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Technisches Gestalten und Bildung von V. Dittli - do-it-werkstatt.ch

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Ers<strong>ch</strong>ienen im Jahresberi<strong>ch</strong>t 2002/03 des Kantonalen Lehrerinnen- <strong>und</strong> Lehrerseminars Freiburg<br />

<strong>Te<strong>ch</strong>nis<strong>ch</strong>es</strong> <strong>Gestalten</strong> <strong>und</strong> <strong>Bildung</strong><br />

Jense<strong>it</strong>s <strong>von</strong> Kaugummi <strong>und</strong> Kumbaya<br />

<strong>von</strong> Viktor <strong>D<strong>it</strong>tli</strong><br />

«Im Werken dürfen wir Kaugummi kauen» beri<strong>ch</strong>tete mein 10jähriger Sohn aus dem Unterri<strong>ch</strong>t<br />

in seiner 3. Klasse.<br />

«Und jetzt singen wir no<strong>ch</strong> Kumbaya» meinte kürzli<strong>ch</strong> ein 16jähriger Gymnasiast spontan<br />

<strong>und</strong> viellei<strong>ch</strong>t ni<strong>ch</strong>t ganz ohne Ironie, als i<strong>ch</strong> im Angewandten <strong>Gestalten</strong> eine Einstiegsübung<br />

m<strong>it</strong> Ton ma<strong>ch</strong>te.<br />

Zwei Bl<strong>it</strong>zli<strong>ch</strong>ter, die etwas aussagen über die Wahrnehmung alltägli<strong>ch</strong>en Unterri<strong>ch</strong>ts im<br />

Te<strong>ch</strong>nis<strong>ch</strong>en bzw. Angewandten <strong>Gestalten</strong>: Der Kaugummifreipass ist Hinweis dafür,<br />

dass da ein Fa<strong>ch</strong> etwas lockerer angegangen wird als andere, quasi ein «Ausglei<strong>ch</strong>sfa<strong>ch</strong>».<br />

Die spontane Assoziation eine Werkmaterials zum spir<strong>it</strong>uellen Lied illustriert, dass<br />

au<strong>ch</strong> ausserhalb des gestalteris<strong>ch</strong>en Spektrums <strong>und</strong> ausserhalb <strong>von</strong> Werkräumen im tätigen<br />

Umgang m<strong>it</strong> Material <strong>Bildung</strong>sarbe<strong>it</strong> geleistet wird.<br />

Auf einer ganz anderen Ebene <strong>und</strong> in einem gewissen Gegensatz zu den zwei eingangs<br />

aufgeführten steht das dr<strong>it</strong>te Z<strong>it</strong>at. In ihrer Lizentiatsarbe<strong>it</strong>, wel<strong>ch</strong>e in Fa<strong>ch</strong>kreisen grosse<br />

Bea<strong>ch</strong>tung fand, definiert die Pädagogin Dagmar Müller: «Werken ist die pädagogis<strong>ch</strong><br />

intendierte Produktherstellung, wel<strong>ch</strong>e si<strong>ch</strong> problemlösend, das heisst über die strukturelle<br />

Erfassung <strong>und</strong> prozessgeb<strong>und</strong>ene Integration <strong>von</strong> materialen, konstruktiven, funktionalen,<br />

ästhetis<strong>ch</strong>en <strong>und</strong> te<strong>ch</strong>nis<strong>ch</strong>en Problemaspekten realisiert.» 1<br />

Wie steht es um dieses Fa<strong>ch</strong> im Moment <strong>und</strong> in Zukunft?<br />

<strong>Te<strong>ch</strong>nis<strong>ch</strong>es</strong> <strong>Gestalten</strong>, früher Handarbe<strong>it</strong>, Handfertigke<strong>it</strong> <strong>und</strong> später Werken genannt – je<br />

na<strong>ch</strong> dem m<strong>it</strong> Zusätzen «für Mäd<strong>ch</strong>en» bzw. «für Knaben» oder «textil» – , hat si<strong>ch</strong> in den<br />

letzten Jahren stark gewandelt, ist heute ein Unterri<strong>ch</strong>tsfa<strong>ch</strong> m<strong>it</strong> modernen Lehrplänen<br />

<strong>und</strong> ze<strong>it</strong>genössis<strong>ch</strong>en Lehrm<strong>it</strong>teln 2 . An der Kantonss<strong>ch</strong>ule Zug heisst das Fa<strong>ch</strong> aktuell<br />

Angewandtes <strong>Gestalten</strong>, an den Zuger Volkss<strong>ch</strong>ulen Handwerkli<strong>ch</strong>es <strong>Gestalten</strong>.<br />

Umweltgestaltung in einem umfassenden Sinn ist der zentrale Inhalt des Fa<strong>ch</strong>s geworden.<br />

