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ein Magazin für Entdecker Wirtschaftsbericht Irak 2011/12 - Niqash

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irak+ich<br />

<strong>ein</strong> <strong>Magazin</strong> <strong>für</strong> <strong>Entdecker</strong><br />

+<br />

<strong>Wirtschaftsbericht</strong> <strong>Irak</strong><br />

<strong>2011</strong>/<strong>12</strong>


Anzeige


Grußwort<br />

Liebe Leserinnen und Leser,<br />

der <strong>Irak</strong> birgt enormes wirtschaftliches Potential, und das ist <strong>ein</strong>e große Chance. Gerade der Aufbau der<br />

Wirtschaft liefert <strong>ein</strong>en wichtigen Beitrag <strong>für</strong> politische Stabilisierung und zunehmende Verbesserung der<br />

Sicherheitslage: Eine funktionierende Infrastruktur und <strong>ein</strong>e sichere Grundversorgung der Menschen sind<br />

Voraussetzungen da<strong>für</strong>, dass die politische Aussöhnung weiterhin gelingt.<br />

Die Bundesregierung hat in den vergangenen Jahren in enger Kooperation mit Nichtregierungsorganisa-<br />

tionen und Verbänden nach Wegen gesucht, den <strong>Irak</strong> als Partner wirtschaftlich zu stärken. Dabei wurde unter<br />

anderem das Konzept der Wirtschaftsplattform <strong>Irak</strong> (wp-irak.de) geboren: Ein Team aus irakischen und<br />

deutschen Journalisten berichtet über Projekte, Wirtschaftstrends und Rahmenbedingungen aus dem <strong>Irak</strong>.<br />

Die Texte sind nicht nur zugeschnitten auf Unternehmen und Verbände, sondern erreichen wegen ihrer<br />

hohen journalistischen Qualität auch <strong>ein</strong>e breite Öffentlichkeit.<br />

Die Wirtschaftsplattform <strong>Irak</strong> hat erfolgreich dazu beigetragen, den <strong>Irak</strong> als <strong>ein</strong> Land zu zeigen, das von<br />

Vielfalt und Aufbau geprägt ist. Jahrelang haben Schlagzeilen über Anschläge und Terror <strong>ein</strong> <strong>ein</strong>dimensionales<br />

Bild über dieses Land gemalt, in dem sich vieles bewegt und das in s<strong>ein</strong>en verschiedenen Regionen zu Alltag,<br />

Lebenswelt und wirtschaftlichem Aufschwung zurückfindet.<br />

Diese Entwicklung wollen wir weiterhin flankieren:<br />

Seit Jahren unterstützt die Bundesregierung deutsche Wirtschaftsbüros und Außenstellen in der irakischen<br />

Hauptstadt Bagdad, in Erbil und der aufstrebenden Hafenstadt Basra.<br />

Bundesminister Westerwelle hat im vergangenen Dezember Bagdad als erster westlicher Außenminister<br />

nach den irakischen Parlamentswahlen vom März 2010 besucht und somit die Versuche des Landes, <strong>ein</strong>e poli-<br />

tische Einigung zu erlangen, ausdrücklich gewürdigt. Während s<strong>ein</strong>er Reise unterzeichnete der Bundes-<br />

außenminister unter anderem <strong>ein</strong>en Investionsförder- und -schutzvertrag mit dem <strong>Irak</strong>, der nach s<strong>ein</strong>er<br />

Ratifizierung die Geschäftsrisiken <strong>für</strong> die deutsche Wirtschaft erheblich verringern wird.<br />

Kürzlich, vom 2. bis 3. November <strong>2011</strong>, reiste auch Bundeswirtschaftsminister Philipp Rösler mit <strong>ein</strong>er<br />

Delegation von 30 deutschen Unternehmensvertretern nach Bagdad, wo er mit dem irakischen Minister-<br />

präsidenten Nuri Al-Maliki sowie mehreren Fachministern zusammentraf. Einer von vielen Schritten,<br />

der Handel und Wirtschaft zwischen Deutschland und dem <strong>Irak</strong> weiter befördert und von irakischer Seite<br />

ausdrücklich geschätzt wird.<br />

Der <strong>Irak</strong> ist <strong>ein</strong> potentiell reiches Land: Es verfügt über Wasser, fossile Brennstoffe und gut ausgebildete<br />

Fachkräfte. Diese Informationen zu vermitteln und <strong>für</strong> uns nutzbar zu machen, ist <strong>ein</strong> Verdienst der Wirtschafts-<br />

plattform <strong>Irak</strong>. Da<strong>für</strong> möchte ich mich an dieser Stelle bedanken.<br />

Dr. Werner Hoyer<br />

Staatsminister im Auswärtigen Amt


Impressum<br />

Herausgeber:<br />

Media in Cooperation and Transition gGmbH (mict)<br />

www.mict-international.org<br />

Brunnenstraße 9<br />

10119 Berlin<br />

Tel: 030 484 93 02 -0<br />

Chefredakteur<br />

Sven Recker<br />

Beratung der Chefredaktion<br />

Elisabeth Schmidt-Landenberger<br />

Gestaltung & Infografiken<br />

Gunnar Bauer<br />

Autoren<br />

Laith Ahmad (S.26), Zanko Ahmad (S.74/S.75), Henrik Ahrens (S.43),<br />

Ammar Alsalh (S.11/S.15), Nagih Al-Obaidi (S.22), Jan Brandt (S.56),<br />

Anke Fiedler (S.21/S.32/S.50/S.59), Waheed Ghanim (S.72), Faris<br />

Harram (S.36/S.44), Maral Jekta (S.54/S.64/S.68/S.77), Jost Kaiser<br />

(S.78), Malte Oberschelp (S.28/S.34/S.60/S.80), Kholoud Ramzi (S.30),<br />

Christian Sywottek (S.20/S.38/S.42/S.46/S.52/S.70/S.76/S.82)<br />

Fotografen<br />

Henrik Ahrens (S.43/S.68/S.71), Nagih Al-Obaidi (S.22), Alaa Francis<br />

(S.21/S.32), Christian Frey (S.78/S.84), Faris Harram (S.36), Pazhar<br />

Mohammad (S.20/S.25/S.76) Kamaran Najm (S.10/S.14/S.24/S.26/S.31/<br />

S.51/S.72), Georg Roske (S.16/S.28/S.34/S.47/S.50/S.56/S.59/S.60/S.62/<br />

S.80/S.82/S.86), Binar Sadar (S.8/S.<strong>12</strong>/S.38/S.42/S.46/S.52/S.54/S.64/<br />

S.70/S.74/S.75/S.77/S.79), Joao Silva for The New York Times (S.30)<br />

<strong>Wirtschaftsbericht</strong> <strong>Irak</strong> <strong>2011</strong>/<strong>12</strong><br />

Konzept / Entwicklung / Inhalt<br />

Dietmar Bartz<br />

Modestrecke<br />

Fotograf Georg Roske, Foto-Assistent Hazhar Ahmad,<br />

Produktionsassistent Shalaw Ghani, Konzept Alex Bohn<br />

Schlussredaktion<br />

Roman Deckert<br />

Übersetzungen<br />

Khalid El Kaoutit, Sandra Hetzl, Hallow Salam<br />

Redaktionsassistenz<br />

Martin Monk<br />

Anzeigen<br />

Sven Treder, Plural Media Services<br />

Druck<br />

H. Heenemann GmbH & Co. KG<br />

Das <strong>Magazin</strong> <strong>Irak</strong> & Ich wurde als Teil der Wirtschaftsplattform <strong>Irak</strong><br />

(wp-irak.de) mit Mitteln des deutschen Auswärtigen Amtes finanziert.<br />

Die redaktionelle Berichterstattung in diesem Projekt geschieht<br />

unabhängig. Die Wirtschaftsplattform <strong>Irak</strong> sowie das <strong>Magazin</strong> <strong>Irak</strong> &<br />

Ich sind <strong>ein</strong>e Publikation von Media in Cooperation and Transition<br />

gGmbH (mict), www.mict-international.org<br />

Media in Cooperation and Transition ist <strong>ein</strong>e gem<strong>ein</strong>nützige Organisation<br />

mit Sitz in Berlin, die in Krisenregionen und Schwellenländern<br />

(u.a. <strong>Irak</strong>, Nordafrika, Sudan und Afghanistan) Journalisten ausbildet<br />

und Medienentwicklung betreibt.<br />

Alle Angaben in dem <strong>Wirtschaftsbericht</strong> <strong>Irak</strong> <strong>2011</strong>/<strong>12</strong>, der Teil des<br />

<strong>Magazin</strong>s <strong>Irak</strong> & Ich ist, wurden bei schwieriger offizieller Datenlage<br />

sorgfältig recherchiert und sind ohne Gewähr.<br />

Stand: Dezember <strong>2011</strong><br />

Wenn Sie das <strong>Magazin</strong> <strong>Irak</strong> & Ich bestellen möchten, senden Sie bitte<br />

<strong>ein</strong>e Mail an redaktion@wp-irak.de


Inhalt<br />

Die Porträts<br />

Berufe im Bild:<br />

Hafenarbeiter, Polizistin, Bauarbeiter<br />

10<br />

Klaus Hachmeier:<br />

Ein Experte aus dem Wirtschaftsministerium erklärt den <strong>Irak</strong> von A-Z<br />

16<br />

Lana Khoshaba Yaqo:<br />

Eine Bauingenieurin nimmt die irakische Arbeitsmoral aus<strong>ein</strong>ander<br />

20<br />

Ahmed Fadil:<br />

Die zündende Idee <strong>ein</strong>es Elektroingenieurs<br />

21<br />

Muhhur Salih:<br />

Ein Fremdenführer in Uruk auf der Suche nach Unsterblichkeit<br />

22<br />

Martin Kobler:<br />

Der Sonderbeauftragte der Ver<strong>ein</strong>ten Nationen blickt in die Zukunft<br />

24<br />

Nihad Qoja:<br />

Der Bürgermeister von Erbil verrät s<strong>ein</strong>e deutschen Macken<br />

25<br />

ZARA:<br />

Auf Shopping-Tour in <strong>ein</strong>em Bagdader Kleidergeschäft<br />

26<br />

Christian Hartmann:<br />

Wie die IHK Nürnberg in Basra Geschäfte angeleiert hat<br />

28<br />

Hadi al-Mahdi:<br />

Nachruf auf <strong>ein</strong>en ermordeten Journalisten<br />

30<br />

Christian Berger:<br />

Der deutsche Botschafter über s<strong>ein</strong>e Mission in Bagdad<br />

31<br />

Björn Englund:<br />

Warum s<strong>ein</strong> Hedgefonds der schönste ist<br />

32<br />

Nasyr Birkholz:<br />

So verkauft man Shampoo im <strong>Irak</strong><br />

34<br />

Abu Haidar: Die Geschichte des ältesten Rosenwasserverkäufers<br />

am Friedhof von Nadschaf<br />

36<br />

Fünf Freundinnen:<br />

Ein Plausch auf dem Pausenhof der Deutschen Schule in Erbil<br />

38<br />

Gunter Völker:<br />

Der Wirt vom Deutschen Hof lädt zum Oktoberfest<br />

42<br />

Dler Rufoo:<br />

Auf <strong>ein</strong> Getränk mit dem Bier-Importeur<br />

43<br />

Faris Harram:<br />

Der Dichter singt k<strong>ein</strong> Hohelied auf den Wiederaufbau s<strong>ein</strong>es Landes<br />

44<br />

Talan Aouny:<br />

Eine Unternehmerin will Männer erziehen und Frauen fördern<br />

46<br />

Thomas Koch:<br />

Ein Medienplaner startet noch <strong>ein</strong>mal durch<br />

47<br />

Uwe Eric Laufenberg:<br />

So entführte der Intendant der Kölner Oper Mozart in den <strong>Irak</strong><br />

50<br />

Clemens von Olfers:<br />

Der Leiter des Deutschen Wirtschaftsbüros in Bagdad wünscht sich was<br />

51<br />

Nariman Anwar:<br />

Der <strong>ein</strong>zige irakische Flugzeugbauer hebt ab<br />

52<br />

Volker Wildner:<br />

Der Leiter des Deutschen Wirtschaftsbüros in Erbil lobt s<strong>ein</strong>e Mitarbeiterin<br />

54<br />

Abbas Khider mit Jan Brandt:<br />

Zwei Schriftsteller nähern sich dem Unglück der <strong>Irak</strong>er<br />

56


Gunter Gabriel:<br />

Wie der deutsche Johnny Cash dem <strong>Irak</strong> mal <strong>ein</strong> Ständchen gebracht hat<br />

59<br />

Axel Kraft: Der Inhaber von H<strong>ein</strong>kel Umwelttechnik über die richtige Pflege<br />

von irakischen Geschäftsfreunden<br />

60<br />

Salah Ahmad:<br />

Ein Therapeut gewährt Einblicke in die irakische Seele<br />

62<br />

Ahmed Rambo:<br />

Der steile Aufstieg <strong>ein</strong>es Bodybuilders<br />

64<br />

Khalid Al-Maaly:<br />

Der Verleger verrät, warum Nietzsche im <strong>Irak</strong> <strong>ein</strong> Bestseller ist<br />

68<br />

Sabah Abdul Latif Salem: Warum den irakischen Generaldirektor<br />

von BMW k<strong>ein</strong>e Zukunftsängste plagen<br />

70<br />

Michael Kurth al Naqib:<br />

Die kurze Version s<strong>ein</strong>es langen Weges in den <strong>Irak</strong><br />

71<br />

Oum Huss<strong>ein</strong>:<br />

Über Fluch und Segen <strong>ein</strong>es Jobs bei der Müllabfuhr in Basra<br />

