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RA Nr. 223 - Rote Anneliese

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NR. <strong>223</strong> / Juni 2012 / Fr. 8.– / www.roteanneliese.ch<br />

Ausverkauf der<br />

Wasserkraft<br />

Das Geschacher um die Walliser Wasserkraft hat<br />

begonnen. Bürgerliche Politiker in der Deutschschweiz<br />

versuchen mit billigen Tricks eine gerechte Abgeltung für<br />

den Walliser Rohstoff zu verhindern.<br />

SEITE › 6<br />

Tarife gesenkt<br />

EnBAG straft<br />

Solar-Investoren<br />

SEITE › 3<br />

«Knallhard»<br />

Neue Band verbreitet<br />

Nazi-Ideologie<br />

SEITE › 5<br />

Kruzifix-Debatte<br />

Warum sich Rousseau<br />

im Grab umdreht<br />

SEITE › 12


2 ROTE ANNELIESE / NR. <strong>223</strong> / Juni 2012<br />

Kolonialismus 2.0<br />

Die einen haben – die anderen nehmen.<br />

Trotzdem sind die, die haben, arm. Und<br />

die, die nehmen, reich. Das funktioniert<br />

in der Schweiz so. Und auf der ganzen<br />

Welt. Zurzeit kann man im Wallis anhand<br />

des Konflikts um den Heimfall<br />

der Wasserkraftwerke beobachten, wie<br />

Ungleichheiten und Abhängigkeiten<br />

entstehen. Der eine, der hat, das ist<br />

bei diesem Beispiel der Wasserschlosskanton<br />

Wallis. Die, die nehmen, sind<br />

die Stromkonzerne im Mittelland. Sie<br />

haben es dank ihrem Wissensvorsprung<br />

und ihrem Kapital geschafft, Nutzen<br />

aus dem Rohstoff Wasser zu ziehen<br />

und diesen in bare Münze umzuwandeln.<br />

Obwohl der Rohstoff an einem<br />

bestimmten Ort zu finden ist, fallen die<br />

Gewinne an einem ganz anderen Ort<br />

an.<br />

Das funktioniert bezogen auf die Dritte<br />

Welt genau gleich. Rohstoffe wie<br />

Erdöl oder Nahrungsmittel werden in<br />

Zentralafrika oder Südamerika gewonnen<br />

– Kasse wird aber ganz woanders<br />

gemacht. Auch bei diesem Beispiel<br />

schöpfen Unternehmen von aussen den<br />

Reichtum anderer Länder. Nicht nur<br />

das haben Zentralafrika und das Wallis<br />

gemeinsam. Beide erhalten Unterstüt-<br />

IMPRESSUM<br />

HeRausgebeR Verein <strong>Rote</strong> anneliese<br />

Postfach 441<br />

3900 brig-glis<br />

Tel. 027 923 63 89<br />

rote.anneliese@rhone.ch<br />

INTeRNeT www.roteanneliese.ch<br />

RedakToR Cyrill Pinto (cp)<br />

MITaRbeITeRINNeN kurt Marti (ktm)<br />

dIeseR NuMMeR Laura kronig<br />

dRuCk s+z:gutzumdruck.<br />

3902 brig-glis<br />

zungsbeiträge von denen, die eigentlich<br />

aus dem Reichtum der Armen schöpfen.<br />

Im Fall des Alpenkantons heisst die<br />

Stütze Finanzausgleich – in Afrika wird<br />

es Entwicklungshilfe genannt. Wenn<br />

also der Gewinn aus den Ressourcen<br />

an dem Ort bleibt, wo die Ressource<br />

anfällt, braucht es keinen Finanzausgleich<br />

und keine Entwicklungshilfe<br />

mehr. Alles andere ist Kolonialismus im<br />

21. Jahrhundert.<br />

Auf Seite 6 ist zur aktuellen Diskussion<br />

um den Heimfall der Wasserkraft ein<br />

Beitrag zu lesen.<br />

Ausserdem berichtet die <strong>RA</strong> über die<br />

neueste Entwicklung in der Oberwalliser<br />

Neonaziszene. Offenbar gibt es<br />

schon seit ein paar Jahren eine Band,<br />

gegründet von Oberwalliser Szenegrössen.<br />

Nur trat diese bisher nie öffentlich<br />

in Erscheinung. Bis Szenekenner Hans<br />

Stutz Wind von einem neuen Sampler<br />

aus der Szene bekam mit dem Hinweis,<br />

dass eine der Bands aus dem Oberwallis<br />

stammt. Recherchen vor Ort haben<br />

dann ergeben, dass alte Bekannte aus<br />

dem Oberwallis hinter der Band mit<br />

dem Namen «Knallhard» stecken und<br />

ihre Ideologie mit Musik weiterzuverbreiten<br />

suchen (Seite 5). (cp)<br />

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TITElBIlD<br />

die Mauer der grande dixence. bild Julius dillier / Flickr CC<br />

Inhalt<br />

Solarstrom:<br />

Wie Stromunternehmen<br />

die Energiewende gefährden<br />

SEITE › 3<br />

Zweitwohnungsinitiative:<br />

Wie die Bergkantone die<br />

Weber-Initiative verwässern<br />

SEITE › 4<br />

Neonazis:<br />

Neue Oberwalliser Band<br />

mit bekannten Neonazis<br />

SEITE › 5<br />

Titel-Thema:<br />

Die Stromkonzerne starten<br />

Angriff auf die Wasserkraft<br />

SEITE › 6<br />

Guttet-Feschel:<br />

Retour-Kutsche wegen<br />

«Tschuggu»-Einspruch<br />

SEITE › 8<br />

Restwasser:<br />

Oberwalliser Fischer<br />

schlagen alarm<br />

SEITE › 9<br />

Buch-Tipp:<br />

«Tal des Schweigens» – mit<br />

Storys aus dem Oberwallis<br />

SEITE › 11<br />

Kruzifix-Debatte:<br />

Wo die Wurzeln der<br />

Demokratie wirklich liegen<br />

SEITE › 12<br />

Agenda:<br />

Wohin Frau/Mann geht –<br />

die <strong>RA</strong>-Tipps …<br />

SEITE › 14<br />

Mobbing:<br />

Studie zeigt grossen<br />

Handlungsbedarf<br />

SEITE › 16


Investitionen in Gefahr: die enbag, hier ihr sitz in gamsen, senkt die Tarife für solarenergie.<br />

Solarstrom<br />

EnBAG würgt Energiewende ab<br />

OBERWALLIS – Immer mehr Oberwalliser investieren in eine neue<br />

Solarstromanlage. Jetzt bekommt die Energie Brig Aletsch Goms<br />

(EnBAG) kalte Füsse: Sie senkt die Abgeltungspreise für Solarstrom<br />

und würgt damit den Oberwalliser Solarstrom-Boom ab.<br />

Von Cyrill Pinto<br />

Als die Proteste der EnBag-Kunden nicht mehr<br />

zu überhören waren, ergriff das Unternehmen<br />

die Flucht nach vorn: Es schickte einen leitenden<br />

Angestellten vor, um den unpopulären Entscheid<br />

der Direktion der Öffentlichkeit als eine gute Sache<br />

zu verkaufen.<br />

Nicht EnBAG-Geschäftsführer Paul Fux oder<br />

sein Nachfolger Hans-Peter Burgener standen<br />

gegenüber den Medien Rede und Antwort. Nein,<br />

vorgeschickt wurde Stephan Brunner, der Leiter<br />

Vertrieb und IT – zwar ein leitender Angestellter,<br />

aber kein Direktionsmitglied.<br />

Der Zorn der Walliser Pioniere in der Produktion<br />

von Solarstrom ist gross und legitim. Das Energieunternehmen<br />

EnBAG hat seine Tarife, die es den<br />

Produzenten für Strom aus Solaranlagen bezahlt,<br />

massiv gesenkt: Statt wie bisher 15 Rappen pro<br />

Kilowattstunde, vergütet die EnBAG ihren Produzenten<br />

von Solarstrom nur noch 5,35 bis maximal<br />

11,4 Rappen. Die neuen Tarife gelten seit dem 1.<br />

April für Anlagen über drei Kilowatt Leistung – al-<br />

so auch für ganz kleine Anlagen auf Hausdächern<br />

von Einfamilienhäusern. Die EnBAG teilte die<br />

Tarifänderung ihren Stromproduzenten im Verlauf<br />

des Aprils mit – die Senkung des Abgeltungstarifs<br />

trat damit rückwirkend in Kraft.<br />

Stephan Brunner beteuerte im Mai, dass man<br />

sich trotzdem für die kleinen Produzenten von<br />

Solarstrom einsetze – mit der Einführung der<br />

Kostendeckenden Einspeisevergütung (KEV) profitiere<br />

man dann ja von höheren Abgeltungstarifen.<br />

Das Problem: Meldet man sich heute für die<br />

KEV an, wartet man bis zu drei Jahre, bis man in<br />

den Genuss der höheren KEV-Tarife kommt. Bis<br />

dahin sind Investoren in die Solarenergie auf eine<br />

angemessene Entschädigung für ihren Strom angewiesen<br />

– schliesslich müssen ihre Investitionen<br />

auch amortisiert werden.<br />

andere zahlen mehr, viel mehr<br />

Offenbar bekommt die EnBAG aufgrund sinkender<br />

Preise für Spitzenstrom und immer mehr<br />

ROTE ANNELIESE / NR. <strong>223</strong> / Juni 2012<br />

3<br />

Solaranlagen, die neu gebaut werden, kalte Füsse.<br />

Denn man habe die Tarife gesenkt, «weil<br />

immer mehr und leistungsfähigere Solaranlagen<br />

ins EnBAG-Netz einspeisen würden», teilte die<br />

EnBAG über ihren Vertriebsleiter im Mai der<br />

Öffentlichkeit mit. Und mit den neuen Tarifen<br />

folge man einer Empfehlung des Bundesamts für<br />

Energie (BFE). Nur: Die vom BFE empfohlenen<br />

Tarife sind die Mindesttarife – die EnBAG zahlt<br />

ihren Solarstromproduzenten also das absolute<br />

Minimum.<br />

basel zahlt den spitzentarif<br />

Der Blick auf die Tarife anderer Stromunternehmen<br />

zeigt tatsächlich: Die EnBAG reiht sich mit<br />

ihren Tarifen zu Dumping-Stromunternehmen<br />

ein, die Solarenergie nicht fördern, sondern verhindern.<br />

So zahlt der Spitzenreiter unter den<br />

Stromabnehmern, die Stadtwerke Winterthur,<br />

ihren Solarstromproduzenten 61 Rappen pro<br />

Kilowattstunde Solarstrom. Auch das Energieunternehmen<br />

der Stadt Basel bezahlt Solarstromproduzenten<br />

den Spitzentarif von 61 Rappen<br />

– also rund fünf Mal mehr, als das Oberwalliser<br />

Unternehmen.<br />

Aber nicht nur städtische Energieunternehmen<br />

bezahlen weit mehr als das Unternehmen mit Sitz<br />

in Gamsen, auch viele regionale Energieversorger<br />

zahlen für den Ökostrom einen Tarif, der sich<br />

am KEV-Tarif von 35 Rappen orientiert. So zahlt<br />

das EW Buchs 50 Rappen für den Solarstrom, die<br />

Energie Aargau süd bezahlen 30 Rappen.<br />

Mit der Senkung der EnBAG-Tarife auf das absolute<br />

Minimum, wird den Kleinproduzenten – meist<br />

Einfamilienhausbesitzer – erschwert, in eine neue<br />

Anlage zu investieren.<br />

Der Tarifentscheid der EnBAG stösst entsprechend<br />

auf Kritik: Mehrere Besitzer von Solarstromanlagen<br />

haben sich deshalb bei der <strong>RA</strong> gemeldet.<br />

Sie kritisieren die Tarifpolitik der EnBAG. Ihr<br />

Tenor: Das Unternehmen verhindere mit seiner<br />

Tarifpolitik eine Anschubfinanzierung für neue<br />

Solaranlagen im Oberwallis.<br />

Dabei wäre es im Wallis besonders sinnvoll, auf<br />

die Karte Solarenergie zu setzen, wie die <strong>RA</strong> im<br />

letzten Frühling berichtete.<br />

Jetzt muss die Politik handeln<br />

Wie eine Studie zum Solarpotenzial des Wallis<br />

festhält, ist die durchschnittliche Sonneneinstrahlung<br />

im Wallis um 16 Prozent höher als in der<br />

übrigen Schweiz. In höher gelegenen Gemeinden<br />

ist sie gar um einen Viertel höher als im Schweizer<br />

Durchschnitt (<strong>RA</strong> 217). Theoretisch könnte man<br />

auf Walliser Hausdächern eine Fläche von 4,7 Millionen<br />

Quadratmetern mit Photovoltaik-Panels<br />

bedecken. So könnten jährlich 800 Gigawattstunden<br />

Strom produziert werden.<br />

Wollen Energieversorger wie die EnBAG ihre<br />

Verantwortung zur Anschubfinanzierung dieser<br />

Anlagen nicht wahrnehmen, muss die Politik auf<br />

Kantonsebene jetzt handeln: Dieselbe Studie, die<br />

beim Departement Cina Staub ansetzt, schlägt<br />

mehrere Modelle zur Finanzierung neuer Solaranlagen<br />

vor.<br />

Darin ist darin die Möglichkeit einer kantonalen<br />

Einspeisevergütung, einer Steuerreduktion oder<br />

zinsloser Darlehen formuliert – so könnte die<br />

Politik auf Kantonsebene für Energieversorger wie<br />

die EnBAG in die Bresche springen und damit die<br />

begonnene Energiewende retten.


