jahre < oder > 3 Jahre > 3 Jahre<br />

3:1 3:1 8:1<br />

• Gestörte Sprachentwicklung<br />

• Echolalie<br />

• Vertauschen von Pronomina<br />

Meist beeinträchtigt<br />

Evtl. unvollständige<br />

Symptomatik<br />

Häufig geistige<br />

Behinderung<br />

Keine typischen Auffälligkeiten<br />

• Mangel sozialer Interaktion<br />

• Stereotype Interessen, Rituale<br />

• Normale Sprachentwicklung<br />

• Förmlicher Sprachstil<br />

• Auffällige Sprachmelodie<br />

Nicht beeinträchtigt<br />

• Ungeschicklichkeit<br />

• Koordinationsstörungen<br />

5


<strong>Autismus</strong>-Symptomatik<br />

• Ausprägungsgrad/ Erscheinungsbild der Symptomatik variiert<br />

– zwischen den betroffenen Kindern<br />

– innerhalb eines Kindes <strong>im</strong> Verlauf der Entwicklung<br />

• Symptomatik abhängig vom<br />

– Entwicklungsstand des Kindes<br />

– dessen kognitivem Niveau<br />

(Kompensationsmöglichkeiten)<br />

Frankfurter Studie<br />

Alter bei ersten Sorgen<br />

Alter, an dem Eltern<br />

besorgt & Hilfe suchten (Monate)<br />

<strong>Autismus</strong> Entwicklung<br />

• Sorgen begannen ab 23. Monat<br />

(± 18)<br />

– 12% von Geburt an<br />

– 30% vor dem 1. Lebensjahr<br />

– 66% vor dem 2. Lebensjahr<br />

– 90% vor dem 3. Lebensjahr<br />

• Durchschnittliches Zeitintervall<br />

zwischen ersten Sorgen <strong>und</strong><br />

Erstvorstellung: 8 Monate<br />

• Durchschnittliches Alter bei<br />

Diagnosestellung:<br />

<strong>Autismus</strong> 6 Jahre<br />

Asperger 11 Jahre<br />

6


Symptome, die <strong>Autismus</strong> vorhersagen können<br />

He<strong>im</strong>videos (retrospektiv)<br />

• Auswertung von He<strong>im</strong>videos (1. Geburtstag) nach sozialen <strong>und</strong><br />

kommunikativen Auffälligkeiten<br />

• Kontrollgruppe: ges<strong>und</strong>e, geistig behinderte Kinder<br />

• Merkmale, die Autisten von der Kontrollgruppe unterscheiden:<br />

– Blickkontakt<br />

– Reaktion auf Namen<br />

– Zeigen von Gegenständen<br />

– Deuten<br />

• Keine ausreichende Differenzierung zwischen den Gruppen für:<br />

– Repetitives Verhalten<br />

Osterling & Dawson, 1994; Osterling et al., 2002<br />

Welches Alter ist für ein <strong>Autismus</strong>-Screening sinnvoll?<br />

• Symptome sind nach dem 24. Lebensmonat recht stabil<br />

• Vor dem 24. Lebensmonat gute Spezifität, aber niedrige Sensitivität<br />

(falsch positive)<br />

• Screening nach dem 18. Lebensmonat sinnvoll<br />

• Diagnose kann <strong>im</strong> Alter von 24 Monaten gestellt werden<br />

↓<br />

Gillberg et al., 1996; Moore & Goodson, 2003; Charmanet al., 2005, Sutera et al., 2007;<br />

Dietz et al., 2006; Willemsen-Swinkels et al., 2006<br />

7


Diagnostik von ASS<br />

Effi Duketis • Klinik für Psychiatrie <strong>und</strong> Psychotherapie des Kindes- <strong>und</strong> Jugendalters, Johann Wolfgang Goethe Universität, Frankfurt/Main • 2005<br />