72<br />

Shaswar Abdul-Wahid:<br />

So wird man mit Immobilen zum Milliardär<br />

74<br />

Asos Hardi: Der Chefredakteur von Awena sagt den Gegnern<br />

der Pressefreiheit den Kampf an<br />

75<br />

Ersin Ekiz:<br />

Heute bleibt die Küche kalt, ich eröffne <strong>ein</strong>en Wienerwald<br />

76<br />

Rolf Ulrich:<br />

Wie der Generalkonsul in Erbil etwas bewegen will<br />

77<br />

Gelan Khulusi: Zu Besuch bei der grauen Eminenz der deutsch-irakischen<br />

Wirtschaftsbeziehungen<br />

78<br />

Titelbild: Omer Klol, Vorsitzender der kurdischen Esels-<br />

partei, in s<strong>ein</strong>em Heimatort Kalar. Das Bild ist Teil der Serie<br />

„Iraq is flying“ des Fotografen Jamal Penjweny.<br />

Faruk Mustafa Rasool:<br />

Der Vorstand von Asiacell sucht <strong>ein</strong>e schnelle Verbindung<br />

79<br />

Rugzan Jameel Huss<strong>ein</strong>: Wieso <strong>ein</strong>e Doktorandin aus Bagdad<br />

ausgerechnet Niedersachsen untersucht<br />

80<br />

Gerhard Mangold:<br />

So landete <strong>ein</strong> Unternehmer aus Matzenbach-Gimsbach in Kerbala<br />

82<br />

Huss<strong>ein</strong> Mahmud al-Khatib:<br />

Am Schreibtisch des irakischen Botschafters in Berlin<br />

84<br />

Florian Amereller:<br />

Der Rechtsanwalt über s<strong>ein</strong>en Liebling <strong>Irak</strong><br />

86<br />

Studenten:<br />

Ein modischer Streifzug durch die Salahaddin Universität in Erbil<br />

88<br />

Impressum<br />

3<br />

Zitate<br />

48<br />

Personenregister<br />

94<br />

<strong>Wirtschaftsbericht</strong> <strong>Irak</strong> <strong>2011</strong>/<strong>12</strong><br />

95


Die Porträts<br />

Nariman Anwar, Automechaniker und Flugzeugbauer (siehe Seite 52)


Fadel<br />

Ali<br />

Mohsen<br />

Alter:<br />

37<br />

Beruf:<br />

Hafenarbeiter Basra,<br />

Absolvent der<br />

Marineakademie<br />

Verdienst:<br />

920.000 Dinar<br />

(ca. 550 Euro)<br />

im Monat<br />

Familienstand:<br />

verheiratet<br />

Kinder:<br />

1<br />

Traum:<br />

<strong>ein</strong>e andere Arbeit<br />

11


Hasiba<br />

Jasni<br />

Alter:<br />

36<br />

Beruf:<br />

Verkehrspolizistin<br />

in Sulaymania<br />

Verdienst:<br />

732.000 Dinar<br />

(ca. 450 Euro)<br />

im Monat<br />

Familienstand:<br />

verheiratet mit dem<br />

Besitzer <strong>ein</strong>es Tee-<br />

hauses, der außer<br />

ihr noch <strong>ein</strong>e Zweit-<br />

frau hat<br />

Kinder:<br />

2<br />

Traum:<br />

irgendwann <strong>ein</strong><br />

eigenes Haus<br />

13


Sabri<br />

Karim<br />

Ali<br />

Alter:<br />

43<br />

Beruf:<br />

Arbeiter auf der<br />

Baustelle der „Basra<br />

Sports City“<br />

Verdienst:<br />

750.000 Dinar<br />

(ca. 450 Euro)<br />

im Monat<br />

Familienstand:<br />

verheiratet<br />

Kinder:<br />

3<br />

Traum:<br />

beim „Gulf Cup<br />

of Nations“ 20<strong>12</strong><br />

in Basra auf der<br />

Tribüne des neuen<br />

Stadions die<br />

irakische Fußball-<br />

Nationalmannschaft<br />

anfeuern<br />

15


Der <strong>Irak</strong><br />

von<br />

A bis Z<br />

S<strong>ein</strong> Vater war stellvertretender Botschafter in Bagdad, er selbst be-<br />

suchte von 1982 bis 1986 die Deutsche Schule Bagdad, promovierte<br />

in Arabistik, unterrichtete in Yale und ist heute im Nahost-Referat des<br />

Bundesministeriums <strong>für</strong> Wirtschaft und Technologie der Experte <strong>für</strong> den<br />

<strong>Irak</strong>. Eine Einführung von Dr. Klaus Hachmeier.<br />

16


A<br />

wie Arabisch<br />

Neben Kurdisch die Amtssprache im <strong>Irak</strong>. Zudem m<strong>ein</strong> Steckenpferd.<br />

Ich bin Arabist, habe über <strong>ein</strong>en prominenten irakischen Schriftsteller<br />

promoviert und 2009 in Yale klassisches Arabisch unterrichtet. Diese<br />

Art der Beschäftigung mit der arabischen Sprache ist jetzt Teil m<strong>ein</strong>er<br />

Freizeit, zahlt sich aber <strong>für</strong> m<strong>ein</strong>e Arbeit im Ministerium aus.<br />

B<br />

wie Buyiden<br />

Die Buyiden waren <strong>ein</strong>e Herrscherfamilie aus Persien, die Bagdad<br />

zwischen 945 und 1055 nach Christus regiert haben. In dieser Zeit<br />

wuchsen im <strong>Irak</strong> verschiedene Kulturen und Traditionen unter<br />

<strong>ein</strong>em arabisch-islamischen Dach zusammen, in allen Bereichen der<br />

Wissenschaften wurden große Fortschritte erzielt. Wissenschaftler<br />

sprechen von <strong>ein</strong>er „Renaissance des Islam“, so auch der Titel <strong>ein</strong>es<br />

islamwissenschaftlichen Klassikers. Die Buyiden haben auch das<br />

Schiitentum im <strong>Irak</strong> zu dem gemacht, was es heute ist. Die wichtigsten<br />

Werke der schiitischen Theologie stammen aus dieser Zeit,<br />

Feiertage wie das Fest von Ghadir Khum wurden von den Buyiden<br />

erstmalig <strong>ein</strong>geführt.<br />

C<br />

wie Vitamin C<br />

Im Sommer diesen Jahres hat die parlamentarische Integritätskom-<br />

mission in Bagdad <strong>ein</strong>e Liste der korruptesten Ministerien veröffentlicht.<br />

Demnach haben die Ministerien <strong>für</strong> Elektrizität, Handel, Verteidi-<br />

gung sowie das Innenministerium am häufigsten mit dem Problem<br />

der Bestechung zu kämpfen. Ganz generell sind Korruption und<br />

Vetternwirtschaft in der irakischen Wirtschaft <strong>ein</strong> immenses Problem.<br />

Das hören wir auch immer wieder von diversen Quellen aus dem<br />

<strong>Irak</strong>. Vielleicht ist <strong>ein</strong> Land, dessen Gesellschaft sich so sehr über<br />

Familien, Stämme und Religionszugehörigkeit definiert, besonders<br />

korruptionsanfällig.<br />

D<br />

wie Dinar<br />

Als ich damals in den Achtzigern in Bagdad zur Schule ging, hatten<br />

wir Wechselkurse von 7:1 oder 8:1. Wenn man damals <strong>ein</strong>en Sch<strong>ein</strong> von<br />

20 Dinar hatte, das war das Höchste. Heutzutage ist das <strong>ein</strong> wenig<br />

anders, 1.000 irakische Dinar sind gerade mal rund 60 Cent wert. Die<br />

Lage hat sich jetzt wieder gefestigt: Die irakische Zentralbank be-<br />

treibt <strong>ein</strong>e kontinuierliche Aufwertungspolitik <strong>für</strong> den Dinar und hält<br />

die Wechselkurse durch <strong>ein</strong>e enge Anbindung an den amerikani-<br />

schen Dollar stabil.<br />

E<br />

wie Energie<br />

Für uns ist das <strong>ein</strong>es der wichtigsten Themen im <strong>Irak</strong>. Einerseits,<br />

weil wir deutsche Unternehmen, die dort aktiv sind, unterstützen.<br />

Andererseits, weil wir den <strong>Irak</strong>ern immer wieder sagen: Es reicht<br />

nicht, Turbinen nur zu bestellen. Ihr müsst auch Sorge da<strong>für</strong> tragen,<br />

dass sie aufgebaut und betrieben werden. Wären alle irakischen<br />

Bestellungen installiert, stünde die irakische Stromversorgung deut-<br />

lich besser da.<br />

F<br />

wie Freiheit<br />

Die <strong>Irak</strong>er lernen gerade, gesellschaftlich und politisch mit ihrer<br />

Freiheit zurecht zu kommen. Die jetzige Phase ist besonders spannend.<br />

Die Amerikaner ziehen sich zurück und wie im „Arabischen Frühling“<br />

richtet die Bevölkerung klare Erwartungen an die Regierung; die iraki-<br />

schen Politiker werden <strong>für</strong> ihre Leistung in der Öffentlichkeit und<br />

vor <strong>ein</strong>er kritischen Presse zur Verantwortung gezogen. Ein bemerkens-<br />

werter Prozess in dieser jungen Demokratie.<br />

G<br />

wie Gilgamesch<br />

Nach dem ältesten Epos der Welt suchte Gilgamesch nach <strong>ein</strong>em<br />

Rezept <strong>für</strong> die Unsterblichkeit. Er wollte sich nicht damit abfinden, dass<br />

die Götter, als sie die Welt erschufen, den Menschen sterblich mach-<br />

ten, während sie <strong>für</strong> sich das ewige Leben nahmen. In Babylon gibt es<br />

<strong>ein</strong>e prominente Gilgamesch-Statue, die folgende Geschichte aus dem<br />

Epos erzählt: Gilgamesch hat zwei Ungeheuer besiegt, die <strong>ein</strong>em Fluss<br />

entstiegen sind, dem dritten Ungeheuer allerdings unterliegt er. Ein<br />

Symbol <strong>für</strong> die Grenze der menschlichen Stärke.<br />

H<br />

wie Häfen<br />

Der Küstenstreifen des <strong>Irak</strong>s ist gerade mal 58 Kilometer lang. Die<br />

<strong>Irak</strong>er sind bemüht, diesen Zugang zum Meer und damit zu lukrativen<br />

Handelswegen <strong>für</strong> sich zu nutzen. Ich war in den vergangenen zwei<br />

Jahren selbst zweimal in Basra und habe mir <strong>ein</strong> Bild von der Lage ge-<br />

macht. Nach Besuchen der Hafenanlagen muss ich sagen: Es hat sich<br />

schon viel bewegt, und es wird sich noch viel tun.<br />

I<br />

wie Ich wünsche mir....<br />

...dem <strong>Irak</strong> hie und da schnellere Entscheidungen und <strong>ein</strong>e starke<br />

wirtschaftliche Entwicklung – denn diese ist <strong>ein</strong>e Voraussetzung <strong>für</strong><br />

<strong>ein</strong> friedliches und stabiles Neben<strong>ein</strong>ander.<br />

17


J<br />

wie das Jahr 762<br />

Noch bevor die Buyiden die Herrschaft übernahmen, gründete im<br />

Jahr 762 Ali al-Mansur, der zweite Kalif der Abbasiden, die neue Haupt-<br />

stadt des islamischen Reichs, Bagdad. Unter den Kalifen war Bagdad<br />

zeitweise die größte Stadt der Erde mit rund drei Millionen Einwohnern.<br />

1920 wurde sie Hauptstadt des neu gegründeten Staates <strong>Irak</strong>. Da-<br />

mals zählte Bagdad <strong>ein</strong>ige Tausend Einwohner, heute sind es wieder<br />

mehrere Millionen.<br />

K<br />

wie Krieg<br />

Ruinen, morsche Eisenbahnlinien und Reste von Kriegsgerät zeugen<br />

von den häufigen kriegerischen Aus<strong>ein</strong>andersetzungen. Als ich mit mei-<br />

nen Eltern in Bagdad lebte, war der Erste Golfkrieg in vollem Gange.<br />

Ich kann mich noch genau erinnern, dass es damals im <strong>Irak</strong> nur zwei<br />

Fernsehkanäle gab, und auf <strong>ein</strong>em lief nichts als Kriegspropaganda:<br />

Bilder von Toten, von Kämpfern, von Saddam und im Hintergrund<br />

immer die gleiche Musik: Brahms’ Dritte Symphonie. Heute stehen<br />

gerade wirtschaftliche Probleme wieder im Vordergrund: Wohnung,<br />

Arbeitsplätze, <strong>ein</strong> gutes Auskommen.<br />

L<br />

wie Leibspeise<br />

Die Süßigkeiten sind im <strong>Irak</strong>, wie in vielen anderen arabischen<br />

Ländern, zu empfehlen.<br />

M<br />

wie Masgouf<br />

Der berühmte irakische Karpfen wird <strong>ein</strong>em von den <strong>Irak</strong>ern gerade-<br />

zu als zweite Leibspeise aufgedrängt. Er schmeckt tatsächlich sehr gut.<br />

N<br />

wie Ninive<br />

Ninive ist <strong>ein</strong>e der gefährlichsten Provinzen im <strong>Irak</strong>. Und dass, ob-<br />

wohl sie geografisch zwischen der Türkei und der Region Kurdistan<br />

eigentlich ganz gut liegt und zudem reich an Öl ist. Aber Ninive<br />

und s<strong>ein</strong>e Hauptstadt Mosul sind leider immer noch Synonyme <strong>für</strong><br />