Mehrperspektivis<strong>ch</strong>es, vernetztes Denken ist dabei Prinzip: te<strong>ch</strong>nis<strong>ch</strong>naturwissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>e,<br />

geisteswissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>e, ökonomis<strong>ch</strong>e <strong>und</strong> ökologis<strong>ch</strong>e Aspekte<br />

fliessen in die gestalteris<strong>ch</strong>e Werkarbe<strong>it</strong> ein. Unterri<strong>ch</strong>t im Te<strong>ch</strong>nis<strong>ch</strong>en <strong>Gestalten</strong> nimmt<br />

so Bezug auf Inhalte anderer Unterri<strong>ch</strong>tsfä<strong>ch</strong>er, baut auf diese auf <strong>und</strong> s<strong>ch</strong>afft Erfahrungen<br />

<strong>und</strong> Begriffe, die ihrerse<strong>it</strong>s wieder zurückfliessen in den allgemeinen Unterri<strong>ch</strong>t.<br />

Im werkend-gestaltenden Umgang m<strong>it</strong> Material werden die S<strong>ch</strong>ülerinnen <strong>und</strong> S<strong>ch</strong>üler<br />

angeregt zu aktiv reflektierender Auseinandersetzung m<strong>it</strong> der gestalteten, te<strong>ch</strong>nis<strong>ch</strong>en<br />

Umwelt. Anton Str<strong>it</strong>tmatter, Le<strong>it</strong>er der pädagogis<strong>ch</strong>en Arbe<strong>it</strong>sstelle des LCH, hat das so<br />

ausgedrückt: «Das ist ein sehr wi<strong>ch</strong>tiger Be<strong>it</strong>rag zum Erhalt <strong>und</strong> zur Dynamisierung dessen,<br />

was wir Kultur nennen. Und das ist ni<strong>ch</strong>t nur ein kreativ-pröbelndes si<strong>ch</strong> Ausdrücken,<br />

sondern in erster Linie eine fordernde, intellektuelle Angelegenhe<strong>it</strong>! Und ein<br />

Stück Werterziehung!» 3<br />

Im Te<strong>ch</strong>nis<strong>ch</strong>en <strong>Gestalten</strong> ma<strong>ch</strong>en die Lernenden vielfältige <strong>und</strong> prägende, elementare<br />

Sinneserfahrungen im Umgang m<strong>it</strong> vers<strong>ch</strong>iedenen Materialien <strong>und</strong> Te<strong>ch</strong>nologien. Projekt-


ealisierungen in diesem handlungsorientierten Fa<strong>ch</strong> (<strong>von</strong> der Ideenfindung über eine bre<strong>it</strong><br />

angelegte Analyse- <strong>und</strong> Entwurfphase bis zur Umsetzung <strong>und</strong> zum fertigen Produkt) verm<strong>it</strong>teln<br />

exemplaris<strong>ch</strong>e Si<strong>ch</strong>ten auf Problemstellungen <strong>und</strong> Problemlöseprozesse. <strong>Te<strong>ch</strong>nis<strong>ch</strong>es</strong><br />

<strong>Gestalten</strong> verlangt ständig Ents<strong>ch</strong>eidungen (individuelle <strong>und</strong> in der Gruppe), deren<br />

Auswirkungen innert kurzer Frist greifbar, erlebbar sind. Selbstwirksamke<strong>it</strong> heisst das<br />

psy<strong>ch</strong>ologis<strong>ch</strong>e Konzept, das in diesem Zusammenhang zu einem S<strong>ch</strong>lüsselbegriff geworden<br />

ist.<br />

Ein Punkt, der derze<strong>it</strong> im Zentrum des Fa<strong>ch</strong>interesses steht, ist das Te<strong>ch</strong>nikverständnis.<br />

Obwohl unsere Welt in einem historis<strong>ch</strong> bisher nie dagewesenen Masse te<strong>ch</strong>nis<strong>ch</strong> geprägt<br />

<strong>und</strong> bestimmt ist, fristen te<strong>ch</strong>nis<strong>ch</strong>e <strong>Bildung</strong> <strong>und</strong> Te<strong>ch</strong>nikverständnis in der s<strong>ch</strong>weizeris<strong>ch</strong>en<br />

S<strong>ch</strong>ullands<strong>ch</strong>aft ein geradezu unglaubli<strong>ch</strong>es Mauerblüm<strong>ch</strong>endasein. Aus dem<br />

tradierten bildungsbürgerli<strong>ch</strong>en Kanon einer guten Allgemeinbildung bleibt te<strong>ch</strong>nis<strong>ch</strong>es<br />

Wissen immer no<strong>ch</strong> ausgeklammert «... <strong>und</strong> no<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>limmer: <strong>Te<strong>ch</strong>nis<strong>ch</strong>es</strong> Unwissen wird<br />

no<strong>ch</strong> oft gar als Beweis e<strong>ch</strong>ter <strong>Bildung</strong> verstanden.» 4 Zwar findet im neu eingeführten<br />

Matur<strong>it</strong>ätsanerkennungsreglement Te<strong>ch</strong>nik als Lernberei<strong>ch</strong> immerhin s<strong>ch</strong>on Erwähnung 5 .<br />

Eine wirksame Umsetzung in den gymnasialen Alltag ist aber ni<strong>ch</strong>t erkennbar. Zu unverrückbar<br />

sind die althergebra<strong>ch</strong>ten Fä<strong>ch</strong>ergrenzen <strong>und</strong> St<strong>und</strong>enanteile.<br />