„Goldstandard“ der <strong>Autismus</strong>-Diagnostik<br />

Fragebogen zur Sozialen Kommunikation<br />

FSK<br />

Beobachtungsskala für Autistische <strong>Störungen</strong><br />

ADOS<br />

Diagnostisches Interview für <strong>Autismus</strong> - revidiert<br />

ADI-R<br />

8


Screening<br />

Der Fragebogen zur sozialen Kommunikation (FSK)<br />

• aus dem ADI-R abgeleiteter Elternfragebogen<br />

• 40 binär skalierte Items zu sozialer Interaktion, Kommunikation<br />

<strong>und</strong> stereotypem Verhalten<br />

• Ab 4 Jahren, Aktuell- <strong>und</strong> Lebenszeit-Fassung<br />

• Auswertung: Summe der positiv beantworteten Items (max. 39)<br />

• Bearbeitungszeit 15 Minuten<br />

FSK<br />

Beispiel-Items<br />

Bölte & Poustka, 2005<br />

• Gab es jemals Dinge, de er/ sie in einer ganz besonderen Weise oder<br />

Abfolge machen zu müssen schien, oder gab es Rituale, die Sie für<br />

sie/ Ihn ausführen mussten?<br />

• Hatte er/ sie jemals irgendwelche besondere Interessen, die anderen<br />

Menschen merkwürdig erschienen (z.B. an Verkehrsampeln,<br />

Wasserleitungen oder Fahrplänen)<br />

• Hat er/ sie irgendeinen besonderen besten Fre<strong>und</strong>?<br />

• Lächelte sie/ er <strong>im</strong> Alter von 4–5 Jahren zurück, wenn jemand sie/ ihn<br />

anlächelte?<br />

9


Standardisierte Untersuchung I<br />

Diagnostische Beobachtungsskala (ADOS)<br />

Diagnostische Beobachtungsskala für Autistische <strong>Störungen</strong><br />

– Klinisch-statusdiagnostisches<br />

Beobachtungsinstrument<br />

– Parallelinstrument zum ADI-R<br />

– Anwendbar ab 2. Lebensjahr<br />

– 4 verschiedene Durchführungsmodule,<br />

je nach Alter <strong>und</strong> expressivem Sprachniveau<br />

(Dauer jeweils ½ –1 ½ Stdn.)<br />

Passende Module für Patienten<br />

Rühl, Bölte, Feineis-Matthews, Poustka, 2004; Lord et al., 2001<br />

Modul 1 Modul 2 Modul 3 Modul 4<br />

Vorsprachlich,<br />

einzelne Worte<br />

-kleine Kinder-<br />

Sprechen in<br />

Sätzen<br />

-Kinder-<br />

Alter<br />

Kind Erwachsener<br />

Expressives Sprachniveau<br />

stumm fließend<br />

Aktivitäten/Aufgaben<br />

Fließende Sprache<br />

-Kinder- <strong>und</strong><br />

Jugendliche-<br />

Interview<br />

-Jugendliche <strong>und</strong><br />

Erwachsene-<br />

Spiel Interview<br />

10


Standardisierte Untersuchung II<br />

Diagnostisches Interview<br />

Diagnostisches Interview für <strong>Autismus</strong> (ADI-R)<br />

• Untersuchergeleitetes Interview<br />

(Dauer 2 bis 4 Stdn.)<br />

• Durchführung mit einer Hauptbezugsperson des Kindes<br />

• Direkte Umsetzung der diagnostischen Kriterien nach<br />

ICD-10 <strong>und</strong> DSM-IV<br />

• Viele Fragen beziehen sich auf das Altersspektrum 4–5 Jahre<br />

(Alter, in dem die <strong>Autismus</strong>symptomatik in der Regel am stärksten<br />

ausgeprägt ist)<br />

ADI-R<br />

Interviewteile<br />

1. Hintergr<strong>und</strong>informationen über Kind <strong>und</strong> Familie<br />

Bölte et al., 2005; Rutter et al., 2003<br />

2. Frühe Entwicklungsgeschichte <strong>und</strong> Erreichen von Meilensteinen<br />

3. Spracherwerb <strong>und</strong> Verlust von Fähigkeiten<br />

4. Kommunikation <strong>und</strong> Sprache<br />

5. Soziale Entwicklung <strong>und</strong> Spielverhalten<br />

6. Interessen <strong>und</strong> repetitives Verhalten<br />

7. Komorbidität <strong>und</strong> isolierte Fertigkeiten<br />

<strong>Autismus</strong>typische<br />

Verhaltensweisen<br />

11


<strong>Autismus</strong>-Diagnostik<br />

Was bleibt zu tun?<br />

• Trotz steigenden Bewusstseins für <strong>Autismus</strong> <strong>im</strong>mer noch späte<br />

Diagnosestellung<br />

• Wichtig: Einführung von <strong>Autismus</strong>-Screening in pädiatrische<br />

Versorgung<br />

• Diverse Screening-Verfahren als Elternfragebögen verfügbar<br />

(Früherkennung: M-CHAT, sonst: FSK)<br />

• Standardisierte <strong>Autismus</strong>-Diagnostik als Goldstandard für geschulte<br />

Fachkräfte (ADI-R, ADOS- als Parallelinstrumente)<br />

Häufigkeit<br />

Gibt es eine Epidemie von <strong>Autismus</strong>?<br />

Effi Duketis • Klinik für Psychiatrie <strong>und</strong> Psychotherapie des Kindes- <strong>und</strong> Jugendalters, Johann Wolfgang Goethe Universität, Frankfurt/Main • 2005<br />

12


Häufigkeit von <strong>Autismus</strong> von 1965 bis heute<br />

Fombonne, 2005<br />

Gibt es eine Epidemie von <strong>Autismus</strong>?<br />

1966 4–5 : 10 000 Geburten<br />

1979 Anteil geistiger Behinderung in dieser Stichprobe: ca. 3/4<br />

Seit 2000 35–60 : 10 000 Geburten (0,3–0,6 %); bis 1 %!!!<br />

Anteil geistiger Behinderung 25–55 %<br />

Wahrscheinlich keine echte Zunahme der Häufigkeit von <strong>Autismus</strong>!<br />

- Änderung der diagnostischen Kriterien in letzten 40 Jahren<br />

- Zunahme des Bewusstseins für <strong>Autismus</strong><br />

Lotter, 1966, Wing & Gould, 1979, Baird et al., 2000, 2006, Chakrabarti & Fombonne, 2001, 2005<br />

13


Ursachen<br />

GENETIK NEUROPSYCHOLOGIE NEUROBIOLOGIE<br />

Effi Duketis • Klinik für Psychiatrie <strong>und</strong> Psychotherapie des Kindes- <strong>und</strong> Jugendalters, Johann Wolfgang Goethe Universität, Frankfurt/Main • 2005<br />

Ursachen<br />

GENETIK NEUROPSYCHOLOGIE NEUROBIOLOGIE<br />

Effi Duketis • Klinik für Psychiatrie <strong>und</strong> Psychotherapie des Kindes- <strong>und</strong> Jugendalters, Johann Wolfgang Goethe Universität, Frankfurt/Main • 2005<br />

14


Genetik<br />

1. Verhaltensgenetik<br />

• Zwillingsuntersuchungen<br />

• Familienuntersuchungen<br />

2. Molekulargenetik<br />

• Genomuntersuchungen<br />

Verhaltensgenetik I<br />

Zwillings- <strong>und</strong> Familienuntersuchungen<br />

Konkordanzraten für <strong>Autismus</strong> (1977–1995):<br />

Eineiige Zwillinge 36–91 %<br />

Zweieiige Zwillinge 0–5%<br />

Andere Geschwister 3–7%<br />

Verwandte 2. Grades 0%<br />

• Heritabilität: 91–93%<br />

• Neue Zahlen: Risiko für Geschwister eines autistischen Kindes<br />

auch an <strong>Autismus</strong> zu erkranken: 2–10%<br />

• 50fach erhöhtes Risiko <strong>im</strong> Vergleich zur Allgemeinbevölkerung<br />

Folstein & Rutter, 1977, Steffenbug et al., 1989, Bolton et al., 1995<br />

15


Verhaltensgenetik II<br />

Erscheinungsformen von <strong>Autismus</strong><br />

Eineiige Zwillinge Zweieiige Zwillinge<br />

• Unter eineiigen Zwillingen finden sich verschiedene Diagnosen aus<br />

dem <strong>Autismus</strong>-<strong>Spektrum</strong><br />

• Unter klinisch ges<strong>und</strong>en Geschwistern finden sich auch soziale<br />

Defizite<br />

Bailey et al., 1995<br />

Molekulargenetik I<br />

Untersuchungen des Erbguts<br />

Bisher wichtigste Genabschnitte laut IMGSAC auf Chromosomen:<br />

2q, 7q, 16p, 17q<br />

Letzte wichtige Identifikation zweier Genabschnitte auf Chromosom:<br />

11p<br />

IMGSAC 2001, Autism Project Consortium, 2007<br />

16


Molekulargenetik II<br />

Gendefekte – <strong>und</strong> was dann?<br />

• Identifikation fehlerhafter Genabschnitte<br />

auf Chromosom 11 (Neurexin-Gene)<br />

• Dort Kodierung für das Eiweiß Neurexin<br />

• Neurexin an Synaptogenese beteiligt<br />

(Glutamat-Neuronen)<br />

Gestörte Synaptogenese als mögliche Ursache für<br />

Hirnentwicklungsstörung<br />

Autism Genome Project, 2007<br />

Ursachen<br />

GENETIK NEUROPSYCHOLOGIE NEUROBIOLOGIE<br />

Effi Duketis • Klinik für Psychiatrie <strong>und</strong> Psychotherapie des Kindes- <strong>und</strong> Jugendalters, Johann Wolfgang Goethe Universität, Frankfurt/Main • 2005<br />