Unsicherheit und Terrorismus.<br />

18<br />

O<br />

wie Öl<br />

Die wichtigste Einkommensquelle des <strong>Irak</strong>s. Deutsche Firmen sind<br />

am Ölgeschäft kaum beteiligt. Das muss k<strong>ein</strong> Nachteil s<strong>ein</strong>. Förderung<br />

und Handel mit Öl ist im gesamten Nahen Osten sehr politisch und<br />

sehr politisiert. Von daher tun wir Deutschen vielleicht gut daran, am<br />

Rande zu stehen und zu sagen: Überlassen wir dies den anderen,<br />

kümmern wir uns um andere Bereiche der Wirtschaft.<br />

P<br />

wie Pause<br />

Der Pausenmonat ist <strong>für</strong> uns im Nahost-Referat natürlich der Ramadan.<br />

Während sich die islamische Welt auf ihre religiösen Werte besinnt,<br />

senkt sich unsere Arbeitsbelastung. Wenn man zwei-, dreimal im Jahr<br />

in den <strong>Irak</strong> reist, tut <strong>ein</strong>e solche Ruhephase gut.<br />

Q<br />

wie quer durchs Land<br />

Ich träume davon, im <strong>Irak</strong> wieder frei herumreisen zu können. Heute<br />

sind die meisten historischen Stätten, die es im <strong>Irak</strong> zu bestaunen gibt,<br />

fast unerreichbar. Vor über 20 Jahren war ich in Samarrah. Die Stadt<br />

war 50 Jahre lang der Sitz des abbasidischen Kalifats. Dort steht <strong>ein</strong> Wen-<br />

deltreppenturm, auf den ich als Kind gestiegen bin. Die längste Fahrt,<br />

die ich in den vergangenen Jahren im <strong>Irak</strong> unternommen habe, war von<br />

Basra zum Hafen Al Fao und in Kurdistan die Strecke Erbil-Sulaima-<br />

niya-Dohuk. Von solchen Fahrten würde ich mir mehr wünschen, denn<br />

es gibt im <strong>Irak</strong> viel zu sehen.<br />

R<br />

wie Refugium<br />

Die Städte Nadschaf und Kerbala waren schon immer <strong>ein</strong> Refugium der<br />

Schiiten aus dem <strong>Irak</strong> und dem Iran. Wenn der iranische Klerus sich mit<br />

der politischen Führung überworfen hatte, zog er sich nach Nadschaf<br />

und Kerbala zurück, um sich dort den religiösen Studien zu widmen. Auch<br />

im <strong>Irak</strong> waren die Schiiten lange unterdrückt, obwohl sie die Bevölke-<br />

rungsmehrheit stellen. Ich freue mich darauf, die beiden Städte Nadschaf<br />

und Kerbala im kommenden Jahr endlich besuchen zu dürfen.<br />

S<br />

wie Schalke 04<br />

Wir hatten damals an der Deutschen Schule Bagdad <strong>ein</strong>e Fußballmannschaft.<br />

Trainiert wurden wir von <strong>ein</strong>em Sicherheitsbeamten der<br />

Deutschen Botschaft, der früher bei Schalke 04 aktiv gewesen ist.<br />

Ich weiß noch, wie wir <strong>ein</strong>mal gegen <strong>ein</strong>e Mannschaft der japanischen<br />

Schule gespielt und die <strong>12</strong>:0 geschlagen haben. Heute würde ich sa-<br />

gen: <strong>ein</strong> Ergebnis schon fast am Rande der Schamlosigkeit.


T<br />

wie Tigris<br />

Die Lebensader Bagdads, aber auch die Quelle <strong>für</strong> viel Streit, weil<br />

andere Länder mit ihren Staudämmen dem Tigris im <strong>Irak</strong> das Wasser<br />

abgraben. Wie überhaupt Wasser <strong>ein</strong> großes Thema im <strong>Irak</strong> ist. Das<br />

war nicht immer so. Wir haben damals in Bagdad mit Wasser aus dem<br />

Tigris unseren Garten gewässert. Es gab zwei Wassersysteme, <strong>ein</strong><br />

sauberes, gechlortes und <strong>ein</strong>es <strong>für</strong> den Garten, <strong>für</strong> das Wasser aus dem<br />

Tigris gepumpt wurde. Im Tigris-Park am Ufer des Flusses standen<br />

Statuen mehrerer Kalifen. Dort haben wir uns als Kinder frei bewegt.<br />

U<br />

wie Umwelt<br />

Verschmutzung und Umweltschäden sind mir in Basra besonders<br />

aufgefallen. Ich hoffe, dass hier schnell etwas getan wird.<br />

V<br />

wie Verträge<br />

Die typischen Verträge <strong>für</strong> Projekte im Anlagenbau haben die Ab-<br />

kürzung EPC. E <strong>für</strong> Engineering, P <strong>für</strong> Procurement und C <strong>für</strong> Con-<br />

struction. Besonders das letzte Element stellt uns vor Herausfor-<br />

derungen. Wir als Deutsche können zwar liefern, aber der Aufbau im<br />

<strong>Irak</strong> ist schwierig. Wir müssen deshalb an Möglichkeiten arbeiten,<br />

die <strong>Irak</strong>er zu trainieren, vielleicht auch in irakischen Nachbarländern,<br />

idealerweise in Deutschland. Die zweite Möglichkeit ist, Zusam-<br />

menschlüsse ins Leben zu rufen, bei denen deutsche Unternehmen<br />

mit anderen, vielleicht türkischen oder irakischen Unternehmen<br />

zusammenarbeiten.<br />

W<br />

wie Wirtschaftsbeziehungen<br />

Wir sind gerade erst wieder mit unserem Minister und <strong>ein</strong>er grös-<br />

seren Wirtschaftsdelegation in den <strong>Irak</strong> gereist und haben Premiermi-<br />

nister Maliki und mehrere Fachminister getroffen. Das Interesse der<br />

Wirtschaft am <strong>Irak</strong> ist nach wie vor enorm. Unsere Exportzahlen in den<br />

<strong>Irak</strong> sind leider immer noch auf relativ niedrigem Niveau. Aber die<br />

Kurve geht steil nach oben. All<strong>ein</strong> in den vergangenen zwei Jahren sind<br />

die deutschen Exportzahlen in den <strong>Irak</strong> jeweils um 50 Prozent gestiegen.<br />

Die Richtung stimmt, wir wollen noch <strong>2011</strong> die Grenze von <strong>ein</strong>er Milli-<br />

arde Euro an Exporten knacken. In die Ver<strong>ein</strong>igten Arabischen Emi-<br />

rate exportieren wir Waren im Wert von fünf Milliarden Euro. Es spricht<br />

langfristig nichts dagegen, dass wir diese Größenordnung irgend-<br />

wann auch im <strong>Irak</strong> erreichen.<br />

X<br />

zum x-ten Mal<br />

Ich weiß gar nicht, wie oft ich mir die Geschichte von bürokrati-<br />

schen Hemmnissen im <strong>Irak</strong> schon habe anhören müssen, wie zum Bei-<br />

spiel die von der Umsatzsteuer auf Lieferungen aus dem Ausland.<br />

Auch wenn der Handel mit dem <strong>Irak</strong> gut läuft, sch<strong>ein</strong>t die irakische<br />

Bürokratie beizeiten gewisse Herausforderungen zu stellen. Auch<br />

deshalb ist die politische Unterstützung der Wirtschaft derzeitig wich-<br />

tig. Denn fast alle großen und interessanten Aufträge werden im<br />

<strong>Irak</strong> von der öffentlichen Hand vergeben, also von Ministerien oder<br />

Staatsunternehmen.<br />

Y<br />

wie Yeziden<br />

Die Yeziden sind <strong>ein</strong>e nicht-islamische religiöse kurdische Minder-<br />

heit. Im <strong>Irak</strong> leben schätzungsweise <strong>ein</strong>e halbe Million Menschen, die<br />

diesem Glauben anhängen. Die meisten von ihnen sind im Norden<br />

des Landes, in der Provinz Ninive, beheimatet. Dort findet man auch<br />

den Lalesh-Tempel, das wichtigste Heiligtum der Yeziden, der derzeit<br />

übrigens von <strong>ein</strong>em deutschen Unternehmen saniert wird.<br />

Z<br />

wie Zuhause<br />

Tatsächlich habe ich <strong>ein</strong>ige Gegenstände aus dem <strong>Irak</strong> in m<strong>ein</strong>em<br />

Zuhause. Da ist beispielsweise <strong>ein</strong>e Gedenkmünzensammlung von<br />

Saddam Huss<strong>ein</strong> anlässlich der Restaurierung von Babylon. Die<br />

Prägung in Keilschrift zeigt Saddam als Helden des <strong>Irak</strong>s, der sich<br />

in <strong>ein</strong>e Linie zu den babylonischen Königen setzt. Die Geschichte<br />

wird ihn <strong>ein</strong>es Besseren belehren. Daneben hängt an der Wand <strong>ein</strong><br />

Plan von Bagdad, der 1917 von der deutschen <strong>Irak</strong>-Gruppe erstellt<br />

und in der kartographischen Abteilung des Stellvertretenden Generalstabs<br />

der Armee bearbeitet wurde – selbstverständlich <strong>ein</strong>e Farb-<br />

kopie des Originals.<br />

19


„Ich habe<br />

hier noch<br />

was zu<br />

erledigen.“<br />

Die Bauingenieurin Lana Khoshaba Yaqo ist von der Arbeitsmoral<br />

ihrer Landsleute nicht gerade begeistert. Doch statt Frust schiebt sie<br />

Extraschichten, damit sich was ändert.<br />

20<br />

F<br />

rau Yago, Erbil ist im Baurausch – ist die Stadt wirklich <strong>ein</strong><br />

Eldorado <strong>für</strong> junge Fachleute auf der Suche nach interessanten<br />

Aufgaben?<br />

Yaqo: Es gibt diesen Traum in der Stadt, dass Erbil <strong>ein</strong>mal so wird<br />

wie Dubai, aber ob wir wirklich <strong>ein</strong>mal so hohe Türme bauen – ich bin<br />

da skeptisch. Aber Häuser, Brücken, Tunnel, Straßen – es gibt soviel<br />

Arbeit hier. Und so etwas wie Stadtplanung wird wenig beachtet, wir<br />

haben Probleme mit der Wasserversorgung, und es fehlt <strong>ein</strong>e anständige<br />

Drainage. Umso wichtiger müsste Qualität in Zukunft werden, und<br />

selbst, wenn bislang vor allem türkische Unternehmen bauen, sind<br />

die Ingenieure doch meist <strong>Irak</strong>er.<br />

Eine kl<strong>ein</strong>e Stadt wird rasend schnell zur Metropole – junge Fachkräfte<br />

müssten sich auf <strong>ein</strong>e solche Arbeit stürzen.<br />

Das ist nicht so klar. Ich arbeite <strong>für</strong> <strong>ein</strong> Privatunternehmen in Shaq-<br />

lawa an <strong>ein</strong>em Projekt mit 500 Wohnungen, <strong>ein</strong>er Moschee, <strong>ein</strong>er Klinik,<br />

mit Drainage und Straßen. Dabei überwache ich die Arbeit <strong>ein</strong>es<br />

Subunternehmers, achte auf Qualität und Kosten. Es ist oft heiß und<br />

staubig, <strong>ein</strong>e solche Arbeit will längst nicht jeder junge <strong>Irak</strong>er ma-<br />

chen. Viele gehen nach dem Studium lieber in <strong>ein</strong> Ministerium. Da<br />

arbeitet man fünf Tage die Woche bis 13.30 Uhr und fertig. Viele jun-<br />

ge Leute sind <strong>ein</strong> bisschen faul, mit ihnen kann man den <strong>Irak</strong> schlecht<br />

wieder aufbauen.<br />

Was sind die Gründe <strong>für</strong> diese Lethargie?<br />

Wir arbeiten viel an der Fassade, dabei müssten wir nicht nur die Stadt,<br />

sondern vor allem die Menschen entwickeln, ihre Mentalität. Und es gibt<br />

ganz handfeste Gründe. Wer <strong>ein</strong>e irakische Hochschule verlässt, be-<br />

kommt nur schwer <strong>ein</strong>en Arbeitsplatz bei <strong>ein</strong>er guten Firma, in der man<br />

Leistung will und wertschätzt. Die Ausbildung ist <strong>ein</strong>fach zu schlecht.<br />

Ich hatte vor allem Theorie, die Labore waren kaputt. Aber ohne Praxis<br />

und Computerkenntnisse bekommst du k<strong>ein</strong>en Job in der Privatwirtschaft.<br />

In <strong>ein</strong>em Ministerium aber kommst du auch so unter – k<strong>ein</strong> Wun-<br />

der, dass viele Absolventen dann diesen Weg wählen.<br />

Warum haben Sie sich <strong>für</strong> <strong>ein</strong>en anderen Weg entschieden?<br />

In <strong>ein</strong>em Ministerium sitzt man herum und lernt nichts. Aber ich ha-<br />

be doch studiert, um etwas zu schaffen. Wobei ich eigentlich Französisch<br />

oder englische Literatur studieren wollte, m<strong>ein</strong>e Eltern haben mich<br />

umgestimmt. Mittlerweile habe ich m<strong>ein</strong>en Job lieben gelernt. Wenn<br />

da <strong>ein</strong> fertiges Haus vor dir steht, dann ist das <strong>ein</strong> tolles Gefühl.<br />

Der Wille ist das <strong>ein</strong>e, aber wie ist es mit dem notwendigen Können?<br />

Wer hier wirklich etwas schaffen will, muss die Lücken der Ausbil-<br />

dung aus eigener Kraft füllen. Computerkenntnisse konnte ich mir bei<br />

<strong>ein</strong>em befreundeten Architekten aneignen, in den USA habe ich mit<br />

<strong>ein</strong>em Stipendium <strong>ein</strong> Führungsseminar absolviert. Und ich habe an-<br />

fangs sechs Tage die Woche gearbeitet <strong>für</strong> 700 Dollar im Monat.<br />

Man wird getestet, da muss man die Zähne zusammenbeißen. Und bis<br />

heute ist klar, dass ich auch nach 15 Uhr noch raus auf die Baustelle<br />

fahre, obwohl ich um 17 Uhr Feierabend habe.<br />

Es heißt oft, <strong>ein</strong> solch strenges Arbeitsethos sei im <strong>Irak</strong> gar nicht gefragt.<br />

Mühe und Sorgfalt nützen etwas, auch wenn um <strong>ein</strong>en herum Schlendrian<br />

herrscht. Als ich nach m<strong>ein</strong>em Praktikum beim Ingenieurbüro Vös-<br />

sing zurück kam, konnte ich das Erlebte zwar nicht <strong>ein</strong>fach auf den<br />

<strong>Irak</strong> übertragen, aber mir war klar geworden, dass es bei der Arbeit nicht<br />

nur um Spaß geht, dass gute Organisation alles erleichtert. Danach<br />

war ich schnell wieder in Arbeit, und seitdem übernehme ich immer<br />

mehr Verantwortung.<br />

Was müsste geschehen, damit mehr junge Leute die Chancen außerhalb<br />

der Bürokratie nutzen?