4 ROTE ANNELIESE / NR. <strong>223</strong> / Juni 2012<br />

Zweitwohnungsinitiative<br />

Auf der Suche nach der<br />

verlorenen Definition<br />

WALLIS – Nach dem Ja zur Zweitwohnungsinitiative wollte<br />

plötzlich niemand mehr wissen, was eine Zweitwohnung ist.<br />

Dabei ist die entsprechende Definition auf der Webseite des<br />

Kantons einzusehen. Das Ziel der plötzlichen Amnesie der<br />

Behörden ist klar: eine Verwässerung der Initiative Weber.<br />

Von Cyrill Pinto<br />

Gross war die Ernüchterung in den Tourismuskantonen<br />

nach Annahme der Initiative zum Stopp des<br />

Baus von Zweitwohnungen. Auch über die eigene<br />

Fehleinschätzung: Niemand nahm Franz Weber,<br />

den kauzigen Alleinkämpfer für Umweltanliegen,<br />

so richtig ernst. Man hoffte auf eine Abfuhr für die<br />

Initiative zum Stopp des uferlosen Bauens durch<br />

die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger. Doch<br />

diese entschieden anders – zur Überraschung<br />

der Walliser Massentourismus- und Baulobby.<br />

Die etablierte Politik macht den wiederholten<br />

Fehler Weber zu unterschätzen. 150 Tierschutz-<br />

und Umweltkampagnen hat Weber lanciert – fast<br />

alle hat er gewonnen: vom Schutz des Silvaplaner<br />

Sees (1965) über den Schutz der Weinberge<br />

von Lavaux (1977) bis hin zur jetzt gewonnenen<br />

Initiative «Schluss mit uferlosem Bau von Zweitwohnungen!».<br />

Das Gejammer in den Bergkantonen war laut:<br />

«Die Folgen für den Tourismuskanton Graubünden<br />

sind verheerend», titelte die «Südostschweiz»,<br />

die Tageszeitung im zweiten grossen Tourismuskanton<br />

Graubünden. «Die Städter hätten es auch<br />

nicht gerne, würden wir über ihre Entwicklung<br />

entscheiden», sagte Jean-Michel Cina im «Walliser<br />

Boten» am Tag nach der Annahme der Initiative.<br />

diagnose: akute amnesie<br />

Nach dem Gejammer folgte ein Strategiewechsel:<br />

Die Behörden spielten den Ahnungslosen.<br />

Plötzlich wollte niemand mehr wissen, was eine<br />

Zweitwohnung ist. Der Bund müsse bei der Ausführung<br />

der neuen Bestimmungen festlegen, welche<br />

Unterkunft als Zweitwohnung gelte, liess zum<br />

Beispiel Staatsrat Jean-Michel Cina unter dem<br />

Druck von Tourismus- und Baulobby verlauten.<br />

Bundesrätin Doris Leuthard gab dem Druck der<br />

Bergkantone nach: Sie setzte eine Arbeitsgruppe<br />

ein, die klären sollte, was eine Zweitwohnung ist<br />

und ab wann die Initiative und das damit verbundene<br />

Bauverbot denn gelten.<br />

Doch eigentlich ist die Sache klar: «Eine Gemeinde<br />

soll nicht mehr als 20 Prozent Zweitwohnungen<br />

aufweisen. Wo dieser Anteil bereits höher liegt,<br />

kommt es zu einem Baustopp». So steht es im<br />

angenommenen Initiativtext und damit neu auch<br />

Boom: Zweitwohnsitze, wie hier in Verbier, sind beliebte spekulationsobjekte. bild FFW/derrick Feole<br />

in der Bundesverfassung. Trotzdem gab man sich<br />

bei der Walliser Regierung ahnungslos. Dumm<br />

nur, dass die Kantonsverwaltung unter Führung<br />

von CVP-Staatsrat Cina schon lange und genau<br />

definiert hatte, was eine Zweitwohnung ist.<br />

Im kantonalen Richtplan zum Tourismus im<br />

Wallis steht: Unter dem Begriff Zweit- oder Ferienwohnung<br />

werden Wohnungen in Chalets und<br />

Appartementhäusern verstanden, die nur zeitweise<br />

genutzt werden.» Weiter könne bei der zeitweisen<br />

Nutzung bei Zweitwohnungen zwischen<br />

Wohnungen, die vom Eigentümer selbst genutzt<br />

werden, oder Ferienwohnungen, die an Gäste<br />

oder Angestellte vermietet würden unterschieden<br />

werden, wie es im Koordinationsblatt «Integrierter<br />

Tourismus» heisst. Nur: Zweitwohnung bleibt<br />

Zweitwohnung.<br />

Die Experten beim Kanton stellen in ihrem<br />

Grundlagenpapier weiter fest, dass «60 Prozent<br />

der Betten in den Ferienwohnungen nicht vermietet<br />

werden» – durch diese Entwicklung «überwiegen<br />

die negativen die positiven Aspekte». Zu<br />

den positiven Aspekten des Zweitwohnungsbaus<br />

zählt die Behörde «die Beschäftigung im Bausektor,<br />

die Grundauslastung der Ferienorte und die<br />

Verlegung des Alterswohnsitzes in den Ferienort».<br />

Die negativen Aspekte würden aber immer offenkundiger:<br />

«Beeinträchtigung des Orts- und<br />

Landschaftsbilds, Verdrängung der einheimischen<br />

Bevölkerung vom Wohnungsmarkt, hohe Infrastrukturkosten<br />

für die Gemeinden und der Attraktivitätsverlust<br />

durch geschlossene Fensterläden,<br />

was längerfristig die wirtschaftliche Entwicklung<br />

der betroffenen Gemeinde in Gefahr bringt.»<br />

kanton sieht Handlungsbedarf<br />

Die Dienststelle für Raumentwicklung sieht im<br />

Richtplan bei einem Anteil von über 50 Prozent<br />

Zweitwohnungen in einer Destination grossen<br />

Handlungsbedarf. Die raumplanerischen Mittel,<br />

die den Behörden zur Verfügung stehen sind:<br />

eine Bauzonenanpassung durch Rückzonungen,<br />

eine Kontingentierung neuer Zweitwohnungen<br />

pro Jahr, eine Unterteilung des Baulandes in<br />

einen Erst- und Zweitwohnanteil oder die Schaffung<br />

einer Zone für Hotelbauten. Denn dass<br />

Handlungsbedarf besteht, war allen klar – schon<br />

vor der Zweitwohungsinitiative. Die Zahlen zeigen<br />

das deutlich: 1980 gab es im Wallis rund<br />

52 000 Ferienwohnungen – 20 Jahre später waren<br />

es schon knapp 80 000 Wohnungen mit insgesamt<br />

276 000 Betten. Damit ist im Wallis jede zweite<br />

Wohnung eine Ferienwohnung – in den Ferienorten<br />

beträgt dieser Anteil bis zu 80 Prozent.<br />

Und der Anteil vermieteter Betten ist in dieser<br />

Zeit nur leicht gestiegen – in den 90er-Jahren ist<br />

er gar gesunken. Die Zahl der leeren Betten ist<br />

dagegen ständig gestiegen: 60 Prozent der Betten<br />

werden heute nicht vermietet. Die Auslastung der<br />

vermieteten Ferienwohnungen ist entsprechend<br />

gesunken.<br />

Doch warum wollen die Behörden, allen voran<br />

Staatsrat Jean-Michel Cina, von all dem nichts<br />

mehr wissen? Die Antwort ist banal: Wendet man<br />

die 20-Prozent-Klausel für Zweitwohnungen an,<br />

herrscht im Oberwallis mit Ausnahme der Talgemeinden<br />

ein Baustopp für Zweitwohnungen. Also<br />

keine Ferienressorts, keine Chalets und keine Ferienresidenzen<br />

mehr, die gebaut werden können.<br />

Vor allem für die Bauwirtschaft ein Problem – und<br />

die macht entsprechend Druck auf die Behörden.


Das Cover: «knallhard» mit den bekannten Neonazis silvan gex-Collet und Martin schwery.<br />

Rechtsextremismus<br />

Amok gegen Tatsachen<br />

OBERWALLIS – Zwölf rechtsextreme Bands verbreiten<br />

Verschwörungstheorien über die Angriffe vom<br />

11. September. Darunter auch die Oberwalliser Band<br />

«Knallhard», gebildet von bekannten Neonazis.<br />

Von Hans Stutz<br />

Der Tonträger ist seit Monaten erhältlich. Er blieb<br />

aber bis anhin weitgehend unbeachtet. Und das<br />

ist nicht weiter bedauerlich. Der Sampler «Der<br />

Inside Job» vereinigt rechtsextreme Bands, die<br />

den zehnten Jahrestag der Terror-Attacke auf das<br />

New Yorker World Trade Center für die Verbreitung<br />

von Verschwörungsfantasien nutzen. Zwölf Bands<br />

sind vertreten, davon mindestens zwei aus der<br />

Schweiz, beide mit Bezug zum Oberwallis.<br />

Der Tonträger beginnt mit einen Lied der Band<br />

«Knallhard». Sie lässt sich über das «Land der Tyrannen»<br />

aus, das «Land der Lügen und Intrigen,<br />

das Land, wo sich die Türme biegen». Das Lied<br />

endet mit: «am 9/11 grüsst die CIA».<br />

Recherchen der «<strong>Rote</strong> <strong>Anneliese</strong>» belegen: «Knallhard»<br />

