14.01.2013 Aufrufe

Notfall+ Rettungsmedizin - Dr. iur. Erik Hahn

Notfall+ Rettungsmedizin - Dr. iur. Erik Hahn

Notfall+ Rettungsmedizin - Dr. iur. Erik Hahn

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

<strong>Notfall+</strong><br />

<strong>Rettungsmedizin</strong><br />

German Interdisciplinary Journal of Emergency Medicine<br />

Organ der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) | Organ des Deutschen Rates<br />

für Wiederbelebung – German Resuscitation Council (GRC)<br />

Elektronischer Sonderdruck für<br />

E. <strong>Hahn</strong><br />

Ein Service von Springer Medizin<br />

Notfall Rettungsmed 2011 · 14:51–56 · DOI 10.1007/s10049-010-1379-7<br />

© Springer-Verlag 2011<br />

www.Notfallund<strong>Rettungsmedizin</strong>.de<br />

zur nichtkommerziellen Nutzung auf der<br />

privaten Homepage und Institutssite des Autors<br />

E. <strong>Hahn</strong><br />

Zur Reichweite der Physiotherapeuten-<br />

Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts<br />

(Az.: 3 C 19/08, Urteil vom 26.08.2009)<br />

Das Verhältnis von Heilpraktikergesetz und Rettungsassistentengesetz im<br />

Rahmen der rettungsdienstlichen Notkompetenz


Notfall Rettungsmed 2011 · 14:51–56<br />

DOI 10.1007/s10049-010-1379-7<br />

Online publiziert: 26. November 2010<br />

© Springer-Verlag 2010<br />

Redaktion<br />

C. Jäkel, Lübben<br />

H.-D. Lippert, Ulm<br />

P.M. Lissel, München<br />

Kaum einem rechtlichen Thema im Bereich<br />

des Rettungswesens wurde in der<br />

Vergangenheit ähnlich große Aufmerksamkeit<br />

geschenkt wie der Frage nach der<br />

Anwendbarkeit des Heilpraktikergesetzes<br />

(HPG) auf das nichtärztliche Personal<br />

im Rahmen der sog. Notkompetenz.<br />

In unzähligen Aufsätzen und Monographien<br />

versuchte eine Vielzahl von Autoren,<br />

das Problem einer befriedigenden<br />

Antwort zuzuführen, ohne dass dabei<br />

letztlich eine Lösung gefunden wurde,<br />

die die widerstreitenden Ansichten<br />

vereinen konnte. An diesem Zustand vermochte<br />

auch die lange erwartete Positionierung<br />

der Rechtsprechung – die in so<br />

deutlicher Weise erstmals in Form eines<br />

Urteils des Arbeitsgerichts (ArbG) Koblenz<br />

im Jahr 2008 erfolgte – nichts zu ändern.<br />

Vielmehr entstand der Eindruck, als<br />

lieferte die Entscheidung den ersehnten<br />

Anlass, um den inzwischen abgeflachten<br />

Streit von Neuem aufkeimen zu lassen.<br />

Auch der vorliegende Beitrag erhebt für<br />

sich nicht den Anspruch, die einzige wahre<br />

Lösung zu liefern. Vielmehr versucht<br />

er, die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts<br />

(BVerwG) zur Notwendigkeit<br />

einer Erlaubnis nach § 1 Abs. 1 Heilpraktikergesetz<br />

(HPG) für die Berufs-<br />

* <strong>Dr</strong>. <strong>Erik</strong> <strong>Hahn</strong> ist wissenschaftlicher Mitarbeiter<br />

am Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Rechtsgeschichte<br />

und Arztrecht der Universität Leipzig<br />

(Prof. <strong>Dr</strong>. B.-R. Kern).<br />

Medizinrecht<br />

E. <strong>Hahn</strong><br />

Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Rechtsgeschichte und Arztrecht, Universität Leipzig<br />