Sie brauchen Ausbildungsbeihilfen, Stipendien, Visa <strong>für</strong> Arbeitsauf-<br />

enthalte im Ausland. Dann können sie neue Gedanken und neues Wissen<br />

zurück in den <strong>Irak</strong> bringen. Und sie kehren schon wieder zurück, so<br />

wie ich selbst ja auch.<br />

Gerade mit der Visa-Vergabe tun sich viele Länder schwer. Was bedeutet<br />

dieses Zögern <strong>für</strong> junge Menschen wie Sie?<br />

Das bedeutet, dass sich die Dinge hier noch langsamer ändern als<br />

ohnehin. Heute denken viele Menschen im <strong>Irak</strong> nur an sich, und man<br />

braucht Beziehungen. Dabei sollten doch die Besten auch die besten<br />

Chancen erhalten – das ist nicht immer der Fall, und das drückt auf die<br />

Motivation. Ich kann aber nicht ewig auf Veränderungen warten,<br />

denn ich will jetzt vorankommen. Und m<strong>ein</strong>e Kinder sollen es später<br />

auch können.<br />

Ihre Geduld wird auf <strong>ein</strong>e harte Probe gestellt. Wie gehen Sie damit um?<br />

Manchmal fühle ich mich etwas hilflos. Und ganz ehrlich: Wenn sich<br />

hier nicht schnell mehr bewegt, werde ich wohl das Land verlassen müs-<br />

sen. Ich finde übrigens nicht, dass man mir deshalb <strong>ein</strong>en Vorwurf<br />

machen dürfte, denn wenn <strong>ein</strong>e Gesellschaft Leute wie mich nicht will,<br />

darf sie sich nicht beschweren, wenn wir ihr den Rücken zukehren.<br />

Das klingt fast, als säßen Sie schon auf gepackten Koffern.<br />

N<strong>ein</strong>, ich habe hier noch <strong>ein</strong>iges zu erledigen. Auf dem Bau, aber<br />

nicht nur dort. Ich habe gerade mit m<strong>ein</strong>em Freund unsere eigene Firma<br />

„Pink Taxi“ gegründet. Frauen fahren Frauen. Wir finden, das ist <strong>ein</strong>e<br />

ganz gute Idee.<br />

Lana Khoshaba Yaqo hat im Jahr 2010 am Austauschprogramm „<strong>Irak</strong>-<br />

Horizonte 2015 – Heute säen, morgen ernten“ teilgenommen. Die Gem<strong>ein</strong>-<br />

schaftsinitiative des Deutschen Industrie- und Handelskammertags, des<br />

Auswärtigen Amtes und des Goethe-Instituts hat das Ziel, den interkultu-<br />

rellen Austausch und die bilateralen Wirtschaftsbeziehungen zwischen<br />

Deutschland und dem <strong>Irak</strong> zu stärken und den Wiederaufbau des Landes<br />

nachhaltig voranzubringen. Lana Khoshaba Yaqo machte <strong>ein</strong> Praktikum<br />

beim Ingenieurbüro Vössing in Erfurt.<br />

„Im Umgang mit Kunden aus dem arabischen<br />

Raum hapert es bei den Deutschen manchmal<br />

noch am Einfühlungsvermögen. Beispiels-<br />

weise ist mir aufgefallen, dass die Menschen<br />

hier sehr oft „N<strong>ein</strong>“ sagen. Ein Kunde fragt:<br />

„Könnt ihr m<strong>ein</strong>e Ideen umsetzen?“ Und der<br />

deutsche Geschäftspartner sagt gleich:<br />

„N<strong>ein</strong>, n<strong>ein</strong>! Das geht nicht.“ <strong>Irak</strong>ern stößt<br />

man damit schnell mal vor den Kopf. Wir<br />

sind zwar leicht <strong>für</strong> neue Dinge aus dem Ausland<br />

zu begeistern, aber wir achten genau-<br />

so auf das Zwischenmenschliche. Vielleicht<br />

können die Deutschen, was das anbelangt,<br />

von uns <strong>Irak</strong>ern noch etwas lernen.“<br />

Ahmed Fadil. Der Elektroingenieur kam vor zwei Jahren im Rahmen<br />

von „<strong>Irak</strong>-Horizonte 2015“ nach Deutschland und arbeitet noch heute<br />

<strong>für</strong> den deutschen Pumpenhersteller, bei dem er damals s<strong>ein</strong> Prak-<br />

tikum gemacht hat.<br />

21


Wo geht’s<br />

denn hier zur<br />

Unsterblichkeit?<br />

Muhhur Salih ist Fremdenführer. In Uruk, der Stadt des legendären<br />

Herrschers Gilgamesch.<br />

22<br />

W<br />

ie alt er ist, weiß Muhhur Salih nicht. Vielleicht siebzig<br />

Jahre, vielleicht <strong>ein</strong> bisschen mehr, vielleicht <strong>ein</strong> bisschen<br />

weniger, ihm ist das nicht so wichtig. S<strong>ein</strong>e Zeitrechnung<br />

beginnt an dem Tag, an dem er zum ersten Mal <strong>ein</strong>e Gruppe von For-<br />

schern beobachtet hat. Und gesehen hat, wie sie aus dem bloßen<br />

Sand Zentimeter <strong>für</strong> Zentimeter, Stück <strong>für</strong> Stück alter Mauern frei-<br />

legten, Reste <strong>ein</strong>er uralten Stadt, die offenbar viele Jahrtausende<br />

hier verborgen lag. Das war vor 50 Jahren. An diesem Tag hat Muhhur<br />

Salih begonnen, s<strong>ein</strong>e Jahre zu zählen.<br />

Im Laufe der vielen Jahre hat er jede Minute genutzt, um zu sehen,<br />

was da noch alles verborgen lag. Die alten Tafeln mit der Keilschrift,<br />

die vielen Fundamente, die aussahen wie <strong>ein</strong> Labyrinth. Er lernte<br />

all die Archäologen kennen, die kamen und gingen, und ließ sich von<br />

ihnen alles erklären. Er erfuhr, dass Uruk um 3200 vor Christus die<br />

größte Stadt der damals bekannten Welt war, hörte die Geschichte von


Gilgamesch, dem legendären Herrscher der Stadt, der die Götter<br />

herausfordern und unsterblich werden wollte. Immer mehr Wissenschaft-<br />

ler kamen und wollten sich den sensationellen Fund mit eigenen<br />

Augen ansehen. Noch heute kann Muhhur Salih auf den Gleisen herum-<br />

spazieren, die vor vielen Jahrzehnten gelegt wurden, um immer mehr<br />

Schutt und Sand zu transportieren und so immer mehr von dieser ural-<br />

ten Stadt, s<strong>ein</strong>er Stadt, freizulegen.<br />

Jedes Detail hat sich Muhhur Salih gemerkt und bald gab es wohl kei-<br />

nen St<strong>ein</strong>, k<strong>ein</strong>e Tafel, k<strong>ein</strong> Fundament, worüber er nicht <strong>ein</strong>e Geschichte<br />

zu erzählen hätte. Immer ist er in der Nähe, damit er die Touristen<br />

nicht verpasst, wenn schon mal welche kommen, schließlich ist er seit<br />

<strong>ein</strong>iger Zeit der offizielle Fremdenführer, wer auch sonst hätte mehr<br />

zu erzählen als er. Manchmal muss er die Polizei überreden, die aufpasst,<br />

dass niemand etwas stiehlt, und dann öffnet er das schwere Eisen-<br />

gittertor und führt die Touristen durch das Gelände, zeigt ihnen das<br />

Heiligtum der Liebes- und Kriegsgöttin Inanna, den Tempel des<br />

Himmelsgottes Anu und erzählt ihnen auch, dass es all das hier vielleicht<br />

bald schon nicht mehr geben wird, wenn es weiter schutzlos dem<br />

Wetter ausgeliefert ist. Einige Archäologen haben sogar schon empfoh-<br />

len – Muhhur Salih könnte verrückt werden bei dem Gedanken –,<br />

alles wieder unter dem Sand zu verbuddeln, damit es wenigstens nicht<br />

verloren geht. Aber wer sollte dann überhaupt noch kommen nach<br />

Uruk und sich das hier anschauen?<br />

Vielleicht hilft es, hofft Muhhur Salih, dass die ganze Gegend gerade<br />

neu entdeckt wird, <strong>für</strong> Sportler, Wanderer, Erholungsbedürftige. Viel-<br />

leicht hilft es, dass nur 50 Kilometer entfernt <strong>ein</strong> anderer berühmter<br />

Fundort liegt, nämlich Ur, der auch Touristen anlocken könnte. Vielleicht<br />

hilft das alles ja, das hofft Muhhur Salih, dass Bagdad endlich was<br />

<strong>für</strong> s<strong>ein</strong>e Stadt, <strong>für</strong> Uruk tut. Und noch schöner wäre es, wenn das alles<br />

noch in s<strong>ein</strong>er Zeitrechnung geschähe.<br />

23


„Die Ver<strong>ein</strong>ten Nationen unterstützen das<br />

irakische Volk auf s<strong>ein</strong>em Weg in <strong>ein</strong>e bessere<br />

Zukunft. Krieg, Gewalt und Tyrannei gehö-<br />

ren der Vergangenheit an. Der neue <strong>Irak</strong> ist auf<br />

gutem Wege, <strong>ein</strong>e friedliche und stabile Demokratie<br />

zu werden, die den Reichtum des Lan-<br />

des zum Wohle ihrer Bevölkerung nutzt.“<br />

Martin Kobler ist seit August <strong>2011</strong> Sonderbeauftragter der Ver<strong>ein</strong>ten<br />

Nationen <strong>für</strong> den <strong>Irak</strong> und Leiter der Unterstützungsmission der Ver<strong>ein</strong>ten<br />

Nationen im <strong>Irak</strong> (UNAMI).<br />

24


„Wenn ich es hier bei m<strong>ein</strong>er Arbeit manch-<br />

mal übertreibe, höre ich schon mal Bemerkungen<br />

wie: Ja, der kommt aus Deutschland, so<br />

ordentlich und pünktlich. Aber dem wird in<br />

Kurdistan viel Respekt gezollt. “<br />

Nihad Qoja, Bürgermeister von Erbil, lebte 24 Jahre lang in Deutschland.<br />

25


Stoff <strong>für</strong><br />

Träume<br />

In Bagdad gibt es <strong>ein</strong>en Laden der spanischen Modekette ZARA.<br />

Von Tag zu Tag zieht er mehr Kunden an. Ein Erfolg, der fast zu schön<br />

ist, um wahr zu s<strong>ein</strong>.<br />

26<br />

D<br />

ie <strong>Irak</strong>er haben sich schon immer <strong>für</strong> Mode begeistern<br />

können, egal welcher sozialen Schicht sie angehören. Vor<br />

allem bei Jugendlichen muss es immer der letzte Trend<br />

s<strong>ein</strong>. Ob Jungen oder Mädchen – sie wollen nur internationale Marken-<br />

kleidung, auch, um damit zu prahlen, das gehört dazu. Aber nur<br />

Leute aus wohlhabenden Schichten können sich diese Mode leisten.<br />

Menschen mit <strong>ein</strong>em durchschnittlichen Einkommen greifen<br />

gezwungenermaßen auf Kleider anderer Firmen zurück. Oder auf<br />

gefälschte Ware.<br />

Zu den Marken, die den irakischen Modemarkt erobert haben,<br />

gehört ZARA. Tatsächlich kann man in vielen Geschäften Kleider<br />

dieses spanischen Labels finden. Genau das allerdings macht<br />

misstrauisch: Wo kommen sie her? Eine eigene Filiale hat ZARA<br />

im <strong>Irak</strong> jedenfalls nicht, die nächste Verkaufsstelle befindet sich<br />

in der Türkei. Sind diese Kleider tatsächlich aus der Türkei impor-<br />

tiert, wie oft behauptet wird? Oder wurden gefälschte Marken-<br />

schilder an der Ware angebracht, die womöglich ganz woanders<br />

herkommt? Aus China, dem Libanon oder sogar aus irgend-<br />

welchen irakischen Schneidereien?<br />

Eines von mehreren Geschäften in Bagdad, die den Namen<br />

ZARA tragen, befindet sich im zentral gelegenen Karada-Bezirk,<br />

bekannt als <strong>ein</strong>e der Gegenden, in denen man importierte Klei-<br />

dung kaufen kann. Das Schaufenster des Ladens ist knappe 3,5 Meter<br />

breit. Um das Schild herum drängen sich die Schilder anderer Lä-<br />

den. Fünf Angestellte arbeiten in dem höchstens sieben Meter tiefen<br />

Raum: drei Mädchen und zwei junge Männer. Auf den Schaufen-<br />

sterpuppen, in den Regalen und in allen Ecken des Geschäfts gesta-<br />

pelt: die angebliche ZARA-Ware.


Haifa ist Anfang zwanzig und arbeitet hier.<br />

Warum sind die Kunden eigentlich so auf den Kauf von ZARA-Ware aus?<br />

Haifa: Unsere Ware ist viel teurer, verglichen mit dem, was ande-<br />

re Geschäfte im Angebot haben. Und hat deshalb <strong>ein</strong> anderes Image.<br />

Während <strong>ein</strong>e normale türkische Hose nicht mehr als 20 Dollar<br />

kostet, überschreiten die Hosen bei uns die 100-Dollar-Grenze.<br />

Aber sind die Kleider in Euerm Angebot wirklich von ZARA?<br />

N<strong>ein</strong>, von ZARA haben wir nur Damenschuhe im Angebot, und<br />

die werden in der Türkei hergestellt, also nicht in Spanien oder<br />

Frankreich.<br />

Aber Euer Geschäft trägt den Namen ZARA. Habt Ihr <strong>ein</strong>e Genehmigung<br />

<strong>für</strong> die Vertretung der Firma bekommen?<br />

Das weiß ich nicht. Ich arbeite hier nur. Der Ladeninhaber lebt im<br />

Ausland. Aber soweit ich weiß, hat er den Namen nur wegen s<strong>ein</strong>er<br />

Bekanntheit ausgesucht.<br />

Einige der Kleider hier tragen aber auch das Markenzeichen ZARA.<br />

Du sagst aber, dass nur die Damenschuhe von ZARA sind?<br />

Das sind gefälschte Kleider von anderen Herstellern. Sie kosten viel<br />

weniger als die Originalware. Echte ZARA-Teile kosten über 300 Dollar.<br />

Informiert Ihr Eure Kunden über die Qualität der Ware? Sagt Ihr ihnen,<br />

dass <strong>ein</strong> Teil davon gefälscht ist?<br />

Das hängt ganz vom Kunden ab. Wenn <strong>ein</strong> Kunde Näheres über<br />

den Hersteller zu erfahren wünscht, bitte sehr. Wir sagen ihm, ohne<br />

zu zögern, die Wahrheit und schützen so den Ruf des Geschäfts.<br />

Ist der Kunde denn in der Regel weiterhin am Kauf interessiert, wenn<br />

er erfährt, dass es sich nicht um Originalware handelt?<br />

Durchaus, die Preise sind ja vernünftig, und die Ware sieht nicht<br />

viel anders als das Original aus.<br />

Haifa entschuldigt sich, das Interview nicht zu Ende führen zu können.<br />

Kunden kommen ins Geschäft, sie muss sich um sie kümmern. Auch<br />

<strong>ein</strong>e Frau Mitte Vierzig in Begleitung <strong>ein</strong>es Mannes Anfang Zwanzig bleibt<br />

im Laden stehen. Sie lässt <strong>ein</strong>en fachmännischen Blick über die Kleider<br />

gleiten, ihre Fingerspitzen prüfen die Qualität des Stoffes. Vor allem aber unter-<br />

sucht sie die Markenschilder auf den Kleidern. Sichtbar unzufrieden mit<br />

dem Angebot verlässt sie ohne <strong>ein</strong> Wort den Laden.<br />

Hallo, ich bin Journalist und gerade dabei, <strong>ein</strong>e Rechereche zu<br />

ZARA-Kleidern zu machen. Warum haben Sie das Geschäft wieder<br />

verlassen? Ihr Blick sch<strong>ein</strong>t mir <strong>ein</strong> wenig getrübt durch <strong>ein</strong> Gefühl<br />

der Unzufriedenheit?<br />

Shazi al-Janabi: Ich und m<strong>ein</strong>e Familie, wir tragen am liebsten<br />

ZARA. Ich denke, das liegt an unserer jahrelangen Erfahrung mit<br />

dieser Marke, als ich damals mit m<strong>ein</strong>em Mann in Frankreich lebte.<br />

Was ist so besonders an ZARA-Kleidern? Und aus welchem Grund<br />

sind Sie eben aus dem Geschäft gegangen?<br />

Bei ZARA werden die Kleider aus firmeneigenen Stoffen herge-<br />

stellt. Selbst die Fäden <strong>für</strong> die Nähte sind aus eigener Produktion.<br />

Und ZARA-Markenschilder lassen sich gut von gefälschten unter-<br />

scheiden. Da sind Phosphorzeichen drauf, die man bei bestimmter<br />

Licht<strong>ein</strong>strahlung erkennen kann.<br />

Und warum sind Sie am Ende aus dem Geschäft gegangen, ohne<br />

etwas zu kaufen?<br />

Ist Ihnen klar, dass ZARA-Markenartikel im Original extrem teu-<br />

er sind? Zum Beispiel kostet <strong>ein</strong> <strong>ein</strong>faches Hemd um die 250 Dollar,<br />

während der Preis <strong>für</strong> <strong>ein</strong>en Herrenanzug bis über 1.000 Dollar<br />

gehen kann. Weder die Eigenschaften noch die Preise von ZARA-<br />

Kleidern habe ich in diesem Geschäft gefunden. Dort werde ich<br />

bestimmt nichts kaufen.<br />

Ganz anders verhält sich Ahmad. Der Fünfzehnjährige greift nach<br />

s<strong>ein</strong>em Geldbeutel, um der Verkäuferin das Geld <strong>für</strong> <strong>ein</strong> Hemd und<br />

<strong>ein</strong>e Hose zu geben, auf denen ZARA steht.<br />

Weißt Du eigentlich, dass es in diesem Geschäft gar k<strong>ein</strong>e echten<br />

ZARA-Produkte gibt?<br />

Ahmad: K<strong>ein</strong>e Ahnung. Ich war noch nie außerhalb des <strong>Irak</strong>s,<br />

und von daher habe ich nicht die nötige Erfahrung, die man braucht,<br />

um zwischen Original und Fälschung unterscheiden zu können.<br />

Aber ich liebe <strong>ein</strong>fach Mode. Über Filme und das Internet verfolge<br />

ich immer die neuesten Trends. Ich habe mich entschieden,<br />

hier <strong>ein</strong>zukaufen, weil die Kleider hier den Namen dieser berühm-<br />

ten Marke tragen.<br />

Sind die Preise in Ordnung <strong>für</strong> Dich?<br />

Einigermaßen. Ich gehe ja noch zur Schule. Da muss ich mir<br />

eben etwas von m<strong>ein</strong>em Taschengeld absparen, um mir diese Kleider<br />

zu kaufen.<br />

Ansch<strong>ein</strong>end wird den Angestellten die Anwesenheit <strong>ein</strong>es Journa-<br />

listen im Geschäft langsam unheimlich. Der Personalleiter bittet ihn<br />

höflich, die Kunden nicht abzulenken und den Verkauf nicht länger<br />

zu stören. Gezwungenermaßen verlässt der Journalist das Geschäft.<br />

Und kommt dort mit Ali Huss<strong>ein</strong> ins Gespräch, dem Inhaber <strong>ein</strong>es<br />

anderen Geschäfts in der Nähe.<br />

Gibt es überhaupt so etwas wie originale Markenkleidung auf<br />

dem irakischen Markt?<br />

Ali Huss<strong>ein</strong>: N<strong>ein</strong>. Und wenn sie aus der Türkei kommt, dann ist<br />

sie auch nicht echt. Eine Verkaufslizenz <strong>für</strong> internationale Kleiderfirmen<br />

zu bekommen, kostet mindestens 250.000 Dollar, und <strong>ein</strong> ira-<br />

kischer Großhändler ist nie im Leben bereit, so viel zahlen. Abgesehen<br />

davon haben ausländische Investoren Angst vor den Risiken beim<br />

Sprung in den irakischen Markt – wegen der instabilen Sicherheits-<br />

und Wirtschaftslage.<br />

Als die Wirtschaftsplattform <strong>Irak</strong> das erste Mal über die gefälschte<br />

ZARA-Filiale in Bagdad berichtete, wurde der Text im Netz von <strong>ein</strong>er<br />

deutschen Mode-Redaktion kopiert und ohne Nennung der Quelle<br />

erneut publiziert. Eine Verletzung des Urheberrechts bei <strong>ein</strong>em Text<br />

über die Verletzung des Urheberrechts.<br />

27


28<br />

„Ruf D<strong>ein</strong>e Frau an und sag, dass<br />

es Dir gut geht.“<br />

E<br />

igentlich verlief unsere Unternehmerreise nach Basra völlig<br />

normal. Nur am Flughafen war mir <strong>ein</strong> wenig mulmig zumute.<br />

Erst wurde die Delegation auf sechs gepanzerte Fahrzeuge<br />

verteilt, dann ging es in rasendem Tempo Richtung Innenstadt. Ich habe<br />

mitgezählt: Es waren 18 Checkpoints, die wir passiert haben. Das war<br />

verrückt insofern, als sich die Situation in der Innenstadt völlig anders<br />

darstellte. Im Hotel wurde ich von den Kollegen der Handelskam-<br />

mer Basra in Empfang genommen, und wir sind zu Fuß zum Abendessen<br />

in die Stadt gegangen. Das war <strong>ein</strong> ganz anderes Bild. Es gab<br />

k<strong>ein</strong>erlei beängstigende Situationen.<br />

Natürlich weiß ich noch, was es zu essen gab: <strong>ein</strong>e Spezialität na-<br />

mens Masgouf. Das ist <strong>ein</strong> sehr großer Flusskarpfen aus dem Schatt<br />

Al-Arab. Die Zubereitung ist insofern interessant als der Fisch nicht<br />

direkt über dem Feuer gegrillt wird. Man schneidet den Fisch in zwei<br />

Hälften und stellt sie, umgeben von mehreren Grillflächen, senkrecht<br />

auf. Das war <strong>ein</strong>e leckere Geschichte, die aber auch schwer im Magen<br />

lag. Überall am Fluss sind solche Grillstellen zu sehen, an denen der<br />

Fisch von den Restaurants gegrillt oder frisch verkauft wird.<br />

Einmal war während des Essens plötzlich der Strom weg. Da kamen<br />

gleich die irakischen Kollegen, die ihre Mobiltelefone zückten, die Ta-<br />

schenlampen-App aufriefen, und es ging sofort weiter. Nach <strong>ein</strong>er<br />

Minute war das Licht wieder da. Das war alles sehr entspannt. Der Prä-<br />

sident und die Mitglieder der Handelskammer Basra, die ich schon<br />

von ihrem Besuch in Nürnberg kannte, waren alle sehr um m<strong>ein</strong> Wohl<br />

besorgt. Die gaben mir ihr Telefon und m<strong>ein</strong>ten: Ruf D<strong>ein</strong>e Frau zu-<br />

hause an und sag D<strong>ein</strong>er Familie, dass es Dir gut geht.<br />

Am letzten Abend hat uns die Al-Mosawi Group zum Essen auf <strong>ein</strong><br />

Boot <strong>ein</strong>geladen. Wir hatten vom Hotel zum Kai 20 Minuten Fußweg.<br />

Da sind zwei Bodyguards mit Waffen vorweggelaufen, aber das ist<br />

nicht groß aufgefallen. Mich hat erschrocken, wieviele Gebäude beschä-<br />

digt sind und wieviel Unrat im Straßenbild zu sehen ist. Die <strong>Irak</strong>er<br />

haben mir Bilder aus den 1980er Jahren gezeigt, da konnte man erahnen,<br />

wie schön Basra <strong>ein</strong>mal war. Und es ist zu wünschen, dass die Stadt<br />

diese Blüte wieder erreicht. Da gibt es noch viel zu tun.<br />

Grundsätzlich würde ich gerne wieder hinfahren. Obwohl m<strong>ein</strong>e<br />

Familie durchaus Bedenken angemeldet hatte. Weil uns der deutsche<br />

Botschafter begleitete und wir als Delegation auch <strong>ein</strong>e offizielle<br />

Note hatten, war es notwendig, hohe Sicherheitsvorkehrungen zu<br />

treffen. Als Einzelunternehmer würde ich das weniger restriktiv<br />

handhaben. Wenn man <strong>ein</strong>en irakischen Partner hat, und das sehe<br />

ich <strong>für</strong> mittelständische Unternehmen schon als wichtige Vo-<br />

raussetzung, ist es vertretbar, nach Basra zu reisen und dort Ter-<br />

mine wahrzunehmen.<br />

Der Diplom-Geograph Christian Hartmann ist bei der IHK Nürnberg <strong>für</strong><br />

den Nahen und Mittleren Osten zuständig. Im Mai <strong>2011</strong> nahm er an <strong>ein</strong>er<br />

Unternehmerreise nach Basra teil, die das Bundeswirtschaftsministerium<br />

ausgeschrieben hatte.<br />

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Achieving more together


„Wenn m<strong>ein</strong> Blut den Weg in die Freiheit<br />

pflastert, dann <strong>für</strong>chte ich weder Tod noch<br />

Todesdrohungen.“<br />

Hadi al-Mahdi, am 7. September <strong>2011</strong>. Einen Tag später wurde der<br />

irakische Journalist zuhause ermordet. Ihm wurde zweimal in den Rücken<br />

und <strong>ein</strong>mal in den Kopf geschossen.<br />

30


Warum glauben Sie eigentlich, dass Ihre<br />

Mission, auch die der Deutschen im Land,<br />

erfolgreich s<strong>ein</strong> wird, Herr Botschafter?<br />

A<br />

lle Leser der Wirtschaftsplattform <strong>Irak</strong> wissen, vor welchen<br />

enormen Herausforderungen – politischen, sozialen, wirt-<br />

schaftlichen – der <strong>Irak</strong> steht. Klar ist auch, dass die <strong>Irak</strong>erinnen<br />

und <strong>Irak</strong>er selbst die Lösungen <strong>für</strong> die Probleme ihres Landes<br />

finden müssen. Und sie tun es auch, und zwar, wie ich beobachte, ohne<br />

sich von oft widrigen Umständen entmutigen zu lassen, insbeson-<br />

dere nicht von den immer wiederkehrenden Versuchen von Extre-<br />

misten, das Land durch terroristische Gewaltakte zu destabilisieren.<br />

Viele <strong>Irak</strong>er, Politiker und Privatleute suchen beim Aufbau des demo-<br />

kratischen <strong>Irak</strong>s besonders die Unterstützung der Deutschen, da unser<br />

Land vor Ort <strong>ein</strong>en sehr guten Ruf genießt. Das freut mich natürlich,<br />

ist aber <strong>für</strong> die Arbeit der Botschaft, die schon aus Sicherheitsgründen<br />

nur sehr begrenzte Aktionsmöglichkeiten hat, auch <strong>ein</strong>e besondere<br />

Herausforderung. Was Deutschland tun kann, will ich an zwei Ereignissen<br />

des Jahres <strong>2011</strong> verdeutlichen, die das Potenzial der deutsch-<br />

irakischen Zusammenarbeit wie in <strong>ein</strong>em Brennglas verdichtet haben.<br />

Zum ersten Mal war in diesem Jahr <strong>ein</strong>e irakische Parlamentsde-<br />

legation in den Deutschen Bundestag <strong>ein</strong>geladen. Hauptthemen der<br />

Gespräche waren – auf irakischen Wunsch – Föderalismus und Fi-<br />

nanzverfassung, aber es wurde z.B. auch darüber diskutiert, wie man<br />

die Vergangenheit <strong>ein</strong>es Landes und die damit verbundenen Konflikte<br />

bewältigen kann. Das war <strong>für</strong> mich <strong>ein</strong> ganz wichtiges Signal, hat<br />

doch der Deutsche Bundestag mit dieser Einladung auch die Leistung<br />

der irakischen Nationalversammlung <strong>für</strong> die Verankerung der Demo-<br />

kratie im <strong>Irak</strong> anerkannt, übrigens <strong>ein</strong>e Leistung, die im Zuge des „Ara-<br />

bischen Frühlings“ nicht mehr nur <strong>ein</strong>e nationale Dimension hat.<br />

Als ebenso bedeutsam habe ich den Besuch von Vizekanzler<br />

Dr. Rösler im <strong>Irak</strong> an der Spitze <strong>ein</strong>er fünfzigköpfigen Wirtschaftsde-<br />

legation empfunden. Anlässlich s<strong>ein</strong>es Besuches tagte erstmals die<br />

Gem<strong>ein</strong>same Wirtschaftskommission in Bagdad, und auf der Internationalen<br />

Messe Bagdad haben wir gem<strong>ein</strong>sam den Deutschen Tag<br />

gefeiert. Von diesen beiden Ereignissen ging das unüberhörbare Signal<br />

aus: Die deutsche Wirtschaft meldet sich im <strong>Irak</strong> zurück. Und sie<br />

ist bereit, sich trotz aller Schwierigkeiten wieder hier zu engagieren<br />

– im wohlverstandenen beiderseitigen Interesse.<br />

Was das konkret <strong>für</strong> die Arbeit des Botschaftsteams bedeutet? Ohne<br />

die Bereitschaft <strong>ein</strong>iger Kolleginnen und Kollegen, anstelle, wie bisher<br />

üblich <strong>für</strong> <strong>ein</strong> Jahr, auch <strong>für</strong> zwei Jahre hier vor Ort zu arbeiten, mit<br />

allen damit verbundenen persönlichen Einschränkungen und Risiken,<br />

hätte man gerade diese beiden Projekte nicht angehen können. Die<br />

Bereitschaft dieser Kollegen und ihrer Familien, über zwei Jahre hinweg<br />

die langen Phasen der Trennung zu akzeptieren, war aus m<strong>ein</strong>er Sicht<br />

vielleicht die wichtigste Bedingung, um dieses Land von deutscher Seite<br />

auf s<strong>ein</strong>em schwierigen Weg erfolgreich unterstützen zu können.<br />

Christian Berger ist Botschafter der Bundesrepublik Deutschland im <strong>Irak</strong>.<br />

31


„Wir<br />

sind die<br />

Schönsten“<br />

Seit fünf Jahren betreibt der ehemalige UN-Soldat Björn Englund<br />

den Hedgefonds „Babylon Fund“ im <strong>Irak</strong>. Ein Gespräch über Banker<br />

mit Herz, Plantschen im Pool und warum Geldanleger im <strong>Irak</strong> gleich<br />

dreimal gewinnen.<br />

32<br />

H<br />

err Englund, die Finanzkrise im Jahr 2008 hat auch Ihren<br />

Babylon Fund in die Knie gezwungen. Die derzeitige Talfahrt<br />

sch<strong>ein</strong>t Sie jedoch nicht zu tangieren. Warum streicht Ihr<br />

Fonds trotz der Rezessionsstimmung satte Gewinne <strong>ein</strong>?<br />

Englund: Tja, wir sind <strong>ein</strong>fach die Besten (lacht). N<strong>ein</strong>, die Krise<br />

im Jahr 2008 hing damit zusammen, dass sich dreißig Prozent unserer<br />

Werte im Babylon Fund aus Firmen zusammensetzten, die nicht im<br />

<strong>Irak</strong> sitzen. Das sind etwa Ölfirmen, die in Kanada, am Investment-Markt<br />

in London oder in Norwegen notiert sind. Die Finanzkrise hat die<br />

Zahlen dieser Unternehmen in den Keller gerissen. Wir haben im Jahr<br />

2008 deshalb ungefähr 24 Prozent Verlust gemacht.<br />

Das heißt, Sie setzen jetzt vermehrt auf Werte irakischer Unternehmen?<br />

Richtig, auch weil die irakische Börse nicht an den internationa-<br />

len Finanzmärkten beteiligt ist. Die Pleite der Lehman Brothers ging<br />

spurlos an ihr vorüber. Wie auch? Es gibt kaum ausländische In-<br />

vestoren am Aktienmarkt in Bagdad, die die Zahlen nach unten zieh-<br />

en könnten.<br />

Müssen ausländische Investoren nicht ins Land geholt werden, um<br />

die Isolation des <strong>Irak</strong>s an den internationalen Finanzmärkten aufzubrechen?<br />

Auf lange Sicht schon. Der irakische Aktienmarkt ISX ist mit drei<br />

Milliarden Dollar <strong>ein</strong>er der kl<strong>ein</strong>sten der Welt. Die Börse macht gerade<br />

mal drei Prozent des Bruttoinlandsproduktes aus. Der ISX spielt<br />

also auch innerhalb des irakischen Marktes <strong>ein</strong>e eher marginale Rolle.<br />

In anderen Wachstumsmärkten kann der Aktienhandel 60 bis <strong>12</strong>0<br />

Prozent des BIP ausmachen. Wir rechnen aber fest damit, dass in Zu-<br />

kunft mehr Geld aus dem Ausland in den <strong>Irak</strong> fließt.


Was macht Sie da so sicher?<br />

In den Jahren 2007 und 2008 galt der <strong>Irak</strong> <strong>für</strong> Investitionen als sehr<br />

gefährliches und riskantes Pflaster. Die Preise waren deshalb extrem<br />

niedrig. Seitdem geht es peu à peu aufwärts. Die Preise stabilisierten<br />

sich auf <strong>ein</strong>em normalen, neutralen Niveau, obwohl sie im internatio-<br />

nalen Vergleich immer noch extrem niedrig sind. Auch die irakische<br />

Gesetzgebung ist mittlerweile viel klarer. Es ist viel <strong>ein</strong>facher <strong>für</strong> aus-<br />

ländische Investoren, den irakischen Markt zu erobern. Und wenn<br />

das ausländische Geld erst <strong>ein</strong>mal kommt, dann wird die irakische Bör-<br />

se nicht bei drei Milliarden Dollar stagnieren, sondern auf 20, viel-<br />

leicht sogar 30 Milliarden Dollar steigen. Wir rechnen fest damit, dass<br />

in den nächsten zwei bis drei Jahren extrem viel Geld in den <strong>Irak</strong><br />

gespült wird. Vor allem Telekommunikationsfirmen gehen in den kom-<br />

menden Monaten an die Börse.<br />

Welche Rolle spielt die wirtschaftliche Stabilisierung des Landes?<br />

Eine enorm wichtige Rolle. Das irakische Bruttoinlandsprodukt ist<br />

sehr viel höher als in vielen anderen Ländern der Welt. Der Internationale<br />

Währungsfonds erwartet <strong>für</strong> dieses Jahr mit neun bis zehn Pro-<br />

zent sogar das größte Wachstum weltweit.<br />

Kaum vorstellbar.<br />

Ich gebe Ihnen <strong>ein</strong> Beispiel. Wir haben jetzt den elften Monat in Fol-<br />

ge <strong>ein</strong>e Wertsteigerung des Hedgefonds erzielt. Seit elf Monaten hatten<br />

wir nicht <strong>ein</strong>en <strong>ein</strong>zigen Minuspunkt. Ende August <strong>2011</strong> stieg der Wert<br />

um 0,2 Prozent. Das klingt nicht nach sehr viel, aber wenn man diesen<br />

Zuwachs mit dem MSCI Emerging Market Index vergleicht, der um<br />

zehn Prozentpunkte gefallen ist, oder mit dem MSCI Frontier Market<br />

Index, bei dem es um sechs bis sieben Prozent nach unten ging, sind<br />

wir auf der sicheren Seite. Sie haben die internationalen Marktentwik-<br />

klungen ja in den vergangenen Monaten in den Medien mitbekommen.<br />

Am irakischen Aktienmarkt geht es stetig nach oben.<br />

Vor zwei Jahren war die Hälfte der Anteile im Babylon Fund im Besitz<br />

<strong>ein</strong>es finnischen Pensionsfonds. Wie hat sich die Investoren-Community<br />

des Babylon Fund entwickelt?<br />

Die Finnen brauchten wir damals, um unseren Fonds in Gang zu<br />

bringen. Mittlerweile kommen unsere Investoren aus allen Teilen der<br />

Welt. Ein großer Unterschied im Vergleich zu 2009 ist auch, dass<br />

wir inzwischen Konkurrenz haben. Vor zwei Jahren waren wir noch<br />

die <strong>ein</strong>zigen am irakischen Aktienmarkt. Heute sind wir der älteste,<br />

der größte und natürlich der schönste Fonds im <strong>Irak</strong>.<br />

Mit Konkurrenz m<strong>ein</strong>en Sie, dass es jetzt andere Hedgefonds gibt?<br />

Richtig, es gibt jetzt zwei oder drei andere Fonds. Internationale<br />

Firmen, die am irakischen Aktienmarkt investieren. Für mich ist das<br />

<strong>ein</strong>e sehr positive Entwicklung. Spielen macht viel mehr Spaß,<br />

wenn andere Kinder im Pool sind. Das ist <strong>für</strong> alle gut. Wir brauchen<br />

fünf bis sechs internationale Investoren, damit auch die Wall Street<br />

langsam mal auf uns aufmerksam wird.<br />

Sind schon mal Aktien aus ethischen Gründen aus Ihrem Fonds<br />

geflogen?<br />

N<strong>ein</strong>, denn solche Beteiligungen – zum Beispiel an Rüstungsbetrie-<br />

ben – gelangen erst gar nicht r<strong>ein</strong>. Wir haben uns gleich zu Beginn unse-<br />

res Konzeptes mit diesen Fragen aus<strong>ein</strong>andergesetzt. Wir sind <strong>ein</strong><br />

Fonds mit Herz. Unseren Investoren können wir <strong>ein</strong>e Triple-Win-Situation<br />

anbieten: Sie unterstützen Menschen, die am Wiederaufbau<br />

ihres Landes arbeiten, sie beruhigen damit <strong>ein</strong>e Krisenregion und sie<br />

erwirtschaften Gewinne. Außerdem sind wir nicht wie andere Ma-<br />

nager aus dem Private-Equity-Bereich, die im <strong>Irak</strong> die besten Stücke<br />

<strong>ein</strong>sacken, um dann nach drei Jahren wieder zu verschwinden. Wir<br />

wollen die nächsten zwanzig bis vierzig Jahre im <strong>Irak</strong> s<strong>ein</strong>.<br />

Wir haben gehört, dass Sie auch <strong>ein</strong> paar deutsche Investoren haben.<br />

Wie kann man bei Ihnen <strong>ein</strong>steigen?<br />

Der Babylon Fund ist <strong>ein</strong> Off-Shore-Fonds. Wir nutzen die VP-Bank,<br />

deren Hauptsitz in Liechtenst<strong>ein</strong> ist. Die Fondsadministration läuft aller-<br />

dings über die Jungferninseln. Man braucht mindestens 100.000 Dollar<br />

Startkapital, die man an diese Bank in Liechtenst<strong>ein</strong> transferieren muss.<br />

Dann ist man offizieller Investor und erhält <strong>ein</strong> Zertifikat. M<strong>ein</strong> Traum<br />

wäre es natürlich, wenn man <strong>ein</strong>e Abwandlung des Babylon-Fonds<br />

auch innerhalb der EU auflegen könnte.<br />

Ein <strong>Irak</strong>-Fonds als Investionsmöglichkeit <strong>für</strong> den Durchschnitts-EU-Bürger<br />

– was hält Sie von diesem Vorhaben ab?<br />

Es gibt EU-Pensionsfonds, bei denen man hundert Euro pro Monat<br />

<strong>ein</strong>zahlen muss. Aber diese Fonds sind so streng reguliert, dass es unmög-<br />

lich ist, unseren <strong>Irak</strong>-Fonds in <strong>ein</strong> solches Format umzuwandeln. Wir<br />

haben uns deshalb was anderes überlegt.<br />

Verraten Sie uns, was Sie vorhaben?<br />

Wir versuchen momentan, <strong>ein</strong> kurdisches Investment-Unterneh-<br />

men an die schwedische Börse zu bringen. Das ist alles noch ganz<br />

kl<strong>ein</strong>, Werte in Höhe von rund zwei Millionen Dollar. Aber in den<br />

nächsten Monaten wollen wir das verdoppeln, Ziel sind fünf bis sechs<br />

Millionen Dollar. Es wird also noch <strong>ein</strong> bisschen dauern, bis die<br />

schwedische Börse uns akzeptiert. Diese neue Idee funktioniert zwar<br />

nicht ganz wie der Babylon Fund, aber dann kann jeder, der möchte,<br />

im <strong>Irak</strong> investieren.<br />

Nach dem Gespräch mit Björn Englund wurde in der Redaktion der<br />

Wirtschaftsplattform <strong>Irak</strong> der Plan ausgeheckt, 100.000 Dollar zusammen-<br />

zulegen und in den Babylon Fund zu investieren. Es gab dann aber doch<br />

<strong>ein</strong> kl<strong>ein</strong>es Finanzierungsproblem.<br />

Godvig Capital<br />

Björn Englund hat im Jahr 2006 den irakischen Hedgefonds Babylon<br />

Fund ins Leben gerufen. Der Schwede ist Besitzer des Unternehmens<br />

Godvig Capital mit Büros in Schweden, Luxemburg und im <strong>Irak</strong>. Nach<br />

s<strong>ein</strong>em Studium der Politik und Wirtschaft war Englund als UN-Soldat von<br />

1990 bis 1991 in Kuwait und 1999 im Libanon stationiert. Seit mehr als<br />

zwanzig Jahren arbeitet er im Bereich Frontier-Märkte.<br />

33


34<br />

Läuft <strong>ein</strong>e Blondine<br />

durch Bagdad<br />

I<br />

n der gesamten Region spielen Haare traditionell gerade<br />

bei den Frauen <strong>ein</strong>e sehr große Rolle. Das ist <strong>ein</strong> Riesenthema,<br />

weshalb auch die Friseure im <strong>Irak</strong> richtig viel Geld verdie-<br />

nen. Wenn <strong>ein</strong> Friseur künstlerisch begabt ist, stehen die Frauen Schlan-<br />

ge und geben <strong>für</strong> <strong>ein</strong>en Termin schnell <strong>ein</strong> paar Hundert Dollar aus.<br />

Und über die Friseursalons läuft <strong>ein</strong> Teil unseres Vertriebs – das ist ei-<br />

ner der Gründe, warum wir im <strong>Irak</strong> mit Haarpflegeprodukten und<br />

besonders den Haarkolorationen so erfolgreich sind.<br />

Ein weiterer Grund ist, dass viele Menschen im <strong>Irak</strong> durch die jah-<br />

relangen Kriege und das Embargo Probleme mit der Haarqualität haben.<br />

Dazu kommt die Hitze, die Trockenheit und der Staub des Landes.<br />

Die Umwelt<strong>ein</strong>flüsse auf die Haare sind viel größer als in Europa, sie<br />

werden schneller defekt. Auch die schlechte Wasserqualität führt<br />

dazu, dass die Menschen ihre Haare aufwendig pflegen und behandeln<br />

wollen. Dabei spielt Haarfarbe <strong>ein</strong>e große Rolle. Und: Die Frauen<br />

haben im <strong>Irak</strong> sehr dicke und sehr lange Haare – traditionell gilt: je<br />

länger, je schöner – und benötigen all<strong>ein</strong> deshalb mehr Farbe als<br />

die europäischen Frauen.<br />

Wichtig ist die Qualität der Produkte. Die Kunden, die sie <strong>ein</strong>mal<br />

ausprobiert haben, greifen immer wieder darauf zurück. Türkische<br />

oder bulgarische Haarfarbe ist zwar billiger. Aber man riskiert<br />

nicht s<strong>ein</strong>e Gesundheit, um sich billiger die Haare zu färben. Schließ-<br />

lich geht es um den eigenen Kopf. Die irakischen Frauen sind wäh-<br />

lerisch, sie wissen genau, was sie wollen. Man hat Vertrauen in Konsum-<br />

güter, die in Deutschland hergestellt werden. Und glauben Sie mir,<br />

unsere Produkte stehen auch <strong>für</strong> Freiheit und Demokratie. Wenn man<br />

<strong>ein</strong>e bekannte Marke aus Deutschland kaufen kann, nimmt man am<br />

westlichen Lebensgefühl teil. Auch über die Werbung: Wir zeigen die<br />

europäischen Spots synchronisiert im Fernsehen. Die Menschen<br />

mögen nicht wissen, wer Heidi Klum ist, aber die Qualität der Wer-<br />

bung ist hoch.<br />

Dunkelblond und braun, diese Farben laufen besonders gut. Das ist<br />

seit anderthalb Jahren der Trend. Sehen Sie: Viele deutsche Frauen flie-<br />

gen zum Urlaub in den Süden, um braun zu werden. Im <strong>Irak</strong> ist die<br />

Haarfarbe dunkler – dort wollen die Menschen sie aufhellen. Wenn<br />

<strong>ein</strong>e blonde Frau in Bagdad über die Straße geht, hat sie <strong>ein</strong>e ganz<br />

Schlange Männer hinter sich herlaufen – weil es etwas Besonderes<br />

ist. Man will immer das, was man nicht hat.<br />

Zehn Prozent der Haarfarbe verkaufen wir an Männer. Weil sie meist<br />

schwarze Haare haben, sieht man graue Strähnchen sofort. Eher als bei<br />

deutschen Männern. Deshalb kaufen <strong>Irak</strong>er ab 40 Haarfarbe. Viel-<br />

leicht wollen sie <strong>ein</strong>e neue Frau <strong>für</strong> sich gewinnen oder jünger wirken.<br />

Wer wollte das nicht? Für uns ist das auch k<strong>ein</strong>e Schande. Haarfarbe<br />

ist seit langem gang und gäbe. Ich würde jedenfalls nicht sagen, dass<br />

die Männer im <strong>Irak</strong> eitler sind als in Deutschland.<br />

Nasyr Birkholz vertreibt mit der Firma Somerland im <strong>Irak</strong> seit 2003<br />

exklusiv die Haar-Körper- und Mundpflegeprodukte von Schwarzkopf &<br />

Henkel. Bei den Haarkolorationen ist der deutsche Konzern Marktführer<br />

und verkauft über <strong>ein</strong>e Million Einheiten pro Jahr.


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Wie das<br />

Leben so<br />

spielt<br />

„Mögen alle Schicksalskräfte zusammen helfen, dass es heute<br />

nicht regnet! Und diese Sandstürme, mögen sie bis in alle Ewigkeit<br />

verschwinden, von denen hat es in den letzten Jahren im <strong>Irak</strong><br />

geradezu gewimmelt.“<br />

Abu Haidar, 70 Jahre und der älteste Rosenwasserverkäufer<br />

am Friedhof von Nadschaf, dem größten in der islamischen Welt.<br />

36<br />

A<br />

bu Haidar wuchs in der Altstadt von Nadschaf auf, in<br />

<strong>ein</strong>em Viertel direkt am Friedhof. In <strong>ein</strong>em kl<strong>ein</strong>en Haus,<br />

nur 20 Meter von den ersten Gräbern entfernt. Direkt<br />

gegenüber lag das große Totenwäscherhaus “Bir Aliwi“. S<strong>ein</strong> Vater<br />

und die meisten s<strong>ein</strong>er Brüder waren Totengräber, und so begann<br />

auch Abu Haidar, sich s<strong>ein</strong>en Weg ins Leben als Totengräber zu bah-<br />

nen. Und immerhin war s<strong>ein</strong> Arbeitsplatz nicht irgend<strong>ein</strong>er, son-<br />

dern lag auf dem zweitgrößten Friedhof der ganzen Welt. Größer war<br />

nur noch der Friedhof Ohlsdorf in Hamburg. Aber wo war schon<br />

Ohlsdorf, wo war schon Hamburg.<br />

Die harte Arbeit als Totengräber aber strengte ihn sehr an. Schon<br />

überlegte er, wie es mit ihm weitergehen könne, da brach der <strong>Irak</strong>-<br />

Iran-Krieg aus und Abu Haidar wurde von der Regierung, zusam-<br />

men mit vielen anderen, zur Armee <strong>ein</strong>berufen, um im Grenzgebiet<br />

zwischen den zwei Ländern erbitterte Kämpfe auszufechten. An


s<strong>ein</strong>en Urlaubstagen kehrte Abu Haidar zurück und verkaufte Ro-<br />

senwasser am Friedhof. So blieb er immer bei den Toten, sei es an der<br />

Front, sei es an den Urlaubstagen.<br />

Eigentlich war er zufrieden. Aber dann wollte man ihn, Abu Haidar,<br />

als Freiwilligen im lokalen Polizeikorps, nach dem Fall Saddam Husse-<br />

ins 2003. Und der Job war auch noch gut bezahlt: Da<strong>für</strong>, dass er das<br />

Büro von Großajatollah Ali Assistani, der bedeutensten Instanz des Schi-<br />

itentums, bewachte, bekam er 150 Dollar, bald wurden es sogar 500<br />

pro Monat. Aber als er pensioniert wurde, mit 63, wie es das irakische<br />

Gesetz vorsieht, bekam er k<strong>ein</strong>e Rente. Ein paar Offiziere hatten<br />

ihm übel mitgespielt. So kam es, dass Abu Haidar wieder Rosenwasser<br />

am Friedhof verkaufte.<br />

Das Leben mit den Toten blieb in der Familie. Die vier Söhne von Abu<br />

Haidar wurden auch Totengräber und leben heute mit ihm unter <strong>ein</strong>em<br />

Dach. Während sie an <strong>ein</strong>em Tag etwa 17 Dollar verdienen, hat<br />

Abu Haidar höchstens vier Dollar, 15 Cent pro Rosenwasserflasche.<br />

Der Verkaufspreis liegt bei etwa 25 Cent, und an <strong>ein</strong>em gewöhn-<br />

lichen Tag verkauft er nicht mehr als sechs. Deswegen hat er jetzt<br />

auch noch andere Dinge im Angebot: Räucherstäbchen, Kerzen<br />

und Streichholzschachteln.<br />

Nichts, mit Ausnahme der sommerlichen Sandstürme und dem<br />

strömenden Regen im Winter, der die engen abschüssigen Erdpfade<br />

des Friedhofs rutschig macht, nichts kann Abu Haidar hindern,<br />

s<strong>ein</strong>en Job zu machen. An Festtagen und religiösen Anlässen macht<br />

er richtig gute Geschäfte, denn manchmal kommen mehr als <strong>ein</strong>e<br />

Million Menschen auf den Friedhof, aus allen Gegenden des <strong>Irak</strong>s.<br />

Sie setzen sich dann neben die Gräber ihrer Lieben, schluchzen,<br />

zünden Kerzen und Räucherwerk <strong>für</strong> sie an und versprühen Abu<br />

Haidars Rosenwasser über den Gräbern.<br />

37


Erbil ist<br />

k<strong>ein</strong> Ponyhof<br />

Hiba (11), Giwan (<strong>12</strong>), Nma (11), Sarakan (11) und Roya (11) sind<br />

in Deutschland aufgewachsen. Vor zwei Jahren sind sie mit ihren Eltern<br />

nach Erbil zurückgekehrt und besuchen dort die Deutsche Schule.<br />

Die fünf Freundinnen erzählen, wie es ihnen in ihrer neuen Heimat so geht.<br />

38


Rund 140 Kinder besuchen<br />

die Deutsche Schule Erbil, die<br />

im September 2010 eröffnet hat.<br />

N<br />

ma: Boah ey, ist das heiß hier, da kann man ja gar nichts<br />

machen. Das war das erste, was ich dachte, als ich mit mei-<br />

nen Eltern in Erbil angekommen bin.<br />

Giwan: Genau. Und die Stadt ist so ganz anders als zu Hause. Es<br />

gibt k<strong>ein</strong>en Bahnhof, aber <strong>ein</strong>en Basar. Und fast alle wohnen in ihren<br />

eigenen Häusern.<br />

Nma: Und sie leben <strong>ein</strong> bisschen altmodisch. Sie haben k<strong>ein</strong>e Hei-<br />

zung, aber oft so was wie <strong>ein</strong>en Kamin. Aber man sieht ganz viel auf<br />

den Straßen. Da sind ganz viele Menschen und Geschäfte. Man geht<br />

und geht, und immer kommt etwas Neues.<br />

Giwan: Aber man findet sich nur schwer zurecht. Hier gibt es ja k<strong>ein</strong>e<br />

Straßenschilder, da verläuft man sich schnell.<br />

Roya: Und die Autos fahren <strong>ein</strong>fach drauflos. Die bleiben nicht ste-<br />

hen, wenn wir über die Straße wollen.<br />

Giwan: Viele haben k<strong>ein</strong>en Führersch<strong>ein</strong>, es dauert ewig, bis die uns<br />

mal durchlassen.<br />

Nma: Man muss <strong>ein</strong>fach losgehen, aber sehr vorsichtig.<br />

Sarakan: Eigentlich kann man hier wenig machen. Die Spielplätze<br />

sind nicht immer dort, wo die meisten Menschen wohnen. Die Geräte<br />

sind oft <strong>für</strong> die Großen. Und die Rutschen sind aus Plastik, wenn<br />

man da runterrutscht, stellen sich <strong>ein</strong>em die Haare auf wegen der Elek-<br />

trizität. Da habe ich mich neulich fast totgelacht. Na ja, bei uns gibt<br />

Roya ist, wie fast alle Schüler hier,<br />

mit ihrer Familie aus Europa nach<br />

Erbil zurückgekehrt.<br />

es neben dem Haus <strong>ein</strong>e kl<strong>ein</strong>e Straße, da kann man Fußball spielen.<br />

Aber das ist nicht so doll.<br />

Giwan: Auch weil die Leute hier so viel auf die Straße schmeißen.<br />

Das ist dann dreckig, da mag man nicht spielen.<br />

Nma: Mädchen dürfen hier auch nicht Fahrrad fahren. Wenn wir<br />

radeln, dann glotzen alle. Und im Schwimmbad ist es genauso. Jungen<br />

dürfen überall hin, wir aber bleiben viel zuhause, spielen mit den<br />

Geschwistern auf der Terrasse Ball oder Karten.<br />

Hiba: Wenn man als Mädchen all<strong>ein</strong> rausgeht, dann gucken die Leu-<br />

te, und ich weiß dann gar nicht, was das soll. Deshalb gehe ich oft mit<br />

m<strong>ein</strong>er Mutter nach draußen.<br />

Roya: Nach der Schule mache ich m<strong>ein</strong>e Hausaufgaben, dann gibt<br />

es Essen. Dann helfe ich m<strong>ein</strong>er Mutter beim Geschirrspülen und<br />

dann gehen wir oft in <strong>ein</strong>e Shopping-Mall. Das ist schön, da kann<br />

man sich hübsche Dekorationen anschauen und in den Spielzeug-<br />

läden gucken.<br />

Nma: Das Beste hier ist eigentlich die Schule. Da können wir auch<br />

mit den Jungen spielen. Auf der Straße geht das ja nicht.<br />

Roya: Wir bekommen hier tolle Bücher und können Sport machen.<br />

Nma: Und bald haben wir <strong>ein</strong> eigenes Schwimmbad, auch <strong>für</strong> Mäd-<br />

chen. Aber es ist ja nicht so, dass wir nicht rauskommen. Ich fahre zum<br />

Beispiel gern nach Roonaky, das ist <strong>ein</strong> Stadtteil in Erbil mit vielen<br />

39


Willkommen in der Zukunft. Im<br />

Jahr 2018 können Giwan, Roya<br />

und Sarakan (von links) an der<br />

Schule vielleicht sogar ihr Abitur<br />

machen.<br />

Bäumen. Da gibt es auch <strong>ein</strong>en Garten, <strong>ein</strong>en See und <strong>ein</strong>e kl<strong>ein</strong>e Cafe-<br />

teria. Wenn wir mit der Familie in den Park gehen, nehmen wir Dek-<br />

ken mit und <strong>ein</strong>en Topf mit Essen, und dort haben wir ganz viel Platz<br />

zum Spielen. Und es guckt auch k<strong>ein</strong>er.<br />

Sarakan: Es ist wirklich toll, dass hier so viele Verwandte wohnen.<br />

Die können wir immer besuchen. Und wir machen Ausflüge in die Ber-<br />

ge, picknicken, reden und lachen. So wird uns nicht langweilig.<br />

Giwan: Genau. Ich fahre jedes Wochenende zu m<strong>ein</strong>er Oma. Da<br />

spiele ich mit m<strong>ein</strong>en Cousins und Cousinen Fangen, und wir ernten<br />

im Garten Beeren, Äpfel und grüne Tomaten.<br />

Roya: Unsere Verwandten haben ganz viele Erdbeeren im Garten,<br />

die bekommen wir dann. Und wir fahren manchmal zu <strong>ein</strong>em Wasserfall,<br />

wandern und machen Fotos. Das ist doch schön so, mit der Familie.<br />

Nma: Wasserfälle sind prima, da können wir uns drunterstellen<br />

und <strong>ein</strong>e Wasserschlacht machen. Und toll an Erbil ist, dass die Häu-<br />

ser so große Terrassen haben. Da kann man richtig Verstecken spie-<br />

len oder mit Inlineskates fahren. Klasse wäre natürlich, es gäbe in Erbil<br />

<strong>ein</strong>e richtige Skaterbahn mit Halfpipe und so. Und <strong>ein</strong>en Reiterhof<br />

mit Hindernissen.<br />

Giwan: Ein Strand wäre toll, richtig mit Wasser, <strong>für</strong> die ganze Familie.<br />

Sarakan: Oder <strong>ein</strong>e richtig große Eishalle, dann könnte ich vielleicht<br />

sogar Pirouetten lernen. Und man könnte Leute schubsen.<br />

Hiba: Ich wünsche mir <strong>ein</strong>en richtigen Rummel, mit Spielzeug,<br />

40<br />

„Na ja, so was wie Deutschland<br />

sucht den Superstar haben wir<br />

hier auch.“<br />

Zuckerwatte und <strong>ein</strong>er extremen Achterbahn. Schön wäre auch, gäbe<br />

es hier öfter Schnee, Wind und Regen.<br />

Sarakan: Na ja, vielleicht sollten die hier zuerst mal Pfand <strong>ein</strong>führen, da-<br />

mit die Leute ihre Dosen und Flaschen nicht <strong>ein</strong>fach auf die Straße werfen.<br />

Giwan: Genau. Wäre es sauberer, könnte man viel mehr machen.<br />

Nma: Ich will <strong>ein</strong>fach mehr raus und irgendwo hingehen dürfen.<br />

Neulich etwa wollten wir in <strong>ein</strong>er Shopping-Mall in <strong>ein</strong>en Männerbe-<br />

kleidungsladen und durften nicht, weil wir Mädchen sind. Das war<br />

total doof. Auf dem Schild stand nur: „K<strong>ein</strong>e Tiere, k<strong>ein</strong> Essen, nicht<br />

rauchen.“ K<strong>ein</strong>e Mädchen – das stand da nicht drauf.<br />

Giwan: So was ist blöd, klar. Aber andere Kinder haben ganz andere<br />

Probleme. Hier müssen Kinder manchmal arbeiten. Dabei sollten doch<br />

alle Kinder zur Schule gehen.<br />

Sarakan: Ja, aber hier ist das schon merkwürdig. Ich kenne Kinder,<br />

die sind zehn Jahre alt und fahren Motorrad oder Auto. Die haben vor<br />

nichts Angst.<br />

Giwan: Aber es kann doch nicht s<strong>ein</strong>, dass Kinder auf der Straße<br />

Zigaretten verkaufen.<br />

Sarakan: Das stimmt, ich finde das auch nicht gut. Und auch, dass<br />

man etwa im Fernsehen gar nichts davon sieht, vom echten Leben eben.<br />

Da laufen komische Filme mit vielen Opas. Die singen immer so viel,<br />

da schläft man <strong>ein</strong>. Und im Musikprogramm kommen kurdische Lieder,<br />

so richtige Popstars gibt es hier nicht.


Giwan: Ja, die Musik ist eher altmodisch.<br />

Nma: Die singen immer nur „Ich liebe dich“, das ist ganz schön kitschig.<br />

Roya: Na ja, so was wie „Deutschland sucht den Superstar“ und<br />

„Supertalent“ haben wir hier auch.<br />

Nma: Stimmt. Und wir haben auch so etwas wie <strong>ein</strong>e kurdische<br />

Lady Gaga – die ist schräg. Und wir haben <strong>ein</strong>en kurdischen Justin<br />

Bieber – der ist cool, singt aber nicht so gut.<br />

Giwan: Aber Poster und CDs kann man eher von den normalen<br />

Sängern kaufen, nicht von den Popstars. Wobei sich kurdische Kinder<br />

auch nicht unbedingt Poster an die Wand hängen.<br />

Hiba: Aber Eis essen sie genauso gern wie die Kinder in Deutsch-<br />

land. Unser Eis hier ist <strong>ein</strong> bisschen wie Kaugummi, man muss das<br />

so beißen.<br />

Nma: Das zieht so Fäden, wie Pizza. Aber es ist sehr lecker, und das<br />

beste Eis gibt’s in der Family Mall.<br />

Sarakan: N<strong>ein</strong>, in diesem riesigen Eisladen in der Stadt ist es viel fetter<br />

und größer.<br />

Nma: Neulich habe ich Pistazieneis gegessen, das gab es in Deutschland<br />

nicht. Und Regenbogeneis – Himbeer, Kirsche, Johannisbeere und<br />

Waldmeister – so bunt ist das.<br />

Giwan: Und Baklavaeis gibt‘s hier auch!<br />

Girl Group unter sich: Sarakan,<br />

Nma, Roya, Giwan und Hiba<br />

(von links).<br />

41


Einer geht<br />

noch<br />

Gemütlichkeit kennt k<strong>ein</strong>e Grenzen.<br />

Auf <strong>ein</strong> Bier in Gunter Völkers Deutschem Hof in Erbil.<br />

42<br />

D<br />

a steht er nun, der Gunter, auf der Bühne im Garten, in Leder-<br />

hose und rotweiß kariertem Trachtenhemd, reißt den Arm<br />

hoch, das volle Bierglas in der Hand. Ein „Oans, zwoa – gsuffa!“<br />

noch, dann macht die Blaskapelle aus Dresden Pause, auf Gunters Stirn<br />

perlt der Schweiß. Russische Sicherheitsleute prosten ihm zu, deutsche<br />

Lehrerinnen und Firmenvertreter, amerikanische Geschäftsleute, kur-<br />

dische Ehepaare, und auch der Bürgermeister von Erbil ist da. Gunter<br />

hat es mal wieder geschafft. In s<strong>ein</strong>em Deutschen Hof, dem <strong>ein</strong>zigen<br />

deutschen Gasthaus im <strong>Irak</strong>, tanzen die Puppen. Karneval samt Narren-<br />

kappe liegt hinter ihm, das Maibaumsetzen – „aber das Oktoberfest“,<br />

sagt Gunter Völker, „ist ganz klar der Höhepunkt des Jahres.“<br />

Der Deutsche Hof in Erbil ist <strong>ein</strong> Unikum. Mitten in Kurdistan serviert<br />

Gunter Völker seit sechs Jahren Königsberger Klopse, Schnitzel, Brat-<br />

wurst, Hühnerfrikassee und Ragout fin, zapft fünf Sorten deutsches Bier.<br />

Über der Tür hängt <strong>ein</strong> Geweih, und die Wände rund um den Stammtisch<br />

sind holzvertäfelt. Pure Biederkeit, aber genau deshalb hat der<br />

47-Jährige Erfolg. „Der Deutsche Hof ist <strong>ein</strong> Stück Heimat“, sagt Völker,<br />

„wo die Leute etwas bestellen und genau wissen, was sie erwartet.“<br />

Weshalb in Erbil lebende Ausländer gern in den Hof gehen, wo auch<br />

Frauen ohne Anhang in Ruhe und unbeobachtet genießen können.<br />

Und die Kurden? Sie essen gern bei Gunter, weil es schick ist, etwas Be-<br />

sonderes. Weil sie sich das leisten können. Oder weil sie das schon<br />

aus ihrer Exilantenzeit in Deutschland gut kennen. Sie alle kommen, weil<br />

auch alle anderen da sind – wo sonst kann man in Erbil in Ruhe draus-<br />

sen sitzen und <strong>ein</strong> Bier trinken? „Dieser Mischmasch“, sagt Völker, „ich<br />

liebe das.“ Hier werden Kontakte geknüpft, Beziehungen gepflegt, Ge-<br />

schäfte abgeschlossen und manchmal auch geschunkelt.<br />

Erbil im Krisenstaat <strong>Irak</strong> – <strong>für</strong> Gunter Völker ist das <strong>ein</strong> Ort der Frei-<br />

heit. Bevor er hierher kam, betrieb er drei Jahre lang <strong>ein</strong>en Deutschen


Hof in Kabul. Bier durfte er nur an Ausländer ausschenken. Irgendwann<br />

wurde ihm Kabul zu heikel, er musste weg. In Erbil konnte er sich<br />

mit wenig Geld etwas aufbauen. „Es zieht mich nicht an Orte, wo es<br />

brennt, sondern dorthin, wo ich etwas reißen kann. Also nicht nach<br />

Deutschland mit s<strong>ein</strong>en Sch<strong>ein</strong>problemen, wo sich die Leute fragen,<br />

ob sie nun <strong>ein</strong>mal oder zweimal jährlich in Urlaub fahren können.“<br />

Mit solchen Fragen kann Gunter Völker schon lange nichts mehr an-<br />

fangen. Da<strong>für</strong> hat er zuviel erlebt. Völker stammt aus Tabarz im Thü-<br />

ringer Wald, wächst auf hinter der Mauer. Er lernt erst Nachrichtentechniker,<br />

dann Koch, tingelt mit <strong>ein</strong>em Vergnügungspark durchs Land,<br />

verpflichtet sich schließlich als Zeitsoldat bei der Bundeswehr, lässt<br />

später k<strong>ein</strong>en Auslands<strong>ein</strong>satz aus. Mazedonien, Bosnien, Kosovo, Af-<br />

ghanistan – „ich habe Not und Elend gesehen.“ Zugleich kostet er in<br />

dieser Zeit den Geschmack der Freiheit. „Ich war Hauptfeldwebel und<br />

Verpflegungsgruppenführer“, sagt Völker, „Küchenbulle also, und<br />

etwas Schöneres gab es <strong>für</strong> mich nicht, denn ich entschied selbst, was<br />

ich zu tun hatte.“<br />

Schon auf dem Balkan entdeckt Gunter Völker s<strong>ein</strong>e Marktlücke<br />

– Essen nach westlichem Geschmack, <strong>für</strong> Soldaten, Geschäftsleute,<br />

Entwicklungshelfer. Nicht ortