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Das Oratorium „Golgotha“ von Frank Martin. Archaisierendes und ...

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<strong>Das</strong> <strong>Oratorium</strong> <strong>„Golgotha“</strong> <strong>von</strong> <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong>.<br />

<strong>Archaisierendes</strong> <strong>und</strong> Modernes in einer Passion<br />

des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

<strong>von</strong> Georg Hage


Inhaltsverzeichnis<br />

1. Einleitung............................................................................................................................1<br />

2. Voraussetzungen: Komponist <strong>und</strong> Werk.......................................................................4<br />

2.1. Biografischer Abriss <strong>und</strong> stilistische Einflüsse.......................................................4<br />

2.2. Der religiöse Hintergr<strong>und</strong> .......................................................................................10<br />

2.3. Die Entstehung <strong>von</strong> <strong>„Golgotha“</strong>...........................................................................15<br />

3. Die Texte <strong>und</strong> ihre Zusammenstellung ........................................................................21<br />

3.1. Die Evangelien..........................................................................................................26<br />

3.2. Die „Confessiones“..................................................................................................32<br />

3.3. Die Meditationen......................................................................................................33<br />

3.4. Der 121. Psalm..........................................................................................................37<br />

3.5. Der erste Brief des Paulus an die Korinther.........................................................38<br />

3.6. <strong>Das</strong> Exsultet ..............................................................................................................39<br />

3.7. Zusammenfassung....................................................................................................40<br />

4. Die musikalische Realisierung........................................................................................43<br />

4.1. Musikalische Anlage <strong>und</strong> Großform .....................................................................45<br />

4.2. Nr. I............................................................................................................................48<br />

4.3. Nr. II. Les Rameaux (<strong>Das</strong> Palmfest) .......................................................................57<br />

4.4. Nr. III. Le Discours au Temple (Der Disput im Tempel).......................................60<br />

4.5. Nr. IV. La Sainte Cène (<strong>Das</strong> heilige Abendmahl)..................................................64<br />

4.6. Nr. V. Géthsémané (Gethsemane) ............................................................................66<br />

4.7. Nr. VI.........................................................................................................................67<br />

4.8. Nr. VII. Jésus devant le Sanhédrin (Jesus vor dem Hohen Priester) ......................69<br />

4.9. Nr. VIII. Jésus devant Pilate (Jesus vor Pilatus).......................................................71<br />

4.10. Nr. IX. Le Calvaire (Kalvaria)................................................................................73<br />

4.11. Nr. X ........................................................................................................................74<br />

5. Zusammenfassung <strong>und</strong> Ausblick...................................................................................76


6. Quellen- <strong>und</strong> Literaturverzeichnis.................................................................................80<br />

6.1. Notenausgaben .........................................................................................................80<br />

6.2. Textquellen................................................................................................................80<br />

6.3. Äußerungen <strong>von</strong> <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong>...............................................................................80<br />

6.4. Literatur .....................................................................................................................82<br />

7. Anhang I. Übersicht über die nichtevangelischen Texte ...............................................i<br />

8. Anhang II. Klavierauszug Nr. I ......................................................................................vii


1. Einleitung<br />

<strong>Das</strong> Thema der vorliegenden Arbeit ist das <strong>Oratorium</strong> <strong>„Golgotha“</strong> <strong>von</strong> <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong>.<br />

Dieses Werk lernte ich kennen <strong>und</strong> schätzen, als ich zu zwei Aufführungen des<br />

<strong>Oratorium</strong>s im April 2004 in der Freiburger Christuskirche für die Ausführung des<br />

Orgelparts engagiert wurde. Eine kurz zuvor erlebte Aufführung andernorts vermochte<br />

mich, der ich das Werk erstmals hörte, kaum zu berühren, doch während der<br />

Probenarbeit begann mich die Musik mehr <strong>und</strong> mehr zu beschäftigen. Die Reaktionen<br />

des Freiburger Publikums waren hingegen bemerkenswert: Emotional bewegt<br />

verharrte eine Reihe <strong>von</strong> Zuhörern noch minutenlang schweigend auf ihren<br />

Plätzen, der außergewöhnlichen Passion nachsinnend. Was ist der Gr<strong>und</strong> dafür, begann<br />

ich mich zu fragen. Wie vermag diese „neue Vision der Leiden <strong>und</strong> des Sieges<br />

Jesu Christi“ – so der Titel der Einführung im Programmheft 1 –, dieses große, aber<br />

nicht pompöse <strong>und</strong> in seiner Haltung einfache <strong>und</strong> bescheidene Werk des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

eine solche Wirkung zu erzeugen?<br />

Zwei Detailstudien zu <strong>„Golgotha“</strong> sind bisher veröffentlicht worden, zum einen die<br />

Dissertation <strong>von</strong> Mardia Melroy 2 1988, deren Fotokopie mir die Paul-Sacher-Stiftung<br />

Basel als offenbar einziges Exemplar in europäischen Bibliotheken fre<strong>und</strong>licherweise<br />

zur Verfügung stellte, <strong>und</strong> zum anderen ein vierteiliger Zeitschriftenartikel <strong>von</strong> Magda<br />

de Meester 3 1992 – 1994. Während Magda de Meester primär <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong>s Vokalstil<br />

mit seinen engen Wort-Ton-Beziehungen <strong>und</strong> seiner Sprachdeklamation <strong>und</strong><br />

in zweiter Linie seine musikalische Setzweise mit der tonalen Anlage untersucht, zielt<br />

Mardia Melroy in ihrer ausführlichen Analyse auf die Einordnung des <strong>Oratorium</strong>s in<br />

die Chormusik des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts. Daneben existieren eine Reihe <strong>von</strong> kürzeren<br />

Aufsätzen sowie Besprechungen des Werkes in umfangreicheren <strong>Martin</strong>-Studien 4 , auf<br />

die ebenfalls im Literaturverzeichnis verwiesen ist.<br />

<strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong> galt zu Lebzeiten als „ein querständiger Vertreter“ 5 der Musik des vergangenen<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts, eine Publikation des <strong>Martin</strong>-Forschers Bernhard Billeter trug<br />

1 Vgl. Seedorf 2004 (hier <strong>und</strong> im Folgenden vgl. Kap. 6. Quellen- <strong>und</strong> Literaturverzeichnis).<br />

2 Vgl. Kap. 6.4. Quellen- <strong>und</strong> Literaturverzeichnis. Literatur.<br />

3 Vgl. ebd.<br />

4 Vgl. Billeter 1970; Billeter 1990; Billeter 1999; Brandt; Halbreich; Klein; Perroux.<br />

5 Lütteken, Sp. 1172.<br />

1


1970 gar den Untertitel „Ein Außenseiter der neuen Musik“ 6 . Künstler wie <strong>Frank</strong><br />

<strong>Martin</strong>, denen es fern stand, den avantgardistischen Zeitgenossen bei der Weiterentwicklung<br />

der seriellen Kompositionsweise unter Einsatz elektronischer Mittel,<br />

Aleatorik, grafischer Notation oder neuartiger Spielweise der Instrumente nachzueifern,<br />

wurden als konservativ eingestuft <strong>und</strong> an den Rand der „Neuen Musik“ gedrängt.<br />

Mittlerweile, dreißig Jahre nach seinem Ableben, ist man sich der Einzigartigkeit<br />

seines musikalischen Stils bewusst 7 , man bezeichnet ihn als Klassiker der Moderne<br />

8 , <strong>und</strong> es scheint, dass seine Musik die Aussicht hat ein neues Publikum zu erreichen<br />

<strong>und</strong> zu ergreifen 9 .<br />

Doch was trägt zu diesem Personalstil bei <strong>und</strong> welche Aspekte spielen dabei eine<br />

Rolle? Ein Kritiker der Uraufführung <strong>von</strong> <strong>„Golgotha“</strong> im April 1949 gibt in seinem<br />

Bericht in der Schweizerischen Musikzeitung folgende Hinweise, zunächst zur Zusammenstellung<br />

der Textvorlage: „[Pour] donner une impression digne du sujet, noble et grandiose[…],<br />

<strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong> a rédigé lui-même son ‚livret’, extrêmement concentré, dépouillé, direct.“ 10<br />

(Um der Thematik einen angemessenen, würdevollen <strong>und</strong> erhebenden Eindruck zu<br />

verleihen, hat <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong> sein „Libretto“ selbst verfasst, äußerst dicht, knapp <strong>und</strong><br />

direkt. 11 ) An anderer Stelle bemerkt er: „Von diesem imposanten Werk wäre fast jede<br />

Seite der Partitur auf ihren religiösen Gehalt zu untersuchen.“ 12<br />

Zur musikalischen Umsetzung äußert er sich wie folgt: „Son langage est ici multiple à<br />

l’extrême; les éléments les plus divers et les plus opposés s’y trouvent réunis. C’est ainsi que la psalmodie<br />

grégorienne voisine avec l’arioso et l’instrument obligé […]; le contrepoint avec l’homophonie<br />

palestrinienne; le procédé des douze tons indépendants de Schoenberg avec les accords parfaits et les<br />

rythmes et mélodies de la chanson populaire“ 13 . (Seine musikalische Sprache ist hier außer-<br />

6 Billeter 1970.<br />

7 Vgl. Billeter 2001, S. 909: „[…] his music always retained a recognizable so<strong>und</strong>, a personal style.“<br />

8 Vgl. Billeter 1999, S. 8.<br />

9 Vgl. Perroux 2001, S. 137: „[…] il est probable que la music de <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong> a des chances de toucher un<br />

nouveau public.“<br />

10 Tappolet 1949, S. 262.<br />

11 Alle Übersetzungen des Verfassers verfolgen ausschließlich eine sinngemäße, keine wörtliche Übersetzung<br />

der originalen Quelle. Auslassungen <strong>und</strong> verbindende Zusätze sind in der Übersetzung nicht<br />

kenntlich gemacht. Gelegentlich fließen auch Übertragungen des Originaltextes in eine weitere Sprache<br />

mit in die Übersetzung ein, was nicht explizit gekennzeichnet ist.<br />

12 Tappolet 1960, S. 281.<br />

13 Tappolet 1949, S. 262 f.<br />

2


ordentlich vielfältig. Die verschiedensten <strong>und</strong> gegensätzlichsten Elemente finden sich<br />

vereinigt: Da trifft die gregorianische Psalmodie auf das Arioso mit obligatem Soloinstrument,<br />

der kontrapunktische Satz steht neben der Homofonie nach Art Palestrinas<br />

<strong>und</strong> die Schönbergsche Zwölftontechnik neben perfekten Konsonanzen <strong>und</strong> dem<br />

Volkslied entlehnten Rhythmen <strong>und</strong> Melodien.)<br />

Der Dirigent der Uraufführung, Samuel Baud-Bovy, fügt hinzu: „[…] archaïsme et<br />

modernisme sont si indiscernablement unis qu’il résulte une langage comme intemporel.“ 14 (<strong>Archaisierendes</strong><br />

<strong>und</strong> Modernes sind so miteinander verb<strong>und</strong>en, dass es kaum zu unterscheiden<br />

ist; daraus ergibt sich sozusagen eine zeitlose Sprache.)<br />

Diese ersten Eindrücke <strong>von</strong> Zeitzeugen sollen dazu Anlass geben, in der vorliegenden<br />

Arbeit das <strong>Oratorium</strong> <strong>„Golgotha“</strong> <strong>von</strong> <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong> näher zu beleuchten.<br />

Sie gliedert sich folgendermaßen: Nach einem biografischen Abriss zum<br />

Komponisten bis zur Werkentstehung mit Bemerkungen zu seiner musikalischen<br />

Ausbildung <strong>und</strong> stilistischen Entwicklung werden vor <strong>Martin</strong>s religiösem<br />

Hintergr<strong>und</strong> die Entstehungsgeschichte <strong>von</strong> <strong>„Golgotha“</strong> dargestellt <strong>und</strong> allgemeine<br />

Hinweise zum Werk gegeben.<br />

Um dem religiösen Gehalt des Werkes näher zu kommen, werden anschließend Herkunft<br />

<strong>und</strong> Aussage der verwendeten Texte aufgezeigt <strong>und</strong> ihre Zusammenstellung<br />

untersucht unter Bezugnahme darauf, inwiefern die Textauswahl an Traditionen anknüpft<br />

<strong>und</strong> wodurch sie sich gegenüber überlieferten Passionsoratorien hervorhebt.<br />

Im 4. Kapitel sollen die musikalische Realisation thematisiert <strong>und</strong> charakteristische<br />

Momente der Partitur aufgezeigt werden; um diese Ausführungen nachvollziehen zu<br />

können, ist die parallele Lektüre des Klavierauszugs 15 <strong>von</strong> <strong>„Golgotha“</strong> erforderlich.<br />

Es sei vorausgestellt, dass Textvorlage <strong>und</strong> musikalische Umsetzung offensichtlich<br />

nicht getrennt <strong>von</strong>einander stehen <strong>und</strong> im Zusammenhang betrachtet werden müssen.<br />

Obgleich die Kompilation der Texte hinsichtlich der Gesamtkonzeption entstanden<br />

ist, wird sie zunächst isoliert behandelt werden.<br />

14 Baud-Bovy, S. 254.<br />

15 Vgl. Kap. 6.1. Quellen- <strong>und</strong> Literaturverzeichnis. Notenausgaben.<br />

3


2. Voraussetzungen: Komponist <strong>und</strong> Werk<br />

<strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong> hat sich in seinem Leben häufig über seine stilistische Entwicklung <strong>und</strong><br />

musikalischen Einflüsse, seine Werke <strong>und</strong> über die Musik im Allgemeinen geäußert.<br />

Zu seinen Werken schrieb er Einführungstexte, die seine Frau Maria <strong>Martin</strong> unter<br />

dem Titel A propos de…, commentaires de <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong> sur ses œuvres 16 gesammelt <strong>und</strong><br />

herausgegeben hat. Briefe <strong>und</strong> weitere Aufsätze sind in der Sammlung: <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong>:<br />

Un compositeur médite sur son art 17 zusammengestellt, Aufzeichnungen <strong>von</strong> Gesprächen<br />

<strong>und</strong> Interviews finden sich in dem Buch Entretiens sur la musique 18 (<strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong>/Piguet,<br />

Jean-Claude) sowie in dem unter <strong>Martin</strong>s Namen herausgegebenen Zeitschriftenartikel<br />

Entretiens avec <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong> 19 . Seine wichtigsten Zitate sind in dem<br />

Ausstellungskatalog anlässlich seines zehnten Todestages <strong>von</strong> der <strong>Frank</strong>-<strong>Martin</strong>-<br />

Gesellschaft zusammengetragen; dieser Katalog ist sowohl in französischer Sprache 20<br />

als auch in deutscher Übersetzung 21 erschienen. Auf die erwähnten mündlichen <strong>und</strong><br />

schriftlichen Äußerungen ist im Quellen- <strong>und</strong> Literaturverzeichnis hingewiesen.<br />

2.1. Biografischer Abriss <strong>und</strong> stilistische Einflüsse<br />

<strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong> entstammte einer alten französisch-hugenottischen Familie, die sich in<br />

Genf niedergelassen hatte; er wurde am 15. September 1890 als zehntes <strong>und</strong> letztes<br />

Kind eines kalvinistischen Pfarrers in eine wohlhabende Familie geboren, in der das<br />

gemeinsame Musizieren eine wichtige Rolle spielte, weshalb er sich <strong>von</strong> Kindheit an<br />

wie in Musik getaucht fühlte 22 . Der Besuch einer Aufführung <strong>von</strong> Bachs Matthäus-<br />

Passion 1903 stellte sich als prägend für seine Entwicklung heraus; rückblickend berichtet<br />

er: „Je devais avoir onze ans et demi lorsque j’entendis pour la première fois la ‚Passion<br />

selon saint Matthieu’: ce fut pour moi la révélation d’un autre monde et durant toute l’audition j’eus<br />

comme une sorte d’extase: je ne savais plus où j’étais, je me trouvais transporté ailleurs, du début à<br />

la fin de cette Passion. Je dois dire que cette expérience d’enfance m’a marqué d’une façon extraordi-<br />

16 Vgl. <strong>Martin</strong>, Maria 1984.<br />

17 Vgl. <strong>Martin</strong> 1977.<br />

18 Vgl. <strong>Martin</strong> 1967.<br />

19 Vgl. <strong>Martin</strong> 1975.<br />

20 Vgl. Société <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong>.<br />

21 Vgl. <strong>Frank</strong>-<strong>Martin</strong>-Gesellschaft.<br />

22 Vgl. Société <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong>, S. 3: „De sorte que j’ai été baigné dans la musique dès mon enfance, dès ma naissance“.<br />

4


naire et qu’elle ne s’est jamais renouvelée par la suite“ 23 . (Ich muss elfeinhalb Jahre alt gewesen<br />

sein, als ich zum ersten Mal die Matthäus-Passion hörte. <strong>Das</strong> war für mich wie<br />

eine Offenbarung aus einer anderen Welt <strong>und</strong> während der ganzen Aufführung saß<br />

ich da wie in einem Zustand <strong>von</strong> Ekstase: Ich wusste nicht mehr, wo ich war, <strong>und</strong><br />

fand mich vom Anfang bis zum Ende der Passion anderswohin <strong>und</strong> wie in den<br />

Himmel versetzt 24 . Ich muss zugeben, dass mich dieses Kindheitserlebnis in besonderer<br />

Weise geprägt <strong>und</strong> sich eine derartige Erfahrung später nicht wiederholt<br />

hat.)<br />

Seine musikalische Ausbildung in den Fächern Klavier, Harmonielehre, Komposition<br />

<strong>und</strong> Instrumentation erhielt er ab dem sechzehnten Lebensjahr bei seinem einzigen<br />

Lehrer, dem Genfer Komponisten <strong>und</strong> Kapellmeister Joseph Lauber, einem Schüler<br />

Joseph Gabriel Rheinbergers. Dieser lehrte ihn neben einer guten <strong>und</strong> melodischen<br />

Stimmführung besonders die an der klassischen Musik orientierte Harmonielehre,<br />

ohne ihn allerdings jemals Kontrapunktübungen schreiben zu lassen 25 . Der Unterricht<br />

kohärierte mit seinem ohnehin ausgeprägten Primat der Harmonie über die<br />

Melodie: schon als Knabe hatte er sich sehr viel mehr für die Harmonie interessiert<br />

als für die Melodie; <strong>und</strong> für ihn war die Melodie so mit der Harmonie verb<strong>und</strong>en,<br />

dass er sie nicht einstimmig bilden wollte, sondern das Bedürfnis empfand sie –<br />

gleichwohl autodidaktisch – nach seiner Art zu harmonisieren 26 . Eine Hochschulausbildung<br />

genoss <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong> nicht, dies nach Laurenz Lütteken „durchaus ein Zeichen<br />

der lebenslangen Unangepasstheit“ 27 , sein auf Anraten der Eltern begonnenes<br />

Mathematik- <strong>und</strong> Physikstudium brach er nach zweijähriger Studienzeit im Alter <strong>von</strong><br />

zwanzig Jahren ab.<br />

Seit dem geschilderten Schlüsselerlebnis der Matthäus-Passion war in <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong><br />

der Wunsch entstanden sich ganz der Musik zuzuwenden <strong>und</strong> schließlich auch gegen<br />

die elterlichen Widerstände einen Musikerberuf zu ergreifen. Da das Musikleben sei-<br />

23 <strong>Martin</strong> 1975, S. 9.<br />

24 Vgl. <strong>Martin</strong> 1967, S. 114: „[…] j’ai été comme transporté au ciel.“<br />

25 Vgl. ebd., S. 15 f.: „Il m’a donné des leçons d’harmonie qui étaient extrêmement sûres, sans pour ainsi dire me faire<br />

du contrepoint. […] Il m’a appris, dans les études d’harmonie, une conduite des voix toujours bonne, toujours mélodique<br />

[…]. C’était l’harmonie classique.“<br />

26 Vgl. ebd., S. 11 ff.: „[…] j’étais toujours au piano à essayer des choses et à jouer des mélodies, à les harmoniser à<br />

ma façon […]; je m’intéressais dans ma jeunesse infiniment plus à l’harmonie qu’à la mélodie, et la mélodie était pour<br />

moi une chose tellement liée à l’harmonie que je ne pouvais pas la concevoir toute seule.“<br />

27 Lütteken, Sp. 1169.<br />

5


ner Heimatstadt <strong>von</strong> Komponisten deutscher Herkunft geprägt war, lernte er auch<br />

die Musik <strong>von</strong> Mozart, Schumann, Mahler <strong>und</strong> Strauss kennen <strong>und</strong> lieben, an sein<br />

Bach-Erlebnis war er jedoch lange Zeit geb<strong>und</strong>en: „[…] j’étais dans Bach, encore dans<br />

Bach et dans Bach toujours, et je ne sortais pour ainsi dire pas de là.“ 28 (Ich hatte nichts als<br />

Bach, Bach <strong>und</strong> nochmal Bach im Kopf, <strong>und</strong> kam da<strong>von</strong> in gewisser Weise nicht<br />

los.) Allein die Klavierwerke César Francks <strong>und</strong> deren Harmonik vermochten ihn<br />

<strong>von</strong> dieser Geb<strong>und</strong>enheit zu lösen 29 , <strong>und</strong> während des Ersten Weltkrieges, in dem er<br />

für drei Jahre seinem Wehrdienst nachkommen musste, erweiterte er seinen Horizont<br />

um die Musik <strong>von</strong> Fauré, Debussy <strong>und</strong> Ravel 30 .<br />

Die Begegnung <strong>und</strong> Auseinandersetzung mit den französischen Impressionisten, die<br />

ihm insbesondere durch den Dirigenten Ernest Ansermet ermöglicht wurde, der mit<br />

seinem Orchestre de la Suisse romande die französische Musik in Genf eingeführt hatte<br />

<strong>und</strong> dem <strong>Martin</strong> später in lebenslanger enger Fre<strong>und</strong>schaft verb<strong>und</strong>en bleiben sollte,<br />

gab <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong> den Anstoß, sich <strong>von</strong> seiner bis dahin weitgehend funktionsharmonisch<br />

geprägten Kompositionsweise zu entfernen. Besonders die Beschäftigung<br />

mit der Tonsprache <strong>von</strong> Debussy, die für <strong>Martin</strong> „zu einem zweiten<br />

Schlüsselerlebnis nach Bachs Matthäus-Passion“ 31 wurde <strong>und</strong> „<strong>von</strong> deren<br />

harmonischer Subtilität er sich rasch angezogen fühlte“ 32 , stellte sich als bereichernd<br />

heraus: Debussy wurde „für <strong>Martin</strong> zu einem wahren Lehrer in der Harmonielehre“<br />

33 : „[…] c’est chez lui que j’ai trouvé le procédé du transport des accords parallèles […]. Je<br />

leur fais dire autre chose que Debussy, mais c’est de lui que je tiens la base même de cette<br />

technique.“ 34 (Bei ihm habe ich das Verfahren der sich parallel verschiebenden<br />

Akkorde entdeckt. Bei mir besagen diese Akkorde etwas anderes, aber <strong>von</strong> ihm habe<br />

ich die eigentliche Gr<strong>und</strong>lage dieser Technik übernommen. 35 ) Seine „Quatre Sonnets<br />

à Cassandre“ <strong>von</strong> 1921 – das früheste Werk, das er später als gültig annahm – zeigen<br />

seine in diesem Stadium zunächst selbst auferlegte Beschränkung auf modale Tonleitern<br />

<strong>und</strong> reine Dur- <strong>und</strong> Molldreiklänge innerhalb eines linearen <strong>und</strong> bewusst<br />

28 <strong>Martin</strong> 1967, S. 113.<br />

29 Vgl. ebd.: „Or César Franck m’en a sorti.“<br />

30 Vgl. Melroy, S. 5 f.: „It was during the years of the first World War that he discovered Franck, for whose harmonic<br />

practice he had particular affinity, Fauré, Debussy, and Ravel.”<br />

31 Billeter 1999, S. 51.<br />

32 Schüssler, S. 38.<br />

33 Kämper, S. 18.<br />

34 <strong>Martin</strong> 1967, S. 117.<br />

35 Der zweite Satz folgt der Übersetzung in: Kämper, S. 18.<br />

6


archaischen Stils, klassisch-romantische funktionsharmonische Wendungen <strong>und</strong><br />

Spannungsklänge vermeidend 36 .<br />

Doch „die asketische Selbstbeschränkung im Harmonischen verlangte nach einem<br />

Ausgleich“ 37 <strong>und</strong> <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong> begann „mit rhythmischen Konstruktionen, die einerseits<br />

auf der Antike, andererseits auf Rhythmen aus der östlichen Volksmusik basieren“<br />

38 zu experimentieren. So zielt beispielsweise sein Orchesterwerk „Rythmes“<br />

(1926) darauf, rhythmische Verfahren verschiedener Epochen <strong>und</strong> Länder aufzugreifen<br />

39 : „der alten Griechen, des fernen Ostens <strong>und</strong> der Balkan-Halbinsel“ 40 . Seine<br />

Untersuchungen auf dem Gebiet der Rhythmik führten ihn an das <strong>von</strong> Emile Jaques-<br />

Dalcroze neu gegründete Institut für rhythmisch-musikalische Erziehung in Genf,<br />

wohin er nach einigen Jahren des Reisens <strong>und</strong> Experimentierens in Zürich, Rom <strong>und</strong><br />

Paris zurückkehrte <strong>und</strong> wo er <strong>von</strong> 1928 bis 1938 Improvisation <strong>und</strong> Theorie des<br />

Rhythmus lehrte. Nach dessen Schließung wurde er Professor für Kammermusik am<br />

Genfer Konservatorium.<br />

Der Zwölftonidee verschloss sich <strong>Martin</strong> – im Gegensatz zu seinen ebenfalls als konservativ<br />

eingestuften Zeitgenossen wie Arthur Honegger, Willy Burkhard oder Paul<br />

Hindemith – nicht. Dabei ging es ihm jedoch ausschließlich um eine Erweiterung<br />

seiner bis dahin errungenen Mittel <strong>und</strong> „um die Überwindung der ‚modalen’<br />

Schreibweise durch eine Technik, die dazu zwingt, immer wieder neue, unverbrauchte<br />

Tonstufen ins Spiel zu bringen“ 41 , denn Schönbergs ästhetische Ansichten<br />

<strong>und</strong> dessen Theorie der Atonalität an sich lehnte er r<strong>und</strong>weg ab: „Der partielle Gebrauch<br />

der Zwölftontechnik hat mir geholfen, mich aus den Fesseln erworbener<br />

Gewohnheiten <strong>und</strong> fertiger Formeln zu befreien. Wohin ich der Schule Schönbergs<br />

niemals folgen konnte, das war auf das Gebiet der Atonalität: Dagegen wehrt sich<br />

mein ganzes musikalisches Empfinden.“ 42 Atonale Komposition sei „ihm <strong>und</strong> der<br />

36 Vgl. Billeter 2001, S. 908: „[…] he moved to a linear, consciously archaic style, restricted to modal melody and<br />

perfect triads and evading the tonal gravitation of Classical and Romantic harmony.”<br />

37 Billeter 1999, S. 56.<br />

38 Mohr, Sp. 1707.<br />

39 Vgl. Zitat <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong> in: <strong>Martin</strong>, Maria 1984, S. 16: „J’ai essayé dans ces mouvements symphoniques,<br />

d’introduire dans mon écriture musicale des procédés rythmiques de diverses époques et de divers pays“.<br />

40 Kämper, S. 20.<br />

41 Billeter 1999, S. 67.<br />

42 Zitat <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong> in: Klein, S. 14.<br />

7


gesamten westlichen Musikwelt völlig wesensfremd“ 43 , die dogmatisch-reine Anwendung<br />

der Dodekafonie eine „aberration“ 44 (Verirrung), die mit seinem ästhetischen<br />

Anspruch auf Schönheit nicht vereinbar war: „In der Musik ist das Ergebnis<br />

Schönheit, in der Mathematik Wahrheit. Die mathematische Wahrheit ist ein Zwang<br />

<strong>und</strong> indiskutabel; die Schönheit muss aber überzeugen.“ 45 Ohne sich der strengen<br />

Reihentechnik im Schönbergschen Sinn zu bedienen, gelang es ihm „die dodekafonische<br />

Technik mit seinem harmonischen <strong>und</strong> tonalen Empfinden in individueller<br />

Weise zu verbinden.“ 46<br />

Nach diesen grob skizzierten periodischen Abschnitten mit ihren verschiedenen Einflüssen<br />

waren für <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong> die Voraussetzungen gegeben, die nach einer langen<br />

Zeit des Suchens nach einem eigenen Stil zu seiner persönlichen <strong>und</strong> unverwechselbaren<br />

Tonsprache führten; diese fand in seinem Kammeroratorium „Le Vin Herbé“<br />

(1938 – 1941), das ihm im Übrigen die Anerkennung eines großen Publikums brachte<br />

<strong>und</strong> seinen Bekanntheitsgrad schlagartig erhöhte, seine erste charakteristische<br />

Ausprägung. Selbst schildert er diesen Werdegang <strong>und</strong> seine Errungenschaften so:<br />

„Cela a été ma traversée passionnante, certes, mais rude, à la recherche d’un langage tout nouveau<br />

pour moi, qui puisse satisfaire en même temps mon sens de la tonalité, mon appétit de dissonances<br />

fonctionnelles et le goût que j’avais toujours eu très vif pour le chromatisme à la manière de Bach. La<br />

pratique, aussi stricte que possible, mais pourtant libre, des séries de douze tons, de même que la<br />

règle d’éviter ou de masquer les rencontres d’octave ou d’unisson, m’ont puissamment aidé à me libérer<br />

de beaucoup d’habitudes qui, à mon sens, ne sont pas fondamentales de la musique harmonique,<br />

bien qu’elles aient régné en maîtresses sur toute la musique classique et romantique.“ 47 (Es war<br />

sicher ein spannender, aber rauer <strong>und</strong> harter Weg, mir eine ganz neue musikalische<br />

Sprache anzueignen, die zur gleichen Zeit meinem Verständnis <strong>von</strong> Tonalität, meinem<br />

Verlangen nach funktionalen Dissonanzen <strong>und</strong> meiner stark ausgeprägten Vorliebe<br />

für die Chromatik nach Bachscher Art nachkäme. Die Einbeziehung <strong>von</strong><br />

Zwölftonreihen, so streng wie möglich, aber mit der nötigen Freiheit, sowie die Regel,<br />

Oktaven <strong>und</strong> Einklänge zu vermeiden oder zu verschleiern, haben mir sehr geholfen<br />

viele Gewohnheiten abzulegen, die meines Erachtens nicht gr<strong>und</strong>legend für<br />

43 Schüssler, S. 39.<br />

44 Kämper, S. 16.<br />

45 Zitat <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong> in: Klein, S. 20.<br />

46 Mohr, Sp. 1707.<br />

47 <strong>Martin</strong> 1963, S. 86.<br />

8


harmonische Musik sind, wenngleich diese die ganze klassische <strong>und</strong> romantische<br />

Epoche beherrschten.)<br />

In „Le Vin Herbé“ sind exemplarisch „alle Charakteristika vereinigt, die <strong>von</strong> nun an<br />

den typischen, unverwechselbaren Stil <strong>Martin</strong>s“ 48 ausmachten: Der Chor erzählt <strong>und</strong><br />

kommentiert die Handlung, während einzelne Stimmen dialogische Passagen ausführen;<br />

die Melodik – die in kleinen Intervallen verläuft, die aber wiederum einen<br />

großen Tonumfang expressiv durchmessen – <strong>und</strong> der differenzierte, mit Ostinati<br />

durchsetzte <strong>und</strong> pulsierende Rhythmus beugen sich der sachlichen, syllabischen Deklamation<br />

der Textworte, die einen natürlichen Sprachrhythmus verfolgt;<br />

Zwölftonthemen tauchen generell nur in einer einzigen Stimme auf, oft in gleichmäßigen<br />

Notenwerten, manchmal als Ostinato, aber selten mit Oktavtranspositionen;<br />

in der Begleitung ist die Aufeinanderfolge <strong>von</strong> reinen, traditionellen<br />

Dreiklangsbildungen <strong>und</strong> scharfen Dissonanzen auffällig, oft über statischen Basstönen,<br />

durch die die jeweiligen tonalen Zentren determiniert sind; durch die<br />

„gleitende Tonalität“ 49 entsteht eine impressionistische, mit Chromatik gespickte<br />

Farbigkeit des Klanges 50 .<br />

<strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong> hatte zu seinem Stil der Reife gef<strong>und</strong>en, denn weitgehend wurden die<br />

zusammengefassten Merkmale auch für seine späteren Kompositionen maßgebend.<br />

Nichtsdestotrotz ging ihm die Neukomposition eines Werkes auch in der Folge nicht<br />

leicht <strong>von</strong> der Hand, was er gelegentlich auch als „horror vacui“ 51 zu bezeichnen<br />

pflegte: „[…] j’ai beaucoup de peine à me mettre à faire de la musique pure; car encore faut-il que<br />

la musique exprime quelque chose. Et je ne sais pas qu’exprimer lorsque je commence un morceau de<br />

musique.“ 52 (Ich habe große Mühe reine Musik zu schreiben. Denn die Musik muss<br />

etwas ausdrücken, <strong>und</strong> ich weiß nicht, was ausdrücken, wenn ich ein Musikstück beginne.<br />

53 ) In Vokalwerken bereitete ihm die Textvorlage insofern eine günstige Aus-<br />

48 Schüssler, S. 40.<br />

49 Vgl. Billeter 1999, S. 15: „Wir werden diese Art der Tonalität, in welcher nicht alles in einem musikalischen<br />

Zusammenhang auf denselben Zentralton bezeichnet werden kann (gewöhnliche Definition<br />

der Tonalität), die tonalen Gesetze, die sich durch die Tonverwandtschaftsgrade des Quintenzirkels<br />

ausdrücken lassen, aber dennoch gleichsam als musikalische ‚Gravitation’ unangetastet bleiben, eine<br />

‚gleitende Tonalität’ nennen.“<br />

50 Zu diesem Absatz vgl. Schüssler, S. 40; Billeter 2001, S. 909.<br />

51 Billeter 1999, S. 85.<br />

52 <strong>Martin</strong> 1967, S. 32.<br />

53 Übersetzung in: Billeter 1999, S. 85.<br />

9


gangsposition, als er sich auf die Aussage des Textes <strong>und</strong> seine musikalische Interpretation<br />

konzentrieren konnte. Werke mit geistlicher Textvorlage <strong>von</strong> <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong><br />

waren aber bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht veröffentlicht worden, was angesichts<br />

seiner christlichen Erziehung als Pfarrerssohn in einer Familie, in der „oft <strong>und</strong> offen<br />

Fragen des Glaubens diskutiert“ 54 wurden <strong>und</strong> seiner ständigen Konfrontation mit<br />

<strong>und</strong> Hochschätzung <strong>von</strong> Kirchenmusik verw<strong>und</strong>ert. Es muss also im Folgenden um<br />

die Aspekte seines religiösen Hintergr<strong>und</strong>s, seines Glaubens <strong>und</strong> dessen Ausdrucksmöglichkeiten<br />

gehen, die in engem Zusammenhang zu der Entstehung <strong>von</strong> religiöser<br />

Musik <strong>und</strong> im Speziellen seines <strong>Oratorium</strong>s <strong>„Golgotha“</strong> stehen.<br />

2.2. Der religiöse Hintergr<strong>und</strong><br />

<strong>Das</strong> anfangs erwähnte, ein Jahr vor seinem Ableben (am 21. November 1974) mit<br />

dem französischen Mönch Dom Angelico Surchamp geführte <strong>und</strong> unter dem Titel<br />

Entretiens avec <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong> posthum erschienene Gespräch ist eine wichtige Quelle<br />

bezüglich der religiösen Inhalte in <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong>s Leben. Hier äußert er sich zu seiner<br />

langjährigen zurückhaltenden Einstellung, über seinen Glauben zu sprechen: „Il me<br />

faut d’abord évoquer une longue période de ma vie durant laquelle j’ai éprouvé de grandes difficultés<br />

à l’égard de mon sentiment religieux, sans doute en raison d’une réaction contre le milieu familial.<br />

[…] Il y avait, dans mon attitude jusqu’à ‚In Terra Pax’, une sorte de grande pudeur à l’égard de<br />

mon sentiment religieux et cela venait, au fond, de ce que je ne le comprenais pas.“ 55 (Ich muss<br />

zunächst auf einen langen Zeitraum meines Lebens hinweisen, während dem ich<br />

größte Schwierigkeiten hinsichtlich meiner religiösen Empfindungen hatte, was zweifelsohne<br />

als Reaktion auf mein familiäres Umfeld zu werten ist. Was mein religiöses<br />

Gefühl anbetraf, so war meine Haltung bis zu ‚In Terra Pax’ [1944] <strong>von</strong> einer großen<br />

Schamhaftigkeit bestimmt, <strong>und</strong> das kam daher, dass ich es im Gr<strong>und</strong>e nicht verstand.<br />

56 )<br />

Um zu einer eigenen Positionsbestimmung zu gelangen, seinen Glauben zu begreifen<br />

<strong>und</strong> letztlich diese Empfindungen zu artikulieren, hatte er sich nämlich zunächst <strong>von</strong><br />

den erfahrenen Traditionen <strong>und</strong> Einflüssen im Elternhaus distanzieren müssen: „Je<br />

54 Flaig, S. 9.<br />

55 <strong>Martin</strong> 1975, S. 11 f.<br />

56 Der zweite Satz folgt der Übersetzung in: <strong>Frank</strong>-<strong>Martin</strong>-Gesellschaft, S. 95.<br />

10


este très reconnaissant envers mes parents pour tout ce qu’ils m’ont donné, mais j’ai été obligé, tout<br />

en gardant mon sentiment religieux profondément ancré en moi (le besoin d’écrire des œuvres religieuses<br />

pour moi en est la preuve), d’en supprimer momentanément l’expression intellectuelle. Mon père,<br />

à vrai dire, n’était pas du tout dogmatique: il était simple, vivant. Très religieux, il m’avait inculqué<br />

des formes religieuses et j’ai été, en quelque sorte, obligé de détruire d’abord ces formes et, à cette<br />

époque même, j’éprouvais le besoin d’exprimer musicalement mon sentiment religieux, même si, intellectuellement,<br />

je ne croyais pas ou pensais ne pas croire.“ 57 (Ich bin nach wie vor meinen<br />

Eltern sehr dankbar für alles, was sie mir gegeben haben, aber ich konnte nicht<br />

umhin – auch wenn mein religiöses Gefühl tief in mir verankert blieb (das Bedürfnis,<br />

religiöse Werke zu schreiben, ist für mich ein Beweis dafür) –, dessen intellektuellen<br />

Ausdruck zeitweilig zu unterbinden. Mein Vater war eigentlich gar nicht dogmatisch,<br />

er war einfach <strong>und</strong> lebhaft. Selbst sehr religiös, hatte er mir religiöse Formen beigebracht,<br />

<strong>und</strong> ich war in gewissem Sinn gezwungen, zuerst diese Formen zu zerbrechen;<br />

doch zur gleichen Zeit empfand ich das Bedürfnis, mein religiöses Gefühl<br />

durch Musik auszudrücken, selbst wenn ich mit dem Verstand nicht glaubte, oder<br />

nicht zu glauben vermeinte. 58 )<br />

Dieses Bedürfnis <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong>s, religiöse Werke zu schreiben, ohne seinem Glauben<br />

seiner Ansicht nach intellektuell gewachsen zu sein, bezieht sich auf zwei Stücke aus<br />

den 1920er Jahren, die lange Zeit unveröffentlicht blieben: seine Messe für zwei vierstimmige<br />

Chöre a cappella (komponiert 1922 <strong>und</strong> uraufgeführt 1963) sowie seine<br />

unvollendete „Cantate pour le temps de Noël“ (komponiert 1929 <strong>und</strong> uraufgeführt<br />

posthum 1994). Die religiöse Konstante in seinem Leben war ihm folglich geblieben,<br />

sein Gefühl hatte ihm jedoch gesagt, der Ausdruck seiner ureigenen <strong>und</strong> inneren<br />

religiösen Empfindungen sei am besten bei ihm selbst aufgehoben <strong>und</strong> müsse nicht<br />

an die Öffentlichkeit gelangen. In seinem im Mai 1946 erschienenen Aufsatz Le compositeur<br />

moderne et les textes sacrés, geschrieben anlässlich einer Aufführung <strong>von</strong> „In<br />

Terra Pax“, in dem er aber gleichzeitig sein <strong>Oratorium</strong> <strong>„Golgotha“</strong> erstmals ankündigt,<br />

äußert er zur Messe <strong>und</strong> zur Weihnachtskantate: „Par une sorte de pudeur instinctive,<br />

je n’ai rien fait pour que ces pièces soient exécutées. Il me suffisait entièrement de les avoir<br />

écrites, ceci contrairement à mon sentiment habituel qui veut qu’une œuvre ne soit pas vraiment finie<br />

lorsqu’elle n’a pas été jouée au public. Bien plus, je redoutais qu’elles fussent exécutées, car j’aurais<br />

57 <strong>Martin</strong> 1975, S. 12.<br />

58 Übersetzung in: <strong>Frank</strong>-<strong>Martin</strong>-Gesellschaft, S. 95.<br />

11


voulu qu’elles le fussent dans une église, sans nom d’auteur et comme une pièce même du culte. […]<br />

J’ai donc gardé ces œuvres dans mon tiroir (il n’est plus temps qu’elles en sortent) et j’en suis resté à<br />

l’expression de sentiments profanes“ 59 . (Aus einer Art unwillkürlichem Schamgefühl heraus<br />

habe ich mich überhaupt nicht darum gekümmert, dass diese Stücke aufgeführt<br />

würden. Es reichte mir voll <strong>und</strong> ganz sie niedergeschrieben zu haben, ganz im<br />

Gegenteil zu meiner sonstigen Ansicht, dass ein Werk erst dann vollends fertig gestellt<br />

ist, wenn es dem Publikum veröffentlicht wird. Ich befürchtete sogar, dass sie<br />

aufgeführt würden, denn ich hätte gewollt, dass sie erstens in der Kirche <strong>und</strong><br />

zweitens anonym zu Gehör gebracht würden, <strong>und</strong> dass man sie außerdem in die<br />

Liturgie integrieren würde. Also habe ich die Manuskripte bis heute in der Schublade<br />

aufbewahrt – denn noch ist die Zeit nicht da, dass sie zum Vorschein kommen – <strong>und</strong><br />

bin in der Folge dazu übergegangen meine weltlichen Gedanken auszudrücken.)<br />

Wiederum erklärt <strong>Martin</strong> seinen unfertigen Zustand vager Empfindungen mit dem<br />

Ausdruck der Schamhaftigkeit. Nicht, dass er sich seiner Werke schämte <strong>und</strong> diese<br />

keiner Kritik hätten standhalten können, vielmehr hätte ihre Veröffentlichung unter<br />

seinem Namen für ihn einen Eingriff in seine Intimsphäre bedeutet: „J’avais longtemps<br />

auparavant écrit une Messe pour double chœur a cappella, mais je ne tenais pas à ce qu’elle fût exécutée,<br />

craignant qu’on la juge d’un point de vue tout esthétique. Je la voyais alors comme une affaire<br />

antre Dieu et moi.“ 60 (Ich hatte schon lange eine Messe für doppelten A-cappella-Chor<br />

geschrieben, aber ich legte keinen Wert auf ihre Aufführung, denn ich befürchtete,<br />

dass man sie <strong>von</strong> einem rein ästhetischen Standpunkt her beurteilen würde. Ich sah<br />

sie als eine persönliche Angelegenheit zwischen mir <strong>und</strong> Gott an.)<br />

Aus dieser Äußerung wird deutlich: <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong> ging es um eine Standortbestimmung<br />

oder – besser gesagt – um seine Einstellung zur Komposition geistlicher Musik <strong>und</strong><br />

um die seiner Zeitgenossen. Auch dazu bezieht er Stellung in Le compositeur moderne et les<br />

textes sacrés (<strong>und</strong> wiederholt diese Stellungnahme, nur leicht verändert, knapp zwanzig<br />

Jahre später in seinem Aufsatz Golgotha. Original d’un article écrit à la demande de Robert<br />

Stephan Hines 61 , was zeigt, dass seine Ansichten bestehen blieben). Zunächst fasst er die<br />

59 <strong>Martin</strong> 1946, S. 263.<br />

60 <strong>Martin</strong> 1975, S. 12.<br />

61 Vgl. <strong>Martin</strong> 1963; dieser Aufsatz, der größere Passagen aus früheren Artikeln mit geringfügigen<br />

Veränderungen aufgreift, entstand für die Publikation <strong>von</strong>: Hines, Robert Stephan: The Composer’s Point<br />

of View. Essays on Twentieth-Century Choral Music by Those Who Wrote It, University of Oklahoma Press<br />

1963.<br />

12


Situation der alten Meister zusammen, die Gebrauchsmusik für den Gottesdienst zu<br />

schreiben zu hatten <strong>und</strong> gewissermaßen Immunität genossen, da sich Komposition<br />

<strong>und</strong> Aufführung in einem vorgegebenen Rahmen abspielten, der über jede Kritik erhaben<br />

war. Diese Ausgangsposition sei für den Komponisten ideal gewesen. Die<br />

Zeiten hätten sich jedoch geändert, da zum einen die Finanzlage der Kirchen<br />

schlechter <strong>und</strong> die Aufführungsmittel unzureichend seien. Zum anderen sei die Kunst<br />

autonom geworden <strong>und</strong> aus dem kirchlichen Rahmen getrennt worden; mittlerweile<br />

zähle allein der individuelle künstlerische Wert. Dennoch sei das religiöse Werk nicht<br />

auf einer Ebene anzusiedeln wie das weltliche, wenn auch die Abgrenzung nicht einfach<br />

sei, da Erwägungen zu Thematik, Besetzung <strong>und</strong> musikalischen Mitteln einem<br />

Vorhaben gleich welcher der beiden Kategorien vorangingen:<br />

„Et pourtant, ce n’est pas la même chose. Je pense que dans l’œuvre d’art religieuse toute espèce<br />

d’artifice, l’esthétique elle-même, le plaisir de l’artiste à manier des voix, des sons et des formes devraient<br />

céder le pas à l’obligation tout intérieure d’exprimer sa foi et de convaincre. Je doute qu’il y<br />

ait beaucoup d’œuvres contemporaines qui aient éveillé dans les esprits un véritable sentiment religieux,<br />

revigoré une foi ou conduit un auditeur à une de ces méditations qui peuvent parfois nous<br />

mener au seuil d’une révélation, sinon jusqu’à elle. La plupart de ces œuvres nous ramènent à leur<br />

auteur; nous y pou<strong>von</strong>s admirer sa nouvelle réussite, peut-être son nouveau chef-d’œuvre. Mais<br />

l’œuvre d’art vraiment religieuse devrait faire oublier son auteur“ 62 . (Und dennoch ist es nicht<br />

das Gleiche. Wenn man mit einem religiösen Kunstwerk umgeht, müssen sich<br />

meiner Ansicht nach alle künstlerischen Aspekte – jegliche ästhetischen Vorbehalte<br />

<strong>und</strong> jede Freude des Künstlers an der Beschäftigung mit Stimmen, Klängen <strong>und</strong><br />

Formen – der inneren Notwendigkeit des Komponisten, seinem eigenen wahren<br />

Glauben in überzeugender Weise Ausdruck zu verleihen, unterordnen. Ich bezweifle,<br />

dass es viele zeitgenössische Werke gibt, die dem menschlichen Geist auch nur eine<br />

einzige religiöse Empfindung vermitteln können, den Glauben zu stärken vermögen<br />

oder die Eigenschaft haben, den Zuhörer derart zum Nachsinnen zu verleiten, dass<br />

ihm der Hauch einer Offenbarung widerfährt, wenn sie ihn schon nicht ganz einnimmt.<br />

Die meisten dieser Werke erinnern uns doch nur an denjenigen, der es geschrieben<br />

hat; da können wir dann seinen neuen Erfolg, vielleicht sein neues<br />

Meisterwerk bew<strong>und</strong>ern. <strong>Das</strong> wahrhaft religiöse Kunstwerk jedoch müsste seinen<br />

Urheber vergessen lassen.)<br />

62 <strong>Martin</strong> 1963, S. 83.<br />

13


Fortfahrend stellt er fest: Während die alten Meister den Anspruch gehabt hätten<br />

sich innerhalb der Norm auszudrücken <strong>und</strong> ihre Person hinter das Kunstwerk<br />

stellten, zeichne (leider) gerade der Individualitätsanspruch <strong>und</strong> die Überschreitung<br />

<strong>von</strong> bestehenden Vorgaben den modernen Komponisten aus. Zudem sei die veränderte<br />

<strong>und</strong> individualisierte Gesellschaft nicht mehr auf einen einheitlichen Glauben<br />

gegründet, weshalb die Vertonung <strong>von</strong> Bibeltexten allein kein allgemeines Verständnis<br />

mehr finde. Eine Chance liege in der Einbeziehung <strong>von</strong> mystischen Texten, verknüpft<br />

mit theologischen Anschauungen 63 .<br />

In der zitierten Passage bezieht sich <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong> explizit auf den Glauben, den es<br />

nach seiner Anschauung in einem Werk religiöser Musik als oberstes Prinzip auszudrücken<br />

gilt. Sein enger Fre<strong>und</strong> Ernest Ansermet konstatiert sogar: „[…] on peut dire<br />

de plus certain, me semble-t-il, de la musique de <strong>Martin</strong>, c’est qu’elle est l’expression d’une foi“ 64 .<br />

(Man kann über die Musik <strong>von</strong> <strong>Martin</strong>, so scheint es mir, mit Bestimmtheit sagen,<br />

dass sie Ausdruck eines Glaubens ist.) Wichtig erscheint dabei, dass die deutsche<br />

Sprache den französischen Terminus der foi mit dem Ausdruck „Glauben“ nicht hinreichend<br />

wiederzugeben vermag, was Rudolf Klein wie folgt erklärt: „La foi“ – das ist<br />

weniger <strong>und</strong> mehr: <strong>Das</strong> Wort hat weniger ausschließlich mit Religion zu tun, wenngleich<br />

es dort seinen Ursprung hat, es bedeutet auch weniger einen Akt der Unterwerfung<br />

als einen der Selbstbesinnung, es schließt nicht wie im Deutschen den Begriff<br />

einer Gemeinschaft ein, sondern ist der Ausdruck der persönlichen Stellung zu<br />

ihr.“ 65<br />

Diese ganz eigene <strong>und</strong> persönliche Auffassung <strong>von</strong> Glauben, der höhergestellt war<br />

als alle Vernunft 66 , war es also, aus der <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong> die Kraft schöpfte <strong>und</strong> die<br />

schließlich das innere Bedürfnis weckte, seinem Lobpreis durch die Musik Raum zu<br />

geben. Sein Glauben ist ein universaler, der sich auf die christliche Lehre gründet,<br />

sich aber nicht auf eine Konfession festlegt, worauf seine Frau hinweist: „La foi de<br />

<strong>Frank</strong> n’avait rien de dogmatique; il était chrétien tout court. Il ne pouvait exprimer sa foi qu’à<br />

travers sa musique. On écrit souvent que <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong> était calviniste. Rien n’est moins vrai. C’est<br />

63 Vgl. <strong>Martin</strong> 1946, S. 263: „Plus curieuses et plus audacieuses sont les interprétations […], où le mysticisme le plus<br />

ardent s’unit aux conceptions théologiques. Je vois là une tentative très sincère de soumettre l’art à la pensée religieuse.“<br />

64 Ansermet, S. 168.<br />

65 Klein, S. 19.<br />

66 Vgl. <strong>Martin</strong> 1977, S. 253: „[…] la foi, qui ‚passe toute intelligence’. C’est dit en trois mots, et cela suffit.“<br />

14


une hypothèse posée sans connaissance de cause, basée sur le simple fait que son père était pasteur à<br />

Genève, la ville qui a été réformée par Calvin. […] Rien ne lui fit plus plaisir que de voir un jour,<br />

suite à une audition de ,Golgotha’, deux ecclésiastiques catholiques se poser la question si le compositeur<br />

était catholique ou protestant. Le fait que <strong>Frank</strong> ne pouvait exprimer sa foi, qui était réelle,<br />

que par sa musique, implique que toutes ses œuvres religieuses ont été créées par une forte poussée<br />

intérieure, une besoin de louanges. Elles sont donc totalement sincères, une forme de confession de<br />

foi.“ 67 (<strong>Frank</strong>s Glauben hatte überhaupt nichts Dogmatisches; er war einfach christlich.<br />

Und er konnte seinen Glauben nur durch Musik ausdrücken. Es ist oft geschrieben<br />

worden, <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong> sei Kalvinist gewesen, aber da ist nichts Wahres<br />

dran. <strong>Das</strong> ist eine Annahme ohne Sachkenntnis, die allein auf der Tatsache beruht,<br />

dass sein Vater Pfarrer in Genf war, die Stadt, die durch Calvin reformiert worden<br />

war. Nichts hat ihm mehr Vergnügen bereitet, als nach einer Aufführung <strong>von</strong><br />

<strong>„Golgotha“</strong> zwei katholische Geistliche diskutieren zu sehen, ob der Komponist des<br />

Werkes katholisch oder protestantisch sei. Die Tatsache, dass <strong>Frank</strong> seinen Glauben,<br />

der echt war, nur durch Musik ausdrücken konnte, bringt mit sich, dass alle seine<br />

religiösen Werke aus einem starken inneren Drang heraus entstanden sind, einem<br />

Bedürfnis <strong>von</strong> Lobpreis. Sie sind also völlig ehrlich, eine Art Glaubensbekenntnis.)<br />

2.3. Die Entstehung <strong>von</strong> <strong>„Golgotha“</strong><br />

Damit sind die gr<strong>und</strong>sätzlichen Voraussetzungen gelegt, die für die Entstehung <strong>von</strong><br />

<strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong>s religiösen 68 Kompositionen im reifen Stil <strong>und</strong> insbesondere seines<br />

<strong>Oratorium</strong>s <strong>„Golgotha“</strong> <strong>von</strong> elementarer Bedeutung sind. <strong>„Golgotha“</strong> war aber erst<br />

das zweite dieser Art, denn es musste zunächst ein anderes Werk entstehen, dessen<br />

Titel schon mehrfach auftauchte, namentlich das Oratorio brève auf Texte aus der Bibel<br />

„In Terra Pax“. Dazu bedurfte es eines äußeren Anlasses, denn „In Terra Pax“ war<br />

als Auftragswerk <strong>von</strong> Radio Genf bestellt worden mit der Absicht, es am Tag des<br />

Waffenstillstands nach dem Zweiten Weltkrieg erstmals zu senden. Wie <strong>Martin</strong> in Le<br />

compositeur moderne et les textes sacrés schildert, habe er sich in die Situation der alten<br />

Meister zurückversetzt gefühlt, die auf Bestellung Kirchenmusik zu komponieren<br />

hatten (vgl. S. 13), denn Angaben zu Dauer <strong>und</strong> Besetzung waren im Auftrag vor-<br />

67 <strong>Martin</strong>, Maria 1990, S. 117 f.<br />

68 Der Verfasser folgt der Praxis <strong>von</strong> Regina Brandt (Vgl. ebd., S. 23), den Terminus „geistliche<br />

Musik“ auf Gr<strong>und</strong> des Abgrenzungsproblems bei <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong> <strong>und</strong> der <strong>von</strong> ihm konstatierten Mehrdeutigkeit<br />

des französischen Begriffs spirituel zu vermeiden.<br />

15


gegeben. Den Text stellte er selbst zusammen, <strong>und</strong> für einen solchen Anlass schienen<br />

ihm ausschließlich biblische Textauszüge adäquat, denn angesichts eines solchen<br />

Ereignisses – nämlich dem Kriegsende – käme sogar denjenigen Gott <strong>und</strong> dessen<br />

Taten ins Gedächtnis, für die er sonst nicht mehr als symbolischen Wert habe 69 .<br />

Doch noch vor der Uraufführung <strong>von</strong> „In Terra Pax“ (im Mai 1945) ereignete sich<br />

für <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong> eine Begegnung, die ihn in den Bann zog <strong>und</strong> die letztendlich der<br />

entscheidende Auslöser für den Beginn <strong>von</strong> <strong>„Golgotha“</strong> werden sollte. Im gleichen<br />

Aufsatz schreibt er: „[…] je tiens à vous parler d’une autre œuvre sur des textes sacrés à laquelle<br />

je travaille en ce moment et que j’ai choisi librement d’écrire. Il ne s’agit donc pas d’une commande et<br />

rien ne m’excuse d’avoir entreprise ce travail, après tout ce que je viens de dire. […] La décision de<br />

me consacrer à ce travail contredit si bien les réflexions raisonnables que l’on peut faire à ce sujet,<br />

qu’il y faut bien quelques mots d’explication. Au surplus, écrire une Passion après celles que nous a<br />

laissées J.-S. Bach doit forcément paraître singulièrement prétentieux. Cette décision m’a été en quelque<br />

sorte imposée par la rencontre que je fis de l’eau-forte de Rembrandt intitulée ‚Les trois Croix’.<br />

Malgré toutes mes résistances intérieures, ce sujet s’imposa à moi et surtout la vision, nouvelle pour<br />

moi, que l’œuvre de Rembrandt me donna de la Passion. On y voit une étrange lumière blanche qui<br />

tombe verticalement sur un monde obscur où, au-dessous des trois croix sur lesquelles meurent Jésus<br />

et les larrons, tout un monde de personnages semblent figés dans une sorte de prostration.“ 70 (Ich<br />

möchte heute <strong>von</strong> einem Werk nach Texten geistlichen Inhalts sprechen, an dem ich<br />

augenblicklich arbeite <strong>und</strong> das ich aus freien Stücken schreibe; das heißt, es handelt<br />

sich nicht um eine Auftragsarbeit, <strong>und</strong> nichts entschuldigt mein Unternehmen. Der<br />

Entschluss, mich eines solchen Vorhabens zu unterziehen, widerspricht so sehr den<br />

Einwänden der Vernunft, die man hierzu machen könnte, dass einige erklärende<br />

Worte wohl angebracht sind. Eine Passion zu schreiben, nachdem Johann Sebastian<br />

Bach die seinen geschrieben hat, muss zudem höchst anmaßend erscheinen. Der<br />

Entschluss wurde mir durch einen Kupferstich <strong>von</strong> Rembrandt gewissermaßen aufgezwungen;<br />

er nennt sich „Die drei Kreuze“. Trotz meines inneren Widerstandes<br />

drängte sich mir das Thema auf, <strong>und</strong> vor allem vermittelte mir Rembrandts Werk<br />

eine für mich ganz neue Vision <strong>von</strong> dem, was eine Passion sein kann. Man sieht auf<br />

dem Bild ein seltsames weißes Licht, das senkrecht auf eine düstere Welt fällt, wo<br />

69 Vgl. <strong>Martin</strong> 1946, S. 263 f.<br />

70 Ebd., S. 264.<br />

16


unter den drei Kreuzen, an denen Jesus <strong>und</strong> die beiden Übeltäter sterben, eine Fülle<br />

<strong>von</strong> Gestalten wie gebannt in gebeugter Haltung verharrt. 71 )<br />

Abb.: Rembrandt Harmensz van Rijn: „Die drei Kreuze“ (1653) 72<br />

Folgendes daraus bleibt festzuhalten: Die Komposition <strong>von</strong> <strong>„Golgotha“</strong> war <strong>Martin</strong>s<br />

eigener Entschluss <strong>und</strong> war es gleichzeitig auch nicht, denn streng genommen gab es<br />

keinen äußeren Anlass für seine Entscheidung ein <strong>Oratorium</strong> zu schreiben (wohl<br />

einen Anstoß oder Auslöser), dafür aber, auf Gr<strong>und</strong> seiner Ergriffenheit, einen<br />

inneren Drang, offenbar gar einen inneren Zwang, eine persönliche Verpflichtung<br />

seinen Glauben auszudrücken 73 . Zweitens zeigt die Passage seine äußerst demütige<br />

Einstellung hinsichtlich eines solchen Unternehmens, für das er sich zu rechtfertigen,<br />

ja sogar zu entschuldigen versucht, was vor dem Hintergr<strong>und</strong> seines referierten<br />

Glaubensverständnisses plausibler erscheint. Zum dritten offenbart sich besonders<br />

71 Übersetzung in: Halbreich, S. 27.<br />

72 URL: http://www.uni-leipzig.de/ru/bilder/passion3/rembra01.jpg (23.09.2004).<br />

73 Vgl. auch das zitierte Plädoyer <strong>von</strong> <strong>Martin</strong> auf S. 13.<br />

17


hier die Dominanz seines Glaubens über seine Vernunft, seinen rationalen Verstand<br />

(vgl. S. 14). Und viertens kommt sein großer Respekt gegenüber überlieferten<br />

Passionsoratorien <strong>und</strong> vor allem dem Vorbild Bach zum Vorschein; er fühlt sich<br />

nicht würdig sich in diese Traditionslinie einreihen zu wollen.<br />

Doch trotz aller Hochachtung für die alten Meister ergänzt er in einer Programmeinführung:<br />

„Il me sembla cependant que chaque époque peut bien avoir le droit d’essayer d’exprimer<br />

les grands thèmes dont nos esprits sont nourris et qu’une vision nouvelle des souffrances et de la victoire<br />

du Christ sur la mort pouvait leur redonner une présence plus actuelle, au moins pour quelques<br />

personnes.“ 74 (Ich bin jedoch der Meinung, dass jeder Epoche das Recht zusteht,<br />

wenigstens zu versuchen, die erhabenen Themen zum Ausdruck zu bringen, welche<br />

unseren Geist durchdringen, <strong>und</strong> dass eine neue Vision der Leiden <strong>und</strong> des Sieges<br />

Jesu Christi über den Tod ihnen eine neue <strong>und</strong> intensive Gegenwartsnähe verleihen<br />

könnte, wenigstens für einige Menschen. 75 )<br />

Aus dieser Äußerung geht außerdem hervor, dass andere Menschen an <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong>s<br />

Erlebnis teilhaben sollen, dass er andere <strong>von</strong> seinen neu gewonnenen Eindrücken<br />

begeistern will. Auf der anderen Seite stellt er wiederum heraus, dass er nicht für das<br />

Publikum komponiert, sondern vielmehr als Glaubensäußerung für sich selbst. Was<br />

zu sagen war, habe er seiner eigenen Empfindung nach <strong>und</strong> ohne äußere Einflüsse<br />

ausdrücken können: „[…] personne ne me l’avait demandé et je n’avais prévu personne pour<br />

l’exécuter. Bien plus, très souvent au cours de mon travail, j’ai eu l’impression que cette œuvre ne<br />

serait jamais exécutée et que je ne l’écrivais que pour moi-même et pour quelques intimes. Cette pensée<br />

m’aidait beaucoup dans mon travail en me délivrant de toute espèce de préoccupations esthétiques,<br />

en me libérant de ce sentiment obsédant qui, trop souvent, vient paralyser l’artiste: qu’en pensera<br />

celui-ci ou celui-là, quel effet cela pourra-t-il bien faire? Cette fois-ci, je me trouvais vraiment seul, en<br />

face d’un texte et d’un sujet qui me dépassaient de toutes parts. La seule attitude possible était la<br />

plus complète humilité“ 76 . (Keiner hatte mich darum gebeten <strong>und</strong> ich hatte niemanden<br />

vor Augen, der es hätte hören sollen. Im Gegenteil, oft hatte ich das Gefühl, dass das<br />

Werk überhaupt niemals aufgeführt würde <strong>und</strong> dass ich nur für mich <strong>und</strong> eventuell<br />

für ein paar enge Fre<strong>und</strong>e schriebe. Diese Vorstellung war für mich eine große Hilfe,<br />

74 <strong>Martin</strong> 1950, S. 70.<br />

75 Übersetzung in: <strong>Martin</strong>, Maria 1984, S. 197.<br />

76 <strong>Martin</strong> 1963, S. 85.<br />

18


denn sie löste mich ganz <strong>von</strong> allen ästhetischen Vorbehalten <strong>und</strong> nahm mir das<br />

zwanghafte Gefühl, das einen Komponisten zu oft einnimmt: Was wird der <strong>und</strong> der<br />

denken? Welche Wirkung wird das wohl erzeugen? Diesmal war ich ganz auf mich<br />

gestellt, angesichts eines Textes <strong>und</strong> eines Themas, die mir beide in jeglicher Hinsicht<br />

weit entfernt <strong>und</strong> unbegreiflich waren. Tiefe Demut war die einzige Herangehensweise.)<br />

Die Begegnung mit der Radierung Rembrandts hatte bei ihm einen nachhaltigen<br />

Eindruck hinterlassen, denn in einer solchen Vision des Sieges Jesu über den Tod sah<br />

er das zentralste Thema der Weltgeschichte auf den Punkt gebracht: „Il y a là, dans un<br />

format extrêmement réduit, une vision d’une grandeur insurpassable, celle de la lutte entre le monde<br />

spirituel et celui des puissances terrestres, et celle de la foi absolue dans la victoire finale de l’esprit.“ 77<br />

(Auf kleinstem Raum ist dort eine Erscheinung dargestellt, dessen Ausmaße, dessen<br />

Dimensionen unübertrefflich sind, nämlich die des Kampfes zwischen zwei Welten,<br />

die völlig unvereinbar sind 78 : der des Geistes <strong>und</strong> der der irdischen Kräfte. Aber es<br />

besteht die absolute Zuversicht, dass der letzte Sieg an den Geist geht.) Am liebsten<br />

habe er diese Vision in einem ganz kurzen Werk, einer Miniatur eingefangen, so wie<br />

Rembrandt sie auf einem kleinen Stück Papier zu konzentrieren vermocht hatte,<br />

doch wurde ihm schnell klar, dass nur ein <strong>Oratorium</strong> größerer Dimension geeignet<br />

<strong>und</strong> würdig sei, seiner Ansicht der Leidensgeschichte <strong>und</strong> Auferstehung Jesu – dieses<br />

so grausamen <strong>und</strong> doch so großartigen biblischen Dramas 79 , das ihn gefesselt hatte –,<br />

in adäquater Weise Ausdruck <strong>und</strong> Raum zu geben 80 .<br />

So wählte <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong> für sein <strong>Oratorium</strong> <strong>„Golgotha“</strong> eine große, sinfonisch zu<br />

nennende Besetzung, bestehend aus fünf Vokalsolisten (Sopran, Alt, Tenor, Bariton,<br />

Bass), gemischtem Chor mit häufigen Stimmteilungen sowie großem Orchesterapparat<br />

mit sinfonischem Streichersatz, doppelt besetzten Holzbläsern (inklusive<br />

Pikkoloflöte, Oboe d’amore <strong>und</strong> Englischhorn), vollem Blechbläsersatz (vier Hörner,<br />

zwei Trompeten, drei Posaunen) <strong>und</strong> Schlagwerk, erweitert um Klavier sowie Orgel.<br />

Zwei ungefähr gleich lange Teile – nach Angabe im Klavierauszug dauert der erste<br />

77 Ebd., S. 79.<br />

78 Vgl. <strong>Martin</strong> 1946, S. 265: „[…] on voit l’heure, dans l’histoire du monde, où s’est manifestée de la façon la plus<br />

éclatante l’incompatibilité fondamentale qui existe entre notre monde matériel et le monde de l’esprit.“<br />

79 Vgl. <strong>Martin</strong> 1963, S. 80: „[…] tout ce drame spirituel, terrible et magnifique“.<br />

80 Vgl. <strong>Martin</strong> 1950, S. 70.<br />

19


Teil 45, der zweite Teil 40 Minuten – umfassen zehn Nummern. Die Komposition<br />

erstreckte sich über drei Jahre: im Sommer 1945 wurde das Werk auf Schloss Saanen<br />

begonnen, wo die Familie <strong>Martin</strong> die Schulferien verbrachte 81 , in Genf fortgesetzt<br />

(der erste Teil trägt das Abschlussdatum des 5. Januar 1946) <strong>und</strong> nach dem Umzug<br />

der Familie nach Amsterdam am 8. Juni 1948 ebendort beendet. Die Uraufführung,<br />

mit der <strong>Martin</strong> so rasch nicht gerechnet hatte 82 , fand am 29. April 1949 im Genfer<br />

Salle de la Réformation unter der Leitung <strong>von</strong> Samuel Baud-Bovy statt (vgl. S. 3), zahlreiche<br />

weitere Aufführungen folgten.<br />

Mit der Inangriffnahme seines Unterfangens war <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong> unweigerlich, wenn<br />

auch unwillentlich, das Wagnis eingegangen, sich mit den überlieferten Passionsoratorien<br />

<strong>und</strong> insbesondere den Bachschen Meisterwerken zu messen. Umso<br />

wichtiger erscheint es nun, die durch die Textauswahl bedingte Originalität <strong>und</strong><br />

Eigenständigkeit seiner eigenen Konzeption sowie die aus der Textzusammenstellung<br />

resultierende Aussage herauszustellen. Da<strong>von</strong> handelt das folgende Kapitel 3.<br />

81 Vgl. <strong>Martin</strong>, Maria 1990, S. 95: „Pour nos vacances (1945), Paul et Maja Sacher nous prêtaient un chalet à<br />