Zur Reichweite der<br />

Physiotherapeuten-Entscheidung<br />

des Bundes ver waltungs gerichts<br />

(Az.: 3 C 19/08, Urteil vom 26.08.2009)<br />

Das Verhältnis von Heilpraktikergesetz<br />

und Rettungsassistentengesetz im Rahmen<br />

der rettungsdienstlichen Notkompetenz<br />

ausübung von Physiotherapeuten für die<br />

ähnlich gelagerte Diskussion um die Notkompetenz<br />

im Rettungsdienst fruchtbar<br />

zu machen.<br />

Notkompetenz des<br />

Rettungsdienstpersonals 1<br />

In der Rechtsprechung gilt es als allgemein<br />

anerkannt, dass ein funktionsfähiges<br />

Rettungswesen ohne die Mitwirkung<br />

von Notärzten undenkbar ist. 2 Häufig<br />

führen aber die faktischen Gegebenheiten<br />

des Rettungsalltags dazu, dass der<br />

Notfallpatient zumindest in den ersten<br />

Minuten allein von nichtärztlichem Personal<br />

betreut wird. Das gilt insbesondere<br />

für das in Form des Rendezvous-Systems<br />

organisierte Notarztmodell, bei dem<br />

der Notarzt getrennt vom Rettungswagen<br />

zum Notfallort fährt und sich daher<br />

nach Abschluss der ärztlichen Tätigkeit<br />

zum nächsten Einsatzort begeben<br />

kann, ohne zuvor die weiterbehandelnde<br />

Klinik anfahren zu müssen. Diese Organisation<br />

des Rettungsdienstes hat häufig<br />

zur Folge, dass das nichtärztliche Personal<br />

bedeutende Zeit vor dem Notarzt<br />

beim Patienten eintrifft. Ist eine Betreu-<br />

1 Dazu ausführlich Kern/<strong>Hahn</strong>/Peters, in: Wölfl/<br />

Matthes (Hrsg.), Unfallrettung, Stuttgart 2010,<br />

S. 10f.<br />

2 BGH, NJW 2003, 1184 (1185 f.); 2005, 429 (431).<br />

ung durch den Notarzt in dieser Situation<br />

nicht möglich, die Vornahme ärztlicher<br />

Maßnahmen aber unbedingt geboten, so<br />

stellt sich die Frage, in welchem Umfang<br />

diese ausnahmsweise auch von nichtärztlichen<br />

Rettungskräften durchgeführt werden<br />

können. Diesem, gemeinhin als Notkompetenz<br />

bezeichneten, Vorstoß in den<br />

eigentlich unter dem Arztvorbehalt stehenden<br />

Tätigkeitsbereich kommt insbesondere<br />

für die Strafbarkeit des nichtärztlichen<br />

Rettungspersonals Bedeutung zu.<br />

So ist es denkbar, dass Rettungsassistenten,<br />

-sanitäter und -helfer den Tatbestand<br />

des § 5 HPG erfüllen, wenn sie entgegen<br />

§ 1 Abs. 1 HPG i.V.m. § 2 Abs. 1 Bundesärzteordnung<br />

(BÄO) am Notfallort Heilkunde<br />

ausüben, ohne Arzt zu sein.<br />

> Ein funktionsfähiges<br />

Rettungswesen ist ohne<br />

die Mitwirkung von<br />

Notärzten undenkbar<br />

Die gesetzliche Grundlage der Notkompetenz<br />

findet sich nach zutreffender Ansicht<br />

3 im rechtfertigenden Notstand nach<br />

§ 34 Strafgesetzbuch (StGB), der zwar nicht<br />

3 Kern, in: Laufs/Kern (Hrsg.), Handbuch des<br />

Arztrechts, 4. Aufl., München 2010, § 17a, Rn. 44;<br />

Lippert, Notfall Rettungsmed 2003, 50. A. A.:<br />

Fehn, Notarzt 2009, 1 (3); Heuchemer und Bolsinger,<br />

MedR 2009, 524 (528); ArbG Koblenz,<br />

MedR 2009, 542 (542 ff.).<br />

Notfall + <strong>Rettungsmedizin</strong> 1 · 2011 |<br />

51


die Verwirklichung des Tatbestandes, dafür<br />

aber das Unwerturteil und damit die<br />

Rechtswidrigkeit des Handelns, entfallen<br />

lässt. Zu den Voraussetzungen des rechtfertigenden<br />

Notstandes gehört das Vorliegen<br />

einer Notstandslage, also einer gegenwärtigen<br />

Gefahr für Leben oder Leib des<br />

Patienten, die sich nur unter der Verletzung<br />

geringer zu wichtender Interessen abwenden<br />

lässt. Die vorzunehmende Notstandshandlung<br />

muss sich zudem als geeignet,<br />

erforderlich und angemessen erweisen. 4<br />

Die Bundesärztekammer fordert in ihrem<br />

Maßnahmenkatalog zur Notkompetenz,<br />

dass der Rettungsassistent am Notfallort<br />

auf sich alleine gestellt und ärztliche Hilfe,<br />

etwa durch An- oder Nachforderung des<br />

Notarztes, nicht rechtzeitig erreichbar ist.<br />

Außerdem müssen die Maßnahmen, die<br />

aufgrund eigener Diagnosestellung und<br />

therapeutischer Entscheidung durchgeführt<br />

werden, zur unmittelbaren Abwehr<br />

von Gefahren für das Leben oder die Gesundheit<br />

des Notfallpatienten dringend erforderlich,<br />

das gleiche Ziel durch weniger<br />

eingreifende Maßnahmen nicht zu erreichen<br />

und die Hilfeleistung nach den besonderen<br />

Umständen des Einzelfalles für den<br />

Rettungsassistenten zumutbar sein. 5 Als<br />

im Rahmen der Notkompetenz zulässige<br />

Maßnahmen werden die Intubation ohne<br />

Relaxantien, die Venenpunktion, die Applikation<br />

kristalloider Infusionen, die Applikation<br />

ausgewählter Medikamente und<br />

die Frühdefibrillation genannt. Aufgrund<br />

des in § 34 Strafgesetzbuch (StGB) enthaltenen<br />

Angemessenheitsgrundsatzes 6 ist<br />

der jeweils am wenigsten beeinträchtigende,<br />

aber noch geeignete Eingriff zu wählen.<br />

E Das nichtärztliche Rettungspersonal<br />

darf auch im Rahmen der<br />

Notkompetenz nur zwingend<br />

gebotene medizinische<br />

Behandlungen durchführen.<br />

Wie im Fall der Delegation ärztlicher Aufgaben<br />

muss der Rettungsassistent auch eine<br />

unter diesen Umständen vorgenom-<br />

4 Lissel, in: Razel, Luxenburger (Hrsg.), Handbuch<br />