17


Neuropsychologie<br />

Neuropsychologische Theorien zur Erklärung des <strong>Autismus</strong><br />

1. Theorie der exekutiven Dysfunktion<br />

2. Theorie der schwachen, zentralen Kohärenz<br />

3. Theorie der gestörten Theory of Mind<br />

Neuropsychologie<br />

Exekutive Dysfunktion<br />

Exekutive Funktionen<br />

= Fähigkeiten zur Planung, Vorausschau, Flexibilität <strong>und</strong> Strategie<br />

• Unter autistischen Kindern finden sich Defizite <strong>im</strong> zielorientierten<br />

Handeln <strong>und</strong> Planen <strong>und</strong> der Flexibilität<br />

→ Repetititve Verhaltensweisen, Veränderungsangst,<br />

eingeschränkte Interessen<br />

18


Neuropsychologie<br />

Schwache, zentrale Kohärenz<br />

Zentrale Kohärenz<br />

= Drang des Menschen, Dinge kontextgeb<strong>und</strong>en wahrzunehmen<br />

• bei <strong>Autismus</strong> eher segmentierte Wahrnehmung<br />

• Details können kontextfrei verarbeitet <strong>und</strong> erinnert werden<br />

• Vermag Schwächen <strong>und</strong> Stärken be<strong>im</strong> <strong>Autismus</strong> zu erklären<br />

→ Unfähigkeit zur Abstraktion, Detailwissen, Savant-Fähigkeiten<br />

Schwache, zentrale Kohärenz<br />

Eine Erklärung für Savant-Fähigkeiten?<br />

Expedition ins Gehirn, ARTE, 2006<br />

www.stephenwiltshire.co.uk/<br />

19


Neuropsychologie<br />

Verfahren zur Erfassung der schwachen, zentrale Kohärenz<br />

Neuropsychologie<br />

Theory-of-Mind-Defizite<br />

Theory of Mind<br />

= Sammelbegriff für mentale Fähigkeiten, die für erfolgreichen<br />

Ablauf sozialer Interaktionen notwendig sind<br />

= Eigenes <strong>und</strong> fremdes Verhalten erkennen <strong>und</strong> verstehen<br />

• Be<strong>im</strong> <strong>Autismus</strong> zeigen sich Defizite <strong>im</strong> Interpretieren von<br />

Emotionen <strong>und</strong> Verhalten („mindblindness“)<br />

→ Mangelnde Empathiefähigkeit, unangemessenes<br />

Kontaktverhalten<br />

20


FEFA<br />

Gefühlsblindheit messen<br />

Tests zur Emotionserkennung<br />

Frankfurter Test zum Erkennen von fazialem Affekt<br />

Bölte et al., 2002<br />

FEFA Augen<br />

Reading the mind in the eye<br />

Bölte et al., 2002; Baron-Cohen et al., 1997<br />

Systematisieren von Empathie?<br />

Studien zur Effektivität des ToM-Trainings<br />

Fragen:<br />

• Kann man Emotionserkennung trainieren?<br />

– Auf der kognitiven Ebene<br />

– Auf der hirnfunktionellen Ebene<br />

• Generalisierbarkeit?<br />

Beispielstudien:<br />

• Golan & Baron-Cohen, 2006: The Interactive Guide to Emotions<br />

• Bölte et al., 2006: Facial affect recognition training in autism<br />

21


Effizienz des ToM-Trainings?<br />

The Interactive Guide to Emotions<br />

Golan & Baron-Cohen, 2006<br />

• Die mit Software trainierte Gruppe zeigt<br />

bessere Leistungen als die<br />

Kontrollgruppe (u.a. mit sozialem<br />

Kompetenz Training)<br />

• Aber: Keine besseren Leistungen bei<br />

Aufgaben außerhalb der<br />

Trainingsmaterialien<br />

→ Generalisierungsproblem!!<br />

Bedeutung neuropsychologischen Stils für Therapie<br />

Defizite berücksichtigen:<br />

• Veränderungsängste begrenzen Flexibilität<br />

• Aufmerksamkeitsprobleme begrenzen Kapazität<br />

• Schwache, zentrale Kohärenz begrenzt Abstraktionsfähigkeit/<br />

Generalisierungsfähigkeit<br />

• Defizite der Interaktionsfertigkeit (zwischen Therapeut <strong>und</strong> Betroffenem)<br />

begrenzen häufig Erfolg<br />

→ Hoch strukturierte Abläufe mit vielen Wiederholungen sinnvoll<br />

Ressourcen nutzen:<br />

• SZK begünstigt Fähigkeiten zu Systematisieren &<br />

Gedächtnisleistungen<br />

• Erkennen von Details & visuelles Erfassen<br />

• Vorliebe für technische Geräte<br />

22


GENETIK NEUROPSYCHOLOGIE NEUROBIOLOGIE<br />

Effi Duketis • Klinik für Psychiatrie <strong>und</strong> Psychotherapie des Kindes- <strong>und</strong> Jugendalters, Johann Wolfgang Goethe Universität, Frankfurt/Main • 2005<br />