Saanen (Oberland bernois) qu’ils louaient à l’année. […] C’est là que <strong>Frank</strong> commença la composition de son<br />

‚Golgotha’.“<br />

82 Vgl. <strong>Martin</strong> 1970, S. 78: „Ce n’était pas que je n’eusse accepté une exécution possible; simplement je n’y pensais<br />

pas. Et je fus en même temps étonné et très heureux lorsque, à peine finie la composition, Samuel Baud-Bovy me proposera<br />

de monter cette œuvre à Genève, avec son chœur du ‚Chant Sacré’ et l’aide matérielle de Radio-Genève.“<br />

20


3. Die Texte <strong>und</strong> ihre Zusammenstellung<br />

Wenn es um die Texte <strong>und</strong> ihre Zusammenstellung geht, gilt es zwei Ebenen zu unterscheiden.<br />

<strong>„Golgotha“</strong> wurde <strong>von</strong> <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong> in seiner französischen Muttersprache<br />

verfasst <strong>und</strong> später in weitere Sprachen, so auch in die deutsche, übertragen.<br />

Zwar führt Magda de Meester an, es existiere eine vom Komponisten selbst besorgte<br />

deutsche Textversion 83 , unter der <strong>von</strong> ihr angegebenen Verlagsnummer ist aber einzig<br />

derjenige Klavierauszug in französischer sowie deutscher Sprache erschienen,<br />

dessen Übersetzung <strong>von</strong> Roland Philipp stammt. Nach Auskunft der Universal Edition<br />

Wien ist neben dieser Ausgabe kein weiteres Notenmaterial mit anderer Übersetzung<br />

je erhältlich gewesen. Für die folgenden Ausführungen zu Herkunft <strong>und</strong><br />

Zusammenstellung der Texte ist diese Tatsache nicht <strong>von</strong> Relevanz; dieser Vorbehalt<br />

kann aber dann zur Geltung kommen, wenn es um die Aussage der Texte <strong>und</strong> insbesondere<br />

ihre in deutschen Aufführungen erzielte Wirkung geht, da die gesungene<br />

deutsche Übersetzung aus wissenschaftlicher Sichtweise nicht originärer Bestandteil<br />

des Werkes ist, wenngleich <strong>Martin</strong> sie – da zu seinen Lebzeiten entstanden – gekannt<br />

haben muss. Darauf wird im Einzelnen eingegangen.<br />

Einige Hinweise auf die Textvorlage wurden bereits im vorangegangenen Kapitel<br />

gegeben. Zum einen nämlich hatte <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong> das starke Verlangen mit den selbst<br />

gewählten Texten seinen eigenen Glauben auszudrücken <strong>und</strong> seine Lobpreisungen zu<br />

äußern; nach Auskunft seiner Frau hatte dies den Stellenwert eines persönlichen<br />

Glaubensbekenntnisses (vgl. S. 15). Zum anderen aber schienen ihm die selbst gewählten<br />

Texte an sich weit entfernt zu sein; sie waren unfassbar <strong>und</strong> um Zugang zu<br />

ihnen zu erlangen, musste er sich ihnen mit großer Ehrfurcht hingeben, da sie über<br />

den Verstand oder Intellekt nicht zu erreichen waren (vgl. S. 18 f.). Drittens hatte er<br />

eine Zusammenstellung <strong>von</strong> Bibeltexten allein ohnehin als einschränkend empf<strong>und</strong>en;<br />

sein Eindruck war, dass die Mitberücksichtigung <strong>von</strong> mystischen oder meditativen<br />

Texten <strong>und</strong> verdeutlichenden Schriften zur Vergegenwärtigung der biblischen<br />

Zeugnisse beitragen könne (vgl. S. 14).<br />

83 Vgl. Meester I 1993, S. 137: „Il existe également un texte en allemand adapté après coup par le compositeur luimême;<br />

cf. partition pour chant et piano, U. E. 11949.“<br />

21


Aus <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong>s eigenen Äußerungen sowie Zeugnissen aus seinem unmittelbaren<br />

Umfeld geht hervor, dass sein geistiger <strong>und</strong> theologischer Horizont äußerst weitreichend<br />

war. Stellvertretend sei darauf hingewiesen, dass schon in seinem Elternhaus<br />

keine orthodox kalvinistische, sondern eine vom Evangelium geprägte <strong>und</strong> vor<br />

allem interkonfessionell liberale Einstellung vertreten wurde <strong>und</strong> man theologische<br />

Fragestellungen in Gesprächen thematisierte 84 , dass er sich weiterhin <strong>von</strong> dem religiösen<br />

Leben <strong>und</strong> der Lehre <strong>Martin</strong> Luthers stark beeinflusst fühlte 85 <strong>und</strong> dass im Hause<br />

<strong>Martin</strong> nicht weniger als 15 verschiedene Bibeln befindlich waren 86 . Es ist anzunehmen,<br />

dass er für die Textzusammenstellung dementsprechend aus einem großen<br />

F<strong>und</strong>us schöpfen konnte. Deshalb soll hier die These aufgestellt werden, dass es sich<br />

bei der Textzusammenstellung nicht lediglich um eine Kompilation, sondern um eine<br />

literarische Konzeption handelt, also um eine Textvorlage mit literarischer Qualität.<br />

Unter dieser Prämisse lohnt es, Herkunft, Zusammenstellung <strong>und</strong> Zusammenhänge,<br />

Charakter <strong>und</strong> Intention der Texte zu untersuchen.<br />

Ein einziges der Evangelien zu verfolgen, erschien <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong> bei der Textauswahl<br />

nicht ausreichend; er präferierte eine Zusammenstellung aus den Leidensberichten<br />

der vier Evangelisten: „Mon but n’étant pas de suivre pas à pas un des Evangiles dans son récit<br />

de la Passion, mais de donner une vue d’ensemble du drame sacré, j’ai choisi dans les divers Evangiles<br />

ce qui me paraissait le plus essentiel et le mieux adapté à mon dessein.“ 87 (Es entsprach nicht<br />

meiner Absicht, mich bei der Erzählung der Passion Schritt für Schritt an eines der<br />

Evangelien zu halten. Ich wollte vielmehr eine Gesamtübersicht des religiösen Dramas<br />

geben. Zu diesem Zweck habe ich aus den verschiedenen Evangelien diejenigen<br />

Stellen herausgesucht, die mir am wesentlichsten <strong>und</strong> meinem Ziele am besten angepasst<br />

erschienen. 88 ) Es handelt sich folglich um eine Auswahl aus den verschiedenen<br />

Evangelienberichten, die in der Sek<strong>und</strong>ärliteratur gelegentlich als<br />

„Evangelienharmonie“ bezeichnet wird. Ob dieser Begriff für eine Einordnung zutreffend<br />

ist, muss an späterer Stelle erörtert werden.<br />

84 Vgl. Société <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong>, S. 1 f.<br />

85 Vgl. <strong>Martin</strong> 1967, S. 114.<br />

86 Vgl. Meester 1992, S. 188.<br />

87 <strong>Martin</strong> 1950, S. 71.<br />

88 Übersetzung in: <strong>Martin</strong>, Maria 1984, S. 196.<br />

22


Welches Ziel verfolgte <strong>Martin</strong> bei dieser Auswahl? Er selbst äußert dazu: „Fidèle à<br />

l’idée première, donnée par l’eau-forte de Rembrandt, je cherchai donc à concentrer toute la lumière<br />

sur la personne du Christ, en laissant dans l’ombre toute autre personne“ 89 . (Meinem ersten<br />

Gedanken treu, der mir durch den Anblick der Rembrandt-Kupferstiche eingegeben<br />

wurde, bemühte ich mich, das ganze Licht auf die Erscheinung Christ zu konzentrieren<br />

<strong>und</strong> jede andere Person im Dunkeln zu lassen. 90 ) Den Licht-Schatten-Kontrast<br />

der Radierung nachzeichnend sollte die Gestalt Jesu demnach im Mittelpunkt stehen,<br />

alles andere dagegen in den Hintergr<strong>und</strong> treten, wobei ihm folgende sieben Stationen<br />

der Leidensgeschichte, nicht zuletzt zur Akzentuierung bestimmter Eigenschaften<br />

Jesu Person, wesentlich erschienen: Jesu Einzug in Jerusalem, seine Verurteilung der<br />

Pharisäer, das letzte Abendmahl mit der Ankündigung des Verrats durch Judas, der<br />

Verrat selbst im Garten Gethsemane, Jesu Prozess vor dem Hohen Priester, seine<br />

Verurteilung durch Pilatus <strong>und</strong> sein Tod am Kreuz.<br />

Die zusammengestellten Evangelienausschnitte reichten <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong> jedoch nicht<br />

aus; er sah die Notwendigkeit den biblischen Passionstext zu paraphrasieren: „[…] il<br />

me fallait donc des textes ayant le caractère d’un commentaire lyrique, des sortes de méditations sur<br />

les divers épisodes du drame sacré, sur le sens qu’ils revêtent pour nous. […] J’eu alors la chance de<br />

tomber sur des textes de saint Augustin, des méditations fort longues sur le mystère de la Passion,<br />

dont je pus extraire quelques phrases qui puissent accompagner le récit des Evangiles.“ 91 (Was hier<br />

fehlte, waren Texte in Gestalt eines lyrischen Kommentars, eine Art Meditation über<br />

die verschiedenen Episoden des religiösen Dramas <strong>und</strong> über den Sinn, den sie uns<br />

übermitteln. Zum Glück stieß ich damals auf Texte des Heiligen Augustinus, sehr<br />

lange Meditationen über das Mysterium der Passion, denen ich einige Sätze entnahm,<br />

die der Erzählung der Evangelien als Begleitung dienen konnten. 92 ) Auf der Suche<br />

nach mystischen Texten war er in der Genfer Universitätsbibliothek auf Übersetzungen<br />

<strong>von</strong> unter dem Namen des Kirchenvaters Augustinus veröffentlichten<br />

Schriften gestoßen, die er für seine Zwecke für geeignet hielt. Aus dem über zwanzig<br />

Jahre später mit Surchamp geführten Interview geht hervor, dass <strong>Martin</strong> inzwischen<br />

ahnte, dass die vorgef<strong>und</strong>enen Texte anderen Ursprungs waren als damals an-<br />

89 <strong>Martin</strong> 1950, S. 71.<br />

90 Übersetzung in: <strong>Martin</strong>, Maria 1984, S. 196.<br />

91 <strong>Martin</strong> 1950, S. 70 f.<br />

92 Übersetzung in: <strong>Martin</strong>, Maria 1984, S. 195 f.<br />

23


genommen 93 . Die neueren Forschungserkenntnisse diesbezüglich sollen später<br />

thematisiert werden.<br />

Einen dritten Hinweis zur Textauswahl gibt <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong> durch die Schilderung,<br />

welche Bibelstelle er bei seiner ersten Begegnung mit dem Kupferstich unmittelbar<br />

assoziierte: „[…] la première chose qui se présenta à moi, comme un résumé de tout ce que vient<br />

nous dire l’eau-forte de Rembrandt, fut la phrase: ‚O mort, où est ton aiguillon? O sépulcre, où est<br />

ta victoire?’ Et je pensai commencer mon oratorio par cette exclamation.“ 94 (Was mir als Erstes<br />

in den Sinn kam, gleichsam als Zusammenfassung dessen, was uns die Radierung<br />

Rembrandts sagen wollte, war der Vers: „O Tod, wo ist dein Stachel? O Hölle, wo ist<br />

dein Sieg?“ [1. Kor 15, 55.] Und mit diesem Ausruf gedachte ich mein <strong>Oratorium</strong> zu<br />

beginnen.) Diese Vorgehensweise, an den Beginn des Werkes eine überschriftartige<br />

Einleitung zu stellen – für <strong>Martin</strong> zugleich als Summe seiner Bildbetrachtung –, lässt<br />

an ein Exordium denken, das schon seit Beginn der Geschichte der Passionsvertonung<br />

gleichsam als in Musik gesetzter Titel fungiert <strong>und</strong> in der Folge eine zunehmend<br />

reichere Ausgestaltung erhalten hatte 95 . Unmittelbar nach der Vertonung<br />

der beiden Fragen verwarf <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong> seine ursprüngliche Idee jedoch wieder <strong>und</strong><br />

entschied sich für eine andere Eröffnung. Darum wird auch dieser Vers aus dem<br />

ersten Korintherbrief <strong>und</strong> seine tatsächliche Platzierung (zu Beginn des Schlusschors)<br />

im Zusammenhang mit biblischen <strong>und</strong> meditativen Texten an späterer Stelle behandelt.<br />

Mit seinem Bedürfnis, den evangelischen 96 Texten betrachtende oder kommentierende<br />

Passagen hinzuzufügen, hatte <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong> instinktiv an den Typus der oratorischen<br />

Passion im 17. <strong>und</strong> 18. Jahrh<strong>und</strong>ert angeknüpft. Darum war es ihm wichtig,<br />

seine – mit der <strong>von</strong> ihm beabsichtigten Funktion der meditativen Teile gleichsam<br />

interagierende – Intention darzulegen <strong>und</strong> diese <strong>von</strong> der Absicht Johann Sebastian<br />

Bachs zu differenzieren: „Son œuvre étant de la musique d’église, écrite pour son église, il semble<br />

bien que ses passions expriment avant tout les sentiments des fidèles en face de la Passion. […] Le<br />

93 <strong>Martin</strong> 1975, S. 14: „[…] je découvris des traductions de textes attribués à saint Augustin, mais dont l’origine est<br />

maintenant des plus discutées.“<br />

94 <strong>Martin</strong> 1963, S. 81 f.<br />

95 So leitete schon Balthasar Resinarius seine Passionsvertonung <strong>von</strong> 1543 mit einem Vers aus dem<br />

Korintherbrief ein (1. Kor 11, 26; vgl. Fischer 1997, S. 68).<br />

96 Hier <strong>und</strong> im Folgenden wird „evangelisch“ stets im Sinne „die Evangelien betreffend“ gebraucht<br />

<strong>und</strong> ist nicht gleichzusetzen mit „protestantisch“.<br />

24


Golgotha, que je me propose de terminer, tente de présenter l’événement en lui-même, laissant<br />

l’auditeur en tirer la leçon. Ce sera bien là un oratorio destiné à être joué dans une église, mais ce ne<br />

sera pas de la musique d’église. Ce devrait être comme une représentation du drame de la Passion,<br />

mais non pas un culte.“ 97 (Sein Werk ist Kirchenmusik, er schrieb es für seine Kirche,<br />

<strong>und</strong> so scheint kaum ein Zweifel daran zu bestehen, dass seine Passionen vor allem<br />

die Empfindungen der Gläubigen angesichts der Leidensgeschichte zum Ausdruck<br />

bringen. <strong>Das</strong> <strong>„Golgotha“</strong>, das zu vollenden ich mir vorgenommen habe, versucht das<br />

Ereignis als solches darzustellen, wobei es dem Hörer überlassen bleibt, die Lehre<br />

daraus zu ziehen. <strong>Das</strong> <strong>Oratorium</strong> ist zwar dazu bestimmt, in einer Kirche aufgeführt<br />

zu werden, aber es ist keine Kirchenmusik. Es soll so etwas wie ein Drama der Passion<br />

sein <strong>und</strong> nicht ein Gottesdienst. 98 )<br />

Diese Intention <strong>von</strong> <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong>, sich an ein breiteres Publikum zu richten <strong>und</strong> den<br />

Zuhörer durch gewissermaßen objektiv gehaltene Meditationen nicht einzunehmen,<br />

sondern lediglich anzuregen, erscheint plausibel vor dem Hintergr<strong>und</strong> seiner Analyse<br />

der individualisierten <strong>und</strong> subjektiv glaubenden Gesellschaft im Gegensatz zur kollektiv<br />

glaubenden Gemeinschaft (vgl. S. 14). Mit dieser Auffassung seines <strong>Oratorium</strong>s<br />

beabsichtigte er einen elementaren Unterschied zu Bachs Passionen herauszustellen,<br />

worauf später zurückzukommen sein wird. Der <strong>von</strong> ihm verwandte Begriff<br />

des religiösen Dramas (vgl. S. 23), das das Ereignis an sich darzustellen versucht,<br />

impliziert dagegen eine mit dramatischer Handlung verb<strong>und</strong>ene Interpretation – mit<br />

der Tendenz das so charakterisierte Werk in Richtung einer Schaubühne zu rücken,<br />

was an Gepflogenheiten des frühen 18. Jahrh<strong>und</strong>erts erinnert 99 , auch wenn eine szenische<br />

Aufführung <strong>Martin</strong> nicht adäquat erschien 100 .<br />

Mit den angeführten Hinweisen auf die Herkunft seiner Texte nebst ihrer Funktion<br />

hat sich der Komponist nicht gänzlich offenbart, denn neben Passagen aus den Evangelien,<br />

die die sieben Szenen schildern, Abschnitten aus (dem Augustinus zugeschriebenen)<br />

Meditationen, die die jeweiligen Szenen reflektieren <strong>und</strong><br />

kommentieren, <strong>und</strong> dem zitierten Vers aus dem Paulusbrief verarbeitet <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong><br />

97 <strong>Martin</strong> 1946, S. 264 f.<br />

98 Übersetzung in: Halbreich, S. 28.<br />

99 So wurde beispielsweise Reinhard Keisers Passionsoratorium „Der blutige <strong>und</strong> sterbende Heiland“<br />

1705 auf einer Schaubühne in der Kirche aufgeführt (vgl. Fischer 1997, S. 97).<br />

100 Vgl. <strong>Martin</strong> 1967, S. 38 f.: „Il s’agit vraiment d’un drame, qu’on ne pourrait peut-être pas jouer sur la scène.“<br />

25


zudem Textstellen aus den „Confessiones“ des Augustinus, einen Ausschnitt aus<br />

dem Apostolischen Glaubensbekenntnis, Verse aus Psalm 121 sowie aus dem<br />

Exsultet, dem Lobgesang der Osternachtsliturgie. Es erscheint demnach nötig, nach<br />

einer schematischen Darstellung der Gesamtform eine vollständige Übersicht über<br />

die verwendeten Texte zu geben <strong>und</strong> diese im Einzelnen zu besprechen.<br />

1. Teil:<br />

I. .......................................................... Eingangschor („Confessiones“; Apostolikum)<br />

II. Les Rameaux (<strong>Das</strong> Palmfest)......................................................1. Szene/Meditation<br />

III. Le Discours au Temple (Der Disput im Tempel).......................2. Szene/Meditation<br />

IV. La Sainte Cène (<strong>Das</strong> heilige Abendmahl)....................................................... 3. Szene<br />

V. Géthsémané (Gethsemane)...........................................................4. Szene/Meditation<br />

2. Teil:<br />

VI. ........................................................................ Intermedium (Meditation; Psalm 121)<br />

VII. Jésus devant le Sanhédrin (Jesus vor dem Hohen Priester)........5. Szene/Meditation<br />

VIII. Jésus devant Pilate (Jesus vor Pilatus)............................................................... 6. Szene<br />

IX. Le Calvaire (Kalvaria) ..................................................................7. Szene/Meditation<br />

X. ....................................................Schlusschor (1. Kor. 15, 55; Exsultet; Meditation)<br />

3.1. Die Evangelien<br />

Die Überlieferung <strong>von</strong> Leben <strong>und</strong> Wirken Jesu findet sich in den vier ersten Schriften<br />

des Neuen Testaments. Bekanntlich sind diese im ersten nachchristlichen Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

aufgezeichnet worden, können jedoch nicht als historische Texte bezeichnet<br />

werden, da sie teils unterschiedliche oder gar widersprüchliche Aussagen bergen. Zu<br />

unterscheiden sind die drei so genannten synoptischen Evangelien, die gemeinsame<br />

Gr<strong>und</strong>risse aufweisen <strong>und</strong> dessen ältestes <strong>und</strong> kürzestes dasjenige nach Markus ist,<br />

<strong>von</strong> dem jüngeren <strong>und</strong> eigenständigeren Johannesevangelium, das <strong>von</strong> den erstgenannten<br />

vielfach abweicht. Die Zweiquellentheorie besagt darüber hinaus, dass die<br />

Evangelien nach Matthäus <strong>und</strong> Lukas als Gr<strong>und</strong>lage das Markusevangelium voraus-<br />

26


setzten, dieses zum Teil mit einbezogen <strong>und</strong> sich beide außerdem einer zweiten<br />

Quellenschrift bedienten, die Markus nicht bekannt war. Zudem sind weitere schriftliche<br />

Überlieferungen aufgenommen <strong>und</strong> eingefügt, die man als Sondergut des Matthäus<br />

bzw. des Lukas bezeichnet. Johannes dagegen waren die synoptischen Evangelien<br />

mutmaßlich nicht bekannt, zumindest bediente er sich anderer Überlieferungen.<br />

Besonders sein Passionsbericht unterscheidet sich erheblich <strong>von</strong> denen der Synoptiker.<br />

Da jedes Evangelium für sich nur als „Teilausprägung der urchristlichen Heilsbotschaft“<br />

101 verstanden werden kann, bemühte man sich schon seit dem Urchristentum<br />

um die Zusammenstellung eines einheitlichen Berichts aus den vier Evangelien,<br />

also um eine Evangelienharmonie, deren erste <strong>und</strong> bekannteste das so genannte<br />

Diatessaron des syrischen Apologeten Tatian aus dem 2. Jahrh<strong>und</strong>ert darstellt. Auch<br />

Augustinus formulierte in großem Umfang Gr<strong>und</strong>sätze zur Evangelienharmonie,<br />

setzte sich mit der Thematik aber nur theoretisch auseinander. Erst der französische<br />

Theologe Johannes Gerson vermochte mit seinem „Monotessaron“, einer um 1420<br />

in Anknüpfung an die Forderungen Augustinus’ entstandenen Evangelienharmonie,<br />

breitere Aufmerksamkeit für sich in Anspruch zu nehmen. Aus seiner sorgfältigen<br />

Arbeit, die das synoptische Material in das Gerüst des Johannesevangeliums einpasst,<br />

stellte man im 16. Jahrh<strong>und</strong>ert eine Kurzfassung mit Passionstexten in deutscher<br />

Sprache zusammen. Diese galt, unter anderen zeitgenössischen Veröffentlichungen<br />

(so beispielsweise des Franzosen Antoine de Longueval), als erste Komposition einer<br />

„Summa passionis“, einer Passionsharmonie, die die Leidensgeschichte aus den vier<br />

Evangelien mit Textkürzungen <strong>und</strong> „unter besonderer Berücksichtigung der sieben<br />

Worte Jesu am Kreuz“ 102 zusammenstellt. Vor diesem Hintergr<strong>und</strong> ist <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong>s<br />

Auswahl der den Evangelien entnommenen Texte <strong>von</strong> spezifischem Interesse.<br />

Die erste Szene in <strong>„Golgotha“</strong> schildert Jesu Einzug in Jerusalem am Palmsonntag<br />

mit wenigen Versen aus dem Markusevangelium (Mk 11, 1. 8 – 10) 103 . <strong>Das</strong> ihn begeistert<br />

empfangende Volk reagiert mit den Worten aus Psalm 118: „Gelobt sei, der<br />

da kommt im Namen des Herrn!“ (Mk 11, 9; Ps 118, 26), die Ausrufe der synopti-<br />

101 Knoch, S. XIX.<br />

102 Fischer 1997, S. 32.<br />

103 Diese Kurzangabe bedeutet auch im Folgenden: Verse 1 <strong>und</strong> 8 bis 10 des 11. Kapitels des Evangeliums<br />

nach Markus.<br />

27


schen Parallelstellen Mt 21, 9 sowie Lk 19, 38 sind mit eingeflochten. Was folgt, sind<br />

die einzig im Johannesevangelium enthaltenen Verse Joh 12, 27. 28. 30 – 32, in denen<br />

Jesus bereits die St<strong>und</strong>e seines Verrats <strong>und</strong> seinen nahen Tod ankündigt. <strong>Martin</strong><br />

erweitert mit dieser Eröffnungsszene („<strong>Das</strong> Palmfest“) nicht nur das eigentliche Passionsgeschehen<br />

der Karwoche nach vorne, sondern stellt schon den Einzug Jesu mit<br />

seinem königlichen Empfang unbedingt in den Schatten seiner Kreuzigung. Die<br />

„St<strong>und</strong>e“ Jesu mit dem doppelten Charakter als Sterbens- <strong>und</strong> Verherrlichungsst<strong>und</strong>e<br />

wird hier schon vorweggenommen: Jesus ist mit der Intention nach Jerusalem gekommen,<br />

seine Leiden auf sich zu nehmen.<br />

Die zweite Station „Der Disput im Tempel“ thematisiert Jesu Streitrede gegen die<br />

Schriftgelehrten <strong>und</strong> Pharisäer, wie sie in diesem Umfang <strong>und</strong> dieser Schärfe nur <strong>von</strong><br />

Matthäus (Mt 23, 1 – 4. 13. 27 – 39) geschildert wird 104 . Diese ist eine Art Abrechnung<br />

mit den nach außen hin frommen, aber in Wahrheit gottlosen jüdischen<br />

Gesetzeshütern, die in den drei aufeinander folgenden Weherufen als „Heuchler“<br />

denunziert werden. Auch diese Passage ist als solche der Passionsgeschichte vorgelagert<br />

<strong>und</strong> verfolgt bei <strong>Martin</strong> als Verbindungsstück zur Eröffnungsszene eine<br />

logische Chronologie der letzten Tage Jesu: Exemplarisch sollen dessen Wirken in<br />

Jerusalem <strong>und</strong> engagierte Auseinandersetzung mit seinen Gegnern vor Augen geführt<br />

werden. Es geht also besonders um die Darstellung <strong>von</strong> originär menschlichen<br />

Charakterzügen Jesu – seine ganze Strenge, energische Entschlossenheit <strong>und</strong> Verachtung<br />

derer, die ihn letztlich richten werden („[…] ihr Schlangen, ihr<br />

Otterngezücht!“) – vor dem Hintergr<strong>und</strong> seines Ausblicks auf die Parusie, seine<br />

endzeitliche messianische Wiederkunft 105 , die bekanntlich das Osterereignis<br />

voraussetzt: „[…] ich sage euch: Ihr werdet mich nicht sehen <strong>von</strong> jetzt bis zu dem<br />

Tage, da ihr sprecht: „Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn!“ (Mt 23, 39.)<br />

Die Abendmahlsszene rahmt <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong> mit Versen nach Lukas (Lk 22, 7. 14 –<br />

16. 19. 20. 39), in die er die Ankündigung des Verrats durch Judas nach ausgewählten<br />

Sätzen aus Joh 13. 1. 2. 21. 23. 25 – 27. 30 einfügt. Mit der doppelten Einführung des<br />

104 Die andere Version bei Lukas – dies spricht für die Herkunft der Passage aus der Logienquelle (vgl.<br />

S. 27) – fällt kürzer <strong>und</strong> deutlich milder aus.<br />

105 Jesus weissagt damit, bei seiner Wiederkunft mit den gleichen Worten aus Ps 118, 26 wie bei seinem<br />

Einzug in Jerusalem empfangen zu werden; durch diese Rahmenbildung stellen die ersten beiden<br />

Szenen in <strong>„Golgotha“</strong> eine kleine Einheit für sich dar.<br />

28


Geschehens durch den jeweils ersten Vers unterstreicht er weitere menschliche Attribute<br />

Jesu: sein unbedingtes Verlangen nach dem letzten Mahl mit seinen Jüngern<br />

<strong>und</strong> seine unendliche Liebe <strong>und</strong> Zuneigung ihnen gegenüber. Der Bericht der Entlarvung<br />

des Verräters <strong>und</strong> seiner Entfernung aus der Gemeinschaft wird <strong>von</strong> Johannes<br />

am bildhaftesten geschildert <strong>und</strong> eignet sich demnach am besten für eine szenische<br />

Umsetzung in Dialogform. Da nur die synoptischen Evangelien den Abendmahlsbericht<br />

beinhalten, wechselt <strong>Martin</strong> wieder zurück ins Lukasevangelium, der in<br />

den Einsetzungsworten als einziger explizit den „Neuen“ B<strong>und</strong> (V. 20) nennt. Der<br />

letzte Vers (V. 39) verschränkt diese Szene mit der folgenden <strong>und</strong> die Handlung wird<br />

stringent <strong>und</strong> ohne Unterbrechung zum Ölberg vorangetrieben.<br />

Dreifaches Gebet <strong>und</strong> Gefangennahme im Garten Gethsemane folgen Mk 14, 32 –<br />

43. 45. 46. 48 – 50, wo zuerst Jesu Gefühl der ängstlichen Unruhe <strong>und</strong> Verlassenheit<br />

<strong>und</strong> später seine wehrlose Ergebenheit in Gottes Willen auf unmittelbare Weise zum<br />

Vorschein kommen. Die Hinzufügung des Satzes aus dem Lukasevangelium (Lk 22,<br />

53: „Doch dies ist eure St<strong>und</strong>e <strong>und</strong> die Macht der Finsternis.“) verdeutlicht wiederum<br />

106 <strong>Martin</strong>s Vorliebe für prägnante Licht-Schatten-Kontraste <strong>und</strong> eine reiche Hell-<br />

Dunkel-Symbolik. Von den Jüngern verlassen wird Jesus zum Prozess abgeführt, mit<br />

dem die eigentliche Passion beginnt.<br />

Auch die Szene Jesu vor dem Hohen Priester folgt der sachlichen <strong>und</strong> zwingenden<br />

Schilderung mit dialogischer Anlage bei Markus (Mk 14, 53. 55. 57 – 65), die nach<br />

dem zunächst würdevollen Gesprächsbeginn in die beleidigenden Anschuldigungen<br />

des Volkes mündet. Zusatzinformationen <strong>und</strong> die Dramatik intensivierende Elemente<br />

lässt <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong> aus dem Matthäus- <strong>und</strong> Lukasevangelium einfließen: So nennt<br />

er den Hohen Priester beim Namen (Kaiphas, vgl. Mt 26, 57) <strong>und</strong> ergänzt dessen<br />

Ausrufe: „Ich beschwöre dich bei dem lebendigen Gott…“ (Mt 26, 63); „Er hat Gott<br />

gelästert!“ (Mt 26, 65). Der Wortlaut der aufgebrachten Menge folgt zusätzlich Lk 22,<br />

71 <strong>und</strong> Mt 26, 68. Die insgesamt auffallend zeichnende Perspektive des Markusevangeliums<br />

mit Jesus als leidendem Gerechten, der seine Angst überw<strong>und</strong>en hat, ist aber<br />

beibehalten.<br />

106 Vgl. in der Abendmahlsszene Joh 13, 30: „Judas ging sogleich aus dem Saal, <strong>und</strong> es war Nacht.“<br />

29


Sowohl die Verhandlung vor Pilatus als auch die Kreuzigungsszene mit Jesu Tod<br />

(„Kalvaria“) wählt <strong>Martin</strong> aus dem Johannesevangelium aus (Joh 18, 28 – 31. 33 – 40;<br />

19, 1 – 7. 15 – 16 sowie 19, 17 – 19. 23 – 30) <strong>und</strong> lässt diese unmittelbar aufeinander<br />

folgen. Dieser johanneische Komplex ragt im Vergleich der Evangelien mit Abstand<br />

als längster neben den drei anderen Berichten hervor <strong>und</strong> beinhaltet die ganze Offenbarungsrede<br />

Jesu im Wortwechsel mit Pilatus, dem er, wie zuvor dem Hohen<br />

Priester – wie der Komponist feststellt –, mit göttlicher Ruhe <strong>und</strong> Überlegenheit<br />

gegenübersteht 107 . Die zentralen Aussprüche Jesu zur irdischen <strong>und</strong> zu der transzendenten<br />

Welt der Gerechtigkeit („Mein Reich ist nicht <strong>von</strong> dieser Welt.“) wie auch des<br />

Hohen Priesters – so beispielsweise seine voller Ignoranz gestellte spöttische Frage:<br />

„Was ist Wahrheit?“ – erscheinen <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong> für seine Auswahl wichtig, ebenso<br />

wie bei der Kreuzigung die Erwähnung der Kreuzesaufschrift (<strong>und</strong> das dadurch proklamierte<br />

Königtum Jesu), die Szene mit dem Jünger, den Jesus liebte, sowie die<br />

Durchbohrung der Seite Jesu. In der tiefsten St<strong>und</strong>e seiner Menschlichkeit stirbt Jesus<br />

den Kreuzestod als stellvertretenden Leidens- <strong>und</strong> Opfergang für die menschlichen<br />

Sünden; seine menschliche Natur hat er besiegt.<br />

Folgendes bleibt zusammengefasst festzuhalten: Vor dem Hintergr<strong>und</strong> seiner prof<strong>und</strong>en<br />

Kenntnis der Evangelien sind die ihm unerlässlich <strong>und</strong> für eine zu vertonende<br />

Vorlage geeignet erscheinenden Textstellen <strong>von</strong> <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong> äußerst sorgfältig<br />

ausgewählt. Teilweise verwendet er längere Passagen, häufiger aber beschränkt<br />

er sich auf ausgesuchte Sätze oder Fragmente <strong>und</strong> kombiniert diese im Sinne einer<br />

plastischen <strong>und</strong> stringenten Darstellung zu einer die Handlung vorantreibenden Version.<br />

Die Gestalt Jesu steht stets im Zentrum <strong>und</strong> wird erst auf dem Höhepunkt<br />

seines irdischen Lebens, später in der tiefsten St<strong>und</strong>e seiner Menschlichkeit gezeigt;<br />

anscheinend unwichtige Nebenhandlungen – der Beschluss des Hohen Rates, der<br />

Verrat durch Judas, die Vorbereitung des Paschamahls, die Verleugnung durch<br />

Petrus, Jesu Begräbnis – bleiben unberücksichtigt. Stehen mehrere parallele Schilderungen<br />

eines Ereignisses in den synoptischen Evangelien zur Verfügung, fällt <strong>Martin</strong><br />

seine Entscheidung zu Gunsten derjenigen Passagen, die vom dramatischen <strong>und</strong><br />

bildhaft-szenischen Aspekt her kontrast- <strong>und</strong> abwechslungsreich erscheinen; zudem<br />

favorisiert er die Dialogform <strong>und</strong> direkte Rede.<br />

107 Vgl. <strong>Martin</strong> 1950, S. 71: „[…] avec une paix et une autorité toutes divines.“<br />

30


Abgesehen <strong>von</strong> den knappen einleitenden Sätzen, die den Einzug in Jerusalem beschreiben,<br />

rahmt <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong> seinen Passionsbericht mit Versen aus dem Evangelium<br />

nach Johannes, der sich insbesondere auf die Gestalt Jesu konzentriert, auf den<br />

präexistenten, Mensch gewordenen Gottessohn, der nach seiner Erniedrigung als<br />

gedemütigter Schmerzensmann durch die österliche Heimkehr in sein Königreich<br />

erhöht wird. Die Passion selbst versteht Johannes als Hingang des Sohnes zum Vater<br />