Ein Abbau des in der S<strong>ch</strong>weizer <strong>Bildung</strong>slands<strong>ch</strong>aft se<strong>it</strong> Jahren konstatierten Te<strong>ch</strong>nikdefiz<strong>it</strong>es<br />

ist aber für die Industrienation S<strong>ch</strong>weiz überlebenswi<strong>ch</strong>tig 6 . <strong>Te<strong>ch</strong>nis<strong>ch</strong>es</strong> bzw.<br />

Angewandtes <strong>Gestalten</strong> könnte ein Fa<strong>ch</strong> sein, wel<strong>ch</strong>es einen wesentli<strong>ch</strong>en Be<strong>it</strong>rag dazu<br />

leistet, zukünftige Bürgerinnen <strong>und</strong> Bürger mündiger gegenüber unserer ho<strong>ch</strong>komplexen,<br />

meist black-box-artigen te<strong>ch</strong>nis<strong>ch</strong>en Umwelt aus der S<strong>ch</strong>ule zu entlassen.<br />

Der Kaugummi mag dabei kein Problem sein. Sollte es aber beim Kumbaya bleiben, wird<br />

eine Chance verpasst.<br />

Anmerkungen<br />

1) Müller, Dagmar: Werkunterri<strong>ch</strong>t. Lizentiatsarbe<strong>it</strong>, Philosophis<strong>ch</strong>e Fakultät der Univers<strong>it</strong>ät Freiburg/CH, 1996; Se<strong>it</strong>e 97<br />

2) Neue Lehrm<strong>it</strong>tel im Fa<strong>ch</strong>berei<strong>ch</strong> <strong>Te<strong>ch</strong>nis<strong>ch</strong>es</strong> <strong>Gestalten</strong>/Werken:<br />

• Weber, K., Stuber, T., <strong>D<strong>it</strong>tli</strong>, V., Späni, L. et al: Werkweiser für te<strong>ch</strong>nis<strong>ch</strong>es <strong>und</strong> textiles <strong>Gestalten</strong>, Band 1 bis 3, blmv,<br />

sabe, sw<strong>ch</strong>.<strong>ch</strong>, Bern 2001/2002.<br />

• Lunin, S., Sinner, M. et al.: Werkfelder, Lehrm<strong>it</strong>telverlag des Kantons Züri<strong>ch</strong>, Züri<strong>ch</strong> 2002<br />

3) Str<strong>it</strong>tmatter, Anton: Werken zwis<strong>ch</strong>en Axt im Haus, Ausglei<strong>ch</strong>ssport <strong>und</strong> ze<strong>it</strong>gemässer Mens<strong>ch</strong>enbildung. In: Werkspu-<br />

ren 1/98, Fa<strong>ch</strong>ze<strong>it</strong>s<strong>ch</strong>rift des S<strong>ch</strong>weizeris<strong>ch</strong>en Werklehrerinnen- <strong>und</strong> Werklehrervereins, S. 70<br />

4) Mey, Hansjürg, Prof. Dr. sc. te<strong>ch</strong>n.: Te<strong>ch</strong>nikverständnis als verna<strong>ch</strong>lässigter Teil der Allgemeinbildung; Skript zum<br />

Vortrag vom 10.5.03 anlässli<strong>ch</strong> der Tagung Alltag – Te<strong>ch</strong>nik – S<strong>ch</strong>ule in Brugg/AG<br />

5) «.... finden si<strong>ch</strong> in ihrer natürli<strong>ch</strong>en, te<strong>ch</strong>nis<strong>ch</strong>en, gesells<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>en <strong>und</strong> kulturellen Umwelt zure<strong>ch</strong>t.» Aus: Regelung<br />

über die Anerkennung <strong>von</strong> kantonalen Matur<strong>it</strong>ätsausweisen (MAR), (Artikel 5, <strong>Bildung</strong>sziel, Absatz 4)<br />

6) Interessenmangel gegenüber der «Te<strong>ch</strong>nik», Ingenieurmangel, Erosion der te<strong>ch</strong>nologis<strong>ch</strong>en Leistungsfähigke<strong>it</strong> <strong>und</strong><br />

der wirts<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>en Lebensfähigke<strong>it</strong> einer Industrienation (na<strong>ch</strong> Prof. Dr. H. Mey, siehe Anmerkung 4)<br />

Autor<br />

Viktor <strong>D<strong>it</strong>tli</strong>, 1959, Sek<strong>und</strong>arlehrer phil. I, Werklehrer, tätig an der Kantonss<strong>ch</strong>ule Zug; se<strong>it</strong> 1991 nebenamtli<strong>ch</strong><br />

Redaktionsle<strong>it</strong>er der Fa<strong>ch</strong>ze<strong>it</strong>s<strong>ch</strong>rift Werkspuren, Gesamtredaktor <strong>und</strong> Co-Autor <strong>von</strong> «Werkweiser für te<strong>ch</strong>ni-<br />

s<strong>ch</strong>es <strong>und</strong> textiles <strong>Gestalten</strong>» (Handbu<strong>ch</strong> für Lehrpersonen)

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