ist eine Band von Oberwalliser Neonazis.<br />

Ein Videoclip (siehe Illustration aus dem Jahr<br />

2009) zeigt die beiden Walliser Naziskinheads<br />

Martin Schwery und Silvan Gex-Collet. Beide<br />

spielten bereits in der Band «Hellvetica» zusammen.<br />

Beide gehörten dem Neonazi-Netzwerk<br />

«Blood and Honour» an und waren Mitveranstalter<br />

des Naziskin-Konzertes im «Crazy Palace»<br />

(September 2005). Beide mussten sich dafür vor<br />

den Richtern verantworten.<br />

Die Band «Knallhard» hat bis anhin weder Konzerte<br />

gegeben noch einen Tonträger veröffentlicht.<br />

Im Internet lassen sich hingegen – neben dem<br />

Sampler-Beitrag – zwei weitere Clips finden: Einer<br />

soll aus dem Jahr 2004 stammen, der andere von<br />

2009. Die Band präsentiert sich auch auf einer<br />

Musikplattform. Dort behauptet sie, ihr Plattenlabel<br />

sei «Winland Records». Nur: Von diesem<br />

Label lassen sich weder Veröffentlichungen noch<br />

Spuren finden.<br />

amok: «befehl aus usreal»<br />

Auf dem Sampler tritt eine weitere Band auf, die<br />

bereits im Oberwallis Spuren hinterlassen hat.<br />

Die Band «Amok», ebenfalls aus dem Umfeld des<br />

Naziskin-Netzwerkes «Blood and Honour». Sie trat<br />

im September 2005 im Gamsner «Crazy Palace»<br />

auf. Sie sang dort ein Szene-bekanntes antisemitisches<br />

Lied, in dessen Refrain es heisst: «Wetzt<br />

die langen Messer auf dem Bürgersteig, lasst die<br />

Messer flutschen in den Judenleib. Blut muss<br />

fliessen knüppelhageldick und wir scheissen auf<br />

diese Judenrepublik.» Nach dem Konzert konnte<br />

das Schweizer Fernsehen verdeckt aufgenommene<br />

Bilder veröffentlichen, die den Prozess gegen<br />

die Konzert-VeranstalterInnen auslösten.<br />

Auf dem Sampler behaupten «Amok», der Angriff<br />

auf die New Yorker Zwillings-Türme sei «ein neues<br />

Zeichen der Weltverschwörer» gewesen. Die Folge:<br />

«Zehn Jahre Lüge und Drama» und nun habe<br />

«die Falle» zugeschnappt – «alles horcht auf den<br />

Befehl – aus USreal.»<br />

Im Klartext: Die bei Rechtsextremen beliebte<br />

Behauptung von der jüdisch-dominierten Weltmacht<br />

USA.<br />

ROTE ANNELIESE / NR. <strong>223</strong> / Juni 2012<br />

Neonazis vor<br />

der Bühne zwei<br />

GAMPEL – Anfang Juni wurden die<br />

letzten drei Bands angekündigt, die am<br />

diesjährigen Open Air Gampel auftreten.<br />

Darunter: «Frei.Wild». Die Band<br />

fiel bisher durch ihre nationalistischen<br />

Songtexte auf.<br />

5<br />

«Frei.Wild»? Die Band sorgte im Vorfeld ihres<br />

Auftritts in der Schweiz für Schlagzeilen. Damals<br />

trat die Band für ein Konzert im Zürcher Hallenstadion<br />

auf. Thematisiert wurden aus Anlass des<br />

Auftritts vor allem die Neonazi-Vergangenheit<br />

des Frontmannes der Band aus Italien und die<br />

nationalistischen Liedtexte der Band.<br />

Zwar distanziert sich die Band von nationalsozialistischen<br />

Ideologien und macht sich auch<br />

über Extremismus lustig. Nur: Laut dem im Neonazimillieu<br />

recherchierenden Journalisten mit<br />

dem Pseudonym Thomas Kuban, ist die Band<br />

trotzdem ein Teil der Neonazi-Popkultur. Dies<br />

schrieb er kürzlich in einem Text für die «Süddeutsche<br />

Zeitung». Kuban, der für seinen Film<br />

«Blut muss fliessen» zehn Jahre lang verdeckt in<br />

der Neonazi-Szene recherchierte, bezeichnet die<br />

Musik von «Frei.Wild» als Identitätsrock. Unterschwellig<br />

werde die nationalsozialistische «Blut<br />

und Boden»–Ideologie weitergegeben. So nennt<br />

Kuban die Heimathymne «Südtirol» als Beispiel.<br />

«Im Zentrum steht das Wir-Gefühl einer Minderheit,<br />

die sich gegen eine feindlich gesinnte<br />

Welt zusammenrottet», schreibt Kuban. In einer<br />

Textzeile in dem Lied heisst es: «Südtirol, in der<br />

Hölle sollen deine Feinde schmorn.» Der deutsche<br />

Journalist ortet eindeutig nationalistische und<br />

gar völkische Tendenzen in dieser Abgrenzung<br />

gegenüber Italien und der Nähe zu deutschpatriotischen<br />

Strömungen.<br />

Nazis pilgern nach gampel<br />

Dass man sich überhaupt näher mit der Band<br />

beschäftigt, hat mit deren Vergangenheit zu tun:<br />

Frontmann Philipp Burger war vor der Gründung<br />

von «Frei.Wild» Sänger der Neonaziband «Kaiserjäger».<br />

Die Band löste sich 2001 auf, nachdem<br />

sich Neonazis aus Italien mit Südtiroler Nazis<br />

prügelten. Obwohl Burger dieses Kapitel als Vergangenheit<br />

abhakt, gibt er sich gegenüber den<br />

regelmässig im Publikum stehenden Neonazis<br />

tolerant: Solange sie sich benehmen, seien sie am<br />

Konzert willkommen.<br />

Das wird auch in Gampel nicht anders sein: Neonazis<br />

werden extra für dieses Konzert ans Open<br />

Air Gampel pilgern. Im Hallenstadion wurden<br />

deshalb schärfere Eingangskontrollen durchgeführt.<br />

Dass sie sich von der Rechtsextremen Szene<br />

distanzieren, wird der Band von den Neonazis als<br />

Opportunismus ausgelegt. Es gibt aber auch andere<br />

Stimmen. Im rechtsextremen Thiazi-Forum<br />

wird «Frei.Wild» als unpolitische Band bezeichnet:<br />

«Sie sind auf jeden Fall patriotisch eingestellt. Es<br />

sollte mehr solcher einfachen Bands geben – ist<br />

vielleicht musikalisch einfacher an die Leute ranzukommen.»<br />

(cp)


6 ROTE ANNELIESE / NR. <strong>223</strong> / Juni 2012<br />

Ressource Wasserkraft: obwohl die spielregeln klar sind, wollen die stromkonzerne (im bild bkW-Präsident urs gasche) an die Wasserkraft heran – hier der stausee La<br />

Heimfall Wasserkraft<br />

Die Rückkehr der<br />

Wassersucht<br />

WALLIS – Vor 60 Jahren brach sie schon einmal aus, die<br />

Sucht nach dem nassen Gold. Jetzt ist es wieder so weit:<br />

Energiekonzerne versuchen, sich den Walliser Rohstoff<br />

unter die Nägel zu reissen.<br />

Von Cyrill Pinto<br />

«Nicht nur im Saasertal, dem frommen, auch<br />

darüber hinaus ist die Wassersucht auf ihrem<br />

Höhepunkt. Wenn man die Leute reden hört hierzulande,<br />

meint man, es sei das Paradies auf Erden<br />

angebrochen. Die Gesellschaften reissen sich nur so<br />

um die heiligen Wasser, und wir Walliser kassieren<br />

dafür Geld in rauhen Mengen ein. Vorgestern hörte<br />

ich die Mär, wie der Präsident von Saas-Balen,<br />

noch kurz bevor er auf den Konzessionsvertrag<br />

seine Unterschrift setzte, noch Franken 20 000<br />

für den Neubau der Kirche von der Elektro-Watt<br />

«abgemarktet» habe. Mit Bewunderung und dem<br />

Lächeln der stillbeglückt Besitzenden wird das von<br />

Mund zu Mund erzählt …»<br />

Diese Zeilen schreibt Peter von <strong>Rote</strong>n im Juli 1954<br />

als Kolumnist des «Walliser Boten». Es waren<br />

aufregende Zeiten, damals im Oberwallis. An<br />

allen Orten waren Vertreter von Energiegesellschaften<br />

aus der «Üsserschwiiz» im Oberwallis<br />

unterwegs. Ihr Ziel: der Erwerb der Wasserrechte<br />

von den Gemeinden und damit das Recht zur<br />

Nutzung der Wasserkraft. In den Boomjahren<br />

der Nachkriegszeit brach im Wallis – nach ersten<br />

Anfängen in der Zwischenkriegszeit – definitiv<br />

das Zeitalter der Wasserkraft an. Nur: das Wallis<br />

war damals ärmlich. Die meisten Landstriche<br />

zwischen Gletsch und Genfersee lebten noch von<br />

der Selbstversorgung, die Infrastruktur wurde erst<br />

aufgebaut. Für teure Investitionen in die Wasserkraft<br />

war damals kein Geld übrig. Das wussten die<br />

Energiegesellschaften aus der Deutschschweiz.<br />

So wie das Unternehmen, das in Saas-Balen aus<br />

heutiger Sicht lächerliche 20 000 Franken für den<br />

Bau der Kirche zahlte, um an die Wasserrechte der<br />

Gemeinde zu kommen.<br />

Die Elektro-Watt war ein typisches Investitions-<br />

Unternehmen, gegründet Ende des 19. Jahrhunderts<br />

von der Deutschen AEG und der Schweizerischen<br />

Kreditanstalt. Ihr Ziel: die Finanzierung<br />

neuer Kraftwerksprojekte. Zuerst in der Deutschschweiz,<br />

später auch im Wallis. Erst als die spätere<br />

Credit Suisse Mitte der 90er-Jahre den Ausstieg<br />

aus dem Energiegeschäft beschloss, wurde die


c des dix. bild CC Flickr/ georg Holderied/ parlament.ch<br />

Elektrowatt sukzessive zerstückelt und verkauft.<br />

Die Kraftwerke gingen ausnahmslos an grosse<br />

Energiekonzerne wie die Axpo oder die Alpiq –<br />

und diese gehören zur Mehrheit den Kantonen<br />

im Mittelland. 60 Jahre später scheint sich an<br />

dieser Konstellation nichts geändert zu haben.<br />

Der Kampf um die Rechte zur Nutzung der Wasserkraft<br />

beginnt von vorn.<br />

es geht um Milliarden<br />

Dass jetzt wieder um die Nutzung der Wasserkraft<br />

gekämpft wird, hat mit einer speziellen Klausel<br />

im Wasserrecht zu tun: der sogenannten Heimfallregelung.<br />

Diese sieht vor, dass Gemeinden<br />

und Kanton nach Ablauf der Konzession für die<br />

Wasserkraftnutzung, die Anlagen zur Stromproduktion<br />

günstig übernehmen. Und zwar alles: die<br />

sogenannte nasse Infrastruktur wie Wasserfassungen,<br />

Staumauern und Stollen. Aber auch die<br />

trockenen Teile wie Kraftwerksgebäude, Generatoren<br />

und Stromnetze sollen von den Stromunternehmen<br />

an die Gemeinden gehen. Konkret sieht<br />

die Heimfallregelung vor, dass der nasse Teil zur<br />

Stromproduktion gratis an die öffentliche Hand<br />

zurückfällt – für den trockenen Teil erhalten die<br />

Stromunternehmen den Restwert der Anlagen.<br />

Dabei geht es um sehr viel Geld: Auf zehn bis 20<br />

Milliarden Franken schätzt man den Wert der<br />

Walliser Anlagen zur Stromproduktion.<br />

Als Alternative können die Stromunternehmen<br />

eine Neukonzessionierung beantragen. Nur ist<br />

dafür eine Entschädigung für den Verzicht des<br />

Heimfalls an die Öffentlichkeit zu zahlen – auch<br />

dies kommt die Stromunternehmen teuer zu<br />

stehen: Beim einzigen Beispiel eines bisher durchgeführten<br />

Heimfallverzichts mussten die SBB für<br />

den Weiterbetrieb des Kraftwerks Barberine im<br />

Unterwallis 343 Millionen Franken bezahlen.<br />

Jetzt ist das Gerangel um diese Millionen offen<br />

ausgebrochen. Zwar fallen die grossen Walliser<br />

Kraftwerksanlagen zur Mehrheit erst zwischen<br />

2040 und 2055 heim. Nur sieht das Gesetz vor,<br />

dass ein Gesuch für eine Erneuerung der Konzession<br />

mindestens 15 Jahre vor Ablauf der Konzession<br />

gestellt werden muss. Eine Konzession<br />

kann deshalb theoretisch schon 25 Jahre vor dem<br />

effektiven Heimfall erneuert werden. So wird über<br />

eine Neukonzessionierung für die Kraftwerke<br />

Gougra, die im Val d’ Anniviers auch Wasser aus<br />

dem Turtmanntal stauen, schon ab 2015 konkret<br />

diskutiert – der Heimfall der grössten Schweizer<br />

Wasserkraftanlage, der Grande-Dixence, wird ab<br />

2020 heiss. Die Diskussion um den Heimfall wird<br />

deshalb in den nächsten zehn Jahren geführt.<br />

Aktuelle Angriffe auf die Walliser Wasserkraft sind<br />

vor diesem Hintergrund zu sehen.<br />

der angriff<br />

«Es liegt nicht im Landesinteresse, wenn einzelne<br />

Gemeinden aufgrund uralter Verträge über Nacht<br />

um Millionen reicher werden.» Dieser Satz, geäussert<br />

von BKW-Verwaltungsratspräsident Urs<br />

Gasche im Mai im Zürcher «Tages-Anzeiger»,<br />

markiert den Beginn einer Auseindandersetzung,<br />

welche die Schweizer Energiepolitik in den nächsten<br />

Jahren prägen wird. Gasche, der für die BDP<br />

im Nationalrat sitzt, hat ein handfestes Interesse:<br />

Den Berner Kraftwerken (BKW), denen er als<br />

Verwaltungsratspräsident vorsteht, gehören 15<br />

Prozent der Elektra Massa AG. Das Kraftwerk,<br />

das Wasser aus der Aletschregion zur Energiegewinnung<br />

nutzt, fällt im Jahr 2042 heim – über<br />

die Bedingungen des Heimfalls kann aber schon<br />

ab 2020 entschieden werden. Mit dem Frontalangriff<br />

Gasches auf die Gebirgskantone ist klar:<br />

«Es liegt nicht im<br />

Landesinteresse, wenn<br />

einzelne Gemeinden<br />

aufgrund alter Verträge<br />

um Millionen reicher<br />

werden.»<br />

Urs Gasche, VR-Präsident BKW<br />

Die Diskussion ist eröffnet. Die vor Jahrzehnten<br />

ausgehandelten Verträge seien heute nicht mehr<br />

angemessen, sagte Gasche in dem Artikel weiter.<br />

Dort forderte er neue Regeln für den Heimfall<br />

und reichte auch schon einen Vorstoss im Nationalrat<br />

ein. Inhalt: Der Bund soll Möglichkeiten<br />

aufzeigen, wie die Wassernutzung neu zu regeln<br />

sei. Ausserdem verlangt Gasche in einem weiteren<br />

Vorstoss, dass neuere Investitionen in Wasserkraftanlagen<br />

bei einem Heimfall speziell vergütet<br />

werden müssen – auch hier ein Angriff auf die geltenden<br />

Abmachungen zwischen den Wasserkraft-<br />

ROTE ANNELIESE / NR. <strong>223</strong> / Juni 2012<br />

7<br />

kantonen und den grossen Energieunternehmen.<br />

Nicht nur im Wallis, auch in Graubünden weist<br />

man diese Forderungen zurück. «Die Spielregeln<br />

beim Heimfall sind längst gemacht», pariert der<br />

Bündner Energiedirektor den Angriff Gasches<br />

im selben Artikel. Worum es der Stromlobby bei<br />

ihrem Angriff auf die Wasserkraft geht, ist klar: Das<br />

Vermögen der grossen Stromkonzerne soll nicht<br />

zurück in die Berggebiete fliessen – dabei ist die<br />

Wasserkraft die grösste Ressource des Wallis.<br />

Es geht den Gebirgskantonen um weit mehr, als<br />

nur den Heimfall und die Neukonzessionierung:<br />

So fordert beispielsweise die SP im Oberwallis eine<br />

Versteuerung des Gewinns der Stromkonzerne<br />

im Wallis. Ziel: Der Gewinn soll dort versteuert<br />

werden, wo er erzielt wird. Heute fliesst dieses<br />

Geld – genau wie der Strom aus den Walliser<br />

Kraftwerken – in die Zentren, dorthin, wo die<br />

Stromkonzerne ihren Sitz haben.<br />

eine neue kirche ist nicht genug<br />

Die Fronten im Wallis verlaufen undurchsichtig:<br />

Viele Behörden auf Gemeindestufe, also dort,<br />

wo über eine Neukonzessionierung verhandelt<br />

wird, werden mit einem Sitz in den Verwaltungen<br />

der Energiekonzerne gekauft. Bestes Beispiel<br />

ist das Kraftwerk Elektra Massa. Das Kraftwerk,<br />

das Wasser aus dem Aletschgebiet staut und in<br />

Bitsch turbiniert, wird zu knapp 90 Prozent von<br />

Gesellschaften aus der Deutschschweiz kontrolliert<br />

– Urs Gasches BKW hält 16 Prozent, grösster<br />

Aktieninhaber ist die Alpiq. Das Wallis mit den<br />

FMV ist bloss mit elf Prozent an der Elektra Massa<br />

beteiligt. Im VR sitzen neben den Vertretern der<br />

Muttergesellschaften Politiker aus dem Wallis.<br />

Die Liste der ehemaligen und aktuellen Vertreter<br />

im Verwaltungsrat der Elektra Massa liest sich wie<br />

ein «who-is-who» der Walliser CVP-Prominenz:<br />

Rolf Escher, Richard Gertschen und als aktueller<br />

Verteter, Manfred Holzer. Sie werden für ihr Mandat<br />

vergütet, entsprechend fallen ihre Stellungnahmen<br />

zur Heimfalldiskussion aus. Im «Walliser<br />

Boten» mahnte Rolf Escher die Walliser dazu «den<br />

Bogen nicht zu überspannen». Sonst werde der<br />

Bund dazu verleitet, die bisherigen Heimfallrechte<br />

per Gesetz auszuhebeln. Die Walliser Vertreter<br />

der Ausserschweizer Gesellschaften versuchen,<br />

eine öffentliche Diskussion über die kommenden<br />

Heimfallregelungen zu verhindern.<br />

Ihr Ziel: direkte Verhandlungen über eine Neukonzessionierung<br />

mit den Gemeindebehörden<br />

in Hinterzimmern. Dagegen hält die SP, die eine<br />

kantonale Diskussion über die Ausgestaltung des<br />

Heimfalls verlangt. Nur: Eine vom Kanton eingesetzt<br />

Arbeitsgruppe hüllt sich über die Vorschläge,<br />

wie die Jarhhundertherausforderung Heimfall<br />

auszugestalten sei, in Schweigen.<br />

Klar ist: Die Gemeinden müssen den Heimfall<br />

vollumfänglich geltend machen. Und die Millioneneinnahmen<br />

der wasserreichen Gemeinden<br />

müssen gerecht unter den anderen Walliser Gemeinden<br />

und dem Kanton verteilt werden – hier<br />

braucht es neue Gesetze, die in den nächsten<br />

Jahren ausgestaltet werden müssen. Ansonsten<br />

würden die Gesetze an anderen Orten gemacht,<br />

wie die SP in ihrer jüngsten Stellungnahme zur<br />

Heimfalldiskussion mit Blick auf Gasches Vorstösse<br />

in Bundesbern festhält.<br />

Oder aber einzelne Gemeinden werden sich mit<br />

einer neuen Kirche zufrieden geben, wie vor 60<br />

Jahren Saas-Balen.


8 ROTE ANNELIESE / NR. <strong>223</strong> / Juni 2012<br />

Bewilligung und Kapelle: Remo kuonen wollte an seiner kapelle nur einen Verputz anbringen – von der gemeinde wurde er dafür angeschwärzt.<br />