<strong>und</strong> damit als „notwendige Durchgangsstation“ 108 , sein Tod ist die Vollendung der<br />

wahren Menschwerdung, was <strong>Martin</strong> gleich in der ersten Szene unterstreicht. Besonders<br />

die zwei Naturen Jesu als wahrer Mensch <strong>und</strong> wahrer Gott werden stellenweise<br />

hervorgehoben.<br />

In dieses Gerüst eingebettet sind die synoptischen Ergänzungen, die in ihrem Gesamtcharakter<br />

eher auf die Passion hin <strong>und</strong> damit stärker auf die Schilderung <strong>von</strong><br />

Jesu Wirken <strong>und</strong> Leiden während seiner letzten Tage ausgerichtet sind. Deutlich<br />

kommen hier deshalb die Wesenszüge des irdischen Jesus zum Vorschein, zum einen<br />

in seiner groß angelegten Rede gegen die Pharisäer, die in keiner Passionsvertonung<br />

vor <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong> je Berücksichtigung gef<strong>und</strong>en hat 109 , zum anderen in der zentralen<br />

Gethsemaneszene, wo die menschlichen Gefühlsäußerungen Jesu offenbar werden.<br />

Zur terminologischen Einordnung dieser Textauswahl ist letztlich festzustellen, dass<br />

beileibe nicht der gesamte Stoff der Evangelien noch eine repräsentative Teilmenge<br />

daraus Einzug in die Vorlage gef<strong>und</strong>en hat, sondern es sich bei <strong>Martin</strong> um eine überschaubare<br />

<strong>und</strong> lediglich das Passionsgeschehen fokussierende Zusammenstellung<br />

handelt. <strong>Das</strong> Kriterium einer Evangelienharmonie ist damit nicht erfüllt <strong>und</strong> dieser<br />

Terminus technicus folglich zu verwerfen. Im weitesten Sinne kann die Auswahl als<br />

Passionsharmonie gelten, jedoch beinhaltet sie zum einen weder alle sieben Worte<br />

Jesu am Kreuz, noch handelt es sich bei <strong>Martin</strong> zum anderen um einen Bericht mit<br />

Textkürzungen, sondern in positiver Hinsicht um eine subjektiv getroffene Auswahl,<br />

die gar nicht die Absicht hat zu harmonisieren, aber dafür Relevantes herauszustellen.<br />

Treffender erscheint daher der Begriff einer subjektiven, auf wesentliche Passagen<br />

komprimierten <strong>und</strong> gleichzeitig um das eigentliche Passionsgeschehen einleitende<br />

Ereignisse erweiterten Passion-Jesu-Darstellung.<br />

108 Fischer 1997, S. 68.<br />

109 Vgl. Meester 1992, S. 187: „[…] un texte dont nous ne connaissons pas de traitement musical précédent.“<br />

31


3.2. Die „Confessiones“<br />

Augustinus (354 – 430) war einer der bedeutendsten christlichen Kirchenväter, der<br />

die heute gültige Trinitätslehre entscheidend ausformulierte. Erst in späten Jahren<br />

bekannte er sich zum Christentum <strong>und</strong> legte um 400 als Bischof <strong>von</strong> Hippo in seinen<br />

„Confessiones“, in denen die Wandlungen seines Lebens geschildert sind, Zeugnis ab<br />

über die Wirkungen der göttlichen Gnade, die er an sich erfahren hatte. Dabei sind<br />

die „Confessiones“ einerseits zu verstehen als Selbst- oder Sündenbekenntnis vor<br />

Gott wie auch andererseits als lobpreisendes Bekenntnis zu Gott 110 .<br />

In der Textvorlage zu <strong>„Golgotha“</strong> 111 sind Ausschnitte aus dem letzten Kapitel des<br />

zehnten Buchs der „Confessiones“ zusammengestellt, in dem Augustinus seinen<br />

gegenwärtigen Zustand analysiert <strong>und</strong> sich der Wirklichkeit Gottes zu nähern versucht.<br />

Dieses 43. Kapitel thematisiert das Bekenntnis zu dem Mittler zwischen Gott<br />

<strong>und</strong> Menschen, dem Menschen Jesus Christus 112 , <strong>und</strong> kann insofern als Anthologie<br />

bezeichnet werden, als zahlreiche Psalm-, Epistel- <strong>und</strong> Evangelienzitate miteinander<br />

verknüpft sind.<br />

Die Textstelle: „Quomodo nos amasti, pater bone […]“ erschien <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong> nach<br />

seinen letzten Überlegungen für den Beginn des Eingangschors des <strong>Oratorium</strong>s (Nr.<br />

I) geeignet; er entschied sich aber für die Umstellung des Satzes mit dreimaliger eröffnender<br />

Anrufung („Père! Père! Père! Jusqu’à quel point nous as-Tu donc aimés!“) – der<br />

durch die Abspaltung der Père-Rufe <strong>und</strong> seine zweimalige Wiederaufnahme zum<br />

Struktur bildenden Element wird –, womit sich ganz offensichtlich ein Anknüpfungspunkt<br />

zum Vorbild Bach <strong>und</strong> der Eröffnung <strong>von</strong> dessen Johannes-Passion<br />

auftut. Von vornherein ist hier auf die unvergleichliche Liebe Gottes hingewiesen<br />

<strong>und</strong> auf die Einsetzung seines eigenen <strong>und</strong> einzigen Sohnes – gleichen Wesens wie<br />

der Vater – zur Tilgung der menschlichen Sünden. Die zusammengestellte Passage<br />

aus den „Confessiones“, <strong>von</strong> <strong>Martin</strong> nachformuliert <strong>und</strong> teils umgestellt, trägt vom<br />

Ganzen her unverkennbar lehrhafte Züge, ohne dogmatisch zu wirken. Sie fordert<br />

zur Dankbarkeit <strong>und</strong> zum Vertrauen in den gottmenschlichen Mittler Christus auf,<br />

110 Vgl. Schiel, S. XXI.<br />

111 Eine Übersicht über die nichtevangelischen Texte findet sich in Kap. 7. Anhang I.<br />

112 Vgl. Bernhart, S. 932.<br />

32


durch den der Menschheit das Leben (d. h. ein Leben ohne Sünde) geschenkt ist. Für<br />

die Betonung der menschlichen Natur Jesu sind wenige Verse aus dem<br />

Apostolischen Glaubensbekenntnis eingefügt.<br />

<strong>Das</strong> Apostolikum als Erweiterung eines altrömischen Bekenntnisses aus der Urchristenheit,<br />

deren Entstehung man den Aposteln zuschrieb, dient mit seiner<br />

trinitarischen Struktur der gesamten westlichen Christenheit als Glaubens- <strong>und</strong> Taufbekenntnis<br />

<strong>und</strong> ist nicht zuletzt fester Bestandteil aller reformatorischen Katechismen.<br />

Dort heißt es zu Beginn des zweiten Artikels über Jesus, den eingeborenen<br />

Sohn Gottes: „[…] natus ex Maria virgine“, womit die Wirklichkeit seiner menschlichen<br />

Geburt unterstrichen wird. Diese Botschaft <strong>von</strong> der wahren Menschwerdung<br />

Jesu <strong>und</strong> seiner daraus hervorgehenden Menschlichkeit setzt <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong> in das<br />

Zentrum seines Prologs, der als des Komponisten persönliches Glaubensbekenntnis<br />

gelten kann <strong>und</strong> als Eingangschor, der den Bogen bis zum Osterereignis spannt („Il a<br />

triomphé de la mort.“) <strong>und</strong> unter dieser Zielsetzung inhaltlich alles Folgende zusammenfasst,<br />

die theologische Gr<strong>und</strong>lage <strong>und</strong> gesamte Voraussetzung für die Passion bietet.<br />

3.3. Die Meditationen<br />

Wie sich vor allem innerhalb der vergangenen Jahrzehnte herausgestellt hat, existieren<br />

<strong>von</strong> Augustinus weitaus weniger originale Schriften, als unter seinem Namen<br />

veröffentlicht sind. Den Nachforschungen Magda de Meesters 113 zufolge müssen<br />

auch die <strong>von</strong> <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong> in einer Sammlung <strong>von</strong> 1728 entdeckten Meditationen<br />

(vgl. S. 23) als pseudepigrafische Texte eingeordnet werden; sie stammen zum Großteil<br />

<strong>von</strong> dem Benediktiner Johannes <strong>von</strong> Fécamp (nach 990 – 1078; auch unter seinem<br />

lateinischen Namen Johannes Fiscannensis bekannt), der ab 1028 als Abt dem<br />

Kloster La Trinité in Fécamp vorstand <strong>und</strong> heute als „einer der markantesten Mystiker<br />

zwischen Gregor dem Großen <strong>und</strong> Bernhard <strong>von</strong> Clairvaux“ 114 gilt. Seine<br />

Hauptwerke bilden drei Sammlungen <strong>von</strong> Gebeten <strong>und</strong> Meditationen, <strong>von</strong> denen das<br />

„Libellus de scripturis et verbis patrum collectus“, vermutlich entstanden in den ersten<br />

Jahren seiner Amtszeit, im Mittelalter mit fremden Zusätzen unter dem Titel<br />

„Meditationes S. Augustini“ herausgegeben wurde <strong>und</strong> „in gewisser Hinsicht die Art<br />

113 Vgl. Meester 1992, S. 189.<br />

114 Geiselmann, Sp. 815.<br />

33


<strong>von</strong> Florilegien aus Bibel <strong>und</strong> Kirchenvätern“ 115 besitzt. Somit gründen sich seine<br />

Gebetstexte auf Ausschnitte aus gesammelten Bibelstellen <strong>und</strong> anderen literarischen<br />

Werken, besonders <strong>von</strong> Augustinus <strong>und</strong> Gregor, reflektieren diese aber durch meditierende<br />

Vertiefung <strong>und</strong> sind auf Gr<strong>und</strong> dieser Synthese als mystisch-verinnerlichende<br />

Schriften zu bezeichnen. Schon Heinrich Schütz vertonte einige dieser Texte<br />

in seinen „Cantiones Sacrae“ wie auch in den Kleinen Geistlichen Konzerten, „was<br />

übrigens <strong>Martin</strong> nicht wusste.“ 116<br />

Zwischen die einzelnen Szenen aus dem Evangelium sind bei <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong> Passagen<br />

aus den Meditationen 5, 6, 7 sowie 41 eingefügt, die sich trotz ihrer ähnlichen Anlage<br />

durch ihren Charakter <strong>und</strong> in ihrer Aussage unterscheiden. Weitere Sätze aus den<br />

Meditationen 15 <strong>und</strong> 18 werden im Zusammenhang mit der Besprechung des Exsultet<br />

erwähnt. Wie der Ausschnitt aus den „Confessiones“ sind die Texte <strong>von</strong> <strong>Martin</strong><br />

gegenüber der ihm vorliegenden Sammlung insofern mit einer persönlichen Note<br />

versehen, als er durch gelegentliche Tempuswechsel, direkte Anrede an Gott in der<br />

zweiten Person <strong>und</strong> Vereinfachung <strong>von</strong> Passagen aktuellere Versionen mit abwechslungsreicher<br />

Perspektive entstehen lässt 117 .<br />

Ausschnitte aus Meditation 7 folgen sowohl dem Einzug Jesu in Jerusalem (Nr. II)<br />

als auch der Szene vor dem Hohen Priester (Nr. VII). Auffällig sind jeweils die eröffnenden<br />

Fragen, die die Unfassbarkeit über Jesu Erniedrigung <strong>und</strong> seine Sühnung<br />

der menschlichen Schuld („[…] jusqu’où ton humilité te fait-elle descendre?“) <strong>und</strong> gleichzeitig<br />

die diesbezügliche Unwürdigkeit der erlösungsbedürftigen Menschheit <strong>und</strong><br />

deren Hartherzigkeit <strong>und</strong> Boshaftigkeit zum Ausdruck bringt („Comment t’a-t-on pu<br />

juger digne d’un traitement si rigoureux […]?“). Der Beter thematisiert in erster Linie seine<br />

eigene Sünde <strong>und</strong> Schuld <strong>und</strong> betont dieses zentrale Motiv der Selbstanklage wiederholt<br />

<strong>und</strong> in ähnlicher Weise, wodurch sich eine demütig-meditative Note einstellt,<br />

jedoch mit vergleichsweise nüchtern-sachlichem Charakter. Der Aufbau des zweiten<br />

Ausschnitts ist geradezu argumentativ zwingend: An wem liegt die Schuld? – An mir<br />

liegt die Schuld.<br />

115 Köpf, S. 132.<br />

116 Halbreich, S. 30.<br />

117 Vgl. Meester 1992, S. 189 f.<br />

34


Der Anschluss an den jeweils vorausgehenden Evangelientext ist auf verschiedene<br />

Art gestaltet. In Nummer II folgt auf die Ankündigung Jesu, die kommenden Leiden<br />

auf sich nehmen zu wollen („Darum bin ich in diese St<strong>und</strong>e gekommen“; vgl. auch S.<br />

28), als Reaktion die kommentierende Äußerung der Unbegreiflichkeit über dieses<br />

Vorhaben; neben dieser inhaltlichen Verknüpfung arbeitet <strong>Martin</strong> mit Gegensätzen:<br />

Jesus wird letztlich <strong>von</strong> der Erde erhöht, steigt also in den Himmel hinauf – (Unmittelbare<br />

Frage:) Wie weit steigst du (zunächst) herab? Die siebte Nummer verwendet<br />

für den Anschluss das Schlüsselwort „Christ“ mit starker Kontrastwirkung,<br />

nämlich zuerst in der lästernden Verhöhnung durch das Volk („Christ! Errate, wer<br />

eben dich schlug!“), dann in liebender Anbetung („Christ! Divin Sauveur! […] Christ, aie<br />

pitié pour nous!“).<br />

Eine der beiden Passagen aus Meditation 41 schließt sich an den Disput im Tempel<br />

an (Nr. III), die andere bildet die eigenständige Nummer VI des <strong>Oratorium</strong>s, mit der<br />

<strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong> den zweiten Teil seines Werkes eröffnet. Hier fällt die Fülle der Fragen<br />

ins Auge, die jedoch zum Großteil rhetorischer Art sind <strong>und</strong> in ihrer Aneinanderreihung<br />

zunächst unbeantwortet bleiben. Im Zentrum dieser Meditation steht das<br />

Warten auf die Parusie, verknüpft mit der aus dem Hohelied übernommenen Brautmetaphorik:<br />

die verlassene Seele wartet auf den Tag der Ankunft des geliebten<br />

Bräutigams. Hier offenbart sich ein deutlich subjektiv-mystischer Charakter mit gewissen<br />

erotischen Zügen insofern, als der Beter mit größter Intensität auf einen unmittelbaren<br />

<strong>und</strong> nahen Kontakt zu Gott zu zielen <strong>und</strong> eine innerliche Einswerdung<br />

zu erreichen scheint.<br />

<strong>Das</strong> Schlüsselwort zur Anknüpfung an die biblische Passage ist in Nummer III der<br />

„Tag“ der endzeitlichen Wiederkunft, mit dessen Ankündigung Jesus seine Predigt<br />

im Tempel abschließt (vgl. S. 28) <strong>und</strong> den allein die einsame Seele sehnlichst erwartet<br />

(„Quand serai-je assez heureuse pour voir ce jour béni […]?“). Die Stellung <strong>von</strong> Nummer VI<br />

wird später behandelt.<br />

Die beiden Ausschnitte aus den Meditationen 5 <strong>und</strong> 6, die der Gethsemaneszene (Nr.<br />

V) bzw. der Kreuzigung (Nr. IX) folgen, ähneln einander in Haltung <strong>und</strong> Charakter.<br />

Nach den beiden zentralen Szenen des Verrats, der die Passion einleitet, <strong>und</strong> des<br />

Todes, der die Passion abschließt, lässt <strong>Martin</strong> keine Fragen mehr zu. Gleichsam<br />

35


sprachlos-monoton sind folglich die sechs Sätze in Nummer V gestaltet, die entweder<br />

mit Voici oder C’est die bildhaft-metaphorischen Betrachtungen der Meditation<br />

einleiten <strong>und</strong> in ihrer mitteilend schildernden Haltung – die deutsche Version übersetzt<br />

gar: „O sieh […]“ <strong>und</strong> zieht den Rezipienten damit unbedingt in ihren Bann –<br />

klare Aussagen zu Gottes Sohn als dem geopferten Lamm treffen. Noch gesteigert ist<br />

das Bedürfnis nach Schilderung der Schmerzen <strong>und</strong> hier auch der W<strong>und</strong>en des leidenden<br />

Gekreuzigten in Nummer IX, die in geradezu barocker Ausschmückung –<br />

die stellenweise etwas schwülstige Übertragung ins Deutsche 118 ist allerdings Zutat<br />

des Übersetzers – <strong>und</strong> äußerst detailliert ausgemalt sind; der Beter scheint sich an den<br />

Leiden des Gekreuzigten geradezu zu erbauen. Gegenüber den vorangehenden Meditationen<br />

zeichnet sich in diesem demütigen Gebet demnach eine ganz besondere<br />

Sensibilität für die Leiden Christi ab, wobei die originelle Perspektive auffällt: Gott-<br />

Vater wird zur Betrachtung des Kreuzes <strong>und</strong> damit zum Mit-Leiden aufgefordert.<br />

Aus diesen Beobachtungen zu den Meditationen geht also hervor: Es handelt sich<br />

um Texte mittelalterlicher Passionsmystik, die die kontemplativen Betrachtungen des<br />

Beters respektive des Meditierenden in sehr persönlicher Weise schildern <strong>und</strong> die<br />

berichtenden Passagen der Passion-Jesu-Darstellung durch inhaltlichen Anschluss<br />

oder Verknüpfung mit Hilfe <strong>von</strong> Schlüsselwörtern kommentieren. Es sei angemerkt,<br />

dass passionsmystische Texte dieser Art im 17. Jahrh<strong>und</strong>ert <strong>und</strong> im aufkommenden<br />

Pietismus mit Vorliebe als Vorlage für die Kirchenlieddichtung dienten 119 . Durch die<br />

bildhafte, gelegentlich barocke Sprache <strong>und</strong> die seelische Vertiefung des Beters in<br />

seine subjektive Betrachtung, verb<strong>und</strong>en mit einer erkennbaren Ich-Bezogenheit, ist<br />

man auch deshalb aus heutiger Sicht geneigt, den <strong>von</strong> <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong> ausgewählten<br />

Texten stellenweise beinahe pietistische Züge zuzusprechen. Andere Stellen wirken<br />

auf Gr<strong>und</strong> ihrer prägnanten <strong>und</strong> in ihrer Einfachheit verständlichen Aussage geradezu<br />

aktuell.<br />

118 Vgl. beispielsweise: „zur marmornen Brust“ (sur son sein adorable); „Lippen, verdorrt in Todesqual“<br />

(lèvres […] toutes desséchés); „überkrustet vom heiligen Blute“ (tout couverts de son sang adorable).<br />

119 Vgl. beispielsweise Paul Gerhardts Lied „O Haupt voll Blut <strong>und</strong> W<strong>und</strong>en“ (1656), gedichtet nach<br />

einer Vorlage <strong>von</strong> vor 1250.<br />

36


3.4. Der 121. Psalm<br />

In die Meditation der Nummer VI in <strong>„Golgotha“</strong> sind sechs der acht Verse des 121.<br />

Psalms eingebaut (V. 1. 2. 4 – 7), ein Lied für Wallfahrten, das als Segenspsalm zu<br />

kategorisieren ist 120 . In einem Wechselgespräch schildert ein Ausziehender (ein Wallfahrer)<br />

dem Zurückbleibenden seine Sorgen <strong>und</strong> Zweifel über den bevorstehenden<br />

Weg: „Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen. Von wo kommt mir Hilfe?“ Der<br />

Antwortende weist auf sein eigenes Vertrauen hin („Meine Hilfe kommt <strong>von</strong> dem<br />

Herrn […]“), zieht den Fragenden in sein Vertrauen hinein <strong>und</strong> spricht ihm für seinen<br />

unvorhersehbaren Weg den Segen zu.<br />

Indem <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong> diesen Dialog zwischen die sorgenden Fragen der einsamen<br />

Seele einwebt, sagt er in diesem den zweiten Teil eröffnenden Satz auf metaphorischer<br />

Ebene aus: So ungewiss der Weg der verlassenen Seele („Où irai-je […]?“), so<br />

beschwerlich ist der Weg, der Jesus, <strong>von</strong> seinen Jüngern verlassen, bevorsteht. Im<br />

Vertrauen auf Gott den Herrn, der seinen Segen jedem zuspricht („Der Herr behüte<br />

dich […]“) <strong>und</strong> für jeglichen Weg erteilt, findet sich jederzeit eine beruhigende Antwort<br />

121 . Vor dem Hintergr<strong>und</strong> dieser Aussage, die als Bestandteil des eigenen Glaubenszeugnisses<br />

des Komponisten gelten kann, öffnet sich im <strong>Oratorium</strong> nach den<br />

Vorboten des ersten Teils der Vorhang zur eigentlichen Passion <strong>und</strong> dient in der<br />

dramaturgischen Anlage als Intermedium.<br />

Die verblüffende Ähnlichkeit dieses Satzes – schon allein auf textlicher Ebene – zu<br />

der den zweiten Teil <strong>von</strong> Bachs Matthäus-Passion eröffnenden Arie: „Ach, nun ist<br />

mein Jesus hin“ soll hier nicht verschwiegen bleiben. Schon Bachs Librettist Picander<br />

griff für seine Textvorlage auf alttestamentliche Einschübe zurück <strong>und</strong> kombinierte<br />

seine eigene Dichtung mit ermutigenden Versen aus dem Hohelied. Auch seine Reflexion<br />

bezieht sich inhaltlich auf Jesu Gefangennahme am Ölberg <strong>und</strong> beklagt dessen<br />

Verlust, <strong>und</strong> auch seine Arie endet nicht mit den beruhigenden Worten aus dem<br />

Alten Testament, sondern mit unruhigen Fragen der Besorgnis.<br />

120 Vgl. Westermann, S. 201.<br />

121 Vgl. Meester 1992, S. 190.<br />

37


3.5. Der erste Brief des Paulus an die Korinther<br />

Wie schon erwähnt (vgl. S. 24), war der Vers: „O Tod, wo ist ein Stachel? O Hölle,<br />

wo ist dein Sieg?“ (1. Kor 15, 55) das Erste, was <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong> bei der Begegnung mit<br />

dem Kupferstich Rembrandts in den Sinn kam. Er findet sich im vorletzten Kapitel<br />

des Ersten Korintherbriefs, das Jesu Auferstehung thematisiert <strong>und</strong> vor dem Epilog<br />

mit praktischen Anweisungen an die Gemeinde den Höhe- <strong>und</strong> Schlusspunkt des<br />

Briefes darstellt. Paulus verweist dort nachdrücklich auf den leibhaftigen Charakter<br />

der Auferweckung Jesu, an der die zentralen Inhalte des christlichen Glaubens hängen:<br />

die Vergebung der Sünden <strong>und</strong> die endzeitliche Vollendung. Wer diesen Auferstehungsglauben<br />

bekennt, wird ebenso auferstehen, nicht in fleischlicher, aber in<br />

geistiger Leiblichkeit, <strong>und</strong> das ewige Leben erlangen. Der Tod ist endgültig besiegt<br />

<strong>und</strong> durch Jesu Auferstehung ist erfüllt, was die alttestamentlichen Propheten voraussagten,<br />

die Paulus zitiert: Gott, der Herr, werde die, die an ihn glauben, „aus dem<br />

Totenreich erlösen <strong>und</strong> vom Tode erretten“ (Hos 13, 14) <strong>und</strong> „den Tod verschlingen<br />

auf ewig.“ (Jes 25, 8.)<br />

Die beiden rhetorischen Fragen als solche, die „hymnisch-triumphierende Gestalt<br />

annehmen <strong>und</strong> wie der Höhepunkt des ganzen Kapitels wirken“ 122 , „bringen in der<br />

Anrede an den Tod Spott <strong>und</strong> Triumph zum Ausdruck.“ 123 Der Tod wird hier als<br />

gefährliches Insekt dargestellt, das mit seinem Stachel – als Metapher für die Sünde,<br />

das Herrschaftsinstrument des Todes – verw<strong>und</strong>et oder tötet; dieser Stachel ist ihm<br />

entrissen, der Tod kann sich der Sünde nicht mehr bedienen, hat seine Herrschaft<br />

verloren <strong>und</strong> ist damit besiegt, der Mensch <strong>von</strong> seinen Sünden erlöst. 124<br />

„A la réflexion, je conservai cette phrase, déjà composée, pour la fin de l’œuvre, entre la mort du<br />

Christ, et le chœur qui annonce sa résurrection“ 125 (Nach eingehender Überlegung entschied<br />

ich mich, die bereits vertonte Phrase für das Ende des Werkes aufzuheben <strong>und</strong> sie<br />

zwischen Christi Tod <strong>und</strong> denjenigen Chor zu setzen, der die Auferstehung ankündigt),<br />

berichtet <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong> über die endgültige Platzierung des Paulusverses,<br />

den er zunächst als Eröffnung vorgesehen hatte. Aus dem Exordium ist damit eine<br />

122 Schrage, S. 361.<br />

123 Ebd., S. 380.<br />

124 Vgl. ebd., S. 380 ff.<br />

125 <strong>Martin</strong> 1963, S. 82.<br />

38


Conclusio geworden – seit den frühesten Passionsvertonungen die nicht dem Bibeltext<br />

entnommene Schlussformel, die dem erzählenden Hauptteil folgte 126 –, aus der<br />

überschriftartigen Einleitung die resümierende Zusammenfassung. So wie der paulinische<br />

Vers für <strong>Martin</strong> die Summe seiner Bildbetrachtung bedeutete, lässt er ihn im<br />

<strong>Oratorium</strong> als Summe <strong>von</strong> Jesu Leidensgeschichte, die einzig auf die Erlösung der<br />

Sünden zielt, erscheinen (Nr. X). Dies geschieht mit unvermittelter Kontrastwirkung<br />

zu der unmittelbar vorausgehenden bildhaften Vertiefung in Jesu Leiden, einer klagenden,<br />

bemitleidenden Reflexion der Ausweglosigkeit, die die wirkliche Bedeutung<br />

<strong>von</strong> Jesu Tod noch nicht realisiert hat; gleichzeitig wird damit der Bogen zum<br />

strahlenden Jubel über die österliche Auferstehung gespannt.<br />

3.6. <strong>Das</strong> Exsultet<br />

Der nach seinem lateinischen Anfangswort benannte Lobgesang („Exsultet iam angelica<br />

turba caelorum“) bildet gleichzeitig Abschluss <strong>und</strong> Höhepunkt der die Osternachtsliturgie<br />

eröffnenden Lichtfeier („Lucernarium“) <strong>und</strong> wird nach der Segnung<br />

des Feuers, der Bereitung der Osterkerze <strong>und</strong> der Prozession vom Diakon oder vom<br />

Kantor rezitiert. Die heute gebräuchliche Zusammenstellung, formuliert in Kunstprosa,<br />

stammt aus dem späten 4. Jahrh<strong>und</strong>ert 127 . Der Großteil der zehnten <strong>und</strong> letzten,<br />

auf die Kreuzigungsszene folgende Nummer in <strong>„Golgotha“</strong> gründet sich als<br />

groß angelegter Schlusschor auf Verse aus ausgewählten Passagen des Exsultet, die<br />

auch hier <strong>von</strong> <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong> selbst überarbeitet, teils zusammengefasst, teils neu<br />

kombiniert <strong>und</strong> durch Ergänzungen aus Meditationen paraphrasiert <strong>und</strong> erweitert<br />

sind.<br />

Unmittelbar an den besprochenen Vers aus dem Korintherbrief schließt sich die Zusammenfassung<br />

des Prologs des Exsultet an, der zum Jubel <strong>und</strong> zur österlichen<br />

Freude einlädt („Tressaille de joie […]“). Auffällig ist die reiche Metaphorik <strong>und</strong> Bildhaftigkeit:<br />

Jesus ist König, seine Kreuzigung ist sein Sieg, Himmel <strong>und</strong> Erde sind zur<br />

Freude aufgefordert, Musikinstrumente <strong>und</strong> Stimmen sollen ihrem Jubel Ausdruck<br />

verleihen. Auch die Licht-Schatten-Symbolik des zweiten Verses ist übernommen<br />

(splendeur – ténèbres).<br />

126 Vgl. Fischer 1997, S. 139.<br />

127 Vgl. Fuchs/Weikmann, S. 16 ff.<br />

39


In dem darauf folgenden Abschnitt sind die Verse 12 – 19 des Exsultet verarbeitet,<br />

die dort den danksagenden Teil <strong>und</strong> damit das eigentliche Hochgebet einleiten. Diese<br />

anamnetische Passage, die an die Heilstaten Gottes erinnert <strong>und</strong> damit den Gr<strong>und</strong><br />

für jeglichen Lobpreis darstellt, umfasst sowohl Verse, die an die Paschanacht denken<br />

lassen <strong>und</strong> mit „haec nox“ eingeleitet werden, als auch die so genannten O-Rufe<br />

über die Unfassbarkeit der Erlösung der Menschheit. <strong>Martin</strong> stellt seinem Abschnitt<br />

den zentralen Vers voran, der das Ostereignis sehr plastisch auf den Punkt bringt: So<br />

wie Christus in das Reich des Todes hinabgestiegen ist, befreit er sich <strong>von</strong> den Fesseln<br />

des Todes <strong>und</strong> steigt daraus wieder empor („Car c’est ici la nuit bénie, […]“). Die<br />

folgenden fünf Anrufungen an die Nacht, <strong>von</strong> denen einzig die erste keinen Ursprung<br />

im Exsultet findet, aber bruchlos in die Umgebung eingefügt ist, heben vor<br />

allem die Einzigartigkeit dieser Osternacht hervor, der als einziger der genaue Zeitpunkt<br />

der Auferstehung Jesu bekannt war. Die den Absatz abschließenden, an Gott<br />

gerichteten Verse („O merveilleux honneurs […]“) „betonen das unverdiente, gnadenhafte<br />

Herablassen seiner Güte; sie allein kann den Menschen, der mit seinem Sündenfall<br />

eigentlich alles verwirkt hat, noch retten.“ 128<br />

Die letzte Passage der Nummer, die den pseudo-augustinischen Meditationen 15 <strong>und</strong><br />

18 entnommen ist, erweitert den hymnischen Lobpreis des Exsultet: Die Finsternis<br />

der Sünde ist endgültig vertrieben, Himmel <strong>und</strong> Erde sind vom wahren Licht <strong>und</strong><br />

den leuchtenden Gnadenstrahlen des ewigen Königs durchflutet. Mit diesem österlichen<br />

Lob erweitert <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong> den Passionsbericht getreu seiner Absicht, eine<br />

Gesamtübersicht geben zu wollen (vgl. S. 22), auch <strong>und</strong> vor allem nach hinten, bewegt<br />

sich dabei aber gänzlich außerhalb der Evangelientexte <strong>und</strong> lässt, den Tod verhöhnend,<br />

einzig den Jubel über den Sieg zur Geltung kommen.<br />

128 Fuchs/Weikmann, S. 66.<br />

40


3.7. Zusammenfassung<br />

Wie im Detail gezeigt, ist die Textvorlage zu <strong>„Golgotha“</strong> aus bestimmten Texten der<br />

Evangelien sowie ausgewählten nichtevangelischen Textstellen zusammengesetzt, die<br />

in ihrer Ganzheit vor allem verschiedene Gegensätze (Tag – Nacht, Licht – Schatten,<br />

Schuld – Unschuld, Himmel – Erde, menschlich – göttlich, Grab – Sieg 129 ) zum Ausdruck<br />

bringen. Wie in der Radierung Rembrandts steht die Person Jesu stets im<br />

Zentrum des Geschehens <strong>und</strong> wie ein roter Faden spannt sich durch alle Texte inhaltlich<br />

der Gedanke der Erlösung: Christi Opfertod <strong>und</strong> seine Auferstehung sind die<br />

Voraussetzung für das Heil der erlösungsbedürftigen Menschheit. Diese Aussage ist<br />

die befreiende <strong>und</strong> frohe Botschaft der gesamten Textvorlage, gleichzeitig Zeichen<br />

für die „gläubig christozentrische Haltung des Komponisten“ 130 <strong>und</strong> damit <strong>Frank</strong><br />

<strong>Martin</strong>s eigenes Bekenntnis.<br />

Durch Eingangschor, Intermedium <strong>und</strong> Schlusschor, deren Textgr<strong>und</strong>lagen <strong>und</strong><br />

Aussagen besprochen wurden, ist das Werk formal gegliedert; durch seine zweiteilige<br />

Anlage trennt es klar die Vorboten zur Leidensgeschichte <strong>von</strong> der eigentlichen Passion<br />

131 . Jenen Platz, den Bach in seinen Passionen den Arien <strong>und</strong> Chorälen zuweist,<br />

nehmen bei <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong> die Meditationen ein, die die einzelnen Szenen der Passion-<br />

Jesu-Darstellung, die für sich dramatisch gestaltet sind, <strong>und</strong> die verschiedenen Haltungen<br />

Christi reflektieren <strong>und</strong> kommentieren. Einzig der Abendmahlsszene <strong>und</strong> der<br />

Szene Jesu vor Pilatus folgen keine Meditationen: „Der folgerichtige Fortgang der<br />

Handlung duldet kein Einhalten.“ 132<br />

Auf Gr<strong>und</strong> der durchgeführten Beobachtungen bietet es sich an, die Textvorlage als<br />

eine Art Collage zu bezeichnen, als Montage in ihrem positivsten Sinne. Die engagiert<br />

gestaltete Dramaturgie lässt die zusammengestellte Vorlage als literarisches<br />

Kunstwerk erscheinen. Besonders herauszustellen ist dabei die Beobachtung einer<br />

außerordentlichen emotionalen Beteiligtheit des Komponisten.<br />

129 Vgl. Meester 1992, S. 189.<br />

130 Fischer 1997, S. 126.<br />

131 An gleicher Stelle teilt Bach seine Matthäus-Passion (vgl. Meester 1992, S. 191).<br />

132 Billeter 1999, S. 125.<br />

41


So deutlich <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong> sich <strong>von</strong> seinem Vorbild Bach abgrenzt, so auffällig sind<br />

die Ähnlichkeiten zu den Bachschen Passionen, die im folgenden Kapitel zur musikalischen<br />

Realisierung noch ausgeweitet werden. Was <strong>Martin</strong> zweifelsohne gelingt, ist<br />

jegliche Vermeidung <strong>von</strong> Unterbrechungen <strong>und</strong> retardierenden Momenten – die er<br />