Medizinrecht, § 23, Rn. 54.<br />

5 Kern/<strong>Hahn</strong>/Peters, in: Wölfl/Matthes (Hrsg.),<br />

Unfallrettung, Stuttgart 2010, S. 11; BÄK, MedR<br />

1993, 42.<br />

6 Erb, in: MüKo, 1. Auflage 2003, § 34 StGB,<br />

Rn. 166 ff.<br />

52 | Notfall + <strong>Rettungsmedizin</strong> 1 · 2011<br />

Medizinrecht<br />

mene Maßnahme beherrschen. Kenntnisse<br />

eines Facharztes werden dabei aber<br />

nicht verlangt. 7<br />

Der Maßnahmenkatalog der Bundesärztekammer<br />

darf jedoch hinsichtlich seiner<br />

rechtlichen Tragweite nicht überbewertet<br />

werden. Insbesondere ist er ungeeignet,<br />

um den darüber hinausgehenden<br />

Anwendungsbereich von § 34 StGB verbindlich<br />

zu beschränken und damit die<br />

Strafbarkeitsgrenzen unerlaubter Heilkundeausübung<br />

rechtsverbindlich zu konkretisieren.<br />

8 Wenn also etwa ein Rettungsdienstmitarbeiter<br />

unter den oben genannten<br />

Voraussetzungen des rechtfertigenden<br />

Notstandes ausreichend qualifiziert ist, um<br />

einen grundsätzlich unter dem Arztvorbehalt<br />

stehenden Eingriff durchzuführen, obwohl<br />

er entgegen des Maßnahmenkatalogs<br />

kein Rettungsassistent, sondern etwa nur<br />

Rettungssanitäter oder gar Rettungshelfer<br />

ist, so kann auch er gerechtfertigt sein. 9 Zu<br />

denken ist hier beispielsweise an denjenigen,<br />

der einige Semester Medizin ohne Abschluss<br />

studiert und in dieser Zeit gerade<br />

die einschlägigen Fächer belegt hat, an besonders<br />

berufserfahrene Rettungssanitäter<br />

oder solche, die sich gerade in einem fortgeschrittenen<br />

Stadium einer Qualifizierungsmaßnahme<br />

zum Rettungssanitäter<br />

befinden. Ihnen kann die Vornahme einer<br />

sicher beherrschten Maßnahme im Rahmen<br />

der Notkompetenz nicht verwehrt<br />

werden. Gleiches gilt auch für die Durchführung<br />

einer überhaupt nicht im Katalog<br />

aufgenommenen Behandlungsweise, wenn<br />

diese notfallmedizinisch indiziert ist und<br />

zuverlässig beherrscht wird. 10<br />

Zumindest bei Vorliegen dieser Voraussetzungen<br />

wäre die Behandlung also nicht<br />

strafbar. Selbst wenn aber, etwa aufgrund<br />

der vermeintlich spezialgesetzlichen Regelung<br />

im Rettungsassistentengesetz (RettAssG),<br />

mit Teilen der Literatur 11 bereits die<br />

Anwendbarkeit des HPG abzulehnen sein<br />

7 Ohr, Notfall Rettungsmed 2005, 440 (442).<br />

8 Vgl. Boll, Notfall Rettungsmed 2003, 345<br />

(346); BGH, NJW 1991, 2359.<br />

9 Braig, Zivilrechtliche Aspekte rettungsdienstlicher<br />

Einsätze, S. 187 f.; vgl. Boll, Notfall<br />

Rettungs med 2003, 345 (349 f.).<br />

10 Boll, MedR 2002, 232 (234).<br />

11 Vgl. etwa: Bockelmann, NJW 1966, 1145<br />

(1146); Boll, Strafrechtliche Probleme bei Kompetenzüberschreitungen<br />

nichtärztlicher medizinischer<br />

Hilfspersonen in Notsituationen,<br />

S. 164 ff.; Lippert, NJW 1982, 2089 (2091).<br />

wäre („lex specialis derogat legi generali“),<br />

bliebe noch ausreichend Raum für eine<br />

Rechtfertigung im Rahmen anderer Verstöße<br />

gegen den Arztvorbehalt. Zu nennen<br />

ist hier unter anderem das unzulässige Verabreichen<br />

von Betäubungsmitteln nach § 2<br />

9 Abs. 1 Nr. 6b i.V.m. § 13 Abs. 1 S. 1 Betäubungsmittelgesetz<br />

(BtmG).<br />

Neben dem Strafrecht kommt der Notkompetenz<br />

auch im Zivil- und dabei insbesondere<br />

im Haftungsrecht große Bedeutung<br />

zu. Ein innerhalb des Kompetenzrahmens<br />

durchgeführter Eingriff<br />

wird regelmäßig weder die Voraussetzung<br />

des § 823 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB)<br />

erfüllen, 12 noch kann allein aufgrund des<br />

eigentlich bestehenden Verstoßes gegen<br />

den Arztvorbehalt der Vorwurf der Sorgfaltswidrigkeit<br />

gegenüber dem Rettungsdienstpersonal<br />

erhoben werden. 13 Hiervon<br />

abzugrenzen ist aber die Haftung für<br />

einen Behandlungsfehler aufgrund eines<br />

nicht „lege artis“ vorgenommenen Eingriffs.<br />

Diese bleibt davon unbenommen<br />

weiterhin möglich. 14<br />

Einordnung und Bewertung der<br />

bisherigen Rechtsprechung<br />

Einführung<br />

Außerhalb des Rettungsdienstes wurde<br />

der Versuch, sich mit dem Verweis auf<br />

das Bestehen berufsspezifischer Regeln<br />

dem Erlaubniszwang des HPG zu entziehen,<br />

noch bei einer Reihe weiterer Berufsgruppen<br />

unternommen. Besonders deutlich<br />

war das im Bereich der Physiotherapie<br />

zu spüren, als Physiotherapeuten und<br />

Masseure bzw. medizinische Bademeister<br />

15 den Aufstand gegen die jeweiligen<br />

Zulassungsbehörden probten und in den<br />

Voten der Rechtsprechung – jedenfalls zunächst<br />

– auch Unterstützung fanden. So<br />

gelangte etwa der Verwaltungsgerichtshof<br />

(VGH) Mannheim in seiner Entscheidung<br />

12 Allgemein gegen eine zivilrechtliche Haftung<br />

in diesem Fall: Lippert, Notfall Rettungsmed<br />

2003, 50 (52).<br />

13 Ohr, Notfall Rettungsmed 2005, 440 (442).<br />

14 Kern/<strong>Hahn</strong>/Peters, in: Wölfl/Matthes (Hrsg.),<br />

Unfallrettung, Stuttgart 2010, S. 11.<br />

15 Zur fehlenden Anwendbarkeit des HPG auf<br />

Masseure und medizinische Bademeister vgl.<br />

<strong>Hahn</strong> A. B. 2010, S. 404f. BVerwG, PKR 2010, 22.


