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Musik als Spiegel der Seele - Peter Herrmann, Komponist für ...

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19. Dezember 2001 | Hochschule <strong>für</strong> <strong>Musik</strong> und Theater “Felix Mendelssohn Bartholdy” Leipzig<br />

Konzert zum 60. Geburtstag von Prof. <strong>Peter</strong> <strong>Herrmann</strong><br />

Mater terra (1982) - Septett <strong>für</strong> Sopran, Klarinette, Streichquartett u. Klavier<br />

Phänomene <strong>der</strong> Physik (1996) - Drei Klangspiele <strong>für</strong> Klavier<br />

Meschki Agascher (1999) - Für Violoncello und Klavier<br />

Vivaldi-techno (2001) - Für Violine und Klavier<br />

Ten Symphony (2001) UA<br />

Interpreten:<br />

Studierende und Lehrende <strong>der</strong> Hochschule <strong>für</strong> <strong>Musik</strong> und Theater “Felix Mendelssohn Bartholdy”<br />

Leipzig<br />

<strong>Musik</strong> <strong>als</strong> <strong>Spiegel</strong> <strong>der</strong> <strong>Seele</strong><br />

o<strong>der</strong> Die Emanzipation <strong>der</strong> Konsonanz<br />

von Gerhard Lock<br />

Über <strong>Peter</strong> <strong>Herrmann</strong> kann man im Programmheft erfahren: “Interessiert an allen musikalischen<br />

Genres, Pluralistik <strong>der</strong> Kompositionstechniken: Dodekaphonie/Serialismus, variable Metren,<br />

Klangflächen und Mikropolyphonie, Cluster-Technik, Einflüsse afrikanischer <strong>Musik</strong>, Sonoristik und<br />

Elektronik, postmo<strong>der</strong>ne Kadenzklänge. Umfangreiches Werkverzeichnis fast aller Gattungen” und<br />

dann folgt eine Auswahl aus seinem vielseitigen Schaffen.<br />

Was hier so trocken formuliert ist, konnte man am heutigen Abend in schöner Vielfalt beim Konzert<br />

zum 60. Geburtstag des bekannten Leipziger <strong>Komponist</strong>en und Kompositionsprofessor an <strong>der</strong><br />

Leipziger <strong>Musik</strong>hochschule <strong>Peter</strong> <strong>Herrmann</strong> (1941) im Kammermusiksaal <strong>der</strong> Leipziger<br />

<strong>Musik</strong>hochschule zu Gehör bekommen. Beim Lesen <strong>der</strong> obigen Aufzählung stellt man fest, dass<br />

<strong>Herrmann</strong> sich mit den bekanntesten Kompositionstechniken seit 1900 auseinan<strong>der</strong>gesetzt hat. Wer<br />

daraus schließt, diese Vielzahl an so unterschiedlichen Schaffensformen würde ein allzu buntes,<br />

chamäleonhaftes Oeuvre hervorbringen, hat weit gefehlt. Die Werke, die im abendlichen Konzert<br />

erklangen, beweisen das Gegenteil, denn in ihnen herrscht eine erstaunliche Einheit in <strong>der</strong><br />

Mannigfaltigkeit, die es im Folgenden ein wenig näher zu beleuchten gilt.<br />

Man nehme zunächst einmal die Titel <strong>der</strong> Stücke und stelle fest, dass dort aus unterschiedlichen<br />

Kulturen in verschiedenen Sprachen etwas zu finden ist: Vom lateinischen “Mater terra” (nach Worten<br />

von Hans Cibulka) über “Phänomene <strong>der</strong> Physik”, “Meschki Agascher”, “Vivaldi-techno” bis ”Ten<br />

Symphony” (<strong>für</strong> 10 Spieler mit kontrastreichem Instrumentarium). Das ist jedoch noch nicht alles und<br />

Gemeinsamkeiten liegen auf an<strong>der</strong>en Ebenen. Beispielsweise sind es oft nur kleine Besetzungen,<br />

aber sie entwickeln eine Klangkraft, die es völlig vergessen macht, wieviel Instrumentalisten beteiligt<br />

sind.<br />

Als erstes Werk erklang “Mater terra”, ein Septett <strong>für</strong> Sopran, Klarinette, Streichquartett und Klavier.<br />

Ein starker Anfangsakkord o<strong>der</strong> vielmehr ein Klang, <strong>der</strong> zum Cluster hin tendiert, wirft den Hörer<br />

sofort in eine Klangwelt, von <strong>der</strong> man im Nachhinein sagen kann, dass sie wohl typisch <strong>für</strong> <strong>Herrmann</strong><br />

ist. Es ist ein vielstimmiger Klang, <strong>der</strong> durch Präsenz <strong>der</strong> kleinen Septime sofort einen<br />

Dominantseptakkord assoziieren lässt. Dies ist immerhin etwas, woran ein Hörer sich festhalten kann<br />

und was ihm vertraut ist.<br />

Doch <strong>Herrmann</strong> bleibt dabei nicht stehen, son<strong>der</strong>n entwickelt aus diesem Klang heraus eine<br />

<strong>Musik</strong>welt, die diesen Dominatseptakkord vollständig aus seiner Funktion in <strong>der</strong> traditionellen<br />

Kadenzharmonik herausnimmt und ihn zu einem schön klingenden, in seiner inneren Spannung <strong>für</strong><br />

sich selbst wirkenden Klang macht. Ja, man kann sogar feststellen, dass es <strong>Herrmann</strong> gelingt,


sowohl die Terz, <strong>als</strong> auch den angesprochenen Dominantseptakkord, den Tritonus und die Oktave<br />

(auch den Einklang) von <strong>der</strong> Tradition gelöst zu präsentieren und aus diesen bekannten Bausteinen<br />

eine neue, eine an<strong>der</strong>e <strong>Musik</strong> zu entwickeln. In dieser Klangwelt vollzieht sich – trotz <strong>der</strong> gezielten<br />

Verwendung von Sekunden (auch im Dominantseptakkord vorhanden) und dem Tritonus – eine<br />

“Emanzipation <strong>der</strong> Konsonanz”. Dies sei hier in bewusster Kontrastierung zur “Emanzipation <strong>der</strong><br />

Dissonanz” gesagt, jener u.a. durch das Schaffen <strong>der</strong> zweiten Wiener Schule um Arnold Schönberg<br />

repräsentierten Loslösung von <strong>der</strong> Kadenzharmonik.<br />

So finden sich <strong>als</strong> Kernintervalle die Terz und die Sekunde, aber auch <strong>der</strong> Unisonoklang (oft oktavisch<br />

in alle Lagen verteilt) in allen erklungenen Werken des Abends. Wie schon ausgeführt, schreckt<br />

<strong>Herrmann</strong> vor Akkorden wie dem stark von <strong>der</strong> Kadenzharmonik besetzten Dominantseptakkord<br />

nicht zurück. Im Gegenteil, im Verlauf des Konzertes wird deutlich – beson<strong>der</strong>s durch die bewusste<br />

Verwendung von Obertönen <strong>der</strong> Cellosaiten im dritten Stück “Meschki Agascher” – dass es ja die<br />

Septime aus dem natürlichen Obertonspektrum einer Saite ist, <strong>der</strong> wir auch begegnen können, wenn<br />

wir eine schlecht geölte Kellertür öffnen o<strong>der</strong> überhaupt aufmerksam den Geräuschen (beispielsweise<br />

elektronischer Geräte) aus dem Alltag lauschen. Kurz, es sind Klänge, die <strong>der</strong> aufmerksame Hörer<br />

überall in seiner Umwelt wie<strong>der</strong>finden kann. Nun sei es verziehen, die <strong>Musik</strong> <strong>Herrmann</strong>s in einem<br />