Neurobiologie<br />

Das Gehirn <strong>und</strong> <strong>Autismus</strong><br />

Ursachen<br />

1. Hirnfunktionsstörung in fusiformer Gesichtsregion<br />

2. Theorie der schwachen Konnektivität<br />

23


Funktionelle Bildgebung<br />

Theory-of-Mind-Defizite <strong>und</strong> Hirnfunktion<br />

Messungen von Hirnaktivität be<strong>im</strong> Betrachten von Gesichtern:<br />

• Mangelnde Aktivierung von<br />

„Gesichtsregionen“<br />

• Kompensatorische Aktivierung<br />

sachbezogener Regionen<br />

Schultz et al., 2003<br />

Hirnstruktur <strong>und</strong> Hirnfunktion<br />

Gestörte „Verschaltung“ von Nerven?<br />

Hubl et al., 2003, Schultz et al., 2003<br />

• Sprunghafte Zunahme des Kopfumfangs zwischen 12. <strong>und</strong> 24.<br />

Lebensmonat<br />

• Autistische Symptomatik auch erst ab 12. Lebensmonat<br />

• Funktionelle Bildgebung (fMRT <strong>und</strong> PET) zeigen:<br />

weit entfernt gelegene Hirnareale arbeiten nicht gut zusammen<br />

• Kompensatorisch Verbesserung lokaler Verarbeitungsprozesse<br />

→ Zusammenhang zwischen unmoduliertem Hirnwachstum,<br />

gestörter Nervenverschaltung <strong>und</strong> autistischer<br />

Symptomatik?<br />

→ Schwache, zentrale Kohärenz auf Neuronenebene?<br />

24


Eine mögliche Ursachenkette<br />

Gendefekt<br />

Abweichungen<br />

der Neurochemie<br />

(Neurexin-Mangel)<br />

Unmoduliertes<br />

Hirnwachstum<br />

Umweltfaktoren<br />

Zusammenfassung<br />

Gestörte<br />

Nervenverschaltung<br />

(schwache,<br />

funktionale<br />

Konnektivität)<br />

Theory-of-Mind-<br />

Defizite<br />

Abweichende<br />

Informations-<br />

verarbeitung<br />

Exekutive<br />

Dysfunktion<br />

• <strong>Autismus</strong> zählt nicht mehr zu seltenen <strong>Störungen</strong><br />

Klinische<br />

Symptomatik<br />

<strong>Autismus</strong><br />

Schwache zentrale<br />

Kohärenz<br />

• Symptomschwere variiert je nach Kompensationsmöglichkeiten<br />

• Ausführliche <strong>und</strong> frühe Diagnostik entscheidend<br />

• Symptome beruhen auf abweichender Informationsverarbeitung<br />

– Emotionale Inhalte werden <strong>im</strong> Gehirn wie Objekte behandelt<br />

– Das Gehirn bevorzugt segmentierte statt ganzheitliche<br />

Wahrnehmung<br />

– Planungsfähigkeit <strong>und</strong> mentale Flexibilität sind gestört<br />

25


Zusammenfassung II<br />

• Genetische Abweichungen könnten eine Fehlsteuerung der<br />

Verschaltung von Nervenzellen in der frühesten Entwicklung<br />

bedingen<br />

Therapeutische Ausrichtung:<br />

• Training von kommunikativen <strong>und</strong> sozialen Kompetenzen <strong>im</strong><br />

Einzel- <strong>und</strong> <strong>im</strong> Gruppenkontext<br />

• Interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Therapeuten, Eltern,<br />

Kindergarten <strong>und</strong> Schule (+ evtl. Schulbegleiter) zur Opt<strong>im</strong>ierung<br />

der Generalisierungsfertigkeiten des Kindes<br />

Vielen Dank!<br />

Klinik für Psychiatrie <strong>und</strong> Psychotherapie des Kindes- <strong>und</strong> Jugendalters<br />

Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt/Main<br />

www.kgu.de/zpsy/kinderpsychiatrie<br />

26

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