aus dem Jahr 2009 zu dem Ergebnis, der<br />

Erlaubniszwang aus § 1 Abs. 1 HPG finde<br />

„für Behandlungen aus dem Aufgabenkreis<br />

eines Physiotherapeuten keine Anwendung,<br />

wenn sie von einer Person ausgeführt<br />

werden, der bereits eine Erlaubnis<br />

nach § 1 Abs. 1 Nr. 2 Masseur- und Physiotherapeutengesetz<br />

(MPhG) erteilt wurde“.<br />

Vielmehr habe der Gesetzgeber durch die<br />

vielfach erfolgte spezialgesetzliche Regelung<br />

einzelner Heilberufe<br />

„der Tatsache Rechnung getragen, dass sich<br />

im Feld der Heilberufe zahlreiche neue Berufsbilder<br />

ausdifferenziert haben, denen jeweils<br />

ein eigenständiges Aufgaben- und Tätigkeitsfeld<br />

mit dazugehöriger Fachkenntnis<br />

zugeordnet werden kann“.<br />

Die Weiterentwicklung und Spezialisierung<br />

der Heilkundebereiche bringe<br />

„es dabei mit sich, dass auch in sog. Heilhilfsberufen<br />

Kenntnisse und Fähigkeiten<br />

vermittelt werden, die in der Ausbildung<br />

zum Arzt oder Heilpraktiker nicht zwingend<br />

enthalten sind“.<br />

Damit wertete der VGH die Angehörigen<br />

der Heilhilfsberufe hinsichtlich ihrer<br />

fachlichen Befähigung gegenüber der allgemeinen<br />

ärztlichen Ausbildung erheblich<br />

auf und attestierte Kenntnisse, die die<br />

eines Arztes ggf. sogar partiell überschreiten<br />

sollen. So fehle dem Arzt oder Heilpraktiker<br />

beispielsweise „für die Entscheidung<br />

über die richtige physikalische Behandlungsweise<br />

[…] die Fachkunde […], weil<br />

hierfür kein Heilkundewissen, sondern spezielle<br />

Erkenntnisse aus dem Bereich der Physiotherapie<br />

erforderlich“ 16 seien.<br />

Gegenteilig hatte beispielsweise das<br />

Ober verwaltungsgericht (OVG) Koblenz<br />

im Jahr 2006 entschieden. Danach betreffe<br />

die<br />

„Erlaubnis nach § 1 MPhG die Befugnis zur<br />

Erbringung von Leistungen eines Heilhilfsberufes.<br />

Nach dem beruflichen Selbstverständnis,<br />

wie es in den §§ 3 und 8 MPhG zum<br />

Ausdruck kommt, geben nämlich die Masseure<br />

und Physiotherapeuten lediglich Hilfen<br />

bei bestimmten gesundheitlichen Problemlagen,<br />

wobei die Hilfen im Regelfall nach<br />

Maßgabe einer ärztlichen Diagnose und aufgrund<br />

einer ärztlichen Heilmittelverordnung<br />

16 VGH Mannheim, MedR 2009, 610ff.<br />

Zusammenfassung · Abstract<br />

Notfall Rettungsmed 2011 · 14:51–56 DOI 10.1007/s10049-010-1379-7<br />

© Springer-Verlag 2010<br />

E. <strong>Hahn</strong><br />

Zur Reichweite der Physiotherapeuten-Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts<br />

(Az.: 3 C 19/08, Urteil vom 26.08.2009).<br />

Das Verhältnis von Heilpraktikergesetz und Rettungsassistentengesetz<br />

im Rahmen der rettungsdienstlichen Notkompetenz<br />

Zusammenfassung<br />

Ein funktionsfähiges Rettungswesen ist ohne<br />

die Mitwirkung von Notärzten undenkbar.<br />

Häufig aber wird der Notfallpatient zumindest<br />

in den ersten Minuten allein von nichtärztlichem<br />

Personal betreut. Da stellt sich<br />

die Frage nach der Anwendbarkeit des Heilpraktikergesetzes<br />

(HPG) auf das nichtärztliche<br />

Personal im Rahmen der sog. Notkompetenz.<br />

So ist es denkbar, dass Rettungsassistenten,<br />

-sanitäter und -helfer den Tatbestand<br />

des § 5 HPG erfüllen, wenn sie entgegen<br />

§ 1 Abs. 1 HPG i.V.m. § 2 Abs. 1 Bundesärzteordnung<br />

(BÄO) am Notfallort Heilkunde<br />

ausüben, ohne Arzt zu sein. Das Berufsbild<br />

des Rettungsassistenten ist der Gruppe<br />

der Heilhilfsberufe zuzuordnen, so dass<br />

sich die Annahme eines Spezialitätsverhältnisses<br />

des Rettungsassistentengesetzes (Ret-<br />

tAssG) gegenüber dem HPG verbietet. Die<br />

vom Bundesverwaltungsgericht (BVerwG)<br />

zur Anwendbarkeit des Erlaubnisvorbehalts<br />

nach § 1 Abs. 1 HPG auf die Berufsausübung<br />

von Physiotherapeuten aufgestellten Grundsätze<br />

sind weitgehend auf Rettungsassistenten<br />

übertragbar. Die Tätigkeit im Rahmen<br />

der Notkompetenz bewegt sich auch weiterhin<br />

auf der Rechtfertigungsebene, so dass die<br />

Voraussetzungen des rechtfertigenden Notstands<br />

i.S.d. § 34 Strafgesetzbuch (StGB) vorliegen<br />

müssen.<br />

Schlüsselwörter<br />

Notkompetenz · Notfallpatient ·<br />

Heilpraktikergesetz ·<br />

Rettungsassistentengesetz ·<br />

Rechtfertigender Notstand<br />

The influence of the decision of the Federal Administrative Court on<br />

physiotherapists (Case number 3 C 19/08 verdict from 26.08.2009).<br />

Relationship of the Non-Medical Practioners Act and the Rescue<br />

Assistants Act in the setting of emergency rescue service competence<br />

Abstract<br />

A functonally competent rescue service is<br />

unthinkable without the inclusion of emergency<br />

physicians. However, emergency patients<br />

are often treated by non-medical personnel<br />

alone, at least during the initial stages.<br />

This raises the question of the applicability<br />

of the Non-Medical Practitioners Act (HPG)<br />

to non-medical personnel within the framework<br />

of so-called emergency competence.<br />

It is therefore conceivable that rescue assistants,<br />

paramedics and rescue helpers fulfil<br />

the prerequisites of §5 of the HPG when they<br />

practice medicine at the emergency scene<br />

without being a physician, contrary to §1 para<br />

1 HPG in connection with §2 para 1 of the<br />

Federal Medical Practitioners Act. The profession<br />

of rescue assistant is assigned to the<br />

group of paramedical professions so that the<br />

assumption of a speciality relationship of the<br />

Rescue Assistants Act to the HPG is not given.<br />

The principles established by the Federal Administrative<br />

Court for the applicability of the<br />

reservation of permission to the professional<br />

practice of physiotherapists according to<br />

§1 para 1 HPG are largely applicable to rescue<br />

assistants. The activity within the framework<br />

of emergency competence still lies at the level<br />

of justification so that the prerequisites for<br />

a justifiable emergency in the sense of §34 of<br />

the penal code must be present.<br />

Keywords<br />

Emergency competence · Emergency<br />

patient · Non-Medical Practitioner Act ·<br />

Rescue Assistant Act · Justifiable<br />

emergency situation<br />

Notfall + <strong>Rettungsmedizin</strong> 1 · 2011 |<br />

53


entfaltet werden. Im Gegensatz dazu hat die<br />

Heilpraktikererlaubnis die selbständige und<br />

eigenverantwortliche Ausübung der Heilkunde<br />

zum Gegenstand. Diese berufliche Tätigkeit<br />

wird mithin in voller diagnostischer und<br />

therapeutischer Autonomie verrichtet und<br />

betrifft damit im Vergleich zur Masseur- und<br />

Physiotherapeutenerlaubnis auch genehmigungsrechtlich<br />

ein Aliud.“ 17<br />

Urteil des ArbG Koblenz zum<br />

Verhältnis von HPG und RettAssG<br />

Konkret für die Berufsgruppe der Rettungsassistenten<br />

hatte das ArbG Koblenz im<br />

Jahr 2008 die Ansicht vertreten, es sei von<br />

einem Vorrang des RettAssG gegenüber<br />

dem HPG auszugehen. 18 Der § 3 RettAssG<br />

stelle beim Vorliegen seiner Voraussetzungen<br />

das speziellere Gesetz dar und gehe<br />

dem HPG daher im Fall der Notfallversorgung<br />

vor. 19 Das Gericht führte dazu aus:<br />

„Der § 3 RettAssG gibt dem Rettungsassistenten<br />

die Vorgabe, am Notfallort bis zur<br />

Übernahme der Behandlung durch den Arzt<br />

lebensrettende Maßnahmen bei Notfallpatienten<br />

durchzuführen, die Transportfähigkeit<br />

solcher Patienten herzustellen, die lebenswichtigen<br />

Körperfunktionen während des<br />

Transports zum Krankenhaus zu beachten<br />

und aufrechtzuerhalten. Während das Heilpraktikergesetz<br />

beabsichtigt, einen Qualitätsstandard<br />

bei der medizinischen Versorgung<br />

der Bevölkerung zu sichern und die<br />

Ausübung der Heilkunde grundsätzlich nur<br />

Personen mit staatlicher Erlaubnis vorzubehalten,<br />

beabsichtigt das Rettungsassistentengesetz<br />

die Gewährleistung qualifizierter Hilfe<br />

bei Notfällen und schafft hierfür ein eigenständiges<br />

Berufsbild.“ 20<br />

Im medizinrechtlichen Schrifttum stieß<br />

das Urteil auf ein erwartungsgemäß geteiltes<br />

Echo. So begrüßten etwa Heuchemer<br />

und Bolsinger die Entscheidung als<br />

absolute Sensation, mit der das Gericht den<br />

dogmatisch richtigen Weg gewählt habe. 21<br />

Der vom ArbG Koblenz statuierte Vorrang<br />

des RettAssG gegenüber dem HPG<br />

sei zwingend, da das HPG die Zulassung<br />

17 OVG Koblenz, MedR 2007, 496 (497).<br />

18 ArbG Koblenz, MedR 2009, 542 (546).<br />

19 ArbG Koblenz, MedR 2009, 542 (546).<br />

20 ArbG Koblenz, MedR 2009, 542 (544).<br />

21 Heuchemer, Bolsinger, MedR 2009, 524 (526 f.).<br />

54 | Notfall + <strong>Rettungsmedizin</strong> 1 · 2011<br />

Medizinrecht<br />

zum allgemeinen heilkundlichen Bereich<br />

regele, während das RettAssG die Zulassung<br />

zum speziellen Bereich der Notfallrettung<br />

und des Krankentransports abdecke.<br />

22 Nach dieser Lesart scheint es, als<br />

handele es sich um ein ähnliches Verhältnis,<br />

wie das zwischen Ärzten und Psychotherapeuten,<br />

nach dem letztere nur Heilkunde<br />

auf dem Gebiet der Psychotherapie<br />

ausüben. 23 Heuchemer und Bolsinger<br />

gestehen zwar insoweit zu, dass der<br />

§ 3 RettAssG mit seiner bloßen Beschreibung<br />

des Ausbildungsziels keine unmittelbare<br />

Legitimation zur Vornahme originär<br />

ärztlich vorbehaltener Maßnahmen<br />

bieten kann. Allerdings gebe die Norm zu<br />

erkennen, dass es sich bei den darin aufgenommen<br />

Tätigkeiten um solche handele,<br />

zu denen ein Rettungsassistent im Allgemeinen<br />

befähigt ist. Darüber hinaus sei<br />

es für die Annahme eines Spezialitätsverhältnisses<br />

vollkommen unschädlich, dass<br />

§ 3 RettAssG den Rettungsassistenten als<br />

Helfer des Arztes bezeichnet, da die Hilfe<br />

auch in einer, der ärztlichen Behandlung<br />

vorgelagerten, Erstversorgung bestehen<br />

könne. Zum selben Ergebnis gelangt beispielsweise<br />

auch Fehn in einer dem Urteil<br />

vorausgehenden Schrift. In dieser berief<br />

er sich zusätzlich noch auf den allgemein<br />

anerkannten Rechtsgrundsatz, dass<br />

das spätere Gesetz das frühere verdrängt<br />

(„lex posterior derogat legi priori“). Hierdurch<br />

sei dem RettAssG als neuerem Gesetz<br />

der Vorrang gegenüber dem HPG zu<br />

gewähren. 24<br />

> Hilfe kann auch in einer,<br />

der ärztlichen Behandlung<br />

vorgelagerten<br />

Erstversorgung bestehen<br />

Auf Ablehnung stieß die Entscheidung dagegen<br />

etwa bei Neupert, der die Qualifikation<br />

des RettAssG als spezielleres Gesetz<br />

gegenüber dem HPG in Zweifel zog. 25 Zu-<br />

22 Heuchemer, Bolsinger, MedR 2009, 524 (527).<br />

23 Vgl. dazu § 1 Psychotherapiegesetz (PsychThG).<br />

24 Fehn, Der Notarzt, 1 (3). Diese doppelte Argumentation<br />

erscheint widersprüchlich, da entweder<br />

das neuere Gesetz das ältere verdrängt, so<br />

dass insoweit kein Spezialitätsverhältnis mehr<br />

bestehen kann, oder aber der Vorrang der spezielleren<br />

Regel den Verweis auf das Alter der<br />

betroffenen Normen verwehrt.<br />

25 Neupert, MedR 2009, 649 (650 f.)<br />

treffend schreibt er der gesetzlich vorgegebenen<br />

Einstufung des Rettungsassistenten<br />

als Helfer des Arztes die größere Bedeutung<br />

zu. Hierdurch gelangt er zu dem Schluss,<br />

die Ableitung einer eigenständigen Handlungsbefugnis<br />

aus dem Ausbildungsziel des<br />

§ 3 RettAssG sei nicht überzeugend. 26 Dem<br />

ist uneingeschränkt zuzustimmen. An diesem<br />

Ergebnis ändert sich auch nichts durch<br />

den von der Gegenauffassung vorgebrachten<br />

Einwand, die Einordnung des Rettungsassistenten<br />

als Helfer des Arztes schließe eine<br />

Verdrängung des HPG durch das RettAssG<br />

nicht aus, da insoweit nicht unbedingt der<br />

Notarzt, sondern auch der nachbehandelnde<br />

Krankenhausarzt gemeint sei. Auch in<br />

diesem Fall wäre aber aufgrund der Kernaussage<br />

des § 3 RettAssG im Verhältnis der<br />

beiden Berufsgruppen Rettungsassistent<br />

und Arzt nicht zu bestreiten, dass ein – im<br />

Übrigen auch durch die Rechtsprechung<br />

bestätigtes – 27 medizinisches Über-Unterordnungsverhältnis<br />

besteht. Der Rettungsassistent<br />

soll bereits nach der gesetzgeberischen<br />

Grundkonzeption dieses Berufes<br />

dem Arzt assistieren.<br />

Wäre es dagegen richtig, aus der Aufgabenbeschreibung<br />

des RettAssG darauf<br />

zu schließen, dass der Rettungsassistent<br />

in Notfällen ohne die Inanspruchnahme<br />

eines Rechtfertigungstatbestands berechtigt<br />

sei, Heilkunde auszuüben, weil er dazu<br />

die fachliche Befähigung besitze, so würde<br />

das zu problematischen Folgefragen<br />

führen. Im Lichte der in Art. 12 Grundgesetz<br />

(GG) garantierten Berufsfreiheit erschiene<br />

es dann nämlich zumindest zweifelhaft,<br />

Personen, die nach der gesetzgeberischen<br />

Wertung, aufgrund ihrer fachlicher<br />

Qualifikation und der dann notwendigen<br />

Einstufung als Heilberuf, in der<br />

Lage seien, eine der ärztlichen Qualität<br />

entsprechende Behandlung ohne Gefährdung<br />

der Volksgesundheit sogar in Notsituationen<br />

anzubieten, von der Vornahme<br />

selbständiger medizinischer Alltagsbehandlungen<br />

auszuschließen.<br />

Zwar lassen sich die Bedenken hinsichtlich<br />

des Differenzierungskriteriums<br />

„akademische Ausbildung“ durch einen<br />

Verweis auf die Rechtsprechung des<br />

BVerwG weitgehend entkräften. Nach<br />

dieser sei der Gesetzgeber verfassungs-<br />

26 Neupert, MedR 2009, 649 (651).<br />

27 Vgl. BGH, NJW 2003, 1184 (1185).


echtlich nicht gehindert, für die berufsmäßige<br />

Ausbildung der Helkunde ein abgeschlossenes<br />

medizinisches Studium zu<br />

verlangen 28 . Problematisch bliebe aber<br />

jedenfalls die abweichende Behandlung<br />

von medizinischen Notfällen und sonstigen<br />

Behandlungssituationen, schließlich<br />

liegt im letztgenannten Fall für den Patienten<br />

regelmäßig eine deutlich geringere<br />

Gefährdung vor. Darüber hinaus wäre die<br />

Aufwertung des Rettungsassistenten zum<br />

Heilberuf aber auch dann bedenklich,<br />

wenn seine Kompetenz auf Notfallsituationen<br />

beschränkt bleibt. Trifft er nämlich<br />

mit dem Notarzt am Unfallort zusammen,<br />

so würden genau genommen zwei einschlägige<br />

Heilberufe miteinander konkurrieren.<br />

In diesem Fall die unbestreitbare<br />

Vorrangstellung des Arztes und das damit<br />

verbundene Weisungsrecht zu konstruieren,<br />

wäre dann aber zumindest aus rechtsdogmatischer<br />

Sicht schwierig.<br />

Außerdem ist der mit der Anwendung<br />

von § 34 StGB verbundene Verweis<br />

des Rettungsassistenten auf die<br />

Rechtfertigungsebe ne auch in rechtspolitischer<br />

Hinsicht unbedenklich. Auch die<br />

ärztliche Behandlung stellt nach heute<br />

überwiegend vertretener Auffassung eine<br />

rechtfertigungsbedürftige Tätigkeit dar,<br />

ohne dass damit zugleich ein Unwerturteil<br />

verbunden wäre. 29 Weshalb dieses Lösungsmodell<br />

im Parallelfall der Berufsausübung<br />

des Rettungsassistenten plötzlich<br />

als so unerträglich einzustufen sein sollte,<br />

dass jedenfalls hier eine andere Wer tung<br />

erforderlich wird, ist nicht ersichtlich. Im<br />

Ge gensatz zur ärztlichen Behandlung, bei<br />

der nur der Eingriff in die körperli che Integrität<br />

im Wege der tatsächlichen oder<br />

mutmaßli chen Einwilligung zu rechtfertigen<br />

ist (Recht fertigungslösung) 30 , bedarf<br />

der Rettungsdienstmitarbeiter bei der<br />

selbständigen Vornahme ärztlicher Tätigkeiten<br />

ei nes weiteren Rechtfertigungsgrundes.<br />

Die ser ist, wie oben erläutert, im<br />

rechtfertigen den Notstand zu suchen. Es<br />

handelt sich also um eine doppelte Rechtfertigungslösung.<br />

28 BVerwG, NJW, 1957, 841.<br />

29 Vgl. Kern, in: Laufs/Kern (Hrsg.), Handbuch<br />

des Arztrecht, 4. Aufl. 2010, § 130, Rn. 3 ff.<br />

30 Vgl. dazu Laufs/Kern, in: Laufs, Kern (Hrsg.),<br />

Handbuch des Arztrechts, 4. Aufl., München<br />

2010, § 103, Rn. 2 ff.<br />

Die Physiotherapeuten-<br />

Entscheidung des BVerwG<br />

Sachverhalt und Leitsatz der<br />

Entscheidung des BVerwG<br />

Im vergangenen Jahr erhielt nunmehr<br />

auch das Bundesverwaltungsgericht die<br />

Gelegenheit, sich maßgeblich in die, auch<br />

in der Literatur 31 entbrannte, Grundsatzdiskussion<br />

um die Erforderlichkeit<br />

einer Heilpraktikererlaubnis nach<br />

§ 1 Abs. 1 HPG für die Ausübung von<br />

Heilhilfsberufen, einzuschalten. Der Kläger,<br />

seit 1993 Masseur und medizinischer<br />

Bademeister sowie seit 2004 Physiotherapeut,<br />

hatte 2007 die Erteilung einer auf den<br />

Bereich der Physiotherapie beschränkten<br />

Heilpraktikererlaubnis ohne vorherige<br />

Kenntnisüberprüfung begehrt. Die Ausgangs-<br />

und später auch die Widerspruchsbehörde<br />

lehnten seinen darauf gerichteten<br />

Antrag mit der Begründung ab,<br />

„die Heilpraktikererlaubnis sei grundsätzlich<br />

unteilbar. […] Einem ausgebildeten<br />

Physiotherapeuten fehlten die für eine eigenverantwortliche<br />

Krankenbehandlung<br />

nötigen diagnostischen Kenntnisse. Er werde<br />

nur entsprechend seiner grundständigen<br />

Ausbildung tätig und könne eine ärztliche<br />

Verordnung nicht ersetzen.“ 32<br />

Der Antragsteller habe aber die Möglichkeit,<br />

„eine uneingeschränkte Heilpraktikererlaubnis<br />

zu beantragen, die Kenntnisüberprüfung<br />

werde sich dabei nicht auf Bereiche erstrecken,<br />

deren Beherrschung bei Physiotherapeuten<br />

zu unterstellen sei.“ 33<br />

Auf die hiergegen erhobene Klage verpflichtet<br />

das Verwaltungsgericht (VG)<br />

Ansbach die Beklagte zur Erteilung der<br />

beschränkten Heilpraktikererlaubnis, die<br />

sich nunmehr mit der Sprungrevision an<br />

das BVerwG wendete.<br />

Ausschlaggebend für die durch das<br />

Gericht zu treffende Entscheidung war die<br />

Frage, inwieweit Personen, die sich innerhalb<br />

des Bereichs der zu ihrem jeweiligen<br />

31 Für Rettungsassistenten vgl. etwa: Boll, Strafrechtliche<br />

Probleme bei Kompetenzüberschreitungen<br />

nichtärztlicher medizinischer Hilfspersonen<br />

in Notsituationen, S. 164 ff.; Fehn, Notarzt<br />

2009, 1 (3); Lippert, NJW 1982, 2089 (2091).<br />

32 BVerwG, NVwZ-RR 2010, 111.<br />

33 BVerwG, NVwZ-RR 2010, 111.<br />

Berufsbild gehörenden Tätigkeiten bewegen<br />

wollen und bereits über eine spezielle<br />

Berufserlaubnis zur Ausübung ihres konkreten<br />

Heilhilfsberufes verfügen, die selbständige<br />

Heilkundeausübung im Rahmen<br />

ihres Heilhilfsberufs ohne gesonderte Erlaubnis<br />

nach dem HPG zu gestatten ist.<br />

Das BVerwG entschied dazu, die Heilpraktikererlaubnis<br />

könne zwar auf die<br />

Ausübung der Physiotherapie beschränkt<br />

werden. Ein ausgebildeter Physiotherapeut<br />

müsse sich allerdings zur Erlangung<br />

einer solchen Erlaubnis<br />

„einer eingeschränkten Überprüfung seiner<br />

Kenntnisse und Fähigkeiten unterziehen“. 34<br />

Ausführungen des BVerwG zur<br />

Geltung des § 1 HPG für die Berufs-<br />

ausübung durch die Angehörigen<br />

von gesetzlich geregelten<br />

Heilhilfsberufen und Anwendung<br />

dieser Grundsätze auf das RettAssG<br />

Mit seiner Entscheidung trat das BVerwG<br />

dem Versuch, einen Vorrang der jeweiligen<br />

Berufsgesetze gegenüber dem HPG<br />

zu statuieren, mit aller Deutlichkeit entgegen.<br />

Dabei betonte es erneut die Unterscheidung<br />

des Berufsrechts zwischen<br />

Heilberufen, die eigenverantwortlich körperliche<br />

oder seelische Leiden behandeln<br />

dürfen (Arzt, Zahnarzt, Psychotherapeut,<br />

Heilpraktiker), und den Heilhilfsberufen<br />

oder Gesundheitsfachberufen, die zur<br />

Krankenbehandlung grundsätzlich nur<br />

aufgrund ärztlicher Verordnung befugt<br />

sind. 35 Gestützt auf den damit gestärkten<br />

Erlaubnisvorbehalt des § 1 HPG erteilte<br />

es allerdings im selben Atemzug dem, zumindest<br />

im Schrifttum geradezu apodiktisch<br />

mitgeführten, 36 Grundsatz der Unteilbarkeit<br />

der Heilpraktikererlaubnis eine<br />

endgültige Absage. 37 Methodisch stützte<br />

es sich dabei auf die von ihm selbst 38 aufgestellten<br />

Grundsätze zur Entscheidung<br />

über die Anwendbarkeit des HPG. Danach<br />

sei es ausschlaggebend, ob die relevante<br />

Maßnahme ärztliche oder heilkundliche<br />

Fachkenntnisse voraussetzt und die<br />

Gefahr gesundheitlicher Schäden in sich<br />

34 BVerwG, NVwZ-RR 2010, 111.<br />

35 BVerwG, NVwZ-RR 2010, 111 (112).<br />

36 Vgl. dazu exemplarisch Kurtenbach, Erläuterungen<br />

zum Deutschen Bundesrecht, § 1 HPG.<br />

37 BVerwG, NVwZ-RR 2010, 111 (113).<br />

38 Vgl. BVerwG, NJW 1984, 1414 ff.<br />

Notfall + <strong>Rettungsmedizin</strong> 1 · 2011 |<br />

55


trägt. 39 Für das Tätigwerden eines Rettungsassistenten<br />

am Notfallort vor dem<br />

Eintreffen des Arztes wird das Vorliegen<br />

der genannten Merkmale von keiner Seite<br />

ernstlich bestritten. Diskutiert wird allein<br />

die Legitimationsgrundlage.<br />

Ebenso wie das ArbG Koblenz schenkte<br />

auch das BVerwG dem gesetzlich definierten<br />

Ausbildungsziel Beachtung. Danach<br />

sei § 8 MPhG zu entnehmen, dass<br />

ein Physiotherapeut anhand<br />

„eines vom Arzt angegebenen Leitsymptoms<br />

nur die Einzelheiten der physiotherapeutischen<br />

Behandlung, namentlich die<br />

Art und Weise der Krankengymnastik oder<br />

Massage, abklärt und diese durchführt“ 40 .<br />

Auch dieses Prinzip findet sich im Berufsbild<br />

des Rettungsassistenten wieder,<br />

für das oben bereits festgestellt wurde,<br />

dass § 3 RettAssG explizit die Helferstellung<br />

betont. Bereits das legt den Schluss<br />

nahe, dass Rettungsassistenten nach dem<br />

Willen des Gesetzgebers der Gruppe der<br />

Heilberufe zuzuordnen sind. Dieser Eindruck<br />

wird dadurch bestätigt, dass das<br />

RettAssG nach der Gesetzesbegründung<br />

ausdrücklich<br />

„dem bei den übrigen bundesgesetzlichen<br />

Regeln für Heilhilfsberufe bestehenden System“<br />

folgen sollte und daher nicht als Ausnahme<br />

zum HPG konzipiert war. 41 Daran ändert<br />

auch der schon eingangs genannte Umstand<br />

nichts, dass Rettungsassistenten aufgrund<br />

der Organisation des Rettungsdienstes<br />

häufig vor dem Notarzt eintreffen, bzw.<br />

die Behandlung sogar gelegentlich vollständig<br />

allein durchführen. Das gesetzlich vorgegebene<br />

Berufsbild eines Heilhilfsberufs<br />

wird nicht allein dadurch zum Heilberuf,<br />

dass die Binnenorganisation des Rettungswesens<br />

Fakten schafft, die eine eigenständige<br />

Behandlung durch nichtärztliche Mitarbeiter<br />

faktisch erzwingen. Hier ist entweder<br />

der Anwendungsbereich des HPG im Einzelfall<br />

überhaupt nicht eröffnet, weil ärztliche<br />

Fachkenntnis mangels Gefährlichkeit<br />

der konkreten Maßnahme gar nicht erforderlich<br />

ist (Aufkleben eines Pflasters), oder<br />

der Rettungsdienstmitarbeiter bewegt sich<br />

39 BVerwG, NVwZ-RR 2010, 111 (112).<br />

40 BVerwG, NVwZ-RR 2010, 111 (112).<br />

41 Bundestagsdrucksache 11/2275, S. 9.<br />

56 | Notfall + <strong>Rettungsmedizin</strong> 1 · 2011<br />

Medizinrecht<br />

im Rahmen der Notkompetenz (§ 34 StGB).<br />

Liegt beides nicht vor, so ist sein Handeln<br />

rechtswidrig und kann auch nicht durch<br />

einen Verweis auf die Üblichkeit dieses Vorgehens<br />

legitimiert werden.<br />

> Allein das organisatorisch<br />

begründete Fehlen eines Arztes<br />

am Notfallort führt nicht dazu,<br />

dass aus einem Heilhilfsberuf<br />

ein Heilberuf wird<br />

Letztlich schlagendes und ebenfalls auf die<br />

Tätigkeit eines Rettungsassistenten anzuwendendes<br />

Argument ist der vom BVerwG<br />

in dieser Entscheidung gezogene Vergleich<br />

zwischen dem Berufsbild des Physiotherapeutens<br />

und dem des Psychotherapeuten.<br />

Letzterem ist die Ausübung der<br />

Heilkunde im Bereich der Psychotherapie<br />

nach § 1 Abs. 1 Psychotherapeutengesetz<br />

(PsychThG) ausdrücklich erlaubt. 42 Die gemeinsame<br />

Betrachtung dieser Norm mit<br />

§ 1 Abs. 1 HPG für Heilpraktiker und Ärzte<br />

und § 1 Abs. 1 S. 1 Zahnheilkundegesetz<br />

(ZHG) für Zahnärzte legt daher den Umkehrschluss<br />

nahe, dass berufsregelnde Gesetze,<br />

die eine vergleichbare ausdrückliche<br />

Legitimationsgrundlage nicht enthalten, die<br />

selbständige Ausübung der Heilkunde gerade<br />

nicht gestatten sollen. Dieser Überlegung<br />

folgt auch das BVerwG und das führt<br />

dazu aus:<br />

„Wenn der Gesetzgeber die Physiotherapeuten<br />

ebenfalls zu einer eigenverantwortlichen<br />

Ausübung hätte berechtigen wollen,<br />

hätte er ihr Berufsrecht entsprechend ausgestaltet.“<br />

43<br />

Da aber auch das RettAssG keine ausdrückliche<br />

Legitimationsgrundlage enthält,<br />

muss die Aussage des BVerwG hier<br />

entsprechend gelten. Der Gesetzgeber hat<br />

die Einstufung des Psychotherapeuten als<br />

Heilberuf auch in formeller Hinsicht bekräftigt,<br />

indem er ihre Zulassung zur Berufsausübung<br />

im Wege der Approbation<br />

regelte und damit bewusst die Parallelität<br />

zu anderen akademischen Heilberufen<br />

suchte. 44 Das ist für den Berufszugang<br />

der Physiotherapeuten dagegen<br />

nicht der Fall, was das BVerwG als wei-<br />

42 BVerwG, NVwZ-RR 2010, 111 (112).<br />

43 BVerwG, NVwZ-RR 2010, 111 (112).<br />

44 Bundestagsdrucksache 13/8035, S. 14.<br />

teres Argument für die Erforderlichkeit<br />

einer Erlaubnis nach § 1 Abs. 1 HPG wertete.<br />

Auch hierzu führte es aus, dass sich<br />

ein abweichender Wille des Gesetzgebers<br />

anderenfalls im MPhG niedergeschlagen<br />

hätte. 45 Das muss dann aber gleichermaßen<br />

für das Berufsbild des Rettungsassistenten<br />

gelten, der ebenfalls nicht approbiert<br />

wird.<br />

Für Physiotherapeuten gelangt das Gericht<br />

nach alledem zu dem Schluss, die<br />

„Anwendung physiotherapeutischer Behandlungsmethoden<br />

ohne ärztliche Verordnung<br />

ist eine heilkundliche Tätigkeit, die ohne Erlaubnis<br />

nicht ausgeübt werden darf“ 46 .<br />

Für die Notkompetenz des Rettungsassistenten<br />

lassen sich nach alledem keine<br />

tragfähigen Argumente finden, die eine<br />

Abweichung vom Grundsatz der Erlaubnispflichtigkeit<br />

auch nach § 1 Abs. 1 HPG<br />

gebieten.<br />

Fazit für die Praxis<br />

Das Berufsbild des Rettungsassistenten<br />

ist der Gruppe der Heilhilfsberufe zuzuordnen,<br />

so dass sich die Annahme eines<br />

Spezialitätsverhältnisses des RettAssG<br />

gegenüber dem HPG verbietet. Die vom<br />

BVerwG zur Anwendbarkeit des Erlaubnisvorbehalts<br />

nach § 1 Abs. 1 HPG auf die<br />

Berufsausübung von Physiotherapeuten<br />

aufgestellten Grundsätze sind weitgehend<br />

auf Rettungsassistenten übertragbar.<br />

Die Tätigkeit im Rahmen der Notkompetenz<br />

bewegt sich somit auch weiterhin<br />

– und damit entgegen der Auffassung<br />

des ArbG Koblenz – auf der Rechtfertigungsebene,<br />

so dass die Voraussetzungen<br />

des rechtfertigenden Notstands<br />

i.S.d. § 34 StGB vorliegen müssen.<br />

Korrespondenzadresse<br />

<strong>Dr</strong>. E. <strong>Hahn</strong><br />

Lehrstuhl für Bürgerliches Recht,<br />

Rechtsgeschichte und Arztrecht,<br />

Universität Leipzig<br />

Leipzig<br />

ehahn@uni-leipzig.de<br />

Interessenkonflikt. Der korrespondierende Autor<br />

gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.<br />

45 BVerwG, NVwZ-RR 2010, 111 (112).<br />

46 BVerwG, NVwZ-RR 2010, 111 (112).

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!