Bürokratie<br />

«Das ist reine Schikane»<br />

GUTTET-FESCHEL – Remo Kuonen ist verärgert: Er wollte<br />

eigentlich nur seine vor 20 Jahren gebaute Kapelle sanieren. Der<br />

bürokratische Aufwand für die Bewilligung eines Verputzes an<br />

der Kapelle ist inzwischen teurer als der Verputz selbst.<br />

Von Cyrill Pinto<br />

1991 litt Remo Kuonen an einer schweren Krankheit.<br />

Als Dank für seine Genesung baute er auf<br />

seinem Grundstück in Guttet-Feschel eine Kapelle.<br />

Das zwei auf zwei Meter grosse Häuschen<br />

aus Sandkalkstein zu Ehren der heiligen Rita, der<br />

Patronin bei aussichtslosen Anliegen, ist langsam<br />

in die Jahre gekommen.<br />

Das kleine Gotteshaus, bei dem immer wieder<br />

Passanten Halt machen und eine Kerze entzünden,<br />

ist undicht. Wasser dringt von aussen durch<br />

die Sandsteinziegel ins Innere des Gebäudes. Dort<br />

ist der Wassereinbruch sichtbar – dunkle Flecken<br />

zeugen davon.<br />

Retourkutsche wegen «Tschuggu»?<br />

Also wollte Remo Kuonen einen Verputz an der<br />

Kapelle anbringen lassen, um die Fassade Witterungsfest<br />

zu machen. Doch dieses Vorhaben<br />

wurde zu einem Fall für die heilige Rita – denn es<br />

scheint ein aussichtsloses Anliegen. Grund dafür<br />

sind die bürokratischen Hürden. Doch Kuonen<br />

glaubt viel mehr an eine Retourkutsche wegen<br />

einer anderen Geschichte.<br />

bewilligung oder nicht?<br />

Zuerst glaubte Remo Kuonen, er brauche gar keine<br />

Bewilligung für den Verputz an dem Gebäude.<br />

Bei der kantonalen Baukommission wurde ihm<br />

dies fälschlicherweise so mitgeteilt. In Sitten<br />

ging man davon aus, dass die Kapelle schon<br />

einen Verputz hatte, der nun erneuert werden<br />

sollte. Nur: Ein Gebäude mit Sichtmauerwerk, das<br />

nachträglich verputzt werden soll, braucht eine<br />

Baubewilligung.<br />

Also reichte Remo Kuonen alle nötigen Dokumente<br />

für die Bewilligung ein. Dazu gehörte ein<br />

Situationsplan, ein Grundriss, ein Auszug aus<br />

dem Grundbuch und ein Katasterauszug. Allein<br />

für ein Schreiben eines Geometers zahlte Kuonen<br />

130 Franken. Alles reichte Kuonen zuerst bei der<br />

Gemeinde und anschliessend beim Kanton ein.<br />

Monate dauerte das Hin und Her mit den Behörden<br />

– immer wieder wurden neue Dokumente<br />

verlangt.<br />

Als dann das kantonale Bausekretariat auch noch<br />

die Baubewilligung für das Kapellchen sehen<br />

wollte, platzte Kuonen der Kragen: «Ich bin nicht<br />

mehr bereit, dem Bausekretariat noch irgendwelche<br />

Unterlagen zuzustellen», sagt Kuonen erbost.<br />

Das Beschaffen aller Unterlagen mit Stempeln<br />

und Gebühren kostet ihn inzwischen mehr Geld,<br />

als die zehn bis zwölf Quadratmeter Verputz, wie<br />

er sagt. Er werde nun die Kapelle von Innen her<br />

abdichten, um einen weiteren Wassereinbruch zu<br />

verhindern. Dafür braucht er keine Bewilligung.<br />

«eine Respektlosigkeit»<br />

Kuonen empfindet die geforderte Einreichung<br />

weiterer Unterlagen als reine Schikane. Er vermutet,<br />

dass die Gemeindebehörden von Guttet-<br />

Feschel ihn bei der Kantonsverwaltung angeschwärzt<br />

haben. Hintergrund ist die Geschichte<br />

um den illegal gebauten Steg am «Tschuggu» in<br />

Guttet. Aufgrund Kuonens Intervention muss<br />

der Steg nun wieder abgebrochen werden, da die<br />

Gemeinde als Bauherrin keine Baubewilligung<br />

eingeholt hatte (<strong>RA</strong> 222).<br />

«Wahrscheinlich haben die Gemeindebehörden<br />

dem Kanton mitgeteilt, dass für die Kapelle gar<br />

keine Baubewilligung vorliegt», vermutet Kuonen.<br />

Tatsächlich stand am Ort der Kapelle früher ein<br />

kleines Gartenhäuschen. Dieses war durch Schä-


den im Winter so arg in Mitleidenschaft gezogen<br />

worden, dass Kuonen – statt das Gartenhäuschen<br />

wieder aufzubauen – die Kapelle erstellte. Wegen<br />

der Umnutzung, die erst nach dem Bau bewilligt<br />

wurde, musste Kuonen eine Busse von 200 Franken<br />

bezahlen.<br />

Dies, weil Kuonen annahm, dass er für ein bestehendes<br />

Gebäude, das quasi umfunktioniert<br />

wird, keine Bewilligung brauche. «Die Gemeinde<br />

verstand das und spendete das Geld der Wendelinskirche<br />

Guttet.»<br />

Jetzt lässt Kuonen den Streit mit den Behörden<br />

sein. Neben dem Abdichten der Kapelle von Innen,<br />

um weitere Wasserschäden zu verhindern,<br />

wird er den Zaun, der in diesem Winter umgeworfen<br />

wurde, wieder aufbauen. Dazu gehört<br />

auch eine kleine Sitzbank die mit dem Baugesuch<br />

von 1991 bewilligt wurde und die Kuonen wieder<br />

aufstellen wird.<br />

«Ich finde es einfach eine Respektlosigkeit sondergleichen»,<br />

sagt Kuonen mit Blick auf die tausenden<br />

Opferkerzen, die jedes Jahr in der kleinen<br />

Kapelle entzündet werden.<br />

«Tschuggu»: die abbruchverfügung<br />

ist eingetroffen<br />

die geschichte um den illegal errichteten steg<br />

in guttet hat ein ende gefunden: In einer Nacht-<br />

und Nebelaktion wurde der errichtete Metallsteg<br />

abgebrochen, wie anwohner Remo kuonen<br />

weiss. als beschwerdeführer gegen den von<br />

der gemeinde ohne baubewilligung errichteten<br />

Zugang zum aussichtspunkt «Tschuggu» hat<br />

kuonen auch die Wiederherstellungsverfügung<br />

an die gemeinde als kopie erhalten – diese liegt<br />

der Ra vor.<br />

In ihrer Verfügung hält die kantonale baukommission<br />

(kbk) fest, dass sowohl die dienststelle<br />

für Wald und Landschaft als auch die dienststelle<br />

für Raumentwicklung zu dem Projekt für<br />

den bau eines stegs am «Tschuggu» im Herbst<br />

2011 eine negative Vormeinung abgegeben haben.<br />

dies wegen des markanten eingriffs in das<br />

ortsbild, dem nicht nachgewiesenen bedürfnis<br />

eines stegs und aufgrund des Landschaftsschutzes,<br />

wie es in der Verfügung heisst.<br />

In ihrer Verfügung schreibt die kbk, dass es<br />

sich im vorliegenden Fall um eine «erhebliche<br />

abweichung zur gesetzgebung» handle. die<br />

gemeinde wurde deshalb mit dem entscheid<br />

vom 3. Mai aufgefordert, bis am 30. Juni den<br />

ursprünglichen Zustand am «Tschuggu» wiederherzustellen.<br />

konkret: den steg abzubrechen<br />

und die Pflanzendecke zu renaturieren. ansonsten<br />

droht die kbk in ihrem schreiben der gemeinde<br />

mit einer hohen busse. die Verfügung<br />

endet mit dem Hinweis, dass die gemeinde die<br />

kosten des entscheids, 362 Franken, selber<br />

tragen muss. (cp)<br />

die Verfügung ist online auf der Webseite der Ra:<br />

www.roteanneliese.ch/news<br />

Restwasser<br />

ROTE ANNELIESE / NR. <strong>223</strong> / Juni 2012<br />

Fischer schlagen Alarm<br />

WALLIS – Seit fast 20 Jahren wartet die Restwasserverordnung<br />

im Wallis auf ihre Umsetzung. Fischer sammeln nun Fotos mit<br />

ausgetrockneten Flussläufen, um auf das Problem aufmerksam<br />

zu machen.<br />

Schon zwei Mal wurde die Frist verlängert: Eigentlich<br />

hätten die Vorschriften zum Restwasser unterhalb<br />

von Staumauern bis 2006 umgesetzt werden<br />

müssen. Da bis dahin aber der grösste Teil der zu<br />

sanierenden Wasserfassungen und Staumauern<br />

noch nicht angepasst war, verlängerte der Bund<br />

die Frist nochmals um fünf Jahre. Bis Ende Jahr<br />

müssten alle Flussläufe genügend Wasser führen.<br />

Nur: Auch diese Frist wird wohl ungenutzt verstreichen.<br />

Denn der Kanton Wallis macht keine<br />

Anstalten, die 175 Wasserentnahmen im Kanton<br />

anzupassen, die saniert werden müssten, wie die<br />

«NZZ am Sonntag» enthüllte.<br />

Fischer sammeln Fotos<br />

Dass sich die Stromproduzenten – und damit<br />

indirekt auch der Kanton – gegen die Umsetzung<br />

der Restwasservorschriften sträuben, hat einen<br />

handfesten Grund: Jeder Liter Wasser, der nicht<br />

über eine Turbine geleitet werden kann, bedeutet<br />

für die Stromproduzenten weniger Einnahmen.<br />

Kreativ ist die Walliser Kantonsverwaltung deshalb<br />

auch bei der Begründung, warum bis heute keine<br />

einzige der zu sanierenden Anlagen angepasst<br />

wurde: Einsprachen von Umweltverbänden hätten<br />

bis heute eine Umsetzung der Vorschriften<br />

verhindert. Immerhin stellt man in Aussicht, dass<br />

die Sanierungsverfügungen bis Ende Jahr erlassen<br />

9<br />

werden und bis Ende 2013 die meisten Massnahmen<br />

umgesetzt seien, wie man gegenüber dem<br />

«Walliser Boten» verlauten liess.<br />

Betroffen von trockenen Flussläufen sind die<br />

Fische – und mit ihnen die Fischer: Auf der<br />

Internetseite «fishfinder.ch», einem Forum von<br />

Oberwalliser Anglern, wird das Problem besprochen<br />

und mit Beweisfotos unterlegt. So hat der<br />

Administrator der Seite am 7. Mai ein Foto mit<br />

Kommentar zur Lonza bei Gampel gepostet: «Hier<br />

die Lonza», schreibt er, «Restwasser 0 (Null)».<br />

einsprachen wegen Restwasser<br />

Statt die Sanierung ihrer Stauanlagen in Angriff zu<br />

nehmen, wollen die Stromproduzenten weitere<br />

Kraftwerkprojekte umsetzen. In diesem Fall sind<br />

es die Forces Motrices Valaisannes (FMV), die<br />

zwischen Gletsch und Oberwald ein Flusskraftwerk<br />

planen.<br />

Wieder würde dem Rotten auf einem Teilstück<br />

Wasser entzogen. Unter anderem auch wegen<br />

der Restwassermengen für das geplante 40 Gigawatt-Kraftwerk,<br />

legten die Umweltverbände<br />

Beschwerde vor dem Kantonsgericht ein, wie die<br />

Verantwortlichen der FMV Anfang Juni bekannt<br />

machten. Vor dem Hintergrund der Nicht-Umsetzung<br />

der Restwasservorschriften ist dies nicht<br />

weiter verwunderlich. (cp)<br />

Restwasser null: die Lonza ohne Wasser oberhalb von gampel. bild fishfinder.ch


10 ROTE ANNELIESE / NR. <strong>223</strong> / Juni 2012<br />

Lonza<br />

Jetzt die Reihen schliessen<br />

VISP –Die Belegschaft im Lonza-Werk Visp musste in der Bor-<br />

gas-Ära für manchen Managementfehler büssen. Nun droht<br />

unter einem neuen CEO neues Ungemach. Für die Angestellten<br />

höchste Zeit, sich für drohende Stürme zu wappnen.<br />

Vom Ehrgeiz getrieben suchte Borgas seinen Weg<br />

als Lonza-Boss. Er versprach seinen Aktionären<br />

Renditen von gegen 20 Prozent, tätigte hohe<br />

Investitionen, machte hier und da kostspielige<br />

Zukäufe, die nicht brachten, was sie bringen<br />

sollten. Er wollte den Börsenhimmel erstürmen<br />

– und landete flach auf dem Bauch. Der Aktienwert<br />

verlor weit mehr als die Hälfte unter seiner<br />

Herrschaft. Als ihn der Verwaltungsrat entliess,<br />

sparte dieser nicht mit Kritik. Borgas habe es an<br />

Realismus gemangelt, der harten Arbeit im Detail.<br />

Die Devise der neuen Führung soll nun lauten:<br />

«Weniger lafern, mehr liefern» – also weniger versprechen,<br />

dafür die Versprechen, die man abgibt,<br />

auch einhalten.<br />

Damit ist auch gesagt, dass die neue Führungsspitze<br />

versuchen muss, das verspielte Vertrauen<br />

wieder zurückzuholen. Symptomatisch für die<br />

vollmundige Ära Borgas war die Ausbildungsvereinbarung,<br />

die der ehemalige Lonza-Chef mit<br />

der Gewerkschaft Unia abschliessen liess – ein an<br />

sich gutes Instrument. Doch die Firma schaffte es<br />

nicht, die verschiedenen Massnahmen so umzusetzen,<br />

wie es mit der Unia vereinbart worden war.<br />

Dies zeigte ein Audit im Auftrag der Betriebskommission.<br />

Am Ende hat der Ärger in der Belegschaft<br />

die positiven Aspekte der Ausbildungsvereinbarung<br />

deutlich überwogen. Die Borgas-Jahre waren<br />

geprägt von Sparmassnahmen, unter denen das<br />

Personal zu leiden hatte. So zum Beispiel mit dem<br />

Sparprogramm Bond: Im Jahr 2010 hat Lonza in<br />

der Schweiz und vorab im Werk Visp bereits 193<br />

Stellen gestrichen. Ausserdem haben sich die<br />

Visper bereit erklärt, bis Februar 2013 länger zu<br />

arbeiten. Sie leisten knapp zwei Wochenstunden<br />

mehr, zum gleichen Lohn. Die Angestellten, die<br />

dem Kollektivvertrag unterstellt sind, mussten<br />

sich dazu verpflichten, sich an mindestens vier<br />

Tagen pro Jahr weiterzubilden. Ausserdem gab<br />

es eine Nullrunde: zwei Prozent Lohnerhöhungen<br />

hatte die Geschäftsleitung 2008 fürs Werk Visp in<br />

Aussicht gestellt. Daraus wurden schliesslich null<br />

Prozent. «Sowas», sagt der langjährige Oberwalliser<br />

Gewerkschaftssekretär German Eyer, «habe ich<br />

in noch nie erlebt.»<br />

Und in diesem Stil soll es weiter gehen, in einem<br />

Werk, welches seit Jahren auf Hochtouren<br />

läuft und höchsten Einsatz aller Mitarbeitenden<br />

erfordert. «Die Unzufriedenheit ist gross in der<br />

Belegschaft», sagt Willy Venetz, Vizepräsident der<br />

Betriebskommission. «Unter den Leuten mit einem<br />

Kollektivarbeitsvertrag genauso wie unter<br />

jenen mit Einzelarbeitsverträgen.»<br />

Das neuste Sparprogramm heisst VispChallenge<br />

– mit ebenso ambitiösen Zielen wie Bond. In den<br />

nächsten drei Jahren soll die Produktivität um 120<br />

Millionen Franken gesteigert werden im Werk,<br />

davon 70 Millionen Franken durch Einsparungen.<br />

Ruhe vor dem Sturm: die Lonza-Mitarbeiter in Visp müssen sich wappnen. bild Cyrill Pinto<br />

Willy Venetz: «Leider ist für die Belegschaft kaum<br />

nachvollziehbar, wie diese Einsparungen vollzogen<br />

werden sollen. Es besteht ein klares Manko<br />

an interner Kommunikation.»<br />

Was die Mitarbeitenden wissen: Die Anlagen sind<br />

voll ausgelastet. Mehr lässt sich aus ihnen kaum<br />

mehr herauspressen. Und auch aus den Leuten<br />

nicht. Das zeigte sich auch nach der Einführung<br />

der 43-Stundenwoche. Selbst für den ehemaligen<br />

Standortleiter ist die Arbeitszeiterhöhung kein<br />

Mittel, um den Standort Visp zu sichern.<br />

Nebulöse Initiativen<br />

Den grossen Kostenschnitt sollen ominöse 270<br />

Initiativen bringen. Die Rede ist von Neuverhandlung<br />

der Lieferantenverträgen, papierlosen Labors<br />

und einer Durchsatzsteigerung. Aber bringt man<br />

so jährlich bis zu 40 Millionen Franken weg? Für<br />

die Angestellten jedoch bleibt vieles im Nebel.<br />

Willy Venetz: «Es sind vor allem die Unsicherheit<br />

und immer neue Gerüchte, die für schlechte Stimmung<br />

und sinkende Motivation sorgen.»<br />

Klar ist nur, dass auch die Angestellten wieder<br />

Haare lassen sollen. Knapp 10 der 270 Initiativen<br />

würden die Leistungen an die Mitarbeitenden<br />

betreffen, heisst es in einem internen Papier. Vom<br />

diesbezüglichen Grundsatzentscheid, der im ersten<br />

Quartal 2012 hätte gefällt werden sollen, hat<br />

die Personalvertretung bis heute nichts erfahren.<br />

Einmal hiess es, die Mitarbeitenden müssten neu<br />

fünf Franken Parkplatz-Gebühren bezahlen. Nadelspitzen<br />

gegen die Moral, die kaum Einsparungen<br />

bringen. Die Frage, wie in Visp das grosse Geld<br />

eingespart werden soll, bleibt offen. Aussagen des<br />

Verwaltungsratspräsidenten Rolf Soiron, wonach<br />

es in Visp zu keinen Massenentlassungen komme,<br />

sind als Beruhigungspillen gedacht – aber kann<br />

man sie getrost schlucken?<br />

Wird die Lonza filetiert?<br />

Die Lonza-Aktie war vor einigen Jahren noch<br />

mehr als 150 Franken wert. Jetzt ist sie auf unter<br />

40 Franken eingebrochen. Es besteht ganz reell die<br />

Gefahr, dass ein gieriger Finanzinvestor die Lonza<br />

als Schnäppchen unter den Nagel reisst. Um die<br />

besten Filetstücke mit hohen Gewinnen weiter zu<br />

verkaufen. Und die unrentablen Teile stillzulegen.<br />

Die meisten Angestellten in Visp rechnen eher<br />

nicht damit, dass das Werk auf ruhige Zeiten<br />

zusteuert. Zwar ist Stefan Troger, der neue Werksleiter<br />

in Visp, ein Einheimischer und Hoffnungsträger<br />

der Angestellten. Aber er ist auch nur<br />

Befehlsempfänger der Basler Geschäftsleitung, in<br />

welcher der Standort Visp als wichtigstes Lonza-<br />

Produktionswerk seit einigen Jahren nicht mehr<br />

vertreten ist. Dort hat nach Borgas nun Richard<br />

Ridinger das Sagen. Sein Auftrag: den Betriebsgewinn<br />

um 10 bis 15 Prozent steigern.<br />

Dem Visper Werk indes fehlt nach wie vor der<br />

Fürsprecher in der Konzernzentrale. Es droht<br />

ausgepresst zu werden. «Man kann nicht beliebig<br />

viel Leistung aus den Leuten herausholen», sagt<br />

German Eyer. «Deshalb ist es jetzt höchste Zeit,<br />

dass wir in der Belegschaft die Reihen schliessen.<br />

Eine Gewerkschaftsmitgliedschaft ist die beste<br />

Krisenversicherung, auch für diejenigen, die nicht<br />

dem Kollektivarbeitsvertrag unterstellt sind. Nur<br />

gemeinsam sind wir stark!»<br />

Dieser Artikel ist im Input erschienen, der Unia-Zeitung der<br />

chemisch-pharmazeutischen Industrie.