Atemzug mit Alltagsgeräuschen zu nennen, aber die Tatsache, dass die Naturseptime ein Oberton<br />

schwingen<strong>der</strong> Klangmedien ist, sei hiermit ins Gedächtnis gerufen. Und so wird auch die erfrischend<br />

neuartige Wirkung eines in sich mit Spannung geladenen Dominantseptakkordes deutlich.<br />

Exkurs: Wenn ein Dominantseptakkord eine Naturseptime hätte, so würde dieser Akkord sogar<br />

konsonantischer werden. Da <strong>der</strong> Hörer jedoch automatisch den ihm bekannten Dominantseptakkord<br />

hört, nimmt er auch ohne Kadenzzusammenhang zunächst die traditionelle Funktion <strong>als</strong> Dissonanz<br />

war. Später jedoch hebt sich dieser Eindruck auf und nach Wahrnehmung des Rezensenten (mit<br />

Wissen um die Naturseptime) tendiert dieser Akkord zur Konsonanz, womit die spätere<br />

Wahrnehmung des “Dominantsept-Klanges” <strong>als</strong> Wohlklang (bei <strong>Herrmann</strong>) ein wenig genauer<br />

beleuchtet wäre. Im Übrigen ist die Wahrnehmung von Konsonanzen und Dissonanzen<br />

beispielsweise noch im 13./14. Jh. eine an<strong>der</strong>e, <strong>als</strong> im 18./19. Jh. Es findet eine Verlagerung statt, die<br />

verschiedene Ursachen hat. Auch im 20. und beginnenden 21. Jahrhun<strong>der</strong>t meint <strong>der</strong> Rezensent eine<br />

erneute Verlagerung im Verhältnisses Dissonanz – Konsonanz zu erkennen.<br />

<strong>Herrmann</strong>, <strong>als</strong> bekannter Leipziger <strong>Komponist</strong>, steht in seinem Umgang mit Konsonanzen und<br />

Dissonanzen nicht allein in <strong>der</strong> zeitgenössischen <strong>Musik</strong>welt. So sei hier z. B. auf den Franzosen<br />

Olivier Messiaen verwiesen o<strong>der</strong> den estnischen <strong>Komponist</strong>en Arvo Pärt, die jeweils auf ihre Weise<br />

zur Emanzipation <strong>der</strong> Konsonanz bzw. eines Dur- o<strong>der</strong> Moll-Akkordes beigetragen haben. Es gibt<br />

noch weitere Momente im Werk von <strong>Peter</strong> <strong>Herrmann</strong>, die an Messiaen erinnern. So ist es die<br />

Blockhaftigkeit o<strong>der</strong> gar die “Instrumentierung” solcher stehen<strong>der</strong> Klänge o<strong>der</strong> die “abstrakte”<br />

Melodieführung auf Basis einer Klangfläche, die u.a. sofort an Messiaens “Quartett <strong>für</strong> das Ende <strong>der</strong><br />

Zeit” (1941) erinnert. Beispielsweise in “Meschki Agascher” findet man solch eine Melodieführung des<br />

Cellos, die auf Basis eines erst unisono gespielten, später mit Terzen, Sekunden o<strong>der</strong> dem Tritonus<br />

gemischten Klavierklanges sich zu genau <strong>der</strong> inneren Ruhe entwickelt, wie sie <strong>Herrmann</strong> schon im<br />

Programmheft ankündigt: “Dieses Stück ist dem gleichnamigen und frei gewählten König des<br />

Stadtstaates Eanna in Mesopotamien gewidmet. Meschki Agascher ist <strong>der</strong> erste Name, <strong>der</strong> im 30.<br />

Jahrhun<strong>der</strong>t vor Christi Geburt aus <strong>der</strong> Anonymität <strong>der</strong> Geschichte heraustritt. Die innere Ruhe dieser<br />

<strong>Musik</strong> will Raum lassen zur Reflexion über Relatives in <strong>der</strong> Geschichtsbetrachtung.”<br />