Bachs Werken zuspricht 133 – schon allein durch die Einheit <strong>und</strong> zwingende Anlage<br />

seiner Textzusammenstellung. Die gewissermaßen objektive oder neutrale Haltung,<br />

die er seinen Meditationen zuspricht, nimmt aber, wie besprochen, stellenweise auffallend<br />

subjektive Züge an. Zweifellos handelt es sich nicht, wie in den Chorälen<br />

Bachs, um der Gemeinde bekannte <strong>und</strong> vertraute Liedtexte, doch vermögen die verinnerlichte<br />

Selbstanklage <strong>und</strong> die in Ich-Form vorgetragenen, teils mit-leidenden Betrachtungen<br />

gewiss den Hörer in ihren Bann zu ziehen – selbstredend im außerliturgischen<br />

Bereich. Vor dem Hintergr<strong>und</strong> der detailliert <strong>und</strong> in vielfacher Weise<br />

beleuchteten Erlösungstheologie ist es dem Hörer gewiss selbst überlassen seine eigenen<br />

Folgerungen daraus zu ziehen, aber gerade durch die Aktualität <strong>und</strong> Schlichtheit<br />

der Aussagen kann die Wirkung auf den Rezipienten, bei größtem Respekt gegenüber<br />

der Intention des Komponisten, durchaus einnehmend sein. Wodurch sich die textliche<br />

Konzeption <strong>von</strong> <strong>„Golgotha“</strong>, bei aller Nähe in formaler Hinsicht, nicht nur <strong>von</strong><br />

Bachs Passionen, sondern <strong>von</strong> der gesamten Tradition der Passionsvertonung deutlich<br />

unterscheidet, ist die Einbeziehung des Osterereignisses, in dem nicht zuletzt die<br />

bejahende Glaubensaussage <strong>Martin</strong>s <strong>und</strong> seine gesamten Lobpreisungen zum Ausdruck<br />

gebracht sind.<br />

133 Vgl. <strong>Martin</strong> 1975, S. 14: „[…] en évitant toutefois ces ruptures que, sans nier leur écrasante beauté, il faut bien<br />

constater dans les Passions de Bach“.<br />

42


4. Die musikalische Realisierung<br />

Mit seinem Werk „Le Vin Herbé“ hatte <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong>, wie in Kapitel 2 geschildert,<br />

im Alter <strong>von</strong> beinahe fünfzig Jahren zu seinem Stil der Reife <strong>und</strong> damit zu seiner<br />

eigentlichen Tonsprache gef<strong>und</strong>en (vgl. S. 8 f.), auf deren Charakteristika zusammenfassend<br />

hingewiesen wurde (vgl. S. 9). Zu seiner musikalischen Sprache in <strong>„Golgotha“</strong><br />

wurde bereits ausgeführt, dass er die Vertonung seiner Textvorlage mit dem<br />

Gedanken vornahm, allein für sich selbst <strong>und</strong> nicht für die Öffentlichkeit zu<br />

komponieren; jede ästhetische Fragestellung war – entsprechend seiner generellen<br />

Vorstellungen über den Umgang mit dem religiösen Kunstwerk (vgl. S. 13) – hinter<br />

die getreue Umsetzung des religiösen Inhalts <strong>und</strong> den Ausdruck seines eigenen<br />

Glaubens zurückgetreten (vgl. S. 18 f.).<br />

Dementsprechend äußert er selbst zur musikalischen Realisierung: „Dans cette réalisation<br />

musicale, j’ai cherché avant tout à exclure tout ce qui pourrait paraître une recherche esthétique<br />

quelconque, en m’attachant, autant qu’il m’était possible, à trouver l’expression qui me paraît juste<br />

pour chaque scène et pour chaque sentiment. Je n’ai pas craint d’écrire certains passages dans une<br />

langue musicale extrêmement simple, d’autres dans une langue beaucoup plus complexe“ 134 . (In<br />

dieser musikalischen Umsetzung habe ich vor allen Dingen all das auszuschließen<br />

versucht, was in irgendeiner Weise als ästhetische Suche erscheinen könnte, <strong>und</strong><br />

mich bemüht, soweit es mir möglich war, für jede Szene <strong>und</strong> für jede Gefühlsempfindung<br />

genau den Ausdruck zu finden, den ich für passend hielt. Ich habe mich<br />

nicht davor gescheut, bestimmte Passagen in einer extrem einfachen Tonsprache zu<br />

schreiben <strong>und</strong> andere wesentlich komplizierter zu vertonen.)<br />

Ergänzend beschreibt er seine musikalische Sprache – je nach Notwendigkeit – als<br />

zuweilen unruhig chromatisch, an ausgewählten Stellen dafür auffallend schlicht,<br />

wenn nicht gar tonal mit Abschnitten perfekter Dreiklangsbildung. Textausdeutung<br />

sei sein Hauptanliegen 135 , <strong>und</strong> für diese oberste Prämisse war es in <strong>„Golgotha“</strong><br />

stellenweise nötig, zu einer „Vereinfachung seiner Schreibweise“ 136 zu gelangen, was<br />

Rudolf Klein an seiner etwas pauschalen Beobachtung festmacht: „Schon im bloßen<br />

134 <strong>Martin</strong> 1950, S. 73.<br />

135 Vgl. <strong>Martin</strong> 1963, S. 204.<br />

136 Klein, S. 49.<br />

43


Notenbild überwiegen die halben <strong>und</strong> ganzen Noten, aus denen sich in der Hauptsache<br />

reine Akkorde bilden.“ 137 Der Blickwinkel Kurt <strong>von</strong> Fischers erscheint diesbezüglich<br />

um einiges differenzierter: „[…] reine Dur- <strong>und</strong> Mollakkorde erscheinen<br />

[…] als neu erlebte Klangwerte“ 138 .<br />

Bei dieser neuen Einfachheit mit einzelnen, sogar funktionsharmonisch deutbaren<br />

Abschnitten handelt es sich also „nicht um einen Rückfall in eine frühere<br />

Schaffensstufe […], sondern um eine Synthese gewisser funktionaler Elemente mit<br />

den im ‚Vin herbé’ gewonnenen harmonischen Mitteln“ 139 . <strong>Martin</strong> selbst sieht es so:<br />

„J’ai passé par un long chemin, assez ardu, pour arriver par moments à une telle simplicité. J’ai du<br />

écrire et chercher des accords infiniment compliqués pour parvenir peu à peu à les décanter. […] il<br />

m’est impossible de chercher directement la simplicité pour elle-même. Elle survient de temps en temps<br />

comme une chose précieuse et pure“ 140 . (Ich habe einen langen, beschwerlichen Weg zurückgelegt,<br />

um für Augenblicke zu einer solchen Einfachheit zu gelangen. Ich musste<br />

unendlich komplizierte Akkordverbindungen suchen, bis es mir allmählich gelang, sie<br />

klarer zu machen. Es ist mir unmöglich, geradewegs die Einfachheit an sich selbst zu<br />

suchen. Von Zeit zu Zeit kommt sie über mich wie ein kostbarer <strong>und</strong> reiner Gegenstand.<br />

141 ) Wichtig sei der ausgewählte <strong>und</strong> selektive Gebrauch dieser Einfachheit, die<br />

Substanz der Musik dürfe darunter nicht leiden.<br />

Was hier bezüglich der musikalischen Realisierung <strong>und</strong> <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong>s Stilmittel andeutungsweise<br />

umrissen wurde, soll in diesem Kapitel näher beleuchtet werden. Zuvor<br />

ist es jedoch nötig, die musikalische Anlage zu kennzeichnen <strong>und</strong> die Großform,<br />

die bereits skizziert wurde (vgl. S. 26), auf musikalischer Ebene zu präzisieren.<br />

137 Ebd.<br />

138 Fischer 1951, S. 94.<br />

139 Billeter 1971, S. 76.<br />

140 <strong>Martin</strong> 1967, S. 65.<br />

141 Übersetzung nach: Billeter 1990, S. 238 f.<br />

44


4.1. Musikalische Anlage <strong>und</strong> Großform<br />

Der Kontrast zwischen Licht <strong>und</strong> Finsternis, der schon für <strong>Martin</strong>s Textzusammenstellung<br />

als Leitidee fungierte, prägt auch die musikalische Anlage des Werkes: Neben<br />

der profilierten Vox Christi, deren herausragende Stellung dem Baritonsolisten zugewiesen<br />

ist, treten die übrigen Partien in den – dunklen – Hintergr<strong>und</strong>. Für ihren<br />

jeweiligen Auftritt sind die Rollen des Hohen Priesters <strong>und</strong> des Pilatus dem Bassbzw.<br />

dem Tenorsolisten anvertraut. Episodenhaft bleiben die Partien des Jüngers,<br />

den Jesus liebte, des Judas sowie der falschen Zeugen, die auch <strong>von</strong> Tenor- <strong>und</strong><br />

Basssolist übernommen werden.<br />

Um die zentrale Stellung der Christuspartie weiterhin nicht zu gefährden, entschied<br />

sich <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong> zu Gunsten einer entpersonalisierten Evangelistenpartie <strong>und</strong> vermied<br />

somit eine zu starke Identifikation <strong>von</strong> dessen Rolle mit einer einzigen Stimme.<br />

Stattdessen verteilte er die Erzählung des Passionsgeschehens auf verschiedene Solisten<br />

(außer auf Bariton <strong>und</strong> Sopran) <strong>und</strong> den Chor (mit Ausnahme der Sopranstimme),<br />

je nach spezifischer Aussage <strong>und</strong> Kontext. Wird die Handlung schnell<br />

vorangetrieben <strong>und</strong> zeigt sie dramatische Elemente, berichtet eine Solostimme, die<br />

für den Moment unmittelbar an der Szene teilzuhaben scheint <strong>und</strong> deren Besetzung<br />

<strong>von</strong> derjenigen Partie abhängt, <strong>von</strong> der berichtet wird: Geht es beispielsweise um den<br />

Hohen Priester (Bass), erzählt der Tenor, während Pilatus (Tenor) mit dem Basssolisten<br />

als Evangelist dialogisiert. An Stellen mit eher deskriptivem Charakter abseits<br />

<strong>von</strong> dramatischer Handlung singt der Chor.<br />

Der Chor repräsentiert außerdem die Volksmenge, übernimmt also zusätzlich die<br />

Funktion der so genannten Turba 142 , <strong>und</strong> ist im Eingangs- <strong>und</strong> Schlusschor sowie in<br />

einigen der Meditationen beschäftigt – in letzteren in der Rolle der Gemeinschaft der<br />

Glaubenden 143 . Die vier Solisten (mit Ausnahme der Baritonstimme) treten in den<br />

Nummern II <strong>und</strong> X als Quartett, sonst individuell oder in verschiedenen Kombinationen<br />

auf; rein solistisch – die Rolle der anonymen christlichen Seele einnehmend 144 –<br />

142 Die Turba wird definiert als „Menschenmenge, Chor einer Menge <strong>von</strong> Personen“ (Fischer 1997, S.<br />

140).<br />

143 Vgl. Meester I 1993, S. 135: „[…] le chœur représentant l’assemblée des fidèles“.<br />

144 Vgl. ebd.: „[…] le rôle d’une âme chrétienne anonyme“.<br />

45


sind die Meditationen der Nummern III (Sopran) <strong>und</strong> IX (Tenor) angelegt, das Altsolo<br />

im Intermedium (Nr. VI) wird nur durch wenige Choreinwürfe unterbrochen.<br />

Die äußerst abwechslungs- <strong>und</strong> kontrastreiche Rollenverteilung trägt entscheidend<br />

zur dramatischen Anlage des Werkes bei, deren Großform im Folgenden skizziert ist.<br />

1. Teil:<br />

I. Eingangschor.............Chor 145<br />

II. Szene...........................Evangelist: Soli TB/Chor AB – Jesus – Volk: Soli/Chor<br />

Meditation..................Chor<br />

III. Szene...........................Evangelist: Chor AB – Jesus<br />

Meditation..................Solo S<br />

IV. Szene...........................Evangelist: Soli TB – Jesus – Jünger: Solo T<br />

V. Szene...........................Evangelist: Soli ATB – Jesus – Judas: Solo B<br />

Meditation..................Soli STB/Chor<br />

2. Teil:<br />

VI. Intermedium..............Solo A/Chor<br />

VII. Szene...........................Evangelist: Solo T/Chor TB – Jesus – Hoher Priester:<br />

Solo B – Falsche Zeugen: Soli TB – Volk: Chor TB<br />

Meditation..................Soli/Chor<br />

VIII. Szene...........................Evangelist: Solo B – Jesus – Pilatus: Solo T – Volk: Chor<br />

IX. Szene...........................Evangelist: Chor ATB – Jesus<br />

Meditation..................Solo T<br />

X. Schlusschor................Soli/Chor<br />

Gegenüber dem Vokalpart ist die Rolle des Orchesters im Wesentlichen auf die<br />

instrumentale Begleitung beschränkt. Rein instrumentale Sätze enthält <strong>„Golgotha“</strong><br />

nicht, allein zur Eröffnung des zweiten Teils findet sich (zu Beginn <strong>von</strong> Nummer VI)<br />

145 „Chor“ bzw. „Soli“ ohne hinzugefügte Stimmenangabe bedeutet immer: SATB.<br />

46


eine längere instrumentale Einleitung. In jedem Fall trägt die differenzierte<br />

Instrumentation maßgeblich zu Klangfarben- <strong>und</strong> zu dynamischen Effekten bei.<br />

Am Beispiel des ersten Satzes, den man als Mikrokosmos des ganzen Werkes bezeichnen<br />

kann 146 , sollen nun die wesentlichen Merkmale <strong>von</strong> <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong>s Stilistik<br />

in seinem <strong>Oratorium</strong> <strong>„Golgotha“</strong> exemplarisch verdeutlicht werden. Anschließend<br />

werden die folgenden Nummern kurz skizziert <strong>und</strong> auffällige Momente herausgegriffen,<br />

an denen Anklänge an andere Komponisten <strong>und</strong> Epochen sowie Einflüsse<br />

seiner Experimente auf rhythmischem Gebiet <strong>und</strong> der Zwölftontechnik zum Vorschein<br />

kommen. Auf besonders einfach oder komplex gehaltene Passagen, Beispiele<br />

für die Kontrastierung <strong>von</strong> Klangregistern sowie auf die Vertonung der im vorangegangenen<br />

Kapitel analysierten Textstellen wird besonders hingewiesen.<br />

Der folgenden Untersuchung sei die These vorangestellt, dass sowohl betont archaische<br />

als auch auffallend moderne Elemente Einzug in die Partitur gef<strong>und</strong>en haben.<br />

Die Verwendung oder Nachahmung archaischer Form wird gemeinhin archaisierend<br />

genannt 147 , während der bewusste Rückgriff auf altertümliche, d. h. archaische Kunstformen<br />

<strong>und</strong> Stilmittel als Archaismus bezeichnet wird 148 .<br />

146 Vgl. Melroy, S. 46: „The first movement is a microcosm of the entire work“.<br />

147 Vgl. Der große Brockhaus. Bd. 1, 18., völlig neu bearb. Aufl., 1977 ff., Wiesbaden: Brockhaus 1977, S.<br />

334: „archaisieren, archaische Formen verwenden“; vgl. Meyers neues Lexikon. Bd. 1, 2., völlig neu erarbeit.<br />

Aufl., 1971 ff., Leipzig: Bibliografisches Institut 1971, S. 458: „Die Nachahmung archaischer<br />

Form wird archaistisch oder archaisierend genannt“.<br />

148 Vgl. Meyers enzyklopädisches Lexikon. Bd. 2, 9., völlig neu bearb. Aufl., 1971 ff., Mannheim: Bibliografisches<br />

Institut 1971, S. 525: „Archaismus […], Bez. für den Rückgriff auf veraltete Wörter, Sprachformen<br />

oder Stilmittel“; vgl. Lexikon der Kunst. Bd. 1, Freiburg: Herder 1987, S. 234: „Archaismus,<br />

Begriff, der den bewussten Rückgriff auf altertümliche Kunstformen […] kennzeichnet.“<br />

47


4.2. Nr. I<br />

Durch die Père-Rufe strukturiert (vgl. S. 32), gliedert sich der Eingangschor 149 formal<br />

in drei Teile (A, B, C), die wiederum jeweils in einzelne Abschnitte (a, b etc.) gemäß<br />

folgendem Schema unterteilt sind 150 :<br />

A a (T. 1 – 25).............Père! Père! Père! Jusqu’à quel point…<br />

b (T. 26 – 47)...........Celui qui n’a pas craint…<br />

a’ (T. 48 – 55)...........Père! Père! Père! Jusqu’à quel point…<br />

B c (T. 56 – 64)...........Né de la vierge Marie…<br />

d (T. 65 – 83)...........Seul libre entre les morts…<br />

e (T. 84 – 93)...........C’est en Lui que j’ai mis l’espérance…<br />

a’’ (T. 94 – 101).........Père! Père! Père! Jusqu’à quel point…<br />

C f (T. 102 – 112).......Nous étions accablés…<br />

g (T. 113 – 120).......Mais Christ est mort pour nous…<br />

<strong>Das</strong> „Andante maestoso“ im schreitenden Viervierteltakt beginnt im Chortutti <strong>und</strong><br />

im allein hohe Blechbläser, Klavier <strong>und</strong> Schlagwerk aussparenden, nahezu vollen<br />

Orchestersatz. Drei klangliche Schichten sind übereinander gelagert: Der neun Takte<br />

währende repetierte Orgelpunkt C 151 (in tiefen Streichern, Fagotten <strong>und</strong> Orgel) kennzeichnet<br />

das tonale Zentrum, die darüber erklingenden, teils geschärften Harmonien<br />

(z. B. c-Moll mit hinzugefügter kleiner Sexte as in T. 1) der durch die orchestrale<br />

Mittellage verstärkten, homofonen Chorrufe wechseln taktweise, gekrönt <strong>von</strong> dem<br />

für vier Takte ostinaten Viertelmotiv es’’ – h’ – c’’ (in Flöten, Geigen <strong>und</strong> Orgel), das<br />

in seiner originalen Gestalt in den Takten 6 <strong>und</strong> 9, dazwischen <strong>und</strong> danach auf<br />

anderen Tonstufen wieder auftaucht.<br />

149 Der Notentext des Klavierauszugs findet sich in Kap. 8. Anhang II.<br />

150 Der Verfasser folgt der Unterteilung <strong>von</strong> Magda de Meester (vgl. Meester III 1994, S. 134).<br />

151 Hier <strong>und</strong> im Folgenden schließt die Benennung des Orgelpunkttons mit Großbuchstaben auch<br />

andere Oktavlagen, vor allem die kleine oder die Kontraoktave mit ein.<br />

48


Diesem Kompositionsprinzip mit über einen Orgelpunkt geschichteten Ostinati sowie<br />

aufeinander folgenden, in der Regel terzgeschichteten Akkorden begegnet man<br />

nicht nur in einigen der folgenden Abschnitten des Eingangschors; vielmehr ist es<br />

prägend für das gesamte <strong>Oratorium</strong>. <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong> weist selbst darauf hin: „[…] il y a<br />

une pédale de basse et des accords qui tournent autour. C’est un des principes de mon écriture auquel<br />

je ne cesse de revenir. Ce n’est pas un procédé, mais la base de mon style.“ 152 (Es gibt einen Orgelpunkt<br />

<strong>und</strong> Akkorde, die drum herum kreisen. <strong>Das</strong> ist eins meiner Prinzipien in<br />

meiner Schreibweise, zu dem ich ständig zurückkehre. Es ist kein Verfahren, sondern<br />

die Ausgangsbasis meines Stils.)<br />

Im Eröffnungssatz wechselt dieser Orgelpunkt im zehnten Takt zum Ton G, das<br />

Tonalitätszentrum wird in den Bereich der fünften Stufe verlagert – eine in der Barockmusik<br />

durchaus übliche Entwicklung. Der Vergleich mit dem Eingangschor in<br />

Bachs Johannes-Passion, der sich auf Gr<strong>und</strong> der Ähnlichkeit des Anrufungsgestus<br />

ergab (vgl. S. 32), birgt eine verblüffende Parallele: an exakt der gleichen Stelle, nämlich<br />

nach neun Takten (wenn auch in der instrumentalen Einleitung), verlagert sich<br />

dort der Orgelpunkt vom Gr<strong>und</strong>ton der Tonika g-Moll um eine Quarte abwärts in<br />

den Bereich der Dominante (dort zum Ton D). Die sich einstellende Sogwirkung<br />

lässt sich unmittelbar vergleichen.<br />

Zurück zum ersten Satz in <strong>„Golgotha“</strong>: Dort wird der erste Abschnitt (a) nach einem<br />

weiteren Orgelpunktwechsel (zum Ton E in T. 18) in einem kadenzartigen Abschluss<br />

zur Ausgangstonalität zurückgeführt (mit Variantwechsel in einen reinen C-Dur-<br />

Dreiklang in T. 26). Nach dem orgelpunktfreien Abschnitt b <strong>und</strong> der reprisenartigen<br />

Passage a’ mit Orgelpunkt D (T. 48 – 52) beginnt nach einer kurzen Überleitung der<br />

zweite Teil (B) in der gegenüber dem ersten Teil (A) um einen Halbton höher gelegten<br />

Cis-Tonalität 153 : Hier wird der Orgelpunkt der Takte 56 – 64 durch Liegetöne<br />

in mehreren Oberoktaven noch verstärkt. Nach zwei kürzeren Orgelpunktpassagen<br />

(Cis in T. 77 – 83, Ais in T. 84 – 87) wird der zweite Teil mit dem die Père-Rufe aufgreifenden<br />

Abschnitt a’’ mit Orgelpunkt G (T. 94 – 100) abgeschlossen.<br />

152 <strong>Martin</strong> 1975, S. 10.<br />

153 Diese Benennung determiniert lediglich einen tonalen Pol <strong>und</strong> gibt keinen Hinweis auf eine durch<br />

Dur oder Moll geprägte Harmonik.<br />

49


Der dritte Teil (C) bewegt sich durchweg in der E-Tonalität <strong>und</strong> wird in strahlendem<br />

E-Dur abgeschlossen. Der Orgelpunkt als kompositorisches Mittel ist ausgespart.<br />

Hier zeigt sich der Aspekt der so genannten gleitenden Tonalität (vgl. S. 9), denn wie<br />

die folgenden Sätze in <strong>„Golgotha“</strong> (mit Ausnahme <strong>von</strong> Nr. VI) differieren Ausgangs<strong>und</strong><br />

Zieltonart; in diesem Fall stehen sie zueinander im großterzverwandten Verhältnis.<br />

Derartige mediantische sowie neapolitanische Beziehungen (wie Teil A <strong>und</strong> B<br />

zueinander: C- <strong>und</strong> Des- (enharmonisch umgedeutet in Cis-) Tonalität) gelten im<br />

ganzen Werk als charakteristische Verbindungen 154 .<br />

Nach der Kennzeichnung der tonalen Anlage lohnt es sich, die Faktur des Chorsatzes<br />

zu untersuchen. Verb<strong>und</strong>en mit <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong>s Hauptanliegen der Textausdeutung<br />

(vgl. S. 43) ist sein hoher Anspruch der Textverständlichkeit.<br />

Dementsprechend ist die Satzweise überwiegend homofon gehalten mit einzelnen<br />

polyfonen Abschnitten oder solchen im Wechselgesang, wobei die nichthomofonen<br />

Passagen oft steigernde Wirkung haben. Diese Vielfalt ist, nach Mardia Melroy, ein<br />

wichtiger formaler Aspekt nicht nur in <strong>„Golgotha“</strong>, sondern charakteristisch für die<br />

Musik des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts überhaupt 155 .<br />

Homofonie, die aus der gleichzeitigen Textdeklamation aller Stimmen resultiert,<br />

kommt in drei Arten vor, nämlich als (im Unisono oktavierte) einstimmige, zweistimmige<br />

<strong>und</strong> akkordisch-mehrstimmige Homofonie. Letztere Satzweise, „Note gegen<br />

Note“ <strong>und</strong> einzelne Akkordtöne verdoppelnd, ist die am häufigsten auftretende.<br />

Sie findet sich im Eingangschor zum einen in den wiederholten Père-Rufen der Abschnitte<br />

a, a’ <strong>und</strong> a’’, zum anderen im Abschnitt e, wo man in den Takten 91 ff. auf<br />

Gr<strong>und</strong> der regelmäßigen Homorhythmik geradezu <strong>von</strong> „Palestrinensischer Homofonie“<br />

156 sprechen kann, sowie im choralartigen Blocksatz der abschließenden<br />

Passage g („Molto Largamente“).<br />

Als Beispiel einer zweistimmig homofonen Passage dient der Beginn <strong>von</strong> Abschnitt<br />

b, wo Chortenöre <strong>und</strong> -bässe in den Takten 28 – 40 vorwiegend in paralleler Stimm-<br />

154 Vgl. Meester III 1994, S. 135: „[…] il s’agit des enchaînements caractéristiques qu’on retrouve également à la<br />

base d’autres tableaux.“<br />

155 Vgl. Melroy, S. 221: „Typical of twentieth century music, textural change is an important aspect of form in Golgotha.“<br />

156 Brandt, S. 96.<br />

50


führung deklamieren. Änderungen der parallelen Intervalle (hauptsächlich Quinten<br />

oder Terzen) bewirken musikalische Akzente (z. B. gloire, égal). Die Passage erinnert<br />

stark an das parallele Organum in der frühen Mehrstimmigkeit <strong>und</strong> erzielt mithin<br />

einen mittelalterlichen Effekt 157 .<br />

Eine exemplarische Unisono-Passage enthält Abschnitt c („Lento“), wo der Chor im<br />

langsamen Sprechgesang abschnittweise den dem Apostolischen Glaubensbekenntnis<br />

entnommenen Text artikuliert („Né de la vierge Marie…“; vgl. S. 33). Der einzige gesungene<br />

Ton ist cis (in verschiedenen Oktavlagen), den Orgelpunkt in drei Oberoktaven<br />

verstärkend. Allein auf Gr<strong>und</strong> ihrer Faktur grenzt sich diese Passage<br />

kontrastreich <strong>von</strong> ihrer Umgebung ab <strong>und</strong> offenbart ihre besondere inhaltliche Bedeutung.<br />

Mit Abschnitt d schließt sich eine Passage im Wechselgesang an: Zwei Chorgruppen<br />

(Alt/Bass <strong>und</strong> Sopran/Tenor), jeweils im Unisono, treten in den Dialog (T. 66 ff.:<br />

„Seul libre entre les morts…“) <strong>und</strong> vereinen sich schließlich zum homofonen Abschluss<br />

(T. 78 f.: „Il a triomphé de la mort.“), in dem die zunehmende Verdichtung zu ihrem<br />

Höhepunkt findet. Im Gegensatz zu dieser antifonalen Ausführung des Wechselgesangs<br />

komponiert <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong> auch responsoriale Abschnitte, so beispielsweise in<br />

den Takten 313 ff. in Nummer VII (vgl. Notenbeispiel Nb. 1), in denen die Chorstimmen,<br />

wiederum im Unisono, die vom Solotenor exponierten Phrasen jeweils<br />

bestätigend wiederholen.<br />

Nb. 1: Nr. VII, T. 313 – 320, Klavierauszug (KA) S. 142 f. (auf die Singstimmen reduziert) 158<br />

157 Vgl. Melroy, S. 47: „The prevalence of harmonic fifths between the tenor and bass voices […] produces a medieval<br />

effect.“<br />

158 Nb. in: Meester II 1994, S. 28.<br />

51


Bei polyfoner Satzweise handelt es sich im ganzen Werk häufig um freie, selten um<br />

strenge kanonische Imitation; sie hat gelegentlich den Charakter eines Fugatos, ist<br />

aber an keiner Stelle zu einer Fugendurchführung im eigentlichen Sinne ausgearbeitet.<br />

Stets imitierend vertont ist im Eingangschor die Phrase: „Jusqu’à quel point<br />

nous as-Tu donc aimés!“ Diese erscheint zweistimmig imitierend in Takt 5 ff., 22 ff. <strong>und</strong><br />

51 ff., sowie dreistimmig imitierend in Takt 97 ff. (mit zweistimmigem zweitem Einsatz).<br />

Die vierstimmig imitierende Einsatzfolge in den Takten 13 – 21 („Tu n’as pas<br />

épargné ton fils…“) hat insofern fugierten Charakter, als zumindest die erste Beantwortung<br />

(im Alt) tatsächlich im Quintabstand erfolgt <strong>und</strong> das „Thema“, das<br />

jeweils nach wenigen Tönen eine unterschiedliche melodische Fortsetzung erfährt,<br />

mit identischen rhythmischen Werten fortgeführt wird, also auf rhythmischer Ebene<br />

in allen Stimmen unverändert bleibt. Einzelne imitative Einsätze finden sich schließlich<br />

in den Takten 38 – 47, wo die Père-Rufe durch die einzelnen Chorstimmen<br />

wandern, um sich nach der zunehmenden Verdichtung zur gemeinsamen Anrufung<br />

zu vereinen.<br />

Typische Merkmale der Melodik in <strong>„Golgotha“</strong> lassen sich am Beispiel der Sopranstimme<br />

in den Takten 5 – 8 zusammenfassen: „Sie bewegt sich – wie meist bei <strong>Frank</strong><br />

<strong>Martin</strong> – in kleinen Tonschritten: in Sek<strong>und</strong>en <strong>und</strong> Terzen.“ 159 Es fällt auf, dass sie<br />

aus kleinen Zellen zusammengesetzt ist, die – gewissermaßen kreisend – jeweils zum<br />

Volltakt die auf der chromatischen Tonleiter aufeinander folgenden Töne a’, b’ <strong>und</strong> h’<br />

ansteuern. Charakteristisch ist ferner die Einbindung in einen harmonisch-tonalen<br />

Kontext, denn häufig basiert die Melodie auf gebrochenen Akkorden; in diesem Beispiel<br />

liegt ihr ein verminderter Dreiklang (es – fis – a) zu Gr<strong>und</strong>e. <strong>Das</strong> vielseitige <strong>und</strong><br />

harmonisch in gewisser Weise neutrale Intervall der kleinen Sek<strong>und</strong>e, das neben der<br />

kleinen Terz vorherrschend ist <strong>und</strong> den chromatischen Charakter begründet, verursacht<br />

dagegen ein unerwartetes Ende der Phrase (b’ – h’), denn eine abschließende<br />

<strong>und</strong> entspannende Wirkung stellt sich nicht ein; somit hinterlässt dieser melodische<br />

Ausschnitt einen eher indifferenten Eindruck.<br />

Mardia Melroy leitet diese Phrase bereits vom ostinaten Anfangsmotiv (es’’ – h’ – c’’)<br />

ab, das durch sein charakteristisches Rahmenintervall der verminderten Quarte<br />

hervorsticht, dessen Binnenspannung wiederum durch den anschließenden Sek<strong>und</strong>-<br />

159 Billeter 1999, S. 13.<br />

52


schritt aufgelöst wird. Dieser erste melodische Einfall liegt nicht nur der besprochenen<br />

Sopranmelodie wie auch den imitierenden Stimmen (Alt <strong>und</strong> Bass: z. B.<br />

es – d – (e) – fis in T. 5/6; d – des – f in T. 6/7) zu Gr<strong>und</strong>e 160 , sondern wird im Verlauf<br />

des gesamten Satzes immer wieder aufgegriffen <strong>und</strong> im 3 / 2-Takt mit Beginn <strong>von</strong> Abschnitt<br />

e („Andante“) zu einer fünftönigen Figur erweitert. Diese wird schließlich in<br />

Abschnitt f, dort in Basslage, taktweise sequenziert (zweimal um eine große Sek<strong>und</strong>e<br />

aufwärts, dann intervallisch verändert) – ein weiteres typisches Stilmittel für das ganze<br />

Werk.<br />

Abweichend <strong>von</strong> der vorherrschenden Intervallik mit kleinen Tonschritten setzt<br />

<strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong> größere Intervalle nur an ausgewählten Stellen als Text ausdeutendes<br />

Moment ein, beispielsweise in den Quartsprüngen der Phrase „Il a pour eux remporté la<br />

victoire“ (Alt/Bass in T. 75 ff.) <strong>und</strong> des auf der musikalischen Ebene abgebildeten<br />

Gedankens „Il s’est assis“ (Sopran/Tenor in T. 81) sowie besonders in der Vertonung<br />

des Wortes Christ im Schlussabschnitt (Sextsprung aufwärts in Sopran/Alt in T. 115,<br />

Septsprung abwärts in Bass II an gleicher Stelle, Oktavsprung im Sopran in T.<br />

112/113). Rezitation ausschließlich auf repetierten Noten (ohne jegliche Tonveränderung)<br />

findet sich exemplarisch in der bereits erwähnten Unisono-Passage in Abschnitt<br />

c, auch hier zur Verdeutlichung des besonderen Textinhalts.<br />

Selbst äußert sich der Komponist zur Melodik wie folgt: „[…] les mouvements mélodiques<br />

ne prennent de sens qu’en rapport avec les autres voix, avec l’harmonie, avec la basse. Ce n’est que<br />

lorsque l’édifice sonore est complet, et assuré, que le sens musical peut se révéler.“ 161 (Die<br />

melodischen Linien bekommen nur Sinn im Zusammenhang mit den anderen Stimmen,<br />

mit der Harmonie, mit der Bassstimme. Erst das Klanggefüge als Ganzes kann<br />

einen musikalischen Sinn ergeben.) Die die jeweilige Tonalität häufig als Orgelpunkt<br />

determinierende Bassstimme wurde bereits thematisiert, hingegen steht die Besprechung<br />

des Aspekts der Harmonik noch aus. Diese ist mit den Worten Bernhard<br />

Billeters „in allen Werken <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong>s, <strong>von</strong> seinen frühesten Versuchen an […],<br />

das wichtigste kompositorische Element.“ 162 (vgl. auch S. 5.)<br />

160 Vgl. Melroy, S. 104.<br />

161 <strong>Martin</strong> 1950, S. 73.<br />

162 Billeter 1971, S. 7.<br />

53


Die tonalen Zentren bestimmen im Wesentlichen auch die harmonische Anlage des<br />

Werkes, die <strong>von</strong> der Vorstellung einer erweiterten Harmonik ausgeht. Diese basiert<br />

gr<strong>und</strong>sätzlich auf terzgeschichteten Akkorden, bezieht funktionsharmonische wie<br />

modale <strong>und</strong> chromatische Elemente mit ein <strong>und</strong> kohäriert mit der jeweiligen dramatischen<br />

Aussage des Textes. Es lassen sich verschiedene Kadenzbildungen erkennen,<br />

die in der Regel auf klanglicher Ebene als Spannung <strong>und</strong> Entspannung erlebt werden,<br />

so exemplarisch in den ersten fünf Takten des Eingangschors: Unverkennbar markiert<br />

der durch den Zusatzton as geschärfte c-Moll-Dreiklang die Ausgangstonart<br />

<strong>und</strong> kann daher als Tonika angenommen werden. Die folgenden reinen Moll-<br />

Dreiklänge (ges-Moll in T. 2; des-Moll in T. 3) dissonieren scharf über dem beibehaltenen<br />

Basston C <strong>und</strong> kennzeichnen eine gewisse, wenn auch verzerrte,<br />

subdominantische Region, während der verminderte Septakkord im vierten Takt mit<br />

dominantischer Funktion zur Gr<strong>und</strong>tonart c-Moll (T. 5) zurückführt.<br />

Nicht immer erfährt ein Spannungsklang seine unmittelbare Auflösung: So bleibt<br />

beispielsweise der D-Dur-Sek<strong>und</strong>akkord (funktional die Doppeldominante) des<br />

sechsten Taktes unaufgelöst <strong>und</strong> wird ohne funktionalen Zusammenhang in den<br />

folgenden b-Moll-Dreiklang geführt (funktional die Doppelsubdominante <strong>und</strong> wiederum<br />

dissonant zum Orgelpunkt), der wieder mittels des verminderten Septakkords<br />

(T. 8) in der c-Moll-Harmonie (T. 9) seine Auflösung findet. Die sich anschließende<br />

Kadenz auf der fünften Stufe ist gegenüber der ersten um den zweiten Takt verkürzt;<br />

„der dritte Ausruf des Chores verschiebt sich also auf den verminderten Septakkord“<br />

163 , der wiederum zur Tonart der fünften Stufe (g-Moll) zurückleitet.<br />

Der verminderte Septakkord als Stellvertreter der Dominante spielt überhaupt eine<br />

wichtige Rolle, denn der ganze Eingangschor enthält einzig zwei Stellen, die als tatsächliche<br />

Dominante-Tonika-Verbindungen begriffen werden können, nämlich in<br />

Takt 83/84 (Eis-Dur (allerdings über dem Orgelpunkt Cis) nach Ais-Dur) sowie in<br />

Takt 93/94 (D-Dur (mit hinzugefügter kleiner None) nach G-Dur (mit 2-3-<br />

Vorhalt)) 164 . In den Takten 21 ff. dagegen bleibt selbst der verminderte Septakkord<br />

(dis – fis – a – c) als hochgradiger Spannungsklang drei Takte lang unaufgelöst liegen –<br />

sogar über der Fortschreitung im Bass (E nach Cis in T. 23) –, <strong>und</strong> wird so, da auch<br />

163 Ebd., S. 75.<br />

164 Vgl. Melroy, S. 150 f.<br />

54


der folgende Akkord als verminderter Septakkord interpretiert werden kann (T. 24),<br />

„zum liegenden Klang ohne Funktion“ 165 .<br />

Die folgende Passage (T. 26 – 33 in Abschnitt b) zeigt exemplarisch eine<br />

harmonische Sequenz: Je vier reine Dreiklänge nacheinander (in der ersten Version<br />

C-Dur – c-Moll – h-Moll – d-Moll) über einer diatonisch achttönigen (zusammengesetzt<br />

aus zwei identisch gebauten Tetrachorden), sich in Viertelnoten aufwärts bewegenden<br />

Skala erklingen in der Folge dreimal um je einen Halbton höher transponiert.<br />

Bernhard Billeter sieht in diesem Punkt eine Parallele zum Eingangschor in<br />

Bachs Matthäus-Passion 166 , wo der Instrumentalbass nach seiner anfänglichen<br />

Funktion als Liegestimme in ähnlicher Weise in die Höhe „marschiert“. Der in<br />

<strong>„Golgotha“</strong> folgende Abschnitt (T. 38 – 47) ist wiederum als harmonische Sequenz<br />

(hier mit Septakkorden) angelegt <strong>und</strong> hat modulierende Funktion zum Abschnitt a’.<br />

Diese reprisenartige Wiederaufnahme der Anfangstakte beginnt zwar wie dort mit<br />

einem c-Moll-Klang in den Mittelstimmen (T. 48) <strong>und</strong> bringt auch das Anfangsmotiv<br />

(es’’ – h’ – c’’) in originaler Gestalt, hier jedoch über dem Orgelpunkt D, woraus eine<br />

gewisse Ambiguität resultiert. Die sich anschließenden drei Takte (T. 49 – 51: as-Moll<br />

– es-Moll – verkürzter Dominantseptnonakkord basierend auf a) erklingen jedoch<br />

gegenüber der anfänglichen c-Moll-Stelle harmonisch exakt um einen Ganzton aufwärts<br />

transponiert, beziehen sich also auf die Tonart d-Moll. Diese allerdings bleibt<br />

hier vorenthalten, um in die Cis-Tonalität der anschließenden „Lento“-Passage zu<br />

leiten.<br />

An dieser Stelle wird beispielhaft das Modell eines harmonischen Ostinatos ersichtlich:<br />

Die Streichinstrumente bringen in mittlerer Lage eine zweimalige Wiederholung<br />

der dreitaktigen Akkordfolge (T. 56 – 58), wobei die beiden Akkorde auf betonter<br />

Zeit d-Moll <strong>und</strong> G-Dur wiederum gegen den in den Oberstimmen vervielfachten<br />

Orgelpunkt Cis dissonieren.<br />

Mit Beginn der allmählichen Temposteigerung („Un poco meno Lento“, T. 65) setzen<br />

sich die Instrumentalstimmen (Orgel, Streicher <strong>und</strong> Holzbläser im dialogischen<br />

165 Billeter 1971, S. 75.<br />

166 Vgl. ebd.<br />

55


Wechsel) parallel in halben Noten in Bewegung. Es fällt auf, das das eröffnende<br />

Hexachord (T. 65/66: cis – a – g – b – ges – fes) zunächst als Umkehrung (T. 67/68: es<br />

– g – a – ges – b – c) <strong>und</strong> anschließend wieder in Originalform um eine Großterz aufwärts<br />

transponiert erklingt (T. 69/70: f – des – ces – f – b – as). <strong>Das</strong> vollständige<br />

sechstaktige Schema wird in Tritonustransposition wiederholt (T. 71 – 76), wodurch<br />

insgesamt alle zwei Takte der folgende Ton auf einer Ganztonskala aufwärts erreicht<br />

wird (T. 65: cis; T. 67: es; dann f – g – a – h – cis) 167 , was unmittelbar zur Steigerung der<br />

Spannung beiträgt <strong>und</strong> die Vereinigung der Chorstimmen (T. 78) vorbereitet.<br />

Der in Takt 77 erreichte Abschnitt führt <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong>s Verfahren der aus Debussys<br />

Technik übernommenen Parallelakkordik (vgl. S. 8) exemplarisch vor Augen: Reine<br />

Durdreiklänge (mit Ausnahme des d-Moll-Akkords) werden <strong>von</strong> Trompeten <strong>und</strong><br />

Posaunen – bewusst archaisierend – über dem Orgelpunkt Cis klangmalerisch zur<br />

Unterstreichung <strong>von</strong> Christi Sieg über den Tod exponiert. Die drei jeweils zweitaktigen<br />

Einheiten ähneln einander durch ihre wellenförmige tonale Bewegung <strong>und</strong><br />

zielen steigernd auf die jeweils im zweiten Takt erreichten G-, B- <strong>und</strong> C-Dur-<br />

Harmonien (T. 78, 80, 82). Kurt <strong>von</strong> Fischer stellt zudem fest, dass die Akkorde der<br />

ersten vier Takte (T. 77 – 80), die vom d-Moll-Akkord ausgehen, lediglich elf <strong>von</strong><br />

zwölf verschiedenen Tönen einbeziehen <strong>und</strong> der einzig ausgesparte Ton dis als<br />

Gr<strong>und</strong>ton des folgenden Dis-Dur-Akkords (T. 81) fungiert. Diese Beobachtung veranlasst<br />

ihn zu der Bemerkung: „Impressionistische Klangwertigkeit verbindet sich<br />

auf solche <strong>und</strong> ähnliche Weise bei <strong>Martin</strong> vielfach mit expressionistischer Span-<br />

nungskraft.“ 168<br />

Eine weitere Stelle mit einer Folge <strong>von</strong> sich parallel verschiebenden Akkorden erscheint<br />

als verdichtendes Moment zum Ende <strong>von</strong> Abschnitt f, wo die <strong>von</strong><br />

Klarinetten <strong>und</strong> Fagotten in Takt 102 eingeführte ruhige Melodie – überwiegend in<br />

halben <strong>und</strong> ganzen Noten <strong>und</strong> gleichsam zwischen die das ostinate Fünftonmotiv<br />

unaufhörlich sequenzierenden Stimmen eingeflochten – ab Takt 109 <strong>von</strong> Holz- <strong>und</strong><br />

Blechbläsern bis zur Mündung in die Schlusspassage (T. 112) akkordisch fortgesetzt<br />

wird. Auch hier dient das Verfahren der Abbildung des Textes: Wie <strong>von</strong> einer Last<br />

bedrückt („Nous étions accablés sous le poids de nos misères…“), durchschreiten die<br />

Akkorde in konstanter Abwärtsbewegung beinahe eine ganze Oktave.<br />

167 Vgl. Melroy, S. 172 f.<br />

168 Fischer 1951, S. 94.<br />

56


Der abschließende choralartige Abschnitt im sechsstimmigen Chor- <strong>und</strong> vollen<br />

(allein Hörner, Klavier <strong>und</strong> Schlagwerk aussparenden) Orchestersatz verleiht dem<br />

Eingangschor – gewissermaßen als Conclusio im Kleinen – einen feierlich-majestätischen<br />

Schluss. Er korrespondiert insofern mit dem den Schlusschor einleitenden<br />

Abschnitt (Nr. X, T. 1 – 8, KA S. 192 ff.: „O mort! Où est ton aiguillon? O sépulcre, où est<br />

ta victoire?“) – den <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong>, wie erwähnt (vgl. S. 24), zunächst als Eröffnung vorgesehen<br />

<strong>und</strong> zu allererst vertont hatte <strong>und</strong> erst danach an das Ende des Werkes stellte<br />

–, als er mit Ausnahme der zwei ersten Takte die gleiche melodische wie harmonische<br />

Struktur aufweist. Gegenüber diesem erklingt er einen Ganzton tiefer <strong>und</strong><br />

beginnt mit den drei reinen Dreiklängen As-Dur, d-Moll sowie f-Moll (T. 113/114;<br />

letzterer mit 7-8-Vorhalt in Tenor <strong>und</strong> Colla-voce-Instrumenten). <strong>Das</strong> Wort Christ<br />

wird in beiden Phrasen <strong>von</strong> den Außenstimmen mit großen Sprüngen erreicht, wodurch<br />

die jeweiligen Akkorde in extrem weiter Lage erklingen. Der zweite dieser Akkorde<br />

(T. 115, dritte Zählzeit: c-Moll mit hinzugefügter kleiner Sexte as) ist der gleiche<br />

wie der den Satz eröffnende Klang auf dem Wort Père, dient also gewissermaßen<br />

als Reminiszenz. Insgesamt verleihen „herbe, feierliche Akkord-Blöcke“ 169 dem eröffnenden<br />

Satz einen archaischen Abschluss: „Mit meisterhafter Geste hat der<br />

epische Dramaturg den Vorhang aufgezogen.“ 170<br />

4.3. Nr. II. Les Rameaux (<strong>Das</strong> Palmfest)<br />

Die erste Szene in <strong>„Golgotha“</strong> ist zweigeteilt: Nach der einleitenden Rezitation des<br />

Solobasses nehmen Solo- <strong>und</strong> Chorstimmen sukzessive die Hosanna-Rufe auf (T. 12<br />

ff., KA S. 20 ff.) <strong>und</strong> vereinigen sich zum gemeinsamen Jubel. Der Solotenor leitet<br />

die sich anschließende Rezitation Jesu ein (T. 53 ff., KA S. 30 ff.), die allein <strong>von</strong> den<br />

die Stimme vom Himmel interpretierenden Chorstimmen (T. 70 ff., KA S. 32 f.)<br />

unterbrochen wird. Der Szene folgt die vom Chor im „Lento“ vorgetragene Meditation<br />

(T. 90 ff., KA S. 35 ff.).<br />

Anhand dieses Satzes sei <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong>s Deklamationsstil exemplarisch verdeutlicht.<br />

<strong>Das</strong>s er stets großen Wert auf eine hohe Textverständlichkeit legte, wurde bereits<br />

erwähnt; der Komponist selbst fügt hinzu: „Je suis extrêmement sensible à la langue, et je me<br />

169 Halbreich, S. 30.<br />

170 Ebd.<br />

57


suis obligé, malgré la difficulté qui en résulte, de suivre d’aussi près que possible la parole lorsque<br />

j’écris de la musique. On m’a souvent reproché d’écrire de la musique ‚syllabique’, c’est-à-dire de ne<br />

pas mettre plusieurs notes sur une seule syllabe. Mais mon sens intérieur de la langue m’empêche de<br />

la bousculer pour lui donner un autre rythme que celui qu’elle aurait en étant dite naturellement.“ 171<br />

(Bezüglich der Sprache bin ich äußerst empfindlich; daher fühle ich mich, wenn ich<br />

komponiere, dazu verpflichtet, so nah wie irgend möglich dem Wort zu folgen –<br />

trotz aller Schwierigkeiten, die damit verb<strong>und</strong>en sind. Mir ist oft vorgeworfen<br />

worden, „syllabische“ Musik zu schreiben, d. h. dass jeder Textsilbe eine Note zugeordnet<br />

ist. Doch mein inneres Gefühl für die Sprache verbietet mir diese durcheinander<br />

zu werfen <strong>und</strong> sie anders zu rhythmisieren als in der Weise, wie man sie<br />

natürlich betonen würde.)<br />

Dementsprechend folgt die Textdeklamation in aller Regel der natürlichen Wort- <strong>und</strong><br />

Satzbetonung, was bereits am Beispiel der ersten Phrase des Eingangschors ersichtlich<br />

wurde (Nr. I, T. 5 – 8: „Jusqu’à quel point nous as-Tu donc aimés!“). Hier ordnet sich<br />

der natürliche Textrhythmus in den vorgegebenen Viervierteltakt ein, wobei die betonten<br />

Silben point, donc sowie -més nicht nur jeweils mit den Taktschwerpunkten übereinstimmen,<br />

sondern zusätzlich mit längeren Notenwerten versehen sind.<br />

Auch die ruhigen solistischen Rezitationen folgen diesem Deklamationsstil, oft über<br />

langen, liegenden Streicherklängen, so in Nummer II beispielhaft in Jesu Rezitationen<br />

in den Takten 54 ff. („Maintenant mon âme est troublée…“; vgl. Nb. 2 auf S. 59) <strong>und</strong> 82<br />

ff. (KA S. 34: „Et pour moi, quand j’aurai été élevé…“). Bernhard Billeter konstatiert:<br />

„Von eigentlichen Rezitativen kann nicht die Rede sein, es sei denn, man denke an<br />

den monodischen Stil bei Monteverdi oder an die lapidaren Wirkungen des Chors bei<br />

Mussorgskij – beide haben <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong> nach seinem eigenen Zeugnis nachhaltig<br />

beeinflusst.“ 172 Ändert sich jedoch der Gemütszustand der verkörperten Figur <strong>und</strong><br />

steigern sich deren Gefühlsäußerungen, beschleunigt sich die Sprache <strong>und</strong> die Deklamation<br />

erfährt eine deutliche Belebung, was in den Takten 78 ff. („Maintenant le<br />

monde va être jugé…“; vgl. Nb. 3 auf S. 59) deutlich wird. Hier zeigt sich in der<br />

Schreibweise eine ganze Bandbreite vor allem kleiner Notenwerte: Viertel, Achtel,<br />

triolische Achtel, Sechzehntel, selbst triolische Sechzehntel werden miteinander<br />

171 <strong>Martin</strong> 1967, S. 39.<br />

172 Billeter 1999, S. 125.<br />

58


kombiniert. Der begleitende strenge Vierviertelrhythmus kontrapunktiert als stabiler<br />

Gegenpol die Rezitation.<br />

Nb. 2: Nr. II, T. 54 – 57, KA S. 31<br />

Nb. 3: Nr. II, T. 78 – 81, KA S. 33 f. (Nachdruck) 173<br />

Als rhythmischer Kontrapunkt erscheint schon die strenge Viertelbegleitung der den<br />

Satz eröffnenden Rezitation („Comme Jésus cheminait…“; vgl. Nb. 4 auf S. 60): Sie mutet<br />

geradezu marschierend an, Jesu Wanderung nach Jerusalem abbildend. Die<br />

Rezitation selbst fällt nicht nur durch ihren synkopischen Charakter auf, sondern<br />

erhält hier auf Gr<strong>und</strong> der Folge <strong>von</strong> Achteltriolen <strong>und</strong> der häufigen Auslassung <strong>von</strong><br />

Taktschwerpunkten gewisse dem Jazz entlehnte Züge. <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong> bestätigt: „Ce<br />

contrepoint m’a été en fait inspiré par le jazz, où le texte syncope souvent le mouvement régulier de la<br />

batterie ou de l’accompagnement.“ 174 (Hinsichtlich dieser Art <strong>von</strong> Kontrapunkt habe ich<br />

mich in der Tat vom Jazz anregen lassen, wo der Text oftmals den regelmäßigen<br />

Rhythmus des Schlagzeugs oder der Begleitung synkopiert.)<br />

173 Nb. in: Meester I 1993, S. 137. Der Bogen in der Singstimme in T. 80 <strong>von</strong> der ersten auf die zweite<br />

Viertel wurde vom Verfasser ergänzt.<br />

174 <strong>Martin</strong> 1967, S. 40.<br />

59


Nb. 4: Nr. II, T. 1 – 9, KA S. 19 (Nachdruck) 175<br />

Diesem ausgesprochen modernen Element stehen zum einen die einzelnen Momente<br />

gänzlich unbegleiteter Rezitation gegenüber (z. B. T. 53, KA S. 30: „Jésus dit alors“; T.<br />

62, KA S. 31: „Mais c’est pour cette heure…“; T. 74, KA S. 33: „Jésus reprit“), die „an den<br />

Stile recitativo des frühen <strong>Oratorium</strong>s“ 176 erinnern, zum anderen die altertümlich<br />

wirkende Rezitation der Chorstimmen, beispielsweise in Takt 70 ff. (KA S. 32 f.: „Je<br />

l’ai glorifié…“). „Mit dieser stellenweise chorischen Rezitation des Bibeltextes greift<br />

<strong>Martin</strong> auf die Vor-Bachsche Passionsvertonung zurück.“ 177<br />

4.4. Nr. III. Le Discours au Temple (Der Disput im Tempel)<br />

Der dritte Satz beinhaltet zunächst die durch die Unisono-Rezitation einiger Alt- <strong>und</strong><br />

Bassstimmen eingeleitete Streitrede Jesu im Tempel im kontrastreichen Rezitationsstil<br />

(T. 6 ff., KA S. 42 ff.) <strong>und</strong> anschließend die kammermusikalisch gehaltene Meditation<br />

des Solosoprans (T. 143 ff., KA S. 55 ff.), der über dem Klangteppich der<br />

Streicher in den Dialog mit der solistischen Flöte tritt.<br />

175 Nb. in: Meester I 1993, S. 138.<br />

176 Mohr, Sp. 1707.<br />

177 Fischer 1951, S. 93.<br />

60


Nb. 5: Nr. III, T. 5 – 10, KA S. 42 (mit Kennzeichnung der Zwölftonreihe) 178<br />

Es lohnt sich, anhand dieses Satzes <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong>s Umgang mit der Zwölftontechnik<br />

zu behandeln. Im ganzen Werk gibt es keine echte Zwölftonreihe im Schönbergschen<br />

Sinn; diejenigen melodischen Linien, die auf eine Serie oder das Fragment<br />

einer solchen zurückgeführt werden können, weisen vorzugsweise sequenzierende<br />

Struktur auf <strong>und</strong> zeichnen sich durch die Einbettung in ein tonales, wenn nicht harmonisches<br />

Umfeld aus. Dennoch gelingt es Mardia Melroy ein Zwölftonthema aufzuzeigen,<br />

das dem ganzen Satz gewissermaßen als harmonisches Gerüst zu Gr<strong>und</strong>e<br />

liegt <strong>und</strong> in mehreren Variationen verarbeitet wird 179 . Es erklingt erstmals in der instrumentalen<br />

Begleitung (der Bratschen, Klarinetten <strong>und</strong> Kontrabässe) <strong>von</strong> Jesu Rezitation<br />

in den Takten 7 – 10 (vgl. Nb. 5) <strong>und</strong> setzt sich aus allen dort erklingenden<br />

178 Nb. in: Melroy, S. 58.<br />

179 Vgl. Melroy, S. 57 ff.<br />

61


Tönen mit Ausnahme der beiden Tonwiederholungen f (zweite Viertel in T. 9) <strong>und</strong> d<br />

(erste Note in T. 10) zusammen. Die Reihe lautet demnach: dis – f – fis – d – h – c – g<br />

– e – gis – a – cis – b. Wie die gesamten vier Takte wird die Reihe zunächst um einen<br />

Halbton aufwärts transponiert (ab e in T. 11 – 14) <strong>und</strong> erklingt als zweite Transposition,<br />

nun um einen weiteren Ganzton aufwärts (ab fis) <strong>und</strong> instrumental (durch<br />

Fagotte <strong>und</strong> Celli) erweitert, in den folgenden vier Takten 15 – 18.<br />

Insgesamt drei Variationen der Reihe gliedern den Satz im weiteren Verlauf in die<br />

folgenden Abschnitte: T. 23 – 72 (Variation 1), T. 73 – 102 (Variation 2), T. 105 –<br />

112 (Zwischenspiel), T. 113 – 142 (Variation 3). Zum ersten dieser Abschnitte, in<br />

dem das erste Hexachord der Reihe abgespalten <strong>und</strong> sequenziert wird <strong>und</strong> in der<br />

Folge an verschiedenen Stellen auf anderen Stufen in der Bassstimme auftaucht (ab<br />

as in T. 23, ab b in T. 25 etc.), äußert sich auch Kurt <strong>von</strong> Fischer <strong>und</strong> bemerkt zu der<br />

Folge <strong>von</strong> 14 Basstönen in den Takten 23 – 27 (vgl. Nb. 6), dass gerade die beiden<br />

wiederholt erklingenden Töne b <strong>und</strong> g „gr<strong>und</strong>tonhafte Funktion“ 180 als g-Moll- (T.<br />

24) <strong>und</strong> b-Klang (T. 25) haben <strong>und</strong> die beiden in der Folge fehlenden Töne es <strong>und</strong> d<br />

vor allem in der Singstimme erscheinen. Sein Fazit lautet: „Dies Beispiel mag zugleich<br />

als Beleg dafür dienen, dass <strong>Martin</strong> mit Vorliebe Zwölftonreihen in den Bässen<br />

als Harmonief<strong>und</strong>ament bringt (auch dies ein der Schönbergschen Systemkonzeption<br />

fremdes Element).“ 181<br />

Nb. 6: Nr. III, T. 23 – 27, KA S. 44 (Nachdruck) 182<br />

180 Fischer 1951, S. 96.<br />

181 Ebd.<br />

182 Nb. in: Ebd.<br />

62


In der zweiten Variation (KA S. 49 ff.) dient das abgespaltene Hexachord (ab fis in T.<br />

73) als ostinates Begleitmotiv (in Achteln in Fagotten <strong>und</strong> Bratschen), bevor es in<br />

zweifacher Transposition wiederkehrt (wiederum als Ostinato ab cis in T. 79 <strong>und</strong> ab<br />

gis in T. 83). Ab Takt 92 wird es als ostinate Begleitung in Viertelnoten wieder aufgegriffen,<br />

zunächst ab fis, dann ab g (ab T. 98). Die dritte Variation bringt die Bassstimme<br />

in Oktavsprüngen unter Verwendung der ersten fünf Reihentöne (ab cis in T.<br />

114, KA S. 52; später ab cis in T. 130, ab es in T. 132, ab f in T. 134).<br />

Bezüglich letzterer Passage (zu deren Beginn vgl. Nb. 7) wird in der Literatur insofern<br />

bevorzugt ein weiterer Vergleich zur Satzweise Bachs gezogen, als der Verlauf<br />

dieser Basslinie (in Celli <strong>und</strong> Kontrabässen) „auffällig an den des ‚Air’ aus Bachs<br />

Orchestersuite D-Dur BWV 1068“ 183 erinnert. Die Streicherstimmen über dem tonal<br />

einfach geführten Bass ergänzen diesen oftmals zu reinen Dreiklängen. „So oft nun<br />

der Bass <strong>und</strong> der Gr<strong>und</strong>ton des Dreiklangs zusammenfallen, stellt sich der Eindruck<br />

<strong>von</strong> Stabilität ein, während zwischendurch die Spannung wächst.“ 184 Auch in dieser<br />

Nummer stehen unverkennbar der traditionellen Komposition entnommene<br />

Elemente dicht neben solchen des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts.<br />

Nb. 7: Nr. III, T. 113 – 116, KA S. 52<br />

183 Brandt, S. 99.<br />

184 Billeter 1990, S. 238.<br />

63


4.5. Nr. IV. La Sainte Cène (<strong>Das</strong> heilige Abendmahl)<br />

Der kürzeste der zehn Sätze – er dauert knapp sechs Minuten – enthält einzig die<br />

vom dramatischen Charakter moderat gehaltene Abendmahlsszene mit häufigen dialogischen<br />

Wechseln <strong>und</strong> ganz ohne chorische Beteiligung. An den ersten ruhigen Teil<br />

(T. 1 – 22, KA S. 63 ff.) schließt sich eine bewegtere Passage an, die die Ankündigung<br />

des Verrats durch Judas thematisiert (T. 23 – 58, KA S. 65 ff.), bevor der<br />

reprisenartige Schlussteil (T. 59 ff., KA S. 69 ff.) den Anfangscharakter wieder aufnimmt<br />

<strong>und</strong> den Satz musikalisch rahmt.<br />

In dieser Szene kann die Kontrastierung <strong>von</strong> Klangregistern besonders gut nachvollzogen<br />

werden. Thomas Seedorf schränkt ein: „ Die Übertragung visueller Eindrücke<br />

wie ‚hell’ <strong>und</strong> ‚dunkel’ auf Musik ist zwar nicht ohne weiteres möglich, eine gewisse<br />

Analogie zwischen Dunkelheit <strong>und</strong> tiefen Tonlagen auf der einen, Helligkeit <strong>und</strong><br />

hohen Tonlagen auf der anderen Seite ist jedoch <strong>von</strong> Komponisten immer wieder<br />

zur musikalischen Darstellung <strong>von</strong> Hell-Dunkel-Kontrasten verwendet worden, modellhaft<br />

etwa <strong>von</strong> Wagner im ‚Lohengrin’“. 185 So verwendet der erste Teil, begleitet<br />

<strong>von</strong> milden Streicherklängen, nicht nur ausschließlich reine Dreiklänge, sondern lässt<br />

stellenweise eine funktionsharmonische Deutung zu.<br />

Die Begleitung der eröffnenden Rezitation des Solotenors beruht auf einem<br />

harmonischen Pendel zwischen Subdominante (gis-Moll) <strong>und</strong> Tonika (dis-Moll) <strong>und</strong><br />

öffnet sich letztlich nach Gis-Dur. Die sich anschließenden Worte Jesu erklingen<br />

über einer viertaktigen harmonischen Sequenz (T. 6 – 9), die ebenfalls dreimal eine<br />

Subdominante-Tonika-Verbindung beinhaltet: <strong>von</strong> E-Dur nach H-Dur, D-Dur nach<br />

A-Dur, cis-Moll nach Gis-Dur (mit Quartvorhalt). Beide Passagen kehren im<br />

Schlussteil wieder, letztere in Verbindung mit den Einsetzungsworten (T. 65 – 71;<br />

vgl. Nb. 8) <strong>und</strong> im letzten Sequenzglied <strong>von</strong> cis-Moll nach Fis-Dur führend (T. 71),<br />

was Jesu Worten dort einen gewissen definitiven Charakter verleiht. Thomas Seedorf<br />

erinnert an Harmoniefolgen aus Wagners Oper „Parsifal“ 186 , die in bestimmten<br />

Szenen in ähnlicher Weise rein diatonisch angelegt sind. Gerade durch die extreme<br />

Einfachheit seiner musikalischen Sprache gelingt es <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong> hier, eine derart<br />

185 Seedorf 2004, S. 2.<br />

186 Vgl. Seedorf 1990, S. 6.<br />

64


heikle Aufgabe (nämlich die Vertonung der Einsetzungsworte) in überzeugender <strong>und</strong><br />

bemerkenswerter Weise zu lösen 187 .<br />

Nb. 8: Nr. IV, T. 65 – 71, KA S. 69 f.<br />

Mit der ersten Erwähnung des Verräters Judas (T. 23 ff.: „Au moment du souper…“)<br />

„verdunkelt“ sich dagegen die Tonsprache, die Evangelistenrolle wechselt vom Solotenor<br />

in die dunklere Bassstimme <strong>und</strong> die Harmonik wird zunehmend dissonanter.<br />

Die instrumentale Untermalung ist in diesem Abschnitt <strong>von</strong> chromatischen Linien<br />

<strong>und</strong> Streicherpizzikati bestimmt. Somit markiert die gegensätzliche Klangsprache zur<br />

Abbildung der Mächte der Finsternis hier sehr plastisch die inhaltliche Bedeutung des<br />

Textes <strong>und</strong> die Rolle Judas’ als übler Verräter.<br />

187 Vgl. Rostand, S. 163: „[…] on ne sait ce qu’il faut plus admirer, de la beauté propre qui se dégage spontanément<br />

du morceau, ou de l’habilité et du goût avec lesquels le compositeur a su prosodier et mettre en musique des paroles sacrées<br />

telle que ‚Faites ceci en mémoire de moi’, tâche redoutable et périlleuse où M. <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong> a réussi en conservant à ces<br />

paroles divines leur naturel humain et surhumain.“<br />

65


4.6. Nr. V. Géthsémané (Gethsemane)<br />

<strong>Das</strong> Schlussstück des ersten Teils in <strong>„Golgotha“</strong> ist gemäß dem vertonten Textinhalt<br />

dreiteilig angelegt <strong>und</strong> gliedert sich in Jesu Gebet (T. 1 – 126, KA S. 72 ff.), seine<br />

Gefangennahme (T. 127 – 162, KA S. 82 ff.) <strong>und</strong> die abschließende Meditation (T.<br />

163 ff., KA S. 86 ff.). Im ersten Abschnitt wird der Bericht des Evangelisten <strong>von</strong> Alt<strong>und</strong><br />

Tenorsolist beinahe durchgängig in parallelen Terzen vorgetragen; durch die<br />

mehrfache Wiederkehr dieser charakteristischen Rezitation im Wechsel mit Jesu<br />

Worten trägt dieser Teil gewisse rondoartige Züge. Die Ankunft Judas’ <strong>und</strong> der<br />

Kriegsknechte wird wiederum in dunkler Klangfarbe vom Basssolisten geschildert.<br />

Die Meditation bildet den Höhepunkt des 1. Teils <strong>und</strong> fällt durch die in der<br />

Instrumentalbegleitung vorherrschenden dissonanten Viertelschläge auf; der Chor<br />

löst die diesen Abschnitt beginnenden Solisten imitatorisch ab.<br />

Bemerkenswert scheint in diesem Satz die Orchestrierung <strong>und</strong> insbesondere der<br />

charakteristische Einsatz des Klaviers. <strong>Das</strong> eröffnende Alt-Tenor-Duett erklingt in<br />

gewisser Weise unbegleitet, aber instrumental verdoppelt <strong>von</strong> beiden Fagotten, deren<br />

Intervallparallelen nach Harry Halbreich „an einen alten Dudelsack erinnern“ 188 . Die<br />

weiteren sieben derartigen Einsätze werden zunehmend bewegter <strong>von</strong> Streicherklängen<br />

<strong>und</strong> deren Seufzermotivik (erstmals ab T. 69, KA S. 77) unterstützt, als<br />

Colla-voce-Stimmen fungieren später auch Englischhorn (T. 28 ff.), Oboe d’amore<br />

(T. 86 ff.) <strong>und</strong> Klarinetten (T. 99 ff.). <strong>Das</strong> die Szene abschließende Fagottduett in<br />

parallelen Terzen (T. 155 – 160, KA S. 85) bildet auf musikalischer Ebene die Flucht<br />

der Jünger ab 189 .<br />

<strong>Das</strong> Klavier wird <strong>von</strong> <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong> zur harmonischen Unterstützung wie auch für<br />

perkussive Effekte eingesetzt. <strong>Das</strong> dreifache Gebet Jesu erfährt nicht nur durch die<br />

sukzessive Verlangsamung der Tempi („Lento“, T. 34, KA S. 74; „Piu Largo“, T. 75,<br />

KA S. 77; „Molto Largo“, T. 106, KA S. 80), sondern nicht zuletzt durch den zunehmenden<br />

perkussiven Grad der Begleitung eine deutliche Steigerung. So beschränkt<br />

sich die Begleitung des ersten Gebets auf Streicherklänge mit einzelnen<br />

gliedernden Klavier- <strong>und</strong> Paukenschlägen, während im zweiten Gebet Klavier <strong>und</strong><br />

188 Halbreich, S. 31.<br />

189 Vgl. Melroy, S. 67: „The falling parallel thirds in the bassoons depict the disciples running away.“<br />

66


Pauke jede dritte Viertelnote akzentuieren. Die Begleitung des dritten Gebets im<br />

Fortissimo bringt jeweils zwei scharfe Akzente (außer in Klavier <strong>und</strong> Pauke in tiefen<br />

Streichern <strong>und</strong> Holzbläsern) auf die erste <strong>und</strong> zweite Taktzeit.<br />

Die den zweiten Abschnitt einleitende Rezitation des Basssolisten (T. 127 – 139, KA<br />

S. 82 f.: „Comme il disait ces mots…“) wird allein <strong>von</strong> verstreuten <strong>und</strong> teils hochgradig<br />

dissonanten Klavierakkorden begleitet <strong>und</strong> könnte derartig in einem modernen<br />

Klavierlied auftauchen. Die monoton durchgehaltene perkussive Viertelbegleitung in<br />

der Meditation, die <strong>von</strong> großen Septakkorden bestimmt wird, erklingt in der seltenen<br />

Kombination des Klaviers mit der Orgel <strong>und</strong> wirkt dagegen äußerst statisch.<br />

4.7. Nr. VI<br />

<strong>Das</strong> Intermedium zu Beginn des zweiten Teils in <strong>„Golgotha“</strong> wird <strong>von</strong> einem<br />

Fagottsolo in hoher<br />

Lage gleichsam<br />

klagend intoniert; es<br />

bewegt sich über<br />

einem Bordunklang<br />

der Celli, nämlich<br />

dem doppelten<br />

Orgelpunkt a – e’,<br />

kontrapunktiert in<br />

parallelen Sexten <strong>von</strong><br />

Flöte <strong>und</strong> Klarinette<br />

mit Seufzermotivik<br />

(vgl. Nb. 9 190 ). Die<br />

Soloaltstimme übernimmt<br />

die<br />

chromatische<br />

Fagottmelodie über<br />

analoger Begleitung<br />

190 Nb. 9: Nr. VI, T. 1 – 16, KA S. 96, in: Billeter 1999, S. 126.<br />

67


<strong>und</strong> tritt in den Dialog mit dem Chor, der die besprochenen Verse aus Psalm 121<br />

einbringt.<br />

Nicht nur auf textlicher (vgl. S. 37), sondern insbesondere auf musikalischer Ebene<br />

drängt sich der Vergleich mit Bachs Arie: „Ach, nun ist mein Jesus hin“, die den<br />

zweiten Teil <strong>von</strong> Bachs Matthäus-Passion eröffnet, geradezu auf. Auch diese ist dem<br />

Soloalt übertragen, die im Wechselgesang mit dem Chor auftritt. Wenn sich auch<br />

deren Charakter im fast tänzerischen 3 / 8-Takt deutlich <strong>von</strong> <strong>Martin</strong>s Satz im langsamen<br />

Viervierteltakt („Lento“) unterscheidet, fallen doch gewisse Parallelen ins<br />

Auge. So beginnt auch Bachs Arie mit einer instrumentalen Einleitung über einem<br />

Orgelpunkt (auf dem Ton H), bevor die Altstimme einsetzt. Seufzermotivik prägt<br />

auch diese Arie, die nicht in der Gr<strong>und</strong>tonart schließt, sondern auf der Dominante<br />

Fis-Dur endet, „wodurch die Frage ‚wo ist mein Jesus hin?’ auch harmonisch offen<br />

<strong>und</strong> unbeantwortet bleibt.“ 191 Eine ähnliche kompositorische Lösung hat <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong><br />

für das Ende seines Satzes gef<strong>und</strong>en: Zwar behält er die A-Tonalität bei, führt<br />

aber mit dem verminderten Septakkord h’ – d – f – gis in den finalen A-Dur-Klang; da<br />

sich die Melodie der Singstimme gleichzeitig vom Terz- zum Quintton e hinauf<br />

schwingt, wird das Ende klanglich offen gehalten – ein finaler Charakter stellt sich<br />

nicht ein.<br />

Nicht unerwähnt bleiben soll die Vertonung der Psalmverse, mit denen der Chor<br />

zunächst im dreifachen Pianissimo mit <strong>Martin</strong>s Anweisung murmuré wie aus weiter<br />

Ferne auf die Fragen der verlassenen Seele reagiert (T. 27 ff., KA S. 97 f.: „Je lève les<br />

yeux…“). Es handelt sich hier um einen (mit Ausnahme der parallelen Akkordrückung<br />

e-Moll – fis-Moll in T. 28) den Regeln des 17. Jahrh<strong>und</strong>erts entsprechenden<br />

Kantionalsatz, dem durch die Orgelpedalstimme insofern eine gewisse Würze beigemischt<br />

wird, als diese konstant eine Kleinterz unterhalb des Chorbasses geführt ist<br />

<strong>und</strong> sich damit eine Folge <strong>von</strong> halbverminderten Septakkorden ergibt. Der zweite<br />

Psalmvers (T. 39 ff., KA S. 99) ist in ähnlicher Weise vertont, jedoch weniger konsequent<br />

als der erste, bevor die übrigen Verse über kontrapunktisch-polyfoner Orgelbegleitung<br />

imitatorisch gesetzt sind, gewissermaßen als individuelle bekennende Aussage<br />

jeder einzelnen Stimmgruppe (T. 68 ff., KA S. 102 ff.: „Il ne sommeil ni ne<br />

dort…“). Claude Rostand erinnert der gesamte Satz in seiner klassischen Schönheit –<br />

191 Scholz, S. 54 f.<br />

68


mutmaßlich seiner melodischen Schlichtheit <strong>und</strong> seiner hohen kammermusikalischen<br />

Qualität wegen – an Faurés Oper „Pénélope“ 192 .<br />

4.8. Nr. VII. Jésus devant le Sanhédrin (Jesus vor dem Hohen Priester)<br />

Im „heftigen Rhythmus einer Tokkata“ 193 beginnt die Szene Jesu vor dem Hohen<br />

Priester, deren Orchesterbegleitung mit durchgehenden Achtelläufen zunächst den<br />

Satz bestimmt. Die erzählende Rolle kommt den Chortenören <strong>und</strong> -bässen zu <strong>und</strong><br />

wechselt nach der kontrastierenden Passage der Jesusworte (T. 104 ff., KA S. 120 ff.:<br />

„Tu l’as dit…“), die vorübergehend das „Allegro con fuoco“ beruhigt, zum Solotenor<br />

(T. 137 ff., KA S. 122 ff.: „A ces mots…“), die unruhige Begleitung wird wieder aufgegriffen.<br />

Der erneute Tumult des Volkes mit Steigerungswirkung bis zum Fortissimo<br />

bricht unvermittelt ab, <strong>und</strong> in starkem Kontrast schließt sich die Meditation im<br />

Pianissimo-Choralklang (T. 267 ff., KA S. 135 ff.) an.<br />

Es liegt nahe, in diesem rhythmisch <strong>und</strong> durch Taktwechsel geprägten Satz einzelne<br />

Aspekte der Rhythmik herauszugreifen. Unmittelbar ins Auge fällt die Vielzahl der<br />

Taktwechsel: Zweier- <strong>und</strong> Dreiermetren wechseln ununterbrochen ab, „was den unsteten<br />

Effekt großer Fünfer- <strong>und</strong> Siebenertakte bewirkt <strong>und</strong> durch die Klangfarben,<br />

besonders der Blechbläser, verschärft wird.“ 194 Prinzipiell handelt es sich hier insofern<br />

um eine weitere Variante des Deklamationsstils, als der Takt nicht konstant<br />

bleibt, sondern jeweils gemäß der natürlichen Satzbetonung verändert wird (vgl. Nb.<br />

10 auf S. 70).<br />

Samuel Baud-Bovy weist in dieser Passage auf die Einflüsse <strong>von</strong> <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong>s<br />

rhythmischen Experimenten hin (vgl. auch S. 7) <strong>und</strong> sieht in den Taktwechseln Anklänge<br />

an die perfekte <strong>und</strong> imperfekte Mensurierung der Ars nova, verknüpft mit<br />

seinen Erkenntnissen aus der Beschäftigung mit der bulgarischen Folklore <strong>und</strong> dem<br />

rumänischen Volkslied: „[…] il est significatif que <strong>Martin</strong> ait recouru à ce très ancien type de<br />

rythmique populaire précisément là où il veut évoquer une foule primitive emportée par ses<br />

192 Vgl. Rostand, S. 164.<br />

193 Halbreich, S. 32.<br />

194 Brandt, S. 102.<br />

69


instincts.“ 195 (Es ist bezeichnend, dass <strong>Martin</strong> genau dort auf diesen uralten Typus<br />

volkstümlicher Rhythmik zurückgegriffen hat, wo er an eine primitive, instinktiv aufbrausende<br />

Volksmenge erinnern will.) Die colla voce geführten Blechblasinstrumente,<br />

zunächst im vollen Hörnersatz, abgelöst <strong>von</strong> den Posaunen (T. 9 ff.) <strong>und</strong> gesteigert<br />

durch die Trompeten (T. 23 ff.), „fügen dem Ganzen eine herb archaische<br />

<strong>und</strong> durchaus mittelalterliche Tönung hinzu“ 196 .<br />

Nb. 10: Nr. VII, T. 1 – 9, KA S. 110 (auf die Singstimmen reduziert)<br />

In der Folge fällt die unruhige Basslinie (in Klavier <strong>und</strong> Kontrabässen) ab Takt 31<br />

(KA S. 112) auf, die einen Orgelpunkt auf dem Ton A impliziert <strong>und</strong> deren durchgehende<br />

Viertel unregelmäßig akzentuiert sind: jeweils der Ton A (zweite Viertel in<br />

T. 31, erste <strong>und</strong> vierte Viertel in T. 32, vierte Viertel in T. 33, dritte <strong>und</strong> sechste<br />

Viertel in T. 34 etc.) wird hier perkussiv hervorgehoben <strong>und</strong> bildet einen<br />

rhythmischen Kontrapunkt zum regelmäßigen Halbetakt. Auch dieses Mittel der<br />

„falschen“ Akzentuierung dient der Versinnbildlichung des Textes, der an dieser<br />

Stelle die falschen Zeugen ankündigt („Quelques-uns parurent alors qui témoignèrent faussement<br />

contre lui…“); die falschen Zeugen selbst (T. 40 ff.) werden in analoger Weise<br />

begleitet.<br />

Rhythmisch wie harmonisch äußerst einfach gehalten sind dagegen Jesu Antwort wie<br />

auch die gesamte Meditation. Während die erste der Passagen (T. 103 – 136) im<br />

195 Vgl. Baud-Bovy, S. 254.<br />

196 Halbreich, S. 32.<br />

70


schreitenden Halberhythmus wiederum funktionsharmonische Deutung zulässt, arbeitet<br />

<strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong> in der Meditation mit liegenden <strong>und</strong> sich sukzessive verschiebenden<br />

reinen Dreiklängen, die ab Takt 313 (KA S. 142) um große Septimen<br />

erweitert sind.<br />

4.9. Nr. VIII. Jésus devant Pilate (Jesus vor Pilatus)<br />

In der vorletzten Szene, die ohne anschließende Meditation in die Kreuzigungsszene<br />

führt, sind die Rollen klar verteilt: Die Evangelistenrezitation obliegt durchgängig<br />

dem Basssolisten, der zwischen den Äußerungen Pilatus’ (dem Tenorsolisten), Jesu<br />

<strong>und</strong> der Volksmenge überleitet. Der so entstehende Dialog ist äußerst abwechslungsreich,<br />

allein der Chor tritt an insgesamt sechs Turba-Stellen in prägnanter Kürze (mit<br />

Ausnahme der längeren Passage in den Takten 200 – 228, KA S. 165 ff.: „A mort!<br />

Crucifie!…“) <strong>und</strong> jeweils mit eindeutiger Aussage auf. Der Satz beginnt „Con moto“<br />

<strong>und</strong> steigert sich sowohl im Tempo wie auch dynamisch kontinuierlich bis zur letzten<br />

ausgerufenen Frage des Pilatus in höchster Tenorlage (bis b’ in T. 229, KA S. 172:<br />

„Crucifierai-je votre roi?“), die der Chor im gewaltigen Unisono unmissverständlich beantwortet.<br />

Wenn dieser Satz (ebenso wie die folgenden beiden Nummern) auch zweifelsohne<br />

eine ausführliche Analyse verdiente, sei hier nur auf einige besondere Auffälligkeiten<br />

hingewiesen. Bemerkenswert ist zum einen der strenge Tritonuskanon in den Takten<br />

20 – 33 (vgl. Nb. 11 auf S. 72) – nach Harry Halbreich „die letzte Anspielung auf die<br />

Johannes-Passion <strong>von</strong> Bach (‚Wir haben ein Gesetz…’)“ 197 –, deren Tonfolge Pierre<br />

Meylan hingegen als in der Tradition der Schönbergschen Reihentechnik stehend<br />

empfindet 198 . Moderne <strong>und</strong> barocke Techniken scheinen sich also unmittelbar zu<br />

begegnen (auch wenn hinsichtlich beider recht allgemeiner Beobachtungen eine differenziertere<br />

Einordnung wünschenswert wäre).<br />

197 Halbreich, S. 33.<br />

198 Vgl. Meylan, S. 278: „On trouve encore dans cette œuvre des séries dans la bonne tradition du maître viennois<br />

[Schönberg] – par exemple dans les deux phrases du ténor et de la basse ‚Nous n’a<strong>von</strong>s pas le droit de faire mourir<br />

personne’“.<br />

71


Nb. 11: Nr. VIII, T. 20 – 33, KA S. 152 f. (auf die Singstimmen reduziert) 199<br />

Mardia Melroy zieht anhand der Rezitation Jesu über Streicherakkorden ab Takt 53<br />

(KA S. 155: „Mon royaume n’est pas de ce monde…“) eine Parallele zu vergleichbaren Passagen<br />

in Bachs Passionen, wo Jesu Worte stellenweise ebenfalls über Streicherbegleitung<br />

gesetzt sind 200 , während die A mort-Rufe des Chores (T. 200 ff., KA S. 165<br />

ff.) in ihrer rhythmischen Prägnanz den chorischen „Wohin“-Einwürfen in Bachs<br />

Arien: „Sehet, Jesus hat die Hand“ (Matthäus-Passion) oder: „Eilt, ihr angefochtnen<br />

Seelen“ (Johannes-Passion) nahe kommen 201 . Der den folgenden, im äußerst<br />

chromatischen Stil vertonten Abschnitt einleitende ostinate Crucifie-Ausruf (in der<br />

Bassstimme in T. 208 ff., KA S. 167 ff.) ist unverkennbar als umgekehrtes <strong>und</strong> verzerrtes<br />

B-A-C-H-Motiv zu deuten 202 . Die „geheime Korrespondenz mit der<br />

Passionsmusik Johann Sebastian Bachs, wie sie dem aufmerksamen Betrachter <strong>und</strong><br />

Zuhörer an einigen Stellen offenbar wird“ 203 , ist letztlich nicht überzubewerten; vielmehr<br />

handelt es sich bei aller Anknüpfung hinsichtlich der formalen <strong>und</strong> inhaltlichen<br />

Konzeption wie auch auf satztechnischer Ebene in der Beziehung Bach – <strong>Martin</strong><br />

eher um eine Art Vorm<strong>und</strong>schaft Bachs als um eine Abhängigkeit <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong>s <strong>von</strong><br />

199 Nb. in: Meester II 1994, S. 28.<br />

200 Vgl. Melroy, S. 242.<br />

201 Vgl. ebd., S. 87.<br />

202 Vgl. ebd., S. 106.<br />

203 Seedorf 1990, S. 9.<br />

72


einer genau verfolgten Vorlage 204 . <strong>Martin</strong>s <strong>Oratorium</strong> ist daher gewissermaßen als<br />

„modernes Pendant“ 205 zu verstehen.<br />

4.10. Nr. IX. Le Calvaire (Kalvaria)<br />

Die letzte Szene scheint musikalisch all das abzubilden, was sich auf Rembrandts<br />

Kupferstich außerhalb des erleuchteten Ausschnitts befindet. Der Bericht über die<br />

Kreuzigung ist dem Chor (mit Ausnahme der Sopranstimme) anvertraut, der ihn im<br />

ruhigen „Andante“ <strong>und</strong> tiefer, dunkler Lage in einer Art Organumsatz rezitiert 206 . Die<br />

„dumpfe Psalmodie des Chors“ 207 bewegt sich über schweren, tiefen Streicherklängen,<br />

an denen die Geigen nur sporadisch beteiligt sind. Die wiederholten Kreuzmotive<br />

sind unverkennbar, so beispielsweise in der Altstimme in den Takten 3 – 6 (cis<br />

– dis – c – d; KA S. 175) oder im gesamten Chorsatz in den Takten 27 – 30 (a – h – as<br />

– b; vgl. Nb. 12). Die vier Aussprüche Jesu am Kreuz erklingen ebenfalls über liegenden<br />

Akkorden, mit Ausnahme der Phrase: „J’ai soif.“ (T. 75/76, KA S. 183), die dem<br />

Inhalt gemäß unbegleitet bleibt.<br />

Nb. 12: Nr. XI, T. 24 – 30, KA S. 177 f. (auf die Singstimmen reduziert)<br />

<strong>Das</strong> eindrucksvolle, intensive Tenorsolo der „sublimsten <strong>und</strong> ergreifendsten Meditation“<br />

208 , das den verhaltenen Charakter der Szene aufnimmt, beginnt ebenfalls unbegleitet;<br />

die Melodie trägt zunächst dorische Züge, berücksichtigt aber nach <strong>und</strong><br />

nach alle zwölf chromatischen Töne über den einsetzenden Orchesterklängen. Mit<br />

sanften Bläserakkorden <strong>und</strong> Paukenschlägen steigert sich der Satz <strong>und</strong> endet letztlich<br />

204 Vgl. Perroux, S. 65: „[…] <strong>Martin</strong> a laissé Bach en arrière-plan, mais comme une figure tutélaire plutôt qu’un<br />

modèle scrupuleusement suivi.“<br />

205 Seedorf 1990, S. 9.<br />

206 Vgl. Baud-Bovy, S. 254 f.: „[…] un chœur, dont les voix parallèles rappellent l’antique ‚organum’ […] Toute la<br />

scène du Calvaire est traitée dans un style analogue“.<br />

207 Seedorf 1990, S. 7.<br />

208 Halbreich, S. 33.<br />

73


mit der demütigen Bitte um Erbarmen im zurückgenommenen dreifachen Pianissimo<br />

in Eis-Dur.<br />

4.11. Nr. X<br />

In denkbar stärkstem Gegensatz zum Vorausgehenden setzt der Schlusschor attacca<br />

im den gesamten Stimmen- <strong>und</strong> Orchesterapparat ausnutzenden Fortissimo ein. Der<br />

gewaltige triumphierende Ausruf des besprochenen Paulusverses (vgl. S. 38 f.) verhöhnt<br />

den Tod <strong>und</strong> bejubelt zugleich den Sieg Christi, des Lichtes, über die Mächte<br />

der Finsternis. Auf die Korrespondenz der harmonischen Anlage zum den Eingangschor<br />

beschließenden Abschnitt <strong>und</strong> die daraus resultierende formale Geschlossenheit<br />

des Gesamtwerks wurde bereits hingewiesen (vgl. S. 57).<br />

Der sich anschließende Doppelkanon der geteilten Frauenstimmen (T. 9 ff., KA S.<br />

194 ff.: „Tressaille de joie dans le ciel…“), der die Textausschnitte aus dem Exsultet einleitet<br />

(vgl. S. 39 f.) <strong>und</strong> in den in der Folge der ebenfalls geteilte Männerchor einstimmt,<br />

enthält bei aller beibehaltenen Syllabik das auffällige Melisma auf dem Wort<br />

sonne, das beinahe eine Oktave umfasst <strong>und</strong> den besungenen Instrumentalklang versinnbildlicht.<br />

Als Zielpunkte der wiederholten imitatorischen Anläufe dienen die reinen<br />

Dreiklänge D-Dur (T. 18), Gis-Dur (T. 22), A-Dur (T. 29 <strong>und</strong> 33) <strong>und</strong> zuletzt<br />

Cis-Dur (T. 42). In das Lob der Nacht, das <strong>von</strong> den solistischen Stimmen im Unisono<br />

vorgetragen wird (T. 53 ff., KA S. 202 f.: „Car c’est ici la nuit…“) stimmt der Chor<br />

in ganz eigentümlicher Klanglichkeit ein: zwischen die dominierende Melodie, die in<br />

drei Oktaven unisono erklingt (in Sopran I, Alt II, Tenor II <strong>und</strong> Bass II), werden<br />

über der farbigen Orchesterbegleitung die übrigen Stimmen zusätzlich eingeflochten<br />

(T. 64 ff., KA S. 204 ff.: „O nuit…“).<br />

Mit der unvermittelten Rückung des Orgelpunkts Es auf die höhere Ebene G (T.<br />

84/85, KA S. 209) steigert sich der Satz sukzessive <strong>und</strong> benutzt ab Takt 101 (KA S.<br />

212) fast ausschließlich reine Dreiklänge in Form sich verschiebender Akkorde, zunächst<br />

über dem nunmehr implizierten Orgelpunkt, dann ab Takt 143 (vgl. Nb. 13)<br />

über dem in Ganztonskalen aufwärts schreitenden Bass – nach Kurt <strong>von</strong> Fischer ein<br />

74


weiteres Beispiel dafür, wie sehr sich „klanglich-harmonische Elemente teilweise impressionistischer<br />

Herkunft mit reihentechnischen Erscheinungen mischen“ 209 .<br />

Nb. 13: Nr. X, T. 143 – 150, KA S. 218 f. (ohne Singstimmen) 210<br />

Der strahlende Höhepunkt ist mit dem Tuttiklang im dreifachen Fortissimo in F-Dur<br />

(T. 159, KA S. 221) erreicht. Damit ist der Schlusschor ins Emphatische gesteigert,<br />

der bis zum Ende hin dynamisch ausläuft, die gesamte leuchtende Strahlkraft aber<br />

beibehält. Die bewegten Worte Harry Halbreichs mögen die dadurch erreichte Wirkung<br />

erahnen lassen: „Der breit angelegte <strong>und</strong> ruhevolle Schluss ist ein ‚offener’<br />

Schluss, die Musik scheint für immer an der Schwelle der Ewigkeit verharren zu wollen,<br />

versunken in unendlicher Betrachtung des Unaussprechlichen…“ 211<br />

209 Fischer 1951, S. 96.<br />

210 Nb. in: Ebd.<br />

211 Halbreich, S. 34.<br />

75


5. Zusammenfassung <strong>und</strong> Ausblick<br />

„‚Golgotha’ est une ‚somme’“ 212 (<strong>„Golgotha“</strong> ist eine „Summe“), stellt Samuel Baud-<br />

Bovy, der Dirigent der Uraufführung, fest <strong>und</strong> bezieht sich damit auf den Einsatz<br />

aller <strong>von</strong> <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong> im Laufe seines über fünfzigjährigen künstlerischen Schaffens<br />

erprobten Techniken in seinem in der vorliegenden Arbeit thematisierten <strong>und</strong> in jeder<br />

Hinsicht vielseitigen <strong>Oratorium</strong>. Die wichtigsten Ergebnisse dieser Arbeit seien<br />

in der Folge zusammenfassend dargestellt.<br />

Ausgehend <strong>von</strong> seiner klassischen musikalischen Ausbildung <strong>und</strong> zunächst <strong>von</strong> der<br />

Bachschen Harmonik gefesselt, erweiterte sich <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong>s stilistischer Horizont<br />

sukzessive. Seine Experimente auf rhythmischem Gebiet sowie die partielle Integration<br />

der Zwölftontechnik führten schließlich zu der für seinen Stil der Reife charakteristischen<br />

erweiterten Tonalität, die in <strong>„Golgotha“</strong> zur Hervorhebung besonderer<br />

Textinhalte um Passagen äußerster harmonischer Einfachheit bereichert ist.<br />

Parallel zu diesem stilistischen Werdegang wurde <strong>Martin</strong>s ebenso individuell geprägte<br />

Entwicklung hinsichtlich seiner Religiosität aufgezeigt. Wenn er es auch im Gr<strong>und</strong>e<br />

für vermessen <strong>und</strong> unangebracht hielt, eine Vertonung des Passionsgeschehens zu<br />

wagen, erschien es ihm letztlich als innere Notwendigkeit, sein eigenes Glaubensbekenntnis<br />

zu komponieren. Auch in dieser Hinsicht ist <strong>„Golgotha“</strong> eine<br />

„Summe“ 213 , nämlich <strong>von</strong> Glaubensinhalten <strong>und</strong> -aussagen, die in komprimierter<br />

Form zu einer Textvorlage <strong>von</strong> hoher literarischer Qualität <strong>und</strong> höchster Aktualität<br />

zusammengestellt sind. Es ist „ein bekennendes Werk, großartig <strong>und</strong> schlicht zugleich<br />

in seiner Gestalt, die Tiefen echter, ernster Gläubigkeit auslotend.“ 214 Die<br />

einzelnen Ergebnisse der textlichen Untersuchung wurden als Voraussetzung für die<br />

folgenden Ausführungen am Ende des betreffenden Kapitels zusammengestellt.<br />

Berührt <strong>und</strong> ergriffen <strong>von</strong> Rembrandts Kupferstich „Die drei Kreuze“, der das<br />

christliche Heilsgeschehen auf Einfachstes konzentriert erfasst, übertrug <strong>Frank</strong> Mar-<br />

212 Baud-Bovy, S. 253.<br />

213 Vgl. Meylan, S. 280: „‚Golgotha’ représente une ‚somme’ de tout ce qu’un grand croyant peut apporter à ses compagnons<br />

de misère.“<br />

214 Fierz, S. 172.<br />

76


tin „diese ins Sinnliche übertragene, vollendete künstlerische Gestalt des f<strong>und</strong>amentalen<br />

Gegensatzes zwischen Licht <strong>und</strong> Finsternis“ 215 nicht nur auf textliche, sondern<br />

insbesondere auf musikalische Ebene, um ein ganzheitliches kompositorisches Pendant<br />

zu schaffen. Dieses fällt auf insbesondere durch die kunstvolle Einbeziehung<br />

archaischer <strong>und</strong> moderner Elemente, die in <strong>Martin</strong>s musikalischer Sprache aufeinander<br />

treffen.<br />

Um diese Elemente kennzeichnen zu können, wurde seine Stilistik am Beispiel des<br />

Eingangschores auf die wichtigsten Parameter der Tonalität, der Satzweise, der Melodik<br />

<strong>und</strong> der Harmonik untersucht <strong>und</strong> auf deren Wechselbeziehungen verwiesen.<br />

Anhand ausgewählter Sätze wurden weitere typische <strong>und</strong> besondere Merkmale herausgestellt.<br />

Auf betont archaische Momente – besonders auf harmonischer <strong>und</strong><br />

rhythmischer Ebene sowie in verschiedenen Passagen, in denen Anlehnungen an<br />

Stilmittel anderer Komponisten <strong>und</strong> Epochen festgestellt wurden – sowie auffallend<br />

moderne Einflüsse – vor allem der Zwölftontechnik, aber auch des Jazz – wurde<br />

besonders hingewiesen. Dabei wurde deutlich, dass diese Elemente nur selten klar<br />

abgrenzbar sind <strong>und</strong> an keiner Stelle um ihrer selbst willen auftreten. Vielmehr handelt<br />

es sich auch in dieser Hinsicht um eine Bereicherung <strong>von</strong> <strong>Martin</strong>s Tonsprache in<br />

Synthese mit seinen charakteristischen Stilmitteln, wodurch eine einheitliche <strong>und</strong><br />

dichte Struktur entsteht.<br />

Nicht möglich war im Rahmen dieser Arbeit eine umfassendere Analyse der Partitur,<br />

weshalb auf weitere Ausprägungen <strong>und</strong> Varianten der im Eingangschor untersuchten<br />

Parameter in der Besprechung der Folgesätze nur am Rande verwiesen werden konnte.<br />

Lohnenswert wäre vor allem die Untersuchung, inwiefern <strong>„Golgotha“</strong> wegweisend<br />

für <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong>s spätere Kompositionen gewesen ist. Zur weiteren eingehenden<br />

Beschäftigung mit dem Werk selbst sei vor allem die genannte Lektüre <strong>von</strong><br />

Mardia Melroy sowie Magda de Meester empfohlen.<br />

Zurück zur eingangs aufgeworfenen Frage nach der Wirkung <strong>von</strong> <strong>„Golgotha“</strong>: Wodurch<br />

überzeugt <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong>s Werk? Die anfangs geschilderten Publikumsreaktionen<br />

scheinen nicht singulär zu sein, schon Rudolf Klein schrieb im Jahre<br />

1960: „Kein noch so stürmischer Applaus kann seinen Autor in der Weise ehren, wie<br />

215 Billeter 1990, S. 235.<br />

77


das ergriffene Schweigen, das nach einer Aufführung <strong>von</strong> ,Golgotha’ zu herrschen<br />

pflegt.“ 216 Meines Erachtens spielen bei der Rezeption zwei Komponenten eine<br />

wichtige Rolle. Zum einen wird dem Publikum in der Tat ein vollendetes Drama vor<br />

Augen geführt, das Passionsgeschehen emotionsgeladen, voller Liebe <strong>und</strong> voller<br />

Hass, <strong>und</strong> aus verschiedenen Sichtweisen mit aller Härte <strong>und</strong> Brutalität schonungslos<br />

dargestellt – unmittelbare Betroffenheit stellt sich ein: „Wie konnten Menschen dich<br />

richten mit solcher Härte, solchem Hass, einen Tod dir bereiten, so schändlich <strong>und</strong><br />

grausam?“ (vgl. Meditation in Nr. VII.)<br />

Andererseits aber nimmt das Passionsoratorium ein gänzlich unerwartetes Ende.<br />

Nicht stille Trauer oder mitleidsvolle Beweinung der Kreuzigung beschließt das<br />

Werk, sondern die Einbeziehung der österlichen Auferstehung, der Jubel über Jesu<br />

Sieg, der Triumph des Lebens über den Tod – daraus wächst die Erkenntnis: Die<br />

Leidensgeschichte war lediglich Durchgangsstation auf dem Weg zum Osterereignis,<br />

die Passion die andere, aber notwendige Seite „ein <strong>und</strong> desselben Heilsgeschehens“<br />

217 . Zu guter Letzt hat Christus die gesamte menschliche Schuld auf sich<br />

<strong>und</strong> damit alle Last <strong>von</strong> mir selbst genommen; auf unverhoffte <strong>und</strong> unbegreifliche<br />

Weise bin ich befreit: „Christus starb für uns, in Christ ward uns geschenkt das<br />

Leben.“ (vgl. Nr. I.)<br />

„<strong>Martin</strong> konnte gar nicht den Tod Jesu abgelöst sehen <strong>von</strong> seiner Auferstehung, beides<br />

gehörte für ihn zusammen wie Sündhaftigkeit <strong>und</strong> Hoffnung auf Erbarmen“ 218 .<br />

Diese Sichtweise spiegelt sich in <strong>„Golgotha“</strong> unbedingt wider, ohne dass das Werk in<br />

irgendeiner Weise auf äußerliche Effekte zielt oder plakativ wirkt. Es ist ein authentisches<br />

<strong>und</strong> persönliches Zeugnis, eine Musik, die <strong>von</strong> Herzen kommt <strong>und</strong> zu Herzen<br />

geht 219 : „<strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong>, si réservé, si jaloux de ses sentiments, a ouvert son cœur tout grand dans<br />

cette œuvre.“ 220 (<strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong>, so besorgt er sonst auf seine Empfindungen bedacht<br />

<strong>und</strong> um Zurückhaltung bemüht war, hat in diesem Werk sein großes Herz geöffnet.)<br />

216 Klein, S. 50.<br />

217 Billeter 1990, S. 240.<br />

218 Brandt, S. 107.<br />

219 Vgl. Rostand, S. 162: „[…] une musique du cœur qui adresse au cœur“.<br />

220 Tappolet 1949, S. 263.<br />

78


Die große Außenwirkung ist dem Komponisten selbst nicht verborgen geblieben: „Il<br />

arrive ainsi qu’une œuvre, qu’on a écrite pour soi-même et sans aucun souci de ce qu’on pourra en<br />

penser, en dire ou en écrire, est précisément celle qui atteint le plus directement non pas seulement le<br />

public, mais aussi, les musiciens et ceux-mêmes dont on pouvait craindre le jugement. Ce n’est pas<br />

une fois seulement que j’ai pu faire cette expérience.“ 221 (So passiert es, dass ein Werk, welches<br />

man für sich selbst <strong>und</strong> ohne sich darum zu sorgen, was man da<strong>von</strong> denken<br />

oder darüber schreiben könnte, geschrieben hat, genau das Werk ist, das nicht nur<br />

das Publikum, sondern auch die Musiker <strong>und</strong> selbst jene erreicht, deren Urteil man<br />

fürchten könnte. Nicht nur einmal konnte ich diese Erfahrung machen. 222 ) Und seine<br />

Frau fügt hinzu: „[…] à plusieurs reprises <strong>Frank</strong> put recevoir des lettres de personnes ayant<br />

participé comme choristes à une exécution de ‚Golgotha’, lui disant que par cette musique, elles<br />

avaient trouvé la foi, ce qui avait transformé leur vie.“ 223 (Recht häufig erhielt <strong>Frank</strong> Briefe<br />

<strong>von</strong> Leuten, die als Choristen an einer Aufführung <strong>von</strong> <strong>„Golgotha“</strong> beteiligt waren<br />

<strong>und</strong> ihm schrieben, dass sie durch diese Musik zum Glauben gef<strong>und</strong>en hätten, der ihr<br />

Leben verändert habe.)<br />

Welch großen Stellenwert <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong> selbst seiner Komposition zumaß, zeigt nicht<br />

nur ihr langer Entstehungszeitraum <strong>von</strong> drei Jahren, sondern nicht zuletzt <strong>Martin</strong>s<br />

rückblickende Erinnerung an die Kompositionszeit: „Golgotha a été un événement unique<br />

dans ma vie de compositeur. […] La longue période consacrée à l’élaboration de cet oratorio reste,<br />

pour ma femme et pour moi, dans notre souvenir comme un temps béni, une semaine sainte qui dura<br />

près de trois années.“ 224 (<strong>„Golgotha“</strong> stellte für mich ein einzigartiges Ereignis in meinem<br />

Leben als Komponisten dar. Die lange Zeitspanne, die der Ausarbeitung dieses<br />

<strong>Oratorium</strong>s gewidmet war, lebt für uns beide, für meine Frau wie für mich, in der<br />

Erinnerung fort als eine gesegnete Zeit, als eine Karwoche, die fast drei Jahre gedauert<br />

hat. 225 )<br />

221 <strong>Martin</strong> 1963, S. 87.<br />

222 Übersetzung in: Gärtner, S. 205.<br />

223 <strong>Martin</strong>, Maria 1990, S. 118.<br />

224 <strong>Martin</strong> 1970, S. 77 f.<br />

225 Übersetzung in: <strong>Frank</strong>-<strong>Martin</strong>-Gesellschaft, S. 100.<br />

79


6. Quellen- <strong>und</strong> Literaturverzeichnis<br />

6.1. Notenausgaben<br />

<strong>Martin</strong>, <strong>Frank</strong>: Golgotha – Partitur mit deutschem Text, Wien: Universal Edition 1953 Nr.<br />

19125 [Partitur]<br />

<strong>Martin</strong>, <strong>Frank</strong>: Golgotha – Partition pour Chant et Piano (Reproduction du manuscrit de<br />

l’auteur). Ins Deutsche übertragen <strong>von</strong> Roland Philipp, Wien: Universal Edition 1949 Nr.<br />

11949 (franz./deutsch) [Klavierauszug]<br />

6.2. Textquellen<br />

Bernhart, Joseph (Hrsg.): Augustinus – Bekenntnisse. Lateinisch <strong>und</strong> deutsch, <strong>Frank</strong>furt am<br />

Main: Insel Verlag 1987<br />

Knoch, Otto (Hrsg.): Vollständige Synopse der Evangelien. Nach dem Text der Einheitsübersetzung,<br />

Stuttgart: Katholische Bibelanstalt 1988<br />

Peisker, Carl Heinz (Hrsg.): Zürcher Evangelien-Synopse, 4., erw. Aufl., Kassel: J. G. Oncken<br />

Verlag 1964<br />

Schiel, Hubert (Hrsg.): Des heiligen Augustinus’ Bekenntnisse, 4. Aufl., Freiburg: Verlag<br />

Herder 1955<br />

6.3. Äußerungen <strong>von</strong> <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong><br />

<strong>Martin</strong>, <strong>Frank</strong>: Le compositeur moderne et les textes sacrés. Causerie faite à Bâle le 2 mai 1946 à<br />

l’occasion de l’exécution d’„In terra pax“, in: Schweizerische Musikzeitung (SMZ) 86 (1946), S.<br />

261 – 266 (auch in: <strong>Martin</strong>, <strong>Frank</strong>: Un compositeur médite sur son art, S. 123 – 132; fragmentarisch<br />

auch in: <strong>Martin</strong>, Maria (Hrsg.): A propos de…, S. 74 – 76; fragmentarisch<br />

auch in: Société <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong>: <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong> – L’univers d’un compositeur…, S. 92; engli-<br />

sche Übersetzung in: Melroy, Mardia: <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong>’s „Golgotha”, S. 288 – 305; frag-<br />

80


mentarische deutsche Übersetzung in: Halbreich, Harry: Entstehung <strong>von</strong> <strong>„Golgotha“</strong>;<br />

<strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong> kommentiert <strong>„Golgotha“</strong>…, S. 27 – 28; fragmentarische deutsche Übersetzung<br />

auch in: <strong>Frank</strong>-<strong>Martin</strong>-Gesellschaft: <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong> – Die Welt eines<br />

Komponisten…, S. 98) [<strong>Martin</strong> 1946]<br />

<strong>Martin</strong>, <strong>Frank</strong>: Golgotha. Erläuterung zur Aufführung des Werkes in der Tonhalle in Genf am<br />

4. Juni 1950, in: <strong>Martin</strong>, Maria (Hrsg.): A propos de…, S. 70 – 73 (fragmentarisch auch<br />

in: SMZ 90 (1950), S. 205 – 206; fragmentarische deutsche Übersetzung in: <strong>Martin</strong>,<br />

Maria (Hrsg.): A propos de…, S. 195 – 197) [<strong>Martin</strong> 1950]<br />

<strong>Martin</strong>, <strong>Frank</strong>: Golgotha. Original d’un article écrit à la demande de Robert Stephan Hines, in:<br />

<strong>Martin</strong>, Maria (Hrsg.): A propos de…, S. 79 – 88 (engl. Übersetzung S. 198 – 205; engl.<br />

Übersetzung auch in: Hines, Robert Stephan: The Composer’s Point of View. Essays on<br />

Twentieth-Century Choral Music by Those Who Wrote It, University of Oklahoma Press<br />

1963, S. 196 – 205) [<strong>Martin</strong> 1963]<br />

<strong>Martin</strong>, <strong>Frank</strong>/Piguet, Jean-Claude: Entretiens sur la musique, Neuchâtel: La Baconnière<br />

1967 [<strong>Martin</strong> 1967]<br />

<strong>Martin</strong>, <strong>Frank</strong>: Lettre sur la Genèse de Golgotha, in: <strong>Martin</strong>, Maria (Hrsg.): A propos de…,<br />

S. 77 – 78 (auch in: <strong>Martin</strong>, <strong>Frank</strong>: Un compositeur médite sur son art, S. 133 – 134; auch<br />

in: Société <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong>: <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong> – L’univers d’un compositeur…, S. 93; deutsche<br />

Übersetzung in: <strong>Frank</strong>-<strong>Martin</strong>-Gesellschaft: <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong> – Die Welt eines Komponisten…,<br />

S. 100) [<strong>Martin</strong> 1970]<br />

<strong>Martin</strong>, <strong>Frank</strong>: Entretiens avec <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong>, in: Zodiaque – Cahiers de l’Atélier du cœur<br />

meurtry 103 (1975), S. 7 – 28 [<strong>Martin</strong> 1975]<br />

<strong>Martin</strong>, <strong>Frank</strong>: Un compositeur médite sur son art, Neuchâtel: La Baconnière 1977 [<strong>Martin</strong><br />

1977]<br />

<strong>Frank</strong>-<strong>Martin</strong>-Gesellschaft: <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong> – Die Welt eines Komponisten. Katalog der Ausstellung<br />

zum Gedenken an den zehnten Todestag <strong>von</strong> <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong>, Zürich: Atlantis Musik-<br />

81


uch-Verlag 1984 (deutsche Übersetzung <strong>von</strong>: Société <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong>: <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong> –<br />

L’univers d’un compositeur…)<br />

<strong>Martin</strong>, Maria (Hrsg.): A propos de…, commentaires de <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong> sur ses œuvres, Neuchâtel:<br />

La Baconnière 1984<br />

Société <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong>: <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong> – L’univers d’un compositeur. Catalogue de l’Exposition<br />

commémorant le dixième anniversaire de la mort de <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong>, 2., rev. <strong>und</strong> erw. Aufl.,<br />

Genève: La Baconnière 1985 (deutsche Übersetzung in: <strong>Frank</strong>-<strong>Martin</strong>-Gesellschaft:<br />

<strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong> – Die Welt eines Komponisten…)<br />

6.4. Literatur<br />

Ansermet, Ernest: Hommage à <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong>, in: Feuilles musicales 7/8 (1953), S. 165 –<br />

168<br />

Baud-Bovy, Samuel: Sur le <strong>„Golgotha“</strong> de <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong>, in: SMZ 90 (1950), S. 252 – 255<br />

Billeter, Bernhard: <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong>. Ein Außenseiter der neuen Musik, Frauenfeld/Stuttgart:<br />

Huber 1970<br />

Billeter, Bernhard: Die Harmonik bei <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong>. Untersuchungen zur Analyse neuerer<br />

Musik, Bern/Stuttgart: Haupt 1971<br />

Billeter, Bernhard: Die letzten Vokalwerke <strong>von</strong> <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong>, in: SMZ 116 (1976), S. 344<br />

– 351<br />

Billeter, Bernhard/<strong>Martin</strong>, Maria: Werkverzeichnis <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong>; Bibliografie der Schriften<br />

<strong>von</strong> <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong>; <strong>Frank</strong>-<strong>Martin</strong>-Bibliografie, in: SMZ 116 (1976), S. 378 – 386<br />

Billeter, Bernhard: Die geistlichen Werke <strong>von</strong> <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong>. Zum h<strong>und</strong>ertsten Geburtstag, in:<br />

Musik <strong>und</strong> Kirche 9 (1990), Kassel: Bärenreiter, S. 233 – 244<br />

82


Billeter, Bernhard: <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong>. Werdegang <strong>und</strong> Musiksprache seiner Werke, Mainz:<br />

Schott 1999<br />

Billeter, Bernhard: <strong>Martin</strong>, <strong>Frank</strong>, in: Sadie, Stanley (Hrsg.): The New Grove Dictionary of<br />

Music and Musicians. Vol. 15, 2. Aufl., London: Macmillan 2001, S. 908 – 912<br />

Brandt, Regina: Religiöse Gr<strong>und</strong>züge im Werk <strong>von</strong> <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong>, Regensburg: Bosse 1992<br />

Bruyr, José: <strong>„Golgotha“</strong> de <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong>, in: Feuilles musicales 7/8 (1953), S. 173 – 175<br />

Fierz, Gerold: <strong>Martin</strong>s <strong>Oratorium</strong> <strong>„Golgotha“</strong>, in: SMZ 109 (1969), S. 171 – 172<br />

Fischer, Kurt <strong>von</strong>: <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong>. Überblick über Werk <strong>und</strong> Stil, in: SMZ 91 (1951), S. 91<br />

– 96<br />

Fischer, Kurt <strong>von</strong>: Die Passion. Musik zwischen Kunst <strong>und</strong> Kirche, Kassel: Bärenreiter<br />

1997<br />

Flaig, Markus: <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong> <strong>und</strong> seine Messe für zwei vierstimmige Chöre, Wissenschaftliche<br />

Hausarbeit im Rahmen der Künstlerischen Prüfung für das Lehramt an Gymnasien,<br />

Staatliche Hochschule für Musik Freiburg im Breisgau 1998<br />

Fuchs, Guido/Weikmann, Hans <strong>Martin</strong>: <strong>Das</strong> Exsultet. Geschichte, Theologie <strong>und</strong> Gestaltung<br />

der österlichen Lichtdanksagung, Regensburg: Pustet 1992<br />

Gärtner, Susanne: „… das religiöse Kunstwerk müsste seinen Urheber vergessen lassen…“ –<br />

<strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong>s <strong>„Golgotha“</strong> (1945 – 48), in: Mosch, Ulrich (Hrsg.): „Entre Denges et Denezy…“<br />

– Dokumente zur Schweizer Musikgeschichte 1900 – 2000, Mainz: Schott 2000, S.<br />

199 – 205<br />

Geiselmann, Josef Rupert: Johannes <strong>von</strong> Fékamp, in: Galling, Kurt (Hrsg.): Die Religion<br />

in Geschichte <strong>und</strong> Gegenwart. Bd. 3, 3., völlig neu bearb. Aufl., 1957 ff., Tübingen: Mohr<br />

1959, Spalte 815<br />

83


Halbreich, Harry: Entstehung <strong>von</strong> <strong>„Golgotha“</strong>; <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong> kommentiert <strong>„Golgotha“</strong>; Kurze<br />

Analyse der Partitur, im Beiheft zur CD-Einspielung: <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong>: Golgotha/Messe pour<br />

double chœur a cappella, Erato 2292-45779-2 (1992), S. 25 – 34<br />

Kämper, Dietrich (Hrsg.): <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong>. <strong>Das</strong> kompositorische Werk. Bericht über das Internationale<br />

<strong>Frank</strong>-<strong>Martin</strong>-Symposium, 18. – 20. Oktober 1990 in Köln/Brauweiler, Mainz:<br />

Schott 1993<br />

King, Charles W.: <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong>. A Bio-Bibliography, New York: Greenwood 1990<br />

Klein, Rudolf: <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong>. Sein Leben <strong>und</strong> Werk, Wien: Verlag Österreichische Musikzeitschrift<br />

1960<br />

Köpf, Ulrich: Johannes <strong>von</strong> Fécamp, in: Krause, Gerhard/Müller, Gerhard: Theologische<br />

Realenzyklopädie Bd. 17, 1977 ff., Berlin: de Gruyter 1988, S. 132 – 134<br />

Lütteken, Laurenz: <strong>Martin</strong>, <strong>Frank</strong>, in: Finscher, Ludwig (Hrsg.): Die Musik in Geschichte<br />

<strong>und</strong> Gegenwart. Personenteil Bd. 11, 2., neubearb. Ausg., 1999 ff., Kassel: Bärenreiter<br />

2004, Spalte 1169 – 1175<br />

<strong>Martin</strong>, Bernard: <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong> ou la réalité du rêve, Neuchâtel: La Baconnière 1973<br />

<strong>Martin</strong>, Maria: Souvenirs de ma vie avec <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong>, Lausanne: L’Age d’Homme 1990<br />

Massenkeil, Günther u. a.: <strong>Oratorium</strong>, in: Finscher, Ludwig (Hrsg.): Die Musik in Geschichte<br />

<strong>und</strong> Gegenwart. Sachteil Bd. 7, 2., neubearb. Ausg., 1994 ff., Kassel: Bärenreiter<br />

1997, Spalte 741 – 811<br />

Meester, Magda de: Le Golgotha de <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong> (1945 – 1948), in: Schweizer musikpädagogische<br />

Blätter 80 (1992), S. 184 – 192 [Meester 1992]<br />

84


Meester, Magda de: Le Golgotha de <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong> (1945 – 1948). Quelques aspects de la<br />

mise en musique (I), in: Schweizer musikpädagogische Blätter 81 (1993), S. 134 – 141<br />

[Meester I 1993]<br />

Meester, Magda de: Le Golgotha de <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong> (1945 – 1948). Quelques aspects de la<br />

mise en musique (II), in: Schweizer musikpädagogische Blätter 82 (1994), S. 26 – 31 [Meester<br />

II 1994]<br />

Meester, Magda de: Le Golgotha de <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong> (1945 – 1948). Quelques aspects de la<br />

mise en musique (III), in: Schweizer musikpädagogische Blätter 82 (1994), S. 133 – 137<br />

[Meester III 1994]<br />

Melroy, Mardia: <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong>’s „Golgotha”, D. M. A. dissertation, University of Illinois<br />

at Urbana-Champaign 1988<br />

Meylan, Pierre: Le <strong>„Golgotha“</strong> de <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong>, in: La Revue Internationale de Musique 9<br />

(1950/51), S. 274 – 281<br />

Mohr, Ernst: <strong>Martin</strong>, <strong>Frank</strong>, in: Blume, Friedrich (Hrsg.): Die Musik in Geschichte <strong>und</strong><br />

Gegenwart. Bd. 8, 1949 ff., Kassel: Bärenreiter 1960, Spalte 1705 – 1709<br />

Moser, Hans Joachim: Die Passion <strong>von</strong> Schütz bis <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong>, Wolfenbüttel: Möseler<br />

1967<br />

Perroux, Alain: <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong> ou L’insatiable quête, Genève: Editions Papillon 2001<br />

Roloff, Jürgen: Einführung in das Neue Testament, Bibliografisch erneuerte Ausgabe,<br />

Stuttgart: Reclam 2003<br />

Rostand, Claude: Golgotha, oratorio de <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong>, in: Contrepoints 6 (1949), S. 161 –<br />

164<br />

85


Sadrieh-Gubin, Astrid: <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong>: Golgotha, in: Gebhard, Hans (Hrsg.): Harenberg<br />

Chormusikführer. Vom Kammerchor bis zum <strong>Oratorium</strong>, Dortm<strong>und</strong>: Harenberg 1999, S.<br />

546 – 548<br />

Schibler, Armin: Gedanken zum Œuvre <strong>von</strong> <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong>, in: Schweizer musikpädagogische<br />

Blätter 74 (1986), S. 116 – 118<br />

Schlager, Karlheinz/Braun, Werner/Fischer, Kurt <strong>von</strong>: Passion, in: Finscher, Ludwig<br />

(Hrsg.): Die Musik in Geschichte <strong>und</strong> Gegenwart. Sachteil Bd. 7, 2., neubearb. Ausg., 1994<br />

ff., Kassel: Bärenreiter 1997, Spalte 1452 – 1496<br />

Scholz, Gottfried: Bachs Passionen. Ein musikalischer Werkführer, München: Beck 2000<br />

Schrage, Wolfgang: Der erste Brief an die Korinther. Teilbd. 4, Düsseldorf: Benziger/Neukirchen-Vluyn:<br />

Neukirchener Verlag 2001<br />

Schüssler, Kerstin: <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong> – Musiker des noblen Ausgleichs, in: <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong> – Leben<br />

<strong>und</strong> Werk. Eine Ausstellung der Köln-Musik zum 100. Geburtstag des Komponisten, konzipiert<br />

<strong>und</strong> zusammengestellt <strong>von</strong> Franz Xaver Ohnesorg 1990, S. 37 – 43<br />

Seedorf, Thomas: „… eine neue Vision der Leiden <strong>und</strong> des Sieges Jesu Christi…“ – <strong>Frank</strong><br />

<strong>Martin</strong>s <strong>Oratorium</strong> Golgotha, Einführungsvortrag Hannover 1990<br />

Seedorf, Thomas: „… eine neue Vision der Leiden <strong>und</strong> des Sieges Jesu Christi…“ – <strong>Frank</strong><br />

<strong>Martin</strong>s <strong>Oratorium</strong> Golgotha, im Programmheft zur Aufführung des Werkes in der<br />

Christuskirche Freiburg im Breisgau am 3. <strong>und</strong> 4. April 2004<br />

Simmel, Oskar/Stählin, Rudolf: Christliche Religion, Neuausgabe, <strong>Frank</strong>furt am Main:<br />

Fischer Taschenbuch Verlag 1973<br />

Tappolet, Willy: Golgotha. Oratorio de <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong>, in: SMZ 89 (1949), S. 262 – 263<br />

Tappolet, Willy: <strong>Frank</strong> <strong>Martin</strong> <strong>und</strong> die religiöse Musik, in: SMZ 100 (1960), S. 278 – 282<br />

86


Westermann, Claus: Ausgewählte Psalmen, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1984<br />

Wilmart, André: Auteurs spirituels et textes dévots du moyen age latin – Etudes d’histoire littéraire.<br />

Reproduction de l’édition parue en 1932, Paris: Etudes Augustiniennes 1971<br />

87


7. Anhang I. Übersicht über die nichtevangelischen Texte<br />

I<br />

Père! Père! Père! Jusqu’à quel point nous as-Tu donc aimés!<br />

Père! Père! Père! Tu n’as pas épargné ton Fils, Tu l’as livré pour nos péchés.<br />

Jusqu’à quel point nous as-Tu donc aimés!<br />

Celui qui n’a pas craint de te ravir ta gloire en se disant l’égal de Toi,<br />

t’a obéi jusqu’à la mort, et jusqu’à la mort sur la croix.<br />

Père! Père! Père! Jusqu’à quel point nous as-Tu donc aimés!<br />

Né de la vierge Marie, Christ s’est fait homme parmi nous.<br />

Il a souffert la passion, il a été enseveli.<br />

Seul libre entre les morts, il reçut le pouvoir de remettre son âme et le pouvoir de la reprendre.<br />

Il s’est offert à Toi, mon Dieu, comme la victime des hommes.<br />

Il a pour eux remporté la victoire. Il a triomphé de la mort. Il s’est assis à ta droite, mon Dieu.<br />

C’est en Lui que j’ai mis l’espérance, que Tu guériras mes langueurs,<br />

en Christ, le Fils de ton amour, en Christ qui t’implore pour nous.<br />

Père! Père! Père! Jusqu’à quel point nous as-Tu donc aimés!<br />

Nous étions accablés sous le poids de nos misères, épouvantés de nos péchés.<br />

Mais Christ est mort pour nous; en Christ nous possédons la vie.<br />

I<br />

Vater! Vater! Vater! O Herr, wie groß war deine Lieb’ zu uns!<br />

Vater! Vater! Vater! Deinen Sohn hast du nicht geschont, für unsre Sünden hingegeben.<br />

O Herr, wie groß war deine Lieb’ zu uns!<br />

Dein Sohn, der nicht geglaubt, zu mindern deinen Ruhm, sich nennend: mit dir wesensgleich,<br />

war dir gehorsam bis in den Tod, ja bis in den Tod an dem Kreuz.<br />

Vater! Vater! Vater! O Herr, wie groß war deine Lieb’ zu uns!<br />

Geboren <strong>von</strong> Maria der Jungfrau, Christus ist Mensch geworden gleich uns.<br />

Er litt für uns den Kreuzestod. Er ward gelegt in das Grab.<br />

Selbst frei unter den Toten, behielt er die Macht, seine Seel’ zu verhauchen <strong>und</strong> sie doch wieder zu<br />

erlangen.<br />

Er hat sich dargebracht, mein Gott, als unschuldig Opfer der Menschheit.<br />

Er hat errungen für sie den Sieg. Er hat triumphiert über den Tod. Er ist erhöht dir zur Rechten, mein<br />

Gott.<br />

Und auf ihn baute ich meine Hoffnung, der stets all mein Schmachten gestillt,<br />

auf Christ, auf deinen Lieblingssohn, auf Christ, der dich anfleht für uns.<br />

Vater! Vater! Vater! O Herr, wie groß war deine Lieb’ zu uns!<br />

Arg waren wir bedrückt unter den Lasten unsres Elends, ob unsrer Sünden tief beschämt.<br />

Doch Christus starb für uns, in Christ ward uns geschenkt das Leben. 1<br />

1 Alle Übersetzungen im Anhang sind dem Klavierauszug entnommen.<br />

i


II. Les Rameaux<br />

[…] Jusqu’où, adorable Sauveur, Fils unique de Dieu, jusqu’où ton humilité te fait-elle descendre?<br />

A quoi te porte ta bonté pour les hommes?<br />

Quel excès de miséricorde, de compassion et de pitié!<br />

Quel prodige inouï! Quel mystère insondable!<br />

Le juste souffre la mort que le pécheur a méritée.<br />

Le coupable est absous, l’innocent condamné.<br />

Et c’est un Dieu qui, par sa Passion, vient effacer tous les péchés de l’homme.<br />

Je sous tout chargé de crimes, et Tu veux, ô saint des saints, souffrir la mort pour les expier.<br />

II. <strong>Das</strong> Palmfest<br />

[…] Wie weit, lieber Heiland <strong>und</strong> Herr, einz’ger Sohn unseres Vaters, wie weit lässt du dich herab in<br />

deiner maßlosen Demut?<br />

Wer kann ermessen deine Güte zur Menschheit?<br />

Welche Fülle großen Erbarmens <strong>und</strong> tiefen Mitleids Überfluss!<br />

Welch ein unerhörtes W<strong>und</strong>er! Welch Geheimnis ohnegleichen!<br />

Der Gerechte erleidet den Tod, den der Sünder hat verdient.<br />

Der Schuld’ge ist frei, der Unschuld’ge verdammt.<br />

Es ist ein Gott, der hängend an dem Kreuz selbst hat gesühnt die große Schuld des Menschen.<br />

Schwer bin ich bedrückt <strong>von</strong> Sünden, <strong>und</strong> du nimmst, o heil’ger Gott, auf dich den Tod, sie zu sühnen.<br />

III. Le Discours au Temple<br />

[…] Quand serai-je assez heureuse pour voir ce jour béni, pour voir tes beautés adorables?<br />

Quand viendras-tu en moi, mon unique consolation, toi que j’attends sans cesse avec tant d’impatience?<br />

Quand te verrai-je, unique objet de mes désirs et de ma joie?<br />

Puis-je être heureuse parfaitement que je ne sois en état de contempler ta gloire à jamais?<br />

C’est après quoi je soupire avec tant d’ardeur, dans la faim que j’ai de toi.<br />

Quel sera mon bonheur de pouvoir un jour m’enivrer saintement dans ta demeure toute céleste,<br />

de ces torrents de délices dont je ressens nuit et jour une soif si ardente!<br />

Que je puisse, ô mon Dieu, me nourrir d’un pain de larmes,<br />

en attendant ce jour béni que j’entendrai dire à mon âme: Voici ton époux bien-aimé.<br />

III. Der Disput im Tempel<br />

[…] Wird auch mir dereinst das Glücke, zu schau’n den sel’gen Tag, zu schau’n deine liebliche Schönheit?<br />

Wann gehst du ein in mich, du mein einz’ger, himmlischer Trost? Ich harre dein ohn’ Unterlass <strong>und</strong><br />

mit fiebernder Ungeduld!<br />

Wann seh’ ich dich, du einzig Ziel meines Begehrns <strong>und</strong> meiner Freude?<br />

Kann denn mein Glück auch vollkommen sein, wenn es mir nicht gegeben, deine Glorie ewig zu<br />

schau’n?<br />

<strong>Das</strong> ist’s, wonach meine Seele seufzt mit Inbrunst <strong>und</strong> in Hunger nach dir.<br />

Welche Wonne wird einst mich durchglühn, wenn heiliger Rausch mich erfasst in deiner Wohnung<br />

hoch im Himmel,<br />

an diesen Strömen der Freude, nach denen dürstet bei Tag <strong>und</strong> bei Nacht mein Gemüte!<br />

Doch bis nun, o mein Gott, sind mein Brot nur heiße Tränen,<br />

muss warten auf den sel’gen Tag, wo meiner Seele ich kann sagen: Da ist dein geliebter Gemahl.<br />

ii


V. Géthsémané<br />

[…] Voici l’agneau divin que les pécheurs emmènent.<br />

Voici l’agneau sans tache qui, même sans se plaindre, souffre qu’on le dépouille de sa toison si pure.<br />

Voici l’agneau de Dieu qui sans ouvrir la bouche se voit couvrir d’opprobres jusqu’à souffrir qu’on le frappe au visage et<br />

que l’on ose même lui cracher à la face.<br />

C’est là celui qui seul est sans péché.<br />

C’est là le Christ chargé de nos douleurs.<br />

C’est là celui qui par sa Passion vient nous guérir de toutes nos langueurs.<br />

V. Gethsemane<br />

[…] O sieh das göttlich Lamm, hinweggeführt <strong>von</strong> Sündern.<br />

O sieh das Lamm ohn’ Makel, das klagelos erduldet, hinnimmt, dass man ihm abzieht sein lockig<br />

Vlies, so reine.<br />

O sieh das Gotteslamm, das ohn’ den M<strong>und</strong> zu öffnen, bedeckt sich sieht mit Schande <strong>und</strong> dulden<br />

muss, dass man ihm ins Gesicht schlägt, schamlos sich erdreistet, ihm zu speien ins Antlitz.<br />

<strong>Das</strong> ist der Mensch, der ohne Sünde lebt.<br />

<strong>Das</strong> ist Gott-Sohn, er trägt all unser Leid/mit unsrer Schmach beschwert.<br />

<strong>Das</strong> ist der Heiland, der durch seinen Tod Erlösung uns bringt aus unsrer tiefen Not.<br />

iii


VI<br />

Que dirai-je? Que ferai-je? Où pourrai-je trouver mon bien-aimé?<br />

Qui m’en apprendra des nouvelles, qui lui dira que je languis d’amour pour lui?<br />

Je lève les yeux vers les montagnes. D’où me viendra le secours?<br />

Mon âme et tous mes sens défaillent. Où irai-je pour trouver mon bien-aimé?<br />

Le secours vient de l’Eternel qui a fait les cieux et la terre.<br />

Dans mon cœur toute joie est morte.<br />

O seul Dieu de mon cœur, que serait donc sans Toi le ciel et cette terre?<br />

Je ne veux plus que Toi. Je n’espère qu’en Toi.<br />

Je ne cherche que Toi, et mon cœur n’aspire qu’à la beauté de ton visage.<br />

Il ne sommeille ni ne dort, celui qui garde ses enfants.<br />

L’Eternel est ton ombre à ta droite.<br />

Pendant le jour le soleil ne te frappera pas, ni la lune pendant la nuit.<br />

Il te gardera de tout mal, il gardera ton âme.<br />

Que dirai-je? […]<br />

VI<br />

Was soll ich sagen? Was soll ich tun? Wo, ach wo kann ich finden den Geliebten?<br />

Wer wird mir bringen gute Botschaft? Wer wird ihm künden, wie ich mich verzehr’ in Lieb’ zu ihm?<br />

Ich hebe die Augen zu den Bergen. Woher wird kommen mir Hülf’?<br />

Mein Herz <strong>und</strong> alle Sinne vergehen. Wohin eil’ ich, um den Bräutgam bald zu seh’n?<br />

Die Hülfe kommt <strong>von</strong> Gott dem Herrn, der Erd’ <strong>und</strong> Himmel erschaffen.<br />

Alle Freud’ ist in mir erstorben.<br />

O mein Seelentrost, was wären ohne dich der Himmel <strong>und</strong> die Erde?<br />

Ich begehr’ nur noch dich. Meine Hoffnung liegt bei dir.<br />

Ja, ich suche nur dich, mein ganzes Herze sehnt sich, dein lieblich Angesicht zu schauen.<br />

Er kennt nicht Schlummer noch Schlaf, so er bewachet seine Kinder.<br />

Denn der Ew’ge beschattet dich zur Rechten.<br />

Des Tages wird stechen dich kaum der Sonne Strahl <strong>und</strong> das Mondlicht auch nicht des Nachts.<br />

Alles Böse hält er <strong>von</strong> dir <strong>und</strong> wacht ob deiner Seele.<br />

Was soll ich sagen? […]<br />

iv


VII. Jésus devant le Sanhédrin<br />

[…] Christ! Divin Sauveur!<br />

Comment t’a-t-on pu juger digne d’un traitement si rigoureux,<br />

d’une mort à la fois si honteuse et si cruelle?<br />

Quelle était donc la cause de ta condamnation?<br />

C’est mon péché qui cause tes souffrances. Ce sont mes fautes qui te font mourir.<br />

Je suis l’instrument de tes peines, de tes supplices les plus cruels.<br />

Christ, aie pitié de nous!<br />

VII. Jesus vor dem Hohen Priester<br />

[…] Christ! Mein Gott <strong>und</strong> Heil!<br />

Wie konnten Menschen dich richten mit solcher Härte, solchem Hass,<br />

einen Tod dir bereiten, so schändlich <strong>und</strong> grausam?<br />

An wem liegt die Schuld, die den Tod dir gebracht?<br />

Die Sünde mein verschuldet’ deine Leiden <strong>und</strong> meine Bosheit deine Todespein.<br />

An mir liegt die Schuld deiner Schmerzen <strong>und</strong> deiner Qualen, so grausam schwer.<br />

Christ, erbarm dich mein/hab Mitleid mit uns!<br />

IX. Le Calvaire<br />

[…] O mon Seigneur et mon Dieu, considère celui par qui seul Tu veux bien nous faire miséricorde.<br />

Considère ton Fils étendu sur la croix;<br />

sa tête couronnée d’épines, toute penchée sur son sein adorable, toute prête d’expirer.<br />

Créateur si puissant et si plein de douceur,<br />

considère la sainte humanité de ton Fils, l’unique objet de ton amour.<br />

Prends pitié de nous, mon Dieu, c’est pour nos fautes qu’il veut mourir.<br />

Considère ton Fils expirant sur la croix, son sein tout découvert, son côté percé d’une lance,<br />

ses entrailles tout épuisées, ses yeux éteints, ses lèvres toutes pâles et toutes desséchées,<br />

ses bras et ses pieds si cruellement étirés et tout couverts de son sang adorable.<br />

A la vue de ce Fils unique, si tendrement aimé et livré à la mort sur la croix,<br />

ô Père tout puissant, souviens-Toi de notre misère!<br />

IX. Kalvaria<br />

[…] O mein Herr <strong>und</strong> mein Gott, blick hernieder auf ihn, durch den allein Erbarmen mit uns du<br />

hegest!<br />

Betrachte deinen Sohn, ausgestreckt an dem Kreuz;<br />

sein Haupt, mit Dornen gekrönt, neiget sich hin zur marmornen Brust, um das Leben zu verhauchen.<br />

Du allmächtiger Schöpfer, du Quelle der Sanftmut,<br />

welche heilige Menschlichkeit verklärt deinen Sohn, den du so herzlich hast geliebt.<br />

Hab’ Erbarmen mit uns, mein Gott, für deren Schuld er den Tod erlitt.<br />

Blick hernieder zum Kreuz, auf den sterbenden Sohn, auf die entblößte Brust, <strong>von</strong> scharfer Lanze<br />

durchstoßen,<br />

auf die zerschlag’nen Glieder, sein erloschen’ Aug’, die bleichen schmalen Lippen, verdorrt in Todesqual,<br />

seine Arme <strong>und</strong> Beine, so grausam ausgedehnt <strong>und</strong> überkrustet vom heiligen Blute.<br />

Vor dem Bild deines einz’gen Sohnes, den du so sehr geliebt, <strong>und</strong> doch hingabst zum Tod am Kreuz,<br />

o Vater, o Allmächt’ger, erbarme dich unsres Elends!<br />

v


X<br />

O mort! Où est ton aiguillon? O sépulcre, où est ta victoire?<br />

Tressaille de joie dans le ciel, multitude des anges!<br />

Pour la victoire d’un tel Roi, sonne, trompette du salut!<br />

Qu’illuminé de ta splendeur, Eternel Roi, le monde voie que ses ténèbres se déchirent!<br />

Et que la grande voix des peuples fasse retentir l’univers!<br />

Car c’est ici la nuit bénie, où Jésus Christ brisant les chaînes de la mort, sort victorieux du sépulcre.<br />

O nuit, nuit bienheureuse, nuit sainte qui nous donnes le pardon et la paix!<br />

O nuit vraiment heureuse qui seule a mérité de voir l’heure où le Christ a vaincu le tombeau.<br />

O nuit plus claire que le jour!<br />

Nuit où le ciel vient s’unir à la terre!<br />

Nuit qui se fait lumineuse pour éclairer ma joie!<br />

O merveilleux honneurs dont Ta pitié nous comble! O excès de Ta charité!<br />

Pour racheter l’esclave, Tu as livré Ton Fils.<br />

Ce Dieu qui s’est fait homme, les anges ne cessent pas de le louer.<br />

Les Dominations l’adorent. Les Puissances du ciel ne peuvent sans trembler soutenir sa présence.<br />

O splendeur de Ta Gloire, Père Eternel et Tout-Puissant, à qui les chérubins servent de trône!<br />

Lumière véritable! Unique source de lumière! Lumière essentielle et souveraine !<br />

X<br />

O Tod, wo ist dein Stachel denn? O du Hölle, wo ist denn dein Sieg?<br />

Es jauchze, frohlocke in der Höh’ hell die Schar der Engel!<br />

Für eines solchen Königs Sieg töne die laut’ Posaun’ des Heils!<br />

Damit, <strong>von</strong> deinem Glanz erhellt, o ew’ger Gott, die Erde fühle, dass jetzt der dunkeln Last sie frei!<br />

Es soll die große Stimm’ der Völker widerhallen lassen die Welt!<br />

Denn das ist jene Nacht des Heiles, da Jesus Christus seine Todesfesseln brach, emporstieg als Sieger<br />

aus dem Grabe.<br />

O Nacht, Nacht so holdselig, o heil’ge Nacht, du bringest uns Vergebung <strong>und</strong> Frieden!<br />

O Nacht, so wahrhaft selig, die allein gewürdigt ward, zu wissen Zeit <strong>und</strong> St<strong>und</strong>e, da Christ <strong>von</strong> den<br />

Toten erstand!<br />

O Nacht, viel klarer als der Tag!<br />

Nacht, da der Himmel vermählt sich der Erde!<br />

Nacht, deren Sterne erstrahlen, um zu verklären meine Freude!<br />

O welche große Huld häufet auf uns dein Mitleid! Welch ein Überfluss des Erbarmens!<br />

Um den Knecht zu lösen, hast du gegeben den Sohn.<br />

Gottes Sohn wurde Mensch, die Engel lobpreisen ohne End nur ihn.<br />

Es beten ihn an die Höchsten. Die Gewalten des Himmels zittern <strong>und</strong> erbeben vor seiner Gestalt.<br />

O du Leuchte des Ruhmes, Vater, Allmächtiger <strong>und</strong> Herr, an dessen Himmelsthron Cherubim dienen!<br />

O Leuchte reiner Wahrheit: Du einz’ge Quelle der Erkenntnis! Du wahrhaft’ Licht <strong>und</strong> allerhöchstes!<br />

vi

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