Ein anderer Blickwinkel<br />

Der 12. September<br />

Laura Kronig<br />

Wo warst du am 12. September letzten Jahres?<br />

Ich erinnere mich noch sehr genau an diesen Tag.<br />

Denn ich habe mit rund 80 weiteren Menschen<br />

ein Manifest unterschrieben: «Wir, Frauen und<br />

Männer, die in der Schweiz leben und aus unterschiedlichen<br />

Orten und mit verschiedenen Geschichten<br />

zu diesem Land gekommen sind, fühlen<br />

uns dem Erbe einer fortschrittlichen Schweiz verpflichtet.<br />

Aus dieser Verpflichtung heraus und aus<br />

Verantwortung für unsere Zukunft streben wir<br />

eine Schweiz der Freiheit, der Gleichheit und der<br />

Solidarität nach innen und nach aussen an (...).»<br />

Auch dieses Jahr feiern wir den 12. September. Wir<br />

starten in Aarau. Aarau war 1798 – zur Zeit der<br />

Helvetischen Republik – die erste Hauptstadt der<br />

Schweiz. Am 12. September 1848 trat dann die<br />

erste demokratische Bundesverfassung in Kraft:<br />

«Alle Schweizer sind vor dem Gesetze gleich. Es<br />

gibt in der Schweiz keine Untertanenverhältnisse,<br />

keine Vorrechte des Orts, der Geburt, der Familien<br />

oder Personen.» Noch war die junge Demokratie<br />

unvollkommen. Aber sie machte sich auf den<br />

Weg ,um sich weiterzuentwickeln und an den<br />

eigenen Grundsätzen zu messen. So gestalteten<br />

ab 1874 und 1891 die Bürger durch Referendum<br />

und Initiative die Schweiz direkt mit. Auch wir<br />

brechen auf zu unserer Wanderung nach Olten.<br />

Wir haben bereits die ersten Kilometer unserer<br />

Wanderung hinter uns gebracht und in der<br />

Schweiz von 1918 gingen die Menschen für das<br />

Proporzwahlrecht, das Frauenstimmrecht, eine<br />

Alters- und Invalidenrente, die 48-Stunden-Woche<br />

und gerechte Steuern auf die Strasse.<br />

Während wir eine Pause einlegen, lernte die<br />

soziale Schweiz Schritt für Schritt laufen: 1948<br />

wurde die erste AHV Rente ausbezahlt. Mit den<br />

Jahren folgte die Invaliden-, die Arbeitslosen-, die<br />

obligatorische Krankenversicherung und 2005 die<br />

Mutterschaftsversicherung.<br />

Wir stehen auf und wandern weiter. Auch die<br />

Schweiz, die Jugend der Schweiz, stand auf. 1968<br />

lehnte sie sich gegen starre Gesellschaftsstruk-<br />

turen auf, stand ein für kritisches Denken und<br />

freie Bildung. In den 80ern forderte sie Freiräume,<br />

erkämpfte sich die Reitschule in Bern, die<br />

<strong>Rote</strong> Fabrik in Zürich. Alles heute noch aktuell:<br />

Während den Aula-Besetzungen 2009 verlangten<br />

die Studierenden freie Bildung. Insgesamt über<br />

10 000 Jugendliche in Bern, Basel und Chur nahmen<br />

sich zu Beginn des Sommers 2012 zumindest<br />

für eine Nacht den Freiraum zurück, der ihnen<br />

durch Verbote und Wegweisungsartikel genommen<br />

wurde.<br />

Wir sind nach wie vor unterwegs. Zwischen<br />

Aarau und Olten ist der Weg flach und unbeschwerlich.<br />

Einige Errungenschaften der Schweiz<br />

führten über steinige Wege. So erhielten 1971 die<br />

Schweizerinnen endlich das Stimmrecht. 1981<br />

folgte der Gleichstellungsartikel: aus Männerrechten<br />

wurden Menschenrechte. Seit 1994 wird<br />

der Berg nicht bezwungen, sondern durchgraben:<br />

die Schweiz nimmt die Alpeninitiative an.<br />

Während wir den letzten Kilometer bezwingen,<br />

trat die Schweiz 2002 der UNO bei. 2005 anerkannte<br />

sie als eines der ersten Länder der Welt das<br />

Recht auf Liebe unabhängig der sexuellen Orientierung<br />

und sagte Ja zum Partnerschaftsgesetz.<br />

Nun sind wir in Olten angelangt. Olten: Kilometer<br />

Null des Schweizer Bahnnetzes. Olten: Gründungsort<br />

des Oltner Aktionskomitees, aus dem<br />

1918 der Generalstreik entstand. Beschwingt und<br />

bestärkt schauen wir auf den zurückgelegten Weg.<br />

Stossen darauf an. Lauschen der jungen Extrem<br />

Bosnian Blues Band. Machen uns Gedanken zur<br />

Zukunft der Schweiz, lassen uns dabei von Pedro<br />

Lenz inspirieren. Und wir feiern. Wir feiern den<br />

Tag der fortschrittlichen Schweiz.<br />

Was machst du am 12. September 2012? Kommst<br />

du mit?<br />

Das Manifest und mehr Infos zum 12. September 2012<br />

auf: www.12september.ch<br />

ROTE ANNELIESE / NR. <strong>223</strong> / Juni 2012<br />

Buchtipp:<br />

Tal des schweigens<br />

11<br />

Walliser geschichten über Parteifilz, kirche,<br />

Medien und Justiz<br />

Von kurt Marti<br />

Rotpunktverlag<br />

IsbN: 978-3-85869-507-9<br />

Über zehn Jahre war Kurt Marti Redaktor der «<strong>Rote</strong>n<br />

<strong>Anneliese</strong>». In dieser Zeit hat der kritische Journalist<br />

viel über das Wallis und seine Machtstruktur<br />

gelernt. Immer wieder ist er bei seinen Recherchen<br />

auf einen Filz aus Kirche, Politik und Staat gestossen.<br />

Jetzt hat er die prägendsten Erlebnisse, die spannendsten<br />

Geschichten aus seiner Tätigkeit als<br />

Journalist im Wallis niedergeschrieben und in<br />

Buchform gebracht. In diesem Herbst erscheint<br />

sein Buch mit dem Titel «Tal des Schweigens» im<br />

Zürcher Rotpunktverlag.<br />

Der Verlag schreibt dazu: «Marti hat zahlreiche<br />

Fälle von Parteifilz, Vetternwirtschaft, illegalen<br />

Machenschaften, Intrigen, Willkür, Medienzensur,<br />

Bigotterie und Heuchelei aufgedeckt. Er wurde vor<br />

Gericht gezerrt und von der Walliser Justiz verurteilt<br />

und diffamiert. Schliesslich sprach ihn das<br />

Bundesgericht in allen Punkten frei.<br />

Das Buch soll exemplarisch aufzeigen, welch<br />

schädlichen Einfluss die 155-jährige Vorherrschaft<br />

der katholischen Mehrheitspartei CVP auf Politik,<br />

Gesellschaft, Medien und Justiz hat, insbesondere<br />

wie die Einschränkung der kritischen Öffentlichkeit<br />

funktioniert.<br />

In diesem Sinn ist das Buch ein Plädoyer für eine<br />

offene Gesellschaft und steht in der Tradition der<br />

politischen Aufklärung.»<br />

Kurt Marti, der nach seinem Studium der Philosophie<br />

und Physik eine Journalistenschule besuchte,<br />

arbeitet heute für die Online-Nachrichtenplattform<br />

«infosperber.ch».<br />

Auch dort schreibt er regelmässig über Walliser<br />

Themen. So zum Beispiel über christliche Symbole<br />

in der Öffentlichkeit oder über die Verstrickungen<br />

des WWF mit der Wirtschaft. (cp)


12 ROTE ANNELIESE / NR. <strong>223</strong> / Juni 2012<br />

Verfechter der Trennung von Kirche und Staat: Jean-Jacques Rousseau wurde mit diesem denkmal in seiner geburtsstadt genf geehrt. CC Flickr/<br />