Doch zurück zu “Mater terra”, <strong>der</strong> Mutter <strong>der</strong> Erde, zu <strong>der</strong> <strong>Herrmann</strong> <strong>als</strong> Einführung Folgendes<br />

schreibt: “Hans Cibulkas ‘Mater terra’ verdichtet die Gedankenwelt des großen englischen Ökologen<br />

James Lovelock: Die Erde ist ein Lebewesen, kein Steinkoloss. Der Mensch <strong>als</strong> untrennbarer Teil<br />

dieses unauflösbaren, harmonischen Ganzen darf ‘Gaia’ nicht verraten. Zusammen mit Cibulkas<br />

Worten will meine <strong>Musik</strong> nachdenklich machen, nachdenklich über die gestörte Harmonie von<br />

Mensch und Umwelt.” Dieser Text spricht <strong>für</strong> sich und die <strong>Musik</strong> ist ein kongenialer Partner zu den<br />

Worten Cibulkas. Der Kampf zwischen <strong>der</strong> Harmonie (d.h. dem Wohlklang) und <strong>der</strong> Disharmonie<br />

(dem Missklang, <strong>der</strong> den Wohlklang zerstört) ist ein weiteres Merkmal <strong>Herrmann</strong>scher <strong>Musik</strong> – nicht<br />

nur in diesem Werk – es macht die <strong>Musik</strong> zum <strong>Spiegel</strong> <strong>der</strong> <strong>Seele</strong>.<br />

In <strong>der</strong> ersten Strophe von “Mater terra” mit vier Versen verschmilzt die Sängerin förmlich mit dem<br />

Ensemble und es dominiert ein schöner “Dominantsept-Klang”. Die zweite Strophe mit drei Versen


eginnt mit gesprochenem Text ”Die Erde darf ich nicht verraten” und hier schon mischen sich<br />

schräge scharfe Klänge ein, um den Wohlklang <strong>der</strong> ersten Strophe zu zerbrechen. Die Sängerin ist<br />

nun viel solistischer und hat eine selbständigere Melodie <strong>als</strong> zuvor. Die dritte Strophe (drei Verse)<br />

beginnt mit einem längeren Instrument<strong>als</strong>piel, welches erst einmal akkordisch ist und auch<br />

Kadenzharmonik assoziieren lässt. Doch mit einem Male zerstört die Sängerin diesen Wohlklang und<br />

die <strong>Musik</strong> wird plötzlich atonal mit Tonkettenfetzen. Das Wort “Staub” wird am Ende fast<br />

gesprochen, womit diese Strophe in <strong>der</strong> Abstraktion <strong>der</strong> Vereinzelung endet. Die nachfolgende vierte<br />

Strophe hat keinen Text und ist ein instrumentales “Allegro risoluto”. Die Sängerin schweigt und die<br />

Instrumente beginnen eine Mischung aus Blockhaftigkeit und fortschreiten<strong>der</strong> Rhythmik. Ein<br />

spezielles Harmoniesystem macht die Klänge z.T. schräg und atonal – unterbrochen von neuem<br />

Wohlklang.<br />

Gerade hier sei die Assoziation zu Messiaen gestattet. Als letzte Strophe “Alle Sonnen, flammend,<br />

zwischen Orion, Andromeda wiegen das Leben nicht auf.” verschmilzt die Sängerin erneut mit dem<br />

Ensemble, womit <strong>der</strong> Bogen zur ersten Strophe gespannt wäre und sich erneut lang gehaltene<br />

Klänge und atonale Linien u.a. im Klavier mischen. Auch hier (wie in <strong>der</strong> ersten Strophe) wird das<br />

Klavier in eine “Harfe” verwandelt und durch Zupfen <strong>der</strong> Saiten eine tropfenartige Klangwirkung<br />

erzielt. In diesem Septett finden sich neben Melodielinien auch <strong>der</strong> Gesang auf einem Ton, und <strong>der</strong><br />

angesprochene “Dominantsept-Klang” <strong>als</strong> Wohlklang ist Wesensmerkmal <strong>der</strong> <strong>Herrmann</strong>schen <strong>Musik</strong>.<br />

In “Phänomene <strong>der</strong> Physik” gelingt es dem <strong>Komponist</strong>en, die im Einleitungstext beschriebenen<br />

Erklärungen zur “Entropie”, “Selbstähnlichkeit” und “Rotationssymmetrie” bildhaft und<br />

nachvollziehbar in <strong>Musik</strong> umzusetzen. Die Denkanstöße (die <strong>Herrmann</strong>schen Worte im<br />

Einführungstext) machen aus dem Hörer dieser <strong>Musik</strong> einen aktiven Mitgestalter.<br />

”Vivaldi-techno” ist eine äußerst zeitgemäße <strong>Musik</strong>, die sich mit dem Phänomen des Techno und<br />

überhaupt <strong>der</strong> Magie eines durchgehenden hämmernden Metrums beschäftigt. Dies ist sehr gut<br />

gelungen und Assoziationen an Vanessa Maes Popularstil sind erlaubt. “Urkräfte <strong>der</strong> <strong>Musik</strong> (wie z.B.<br />

eine schnelle, gleichmäßige Pulsation) werden in den verschiedenen Epochen unterschiedlich<br />

realisiert. Das Klangbild ist an die instrumentale Technik <strong>der</strong> Zeit und des Kulturkreises gebunden.<br />

Vivaldi-Pulsation/Techno-Pulsation: Motorik <strong>der</strong> Bewegungsformen sind allgegenwärtig. Das Drei-<br />

Minuten-Stück <strong>für</strong> Violine und Klavier soll eine Anspielung auf dieses Phänomen sein: Altes ist neu,<br />

Neues ist alt.” (<strong>Herrmann</strong>)<br />

Alles bis hierher Beobachtete finden wir in <strong>der</strong> <strong>als</strong> letztes gespielten “Ten Symphonie” wie<strong>der</strong>, die <strong>als</strong><br />

Uraufführung erklang. 10 Spieler mit kontrastreichem Instrumentarium (Holz- und Blechbläser,<br />

Streicher doppelt besetzt und ohne Violinen sowie Klavier) gestalten drei Sätze in freier Form. So<br />

findet man im ersten Stück “Kontraste” vor allem pp-Klangstrukturen, die flächig, aber feingliedrig<br />

durchgeformt sind, desgleichen ff-Ausbrüche. Doch “formale Entwicklungskräfte sind nur ganz<br />

sparsam eingesetzt” (<strong>Herrmann</strong>).�Im zweiten Stück “Pulsation” genügt es wie<strong>der</strong>um, den<br />

Klangschöpfer selbst sprechen zu lassen, da seine Beschreibung genau die <strong>Musik</strong> nachempfinden<br />

lässt. “Abendländische Metrik von Hebung und Senkung, von schwer und leicht fehlt. Die<br />

Musizierenden sollen möglichst im Sinne afrikanischer <strong>Musik</strong> schnelle Pulsationen empfinden.<br />

Plötzlicher Wechsel von Klangfarben, Registern, Lautstärke, Bewegungsmustern – Linearität im Sinne<br />

von Monodie o<strong>der</strong> Polyphonie fehlt völlig.”<br />

Ein in sich bewegter Cluster eröffnet das Stück mit scharfem Trompetenklang und im weiteren<br />

Verlauf werden Klangblöcke gegeneinan<strong>der</strong> gestellt, ineinan<strong>der</strong> geschoben. Repetitionen nicht nur<br />

von einzelnen Tönen son<strong>der</strong>n auch kurzen Tonfolgen wie d, e, f, d, e, f sind Wesensmerkmal dieser<br />

<strong>Musik</strong>. Assoziationen zu Strukturen <strong>der</strong> Minimalmusic o<strong>der</strong> zu Prinzipien des estnischen<br />

<strong>Komponist</strong>en Erkki-Sven Tüür drängen sich auf. Bei “Kontraste” dagegen ließe sich hinsichtlich <strong>der</strong><br />

Klangflächen an den Ungarn Ligeti o<strong>der</strong> den polnischen <strong>Komponist</strong>en Pen<strong>der</strong>ecki denken, weshalb<br />

<strong>Herrmann</strong> durchaus in einer Reihe mit signifikanten Persönlichkeiten des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts genannt<br />

werden kann.<br />

Den Abschluss <strong>der</strong> “Ten Symphony” (was nichts an<strong>der</strong>es bedeutet, <strong>als</strong> Sinfonie <strong>der</strong> zehn <strong>Musik</strong>er)<br />

und des gesamten Konzerts bildet das “Adagio-Finale”. Auch hier kann <strong>der</strong> <strong>Komponist</strong> mit seinen<br />

Worten eine umfangreiche Analyse überflüssig machen: ”Adagio Finale: Diese Begrifflichkeit soll an<br />

sinfonisches Denken des 19./20. Jh. erinnern. Hier wird versucht, das weite Feld <strong>der</strong> ‚Adagio-Welt’ zu


etreten. Adagio <strong>als</strong> Abschließendes, aber Konfliktgeladenes.”<br />

Das Klavier hat mit einem Supercluster begonnen, über dem dann die an<strong>der</strong>en Instrumente sich in<br />

Unisono-Linien bewegen. Der Blech- und Holzbläserklang ist hier charakteristisch. Flageoletts in den<br />

Streichern verfremden den Klang. Im Folgenden entsteht dann ein gebrochener Ganztonakkord in<br />

den Streichern, <strong>der</strong> wie ein einziges Instrument, wie eine Gambe klingt. Dann entsteht erneut ein in<br />

sich bewegtes Klanggeflecht, das bewusst an Hörtraditionen aus dem 19. beginnenden 20.<br />

Jahrhun<strong>der</strong>t nicht nur in <strong>der</strong> Harmonik, son<strong>der</strong>n auch in <strong>der</strong> Instrumentation anknüpft. Später<br />

erscheinen wie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Wohlklang (auf Basis des schon oft erwähnten “Dominantsept-Klanges”) und<br />

die Terz, die u.a. auch schon in “Phänomene <strong>der</strong> Physik” einen Klangkern bildete. Ganz zum Schluss<br />

pendelt diese Terz in unregelmäßiger Pulsation und ersterbend zwischen Kontrabass und Klavier und<br />

lässt sowohl die “Ten Symphonie”, <strong>als</strong> auch das gesamte Konzert <strong>als</strong> einen vollendeten<br />

musikalischen Kosmos ausklingen.<br />

Alle Interpreten haben durch hervorragendes Musizieren diesen Kosmos entstehen lassen, so dass<br />

hier keiner vor den an<strong>der</strong>en hervorgehoben werden darf. Studierende und Lehrende <strong>der</strong><br />

<strong>Musik</strong>hochschule boten gemeinsam ergreifende zeitgenössische <strong>Musik</strong>, wie man sie sich nur<br />

wünschen kann. Ein begeistertes Publikum, zugleich Geburtstagsgratulanten, hat diese <strong>für</strong> die<br />

menschliche Empfindung geschriebene <strong>Musik</strong> mit anhaltend starkem Beifall honoriert. Diese <strong>Musik</strong>,<br />

empfunden <strong>als</strong> ein <strong>Spiegel</strong> <strong>der</strong> <strong>Seele</strong>, in <strong>der</strong> “Altes neu, Neues alt ist”, ist ein wun<strong>der</strong>bares Beispiel <strong>für</strong><br />

die Lebensfähigkeit <strong>der</strong> zeitgenössischen <strong>Musik</strong> in Leipzig.<br />

(aus Leipzig-Almanach – Tagebuch einer <strong>Musik</strong>stadt)

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