Kruzifix-Debatte:<br />

Warum sich Rousseau<br />

im Grab umdreht<br />

VON KURT MARTI*<br />

Der Nationalrat debattierte Mitte Juni einen Vorstoss zur<br />

Kruzifix-Debatte. CVP-Politikerin Ida Glanzmann-Hunkeler<br />

wollte «Symbole der christlich-abendländischen Kultur»<br />

in der Verfassung verankert haben. Die Debatte zeigte:<br />

Den Vertretern von CVP und SVP fehlt es an<br />

philosophisch-historischer Bildung.<br />

Im Juni 1762, also vor genau 250 Jahren, war der<br />

Philosoph Jean-Jacques Rousseau auf der Flucht<br />

vor den weltlichen und kirchlichen Behörden<br />

Frankreichs. Rousseau floh in die Schweiz und<br />

wurde auch von den Genfer und Berner Behörden<br />

gejagt. Schliesslich fand er Unterschlupf<br />

im neuenburgischen Môtiers, das damals unter<br />

preussischer Herrschaft stand.<br />

Der Grund für Rousseaus Flucht war sein pädagogisches<br />

Hauptwerk «Émile», insbesondere das<br />

Kapitel «Glaubensbekenntnis des savoyischen<br />

Vikars». Darin bezeichnet Rousseau alle Religionen<br />

als gleichwertig und die Vermittlung von<br />

Religion durch die biblische Offenbarung und<br />

die kirchlichen Institutionen – also durch andere<br />

Menschen – als überflüssig und schädlich. Jeder<br />

Mensch habe über seine Vernunft und die Natur<br />

einen eigenen Zugang zu Gott.<br />

Damit verwies Rousseau die Religion aus der öffentlichen<br />

Sphäre in den Privatbereich und legte<br />

einen Grundstein für die Trennung von Kirche<br />

und Staat.<br />

Das Pariser Parlament verbot «Émile» am 9. Juni<br />

1762 und erliess einen Haftbefehl gegen Rousseau.<br />

Im April zuvor wurde bereits sein politisches<br />

Hauptwerk «Contrat social» (Gesellschaftsvertrag)<br />

verboten, worin er das damalige absolutistische<br />

Herrschaftssystem auf den Kopf stellt: Das Volk


ist der Souverän, nicht mehr der König. Und<br />

anstelle des göttlichen Willens tritt die säkulare<br />

Verfassung.<br />

der angriff auf die demokratie<br />

Rousseau und weitere Aufklärer des 18. Jahrhunderts<br />

legten den Grundstein für den demokratischen<br />

Rechtsstaat, welcher auf den drei Säulen der<br />

säkularen Verfassung, der Trennung von Kirche<br />

und Staat und der unabhängigen Rechtssprechung<br />

basiert. 250 Jahre nach Rousseaus dramatischer<br />

Flucht inszenierten die Vertreterinnen und<br />

Vertreter der CVP und SVP in der März- und Juni-<br />

Session der Eidgenössichen Räte einen Angriff auf<br />

diese drei Säulen.<br />

Angespornt durch die Kruzifix-Debatten in den<br />

Kantonen Luzern und Wallis reichte die CVP-Nationalrätin<br />

Ida Glanzmann-Hunkeler im Dezember<br />

2010 eine parlamentarische Initiative «Symbole<br />

der christlich-abendländischen Kultur sind im<br />

öffentlichen Raum zulässig» ein, unterschrieben<br />

von 41 Parlamentarierinnen und Parlamentarier<br />

der CVP und SVP. Die eifrigen Kulturkämpfer forderten<br />

damit nichts anderes als den Vorrang der<br />

christlichen Religion in der Verfassung. Genau<br />

gegen solche absolutistischen Manieren hatte<br />

Rousseau angekämpft und war deswegen im Juni<br />

1762 auf der Flucht.<br />

gewaltentrennung steht zur debatte<br />

Doch damit nicht genug: In der Begründung der<br />

Initiative geben die Initianten offen zu, dass sie<br />

verhindern wollen, dass «Einzelpersonen oder<br />

einzelne Gruppierungen unter Bezugnahme auf<br />

individuelle Grundrechte wie Glaubens- und<br />

Gewissensfreiheit unsere schweizerische Kultur<br />

infrage stellen können».<br />

In der Diskussion im Parlament erklärte der Bündner<br />

CVP-Ständerat Stefan Engler, mit der Initiative<br />

wolle man «sichergehen, dass nicht dem Zeitgeist<br />

via Gerichte und Behörden zum Durchbruch<br />

verholfen wird». Der Schwyzer SVP-Ständerat<br />

Peter Föhn doppelte nach: «Wir wollen auch<br />

keine Gerichtsentscheide provozieren, ob nun<br />

ein Kreuz aus dem Schulzimmer entfernt werden<br />

muss oder ob ein Kreuz auf einer Bergspitze oder<br />

auf einem Aussichtspunkt entfernt werden muss».<br />

Die Fraktionen der CVP und SVP wollten also über<br />

eine Verfassungsänderung verhindern, dass die<br />

Bürger ihre verfassungsmässigen Grundrechte<br />

der Glaubens- und Gewissensfreiheit einfordern<br />

können. Damit stellten sie auch die Gewaltentrennung<br />

und die Unabhängigkeit der Justiz in<br />

Frage. Rousseau drehte sich in seinem Grab um,<br />

im Panthéon von Paris.<br />

Während die parlamentarischen Kommissionen<br />

unsicher hin und her lavierten, wurde die Initiative<br />

im Nationalrat mit 87 zu 75 Stimmen angenommen<br />

und im Ständerat mit 17 zu 21 Stimmen<br />

«Ich will für unsere<br />

Tradition und<br />

Kultur einstehen. Ich<br />

will, dass wir auch in<br />

Zukunft zu unseren<br />

Wurzeln stehen.»<br />

Ida Glanzmann-Hunkeler im Parlament<br />

abgelehnt. Die CVP und die SVP stimmten geschlossen<br />

für die Initiative. Die knappe Ablehnung<br />

im Ständerat kam vor allem aus föderalistischen<br />

Gründen zustande.<br />

die anfänge der demokratie<br />

Die Werke Rousseaus zeigen, dass der demokratische<br />

Rechtsstaat ein Produkt der Aufklärung des<br />

18. Jahrhunderts ist und nicht der christlichen<br />

Religion. Erstmals vorgedacht und eingeübt wurden<br />

Demokratie und Menschenrechte schon in<br />

der Antike vor 2 500 Jahren. Bereits im Jahr 598<br />

vor Christus postulierte Solon der Weise das Recht<br />

des Menschen auf seinen eigenen Leib und der<br />

Philosoph Protagoras rief im fünften Jahrhundert<br />

vor Christus aus: «Der Mensch ist das Mass aller<br />

Dinge». Damit waren die Götter als Urheber der<br />

Moral entthront. In dieselbe Zeit fällt ebenfalls<br />

die Geburt der abendländischen Demokratie im<br />

Athen unter Perikles.<br />

Die griechisch-römische Hochkultur dauerte fast<br />

1 000 Jahre an. Im Jahr 380 erklärte Kaiser Theodosius<br />

I. das Christentum zur Staatsreligion und<br />

setzte der Religionsfreiheit ein Ende. 529 wurde<br />

Nach der Flucht: ein brief Rousseaus aus seinem exil und ein Portraitbild des denkers. Wiki/allan Ramsay<br />

ROTE ANNELIESE / NR. <strong>223</strong> / Juni 2012<br />

13<br />

die platonische Akademie in Athen geschlossen<br />

und das erste Benediktinerkloster gegründet.<br />

Zahlreiche Bibliotheken und immense Buchbestände<br />

wurden vernichtet und durch die Schmalkost<br />

der christlichen Bibelliteratur ersetzt (siehe<br />

Link unten). Das Abendland versank fast anderthalb<br />

Jahrtausende im Schatten des christlichen<br />

Gottesstaates, der mit Kriegen und Kreuzzügen,<br />

Hexen- und Ketzerverbrennungen ganz Europa<br />

terrorisierte und Millionen von Menschenopfern<br />

forderte.<br />

Die theokratische Phase dauerte bis zur französische<br />

Revolution im Jahr 1789, welche dem<br />

christlich-absolutistischen Albtraum ein Ende<br />

bereitete. Der demokratische Rechtsstaat wurde<br />

gegen die Kirche entworfen und durchgesetzt,<br />

welche besonders in der Ausprägung des Katholizismus<br />

noch heute demokratische Prinzipien<br />

missachtet und die Diskriminierung der Frauen<br />

akzeptiert.<br />

eklatanter Mangel an bildung<br />

Angesichts dieser historischen Fakten legen die<br />

Begründungen der Parlamentarier der CVP und<br />

SVP einen eklatanten Mangel an philosophischhistorischer<br />

Bildung offen. Laut Initianten steht<br />

das Kreuz «nicht nur für den Glauben, sondern<br />

auch für den Schutz des Landes und ist Symbol<br />

des Friedens, des sozialen Gedankens der Bergpredigt,<br />

des abendländischen Grundrechtsverständnisses<br />

und Zeuge unserer schweizerischen<br />

Kultur».<br />

Für die Initiantin Glanzmann-Hunkeler ist das<br />

Kreuz «nicht nur ein Zeichen des katholischen<br />

Glaubens. Für mich ist es gelebte Kultur und<br />

gehört zu unserer Geschichte». Glanzmann-Hunkeler<br />

verlangt weiter: «Ich will für unsere Traditionen<br />

und unsere Kultur einstehen. Ich will, dass<br />

wir auch in Zukunft zu unseren Wurzeln stehen<br />

dürfen».<br />

Die Symbolik des Kreuzes steht jedoch mit dem<br />

Menschenbild einer freiheitlich-demokratischen<br />

Gesellschaft im krassen Gegensatz. Das Kreuz<br />

ist eng verknüpft mit der paulinischen Lehre der<br />

Erbsünde, welche den Menschen als verdorbenes<br />

Wesen entwürdigt. Auf der Grundlage des Kreuzes<br />

lassen sich die Menschenrechte nicht begründen.<br />

die lange Tradition der Zensur<br />

CVP-Ständerat Engler befürchtet in seiner Rede,<br />

dass mit dem Verschwinden christlicher Zeichen<br />

«das christliche Fundament unserer Gesellschaft<br />

und unseres freien Zusammenlebens untergraben<br />

wird». Und er bemüht gar den italienischen<br />

Staat, der «Wert auf die Wahrung der Tradition<br />

des Kruzifixes in der Schule lege, welches über die<br />

religiöse Bedeutung hinaus Werte und Prinzipien<br />

westlicher Demokratie und Zivilisation symbolisiere».<br />

Eine Begründung für diese Behauptung hat<br />

er wohlweislich unterlassen.<br />

Der Schwyzer SVP-Ständerat Peter Föhn ist gar<br />

zur Revitalisierung kirchlicher Zensurmethoden<br />

bereit, um das sogenannte christlich-abendländische<br />

Fundament «unseres Vaterlandes» zu verteidigen:<br />

«Es darf nicht sein, dass wir das irgendwie<br />

gefährden oder es grosse Diskussionen geben<br />

kann.» Die lange Tradition christlich-abendländischer<br />

Zensur lässt grüssen.<br />

*Dieser Text des früheren <strong>RA</strong>-Redaktors Kurt Marti ist auf<br />

der Online-Plattform «infosperber.ch» erschienen.


14 ROTE ANNELIESE / NR. <strong>223</strong> / Juni 2012<br />

Tipp<br />

3. antira Cup alto Vallese<br />

das antirassistische Fussballturnier<br />

samstag, 30. Juni, ab 9 uhr, «Chatzuhüüs» Visp<br />

Schon zum dritten Mal findet in diesem Sommer<br />

das antirassistische Fussballturnier im Oberwallis<br />

statt. 13 Teams hatten sich bei Redaktionsschluss<br />

schon für das Turnier angemeldet, das jeweils<br />

nicht nur im sportlichen Bereich für Unterhaltung<br />

sorgt.<br />

Der Fussball-Cup, der jeweils unter dem Motto,<br />

«Love Football – Hate Racism», angekickt<br />

wird, wird von der Unia Jugend Oberwallis organisiert.<br />

Titelverteidiger des Cups ist das Team<br />

St. Pauli. Im Mittelpunkt steht aber die Begegnung<br />

verschiedener Kulturen auf dem Platz und<br />

am Spielfeldrand – der sportliche Aspekt ist eher<br />

zweitrangig. Ein Zeichen dafür ist auch: Auf dem<br />

Spielfeld werden keine Schiedsrichter stehen.<br />

Die Veranstalter hoffen in diesem Jahr auf ein paar<br />

Zuschauer mehr, die die Spieler anfeuern. Für<br />

Verpflegung, Getränke und Musik ist jedenfalls<br />

gesorgt. (ra)<br />

kINo asToRIa, VIsP<br />

deR besoNdeRe FILM<br />

www.kino-astoria.ch<br />

Montag, 25. Juni, 20.30 uhr<br />

Marley<br />

oscar-Preisträger kevin Macdonald hat mit «Marley»<br />

eine Hommage an einen der einflussreichsten künstler<br />

aller Zeiten geschaffen. Mit bisher unveröffentlichtem<br />

Videomaterial, Interviews und aufnahmen<br />

seiner auftritte wird bob Marleys Weg zur Reggae-<br />

Ikone nachgezeichnet und gezeigt, wie er mit seiner<br />

Musik kulturelle grenzen durchdrungen und die<br />

Herzen der Menschen erreicht hat. Für seine grosse<br />

Filmdoku traf kevin Macdonald Marleys Familie,<br />

Freunde und Weggefährten. entstanden ist Marleys<br />

ultimative biografie.<br />

Montag, 9. Juli, 20.30 uhr<br />

My Week with Marilyn<br />

Im sommer 1956 bekommt der 23-jährige Colin Clark<br />

(eddie Redmayne) eine anstellung als assistent am<br />

set des Filmes «The Prince<br />

and the showgirl», welcher<br />

gerade in London gedreht<br />

wird. In den Hauptrollen<br />

spielen die Hollywood-Ikone<br />

Marilyn Monroe (Michelle<br />

Williams) und sir Laurence<br />

olivier (kenneth branagh).<br />

Monroe ist aber nicht bloss<br />

zum arbeiten nach London<br />

gekommen, sie verbringt dort auch die Flitterwochen<br />

mit ihrem Mann, dem schriftsteller arthur<br />

Miller (dougray scott). als dieser zurück in die usa<br />

reist, möchte ihr Colin Clark eine angenehme Zeit<br />

in der Hauptstadt ermöglichen. Williams wurde für<br />

ihre Rolle an den golden globes ausgezeichnet.<br />

Montag, 2. Juli, 20.30 uhr<br />

50/50<br />

es passiert selten, dass man im kino gleichzeitig –<br />

wirklich im selben augenblick – weinen und lachen<br />

muss. 50/50 ist einer dieser Filme, bei dem kein auge<br />

trocken bleibt und bei dem man sich dennoch prächtig<br />

amüsiert. Joseph gordon-Levitt und seth Rogen<br />

spielen beste Freunde, deren Leben sich nach der<br />

unerwarteten krebsdiagnose verändern. krebs mag<br />

zwar ein schwieriges Thema für eine komödie sein.<br />

50/50 handelt aber primär von Freundschaft, Liebe,<br />

Humor und Überleben.<br />

Montag, 16. Juli, 20.30 uhr<br />

Et maintenant on va où?<br />

ein staubiges kaff im Libanon. schon ewig leben<br />

Christen und Moslems Tür an Tür. genauso lange<br />

kommt es immer wieder zu konflikten, vor allem<br />

zwischen den Männern. den grund für das Hauen<br />

und stechen wissen sie meist selbst nicht mehr so<br />

genau – und davon haben ihre Frauen die Nase voll!<br />

Mit weiblicher Logik ist nichts auszurichten. und so<br />

hecken die Frauen allerhand unorthodoxe aktionen<br />

aus, in denen der einzige Fernseher des dorfes, eine<br />

ukrainische Table-dance-Truppe und Haschkekse<br />

tragende Rollen spielen.<br />

Montag, 23. Juli, 20.30 uhr<br />

Salmon fishing in the Yemen<br />

der Film erzählt die geschichte über einen verstaubten<br />

Fischerei-experten, der sich einer unmöglichen<br />

aufgabe stellen muss, die sein Leben<br />

komplett verändern wird. dr. alfred Jones (ewan<br />

Mcgregor) gilt als internationale grösse in sachen<br />

Lachs- und Forellenzucht. eines Tages wird der<br />

verklemmte britische Fischerei-experte von einer<br />

gewissen Harriet Chetwode-Talbot (emily blunt) mit<br />

einem absurd klingenden angebot konfrontiert …<br />

Montag, 30. Juli, 20.30 uhr<br />

Café de Flore<br />

antoine bringt die internationalen dancefloors zum<br />

Vibrieren. er ist ein erfolgreicher dJ, lebt in Montreal<br />

und hat eine leidenschaftliche neue beziehung.<br />

doch da ist noch Carole, die Mutter seiner beiden<br />

Töchter. antoine hat sie verlassen. Carole aber will<br />

und kann ihn nicht vergessen. so bedingungslos<br />

wie Carole liebt auch Jacqueline. sie tut alles für<br />

ihren siebenjährigen sohn, mit dem sie im Paris<br />

der 60er-Jahre wohnt. Jean-Marc Vallée erzählt<br />

zwei in verschiedenen Jahrzehnten angesiedelte,<br />

auf überraschende Weise verknüpfte geschichten.<br />

PoLIT-ageNda<br />

www.roteanneliese.ch<br />

www.spoberwallis.ch<br />

www.uniajugend-oberwallis.ch<br />

Veranstaltungen für den alternativen oberwalliser<br />

Veranstaltungskalender: rote.anneliese@rhone.ch


Dicke Eier<br />

das bistum hat bestimmt noch<br />

freie Zimmer zur Verfügung …<br />

SITTEN – Die christlichen Parteien haben die<br />

Mehrheit im Kanton. Bei den Asylsuchenden<br />

hört jedoch die christliche Nächstenliebe auf. Mit<br />

einem Trick sollte der<br />

Staatsrat in die Sackgasse<br />

geführt werden.<br />

Die Gemeinden sollten<br />

vorerst konsultiert<br />

werden, ob sie<br />

mit einem Asylheim<br />

leben können. In den<br />

allermeisten Fällen<br />

käme es zu einem<br />

Njet der Gemeinden.<br />

Noch freie Zimmer:<br />

bischof brunner.<br />

Die Regierung hätte<br />

dann selber schauen<br />

müssen, wo sie die<br />

von Bern zugeteilten<br />

Asylsuchenden einquartieren soll. Der Vorschlag<br />

der SP: die christlichen Fraktionen haben einen<br />

guten Draht zum Bischof. Mit einem Telefongespräch<br />

sollen sie sich bei ihm erkundigen, ob<br />

er bereit ist, die Türen der vielen leerstehenden<br />

Bistumsgebäude zu öffnen. Um dort in echter<br />

christlicher Nächstenliebe die echten Hilfesuchenden<br />

aufzunehmen. (ra)<br />

staatsrat reicht die<br />

heisse kartoffel weiter<br />

WALLIS – Einbürgerungen sind ein heisses Eisen.<br />

Die Gemeindebehörden sind zuständig für die<br />

Einbürgerungen. Wenn eine Gemeindebehörde<br />

eine Einbürgerung ablehnt, kann man neu gegen<br />

einen ablehnenden Entscheid Rekurs ergreifen.<br />

Rekursinstanz in den allermeisten politischen<br />

Entscheiden ist die Walliser Regierung. Anders bei<br />

den Einbürgerungen: hier reicht die Regierung die<br />

heissen Kartoffeln direkt an das Kantonsgericht.<br />

Um sich nicht die Finger verbrennen zu müssen.<br />

Die offizielle Begründung: wenn der Staatsrat<br />

den Rekurs behandeln müsse, hätte die ohnehin<br />

schon überlastete Staatskanzlei zu viel zu tun. Der<br />

tatsächliche Grund: der Staatsrat will sich nicht<br />

die Finger verbrennen. (ra)<br />

steuererleichterungen:<br />

80 Millionen Franken durchwinken?<br />

SITTEN – Staatsrat Tornay ist der starke Mann in<br />

der Regierung. Er hat die Grossratskommissionen<br />

mit ihren Präsidenten fest im Griff. Letztes Beispiel<br />

in der Maisession: der gelbe Kommissionspräsident<br />

schlug dem Grossrat vor, die Revision<br />

des Steuergesetzes<br />

in einer Lesung zu<br />

verabschieden. Der<br />

Strippenzieher im<br />

Hintergrund war Finanzminister<br />

Tornay,<br />

der in einem Aufwisch<br />

80 Mio Franken<br />

weniger Steuern<br />

durchwinken wollte.<br />

Die Gelben und<br />

Schwarzen nickten<br />

artig. Die SP konnte<br />

in letzter Minute<br />

den Rat wieder zur<br />

Vernunft bringen. Es<br />

gibt eine zweite Lesung. Ob damit die bürgerliche<br />

Mehrheit im Grossen Rat zur Vernunft kommt,<br />

steht auf einem anderen Blatt geschrieben. (ra)<br />

Jetzt auch als Online-Abo:<br />

die «<strong>Rote</strong> <strong>Anneliese</strong>» digital<br />

Das kritische Oberwalliser Magazin gibt es jetzt auch als Online-Abo.<br />

Bequem per Internet bestellen und die aktuellste Ausgabe als pdf-Datei lesen.<br />

Weitere Infos unter:<br />

www.roteanneliese.ch/online-abo<br />

steuererleichterungen<br />

durch die Hintertür: CVPstaatsrat<br />

Maurice Tornay.<br />

ROTE ANNELIESE / NR. <strong>223</strong> / Juni 2012<br />

Rückblick &<br />

Reaktionen<br />

Ra <strong>Nr</strong>. 221<br />

Demokratie im luftkampf<br />

15<br />

Im Februar berichtete die <strong>RA</strong> ausführlich<br />

über die absurde Situation auf dem Flugplatz<br />

Raron: Obwohl sich die Bürger in einer<br />

Abstimmung gegen den Flugbetrieb auf<br />

dem Flugfeld aussprachen, gab der Kanton<br />

gegenüber dem Bundesamt für Zivilluftfahrt<br />

(BAZL) eine positive Meinung zum Erhalt<br />

des Flubetriebs ab. Eine Petition und eine<br />

Vereinsgründung gegen den Flugbetrieb waren<br />

die Folge.<br />

Bern ist nun dem Antrag des Kantons Wallis<br />

gefolgt und bestätigt den Erhalt des Flugfeldes<br />

Raron als ziviles Flugfeld. Der Bundesrat<br />

hat den Sachplan Infrastruktur der Luftfahrt<br />

(SIL) und mit ihm den Flugplatz Raron bestätigt.<br />

Der Bund betont in seiner Stellungnahme,<br />

dass der Flugplatz Raron dem Fremdenverkehr<br />

im Goms (!), der fliegerischen Aus-<br />

und Weiterbildung und als Ausweichfeld für<br />

den Flugplatz Sitten diene, wie das BAZL in<br />

einer Mitteilung zum SIL-Entscheid schreibt.<br />

Der definitive Entscheid über die Zukunft<br />

des Flugplatz Raron wird nun in einem Umnutzungsverfahren<br />

gefällt. Dieses soll unter<br />

Federführung des BAZL und in Absprache<br />

mit dem Kanton und der Standortgemeinde<br />

eingeleitet werden, schreibt das BAZL. Mit<br />

dem Umnutzungsverahren haben die Rarner<br />

nun die letzte Möglichkeit, den Flugbetrieb<br />

auf ihrem Boden zu unterbinden. Unterstützung<br />

erhalten sie dabei vom neu gegründeten<br />

Verein gegen den Flugplatz Raron.


16 ROTE ANNELIESE / NR. <strong>223</strong> / Juni 2012<br />

Weit verbreitet: Mobbing unter schülerinnen und<br />

schülern kann verheerende auswirkungen haben.<br />

AZB 3900 Brig • NR. <strong>223</strong> / Juni 2012<br />

adressänderungen bitte melden bei:<br />

Verein <strong>Rote</strong> anneliese, Postfach 441, 3900 brig-glis<br />

Mobbing an Schulen<br />

«Beunruhigende Zahlen» zum<br />

Mobbing an Walliser Schulen<br />

WALLIS – Wiederholt berichtete die <strong>RA</strong> über Mobbing-Fälle an<br />

Oberwalliser Schulen. Eine Studie stellt nun erstmals offiziell<br />

fest: «Die Zahl der betroffenen Kinder ist sehr beunruhigend.»<br />

Von Cyrill Pinto<br />

Immer wieder erreichen die «<strong>Rote</strong> <strong>Anneliese</strong>»<br />

Anrufe von besorgten Eltern, deren Kinder unter<br />

Mobbing an der Schule leiden. In einem aktuellen<br />

Fall wird eine Schülerin einer mittelgrossen<br />

Schule von ihrem Lehrer gemobbt: Vor allen Klassenkameraden<br />

wird die OS-Schülerin als dumm<br />

hingestellt. Beschwerden bei der Schulleitung<br />

haben nicht gefruchtet. Die einzige Hoffnung für<br />

die Schülerin und ihre Eltern: Der Lehrer wird<br />

bald pensioniert.<br />

An einer anderen Schule arbeitet ein Lehrer, der<br />

eigentlich schon in der Pension war, dann aber<br />

wieder zurück in die Schule geholt wurde – aus<br />

akutem Personalmangel. Eigentlich wurde der<br />

Lehrer in die Früh-<br />

13 Prozent der<br />

Schülerinnen und<br />

Schüler werden häufig<br />

bis sehr häufig<br />

gehänselt und beleidigt.<br />

pension geschickt,<br />

weil sich wiederholt<br />

Eltern bei der Schulleitung<br />

über die Art<br />

des Lehrers, wie er<br />

seine Schüler behandelte,<br />

beschwert hatten.<br />

Eine noch viel<br />

weiter verbreitete<br />

Art des Mobbings an<br />

Schulen ist das Mobbing<br />

unter Schülern.<br />

Erst im letzten Juni berichtete die «<strong>Rote</strong> <strong>Anneliese</strong>»<br />

ausführlich über eine Schülerin in Brig-Glis,<br />

die von ihren Mitschülerinnen auf übelste Weise<br />

beschimpft und ausgegrenzt wurde. Im Bericht<br />

mit dem Titel «Es riecht nach Ausländerin hier»,<br />

schilderte der Vater des Mädchens, wie seine<br />

Tochter von ihren Mitschülerinnen rassistisch<br />

beschimpft wurde. Die Lehrerin intervenierte<br />

nicht und wurde sogar selbst ausfällig gegenüber<br />

dem Kind. Als letzte Möglichkeit wurde das Kind<br />

an eine neue Schule versetzt.<br />

Eine im Mai veröffentlichte Studie der Pädagogischen<br />

Hochschule Wallis, die zusammen mit<br />

dem Institut Kurt Bösch erstellt wurde, bringt<br />

ans Tageslicht, wie gross das Problem wirklich ist:<br />

Knapp 13 Prozent der Walliser Schülerinnen und<br />

Schüler im Alter zwischen 10 und 13 Jahren gaben<br />

an, häufig bis sehr häufig gehänselt und beleidigt<br />

zu werden. In Zahlen sind dies 520 Schüler. Doch<br />

Mobbing macht vor physischer Gewalt nicht<br />

Halt: 7,2 Prozent der befragten Schülerinnen und<br />

Studie Mobbing an Schulen<br />

Schüler gaben an, wiederholt von Rempeleien und<br />

«Stossen» betroffen zu sein – 5,9 Prozent sind «oft<br />

in Raufereien in der Schule involviert», wie es in<br />

der Studie heisst.<br />

Nicht nur körperliche und psychische Gewalt sind<br />

offenbar ein weitverbreitetes Problem an Walliser<br />

Primarschulen, auch sexuelle Nötigung kommt<br />

vor: 280 Schülerinnen und Schüler wurden laut<br />

der Studie seit Beginn des Schuljahres gegen ihren<br />

Willen geküsst. Erstaunlich: Mobbing im Internet<br />

ist weniger verbreitet als angenommen. Jedenfalls<br />

gaben weniger Schüler an, von Cybermobbing<br />

betroffen zu sein, als direkt von Gewalt betroffene:<br />

131 Schülerinnen und Schüler oder 3,2 Prozent<br />

gaben an, immer wieder<br />

Opfer von Beleidigungen<br />

und Spott im Internet<br />

zu sein. Auch stellten<br />

die Pädagogen bei der<br />

Auswertung der Umfrage<br />

fest, dass es erhebliche<br />

Unterschiede zwischen<br />

Schulen im Talgrund<br />

und in den Seitentälern<br />

gibt.<br />

In ihrer Zusammenfassung<br />

halten die Forscher<br />

fest, dass die grosse Zahl Mobbing-Betroffener<br />

sehr beunruhigend sei. Deshalb sei eine proaktive<br />

Prävention der Schulbehörde nötig. Dazu gibt es<br />

auch Ideen: So sollte zum Beispiel durch eine Begleitung<br />

auf dem Schulweg Mobbing ausserhalb<br />

des Einflussgebietes von Eltern und Lehreren<br />

unterbunden werden.<br />

Ein weiterer Vorschlag: Mehrstufige Klassen haben<br />

laut Studienergebnissen einen positiven Effekt auf<br />

das Verhalten der Schüler. Mobbing kommt dort<br />

weniger oft vor.<br />

Hilfe im Notfall<br />

schülerinnen und schüler, die von Mobbing betroffen<br />

sind, können sich an die Mediatoren ihrer<br />

schule oder den speziellen dienst für kinder und<br />

Jugendliche beim PZo wenden: 027 970 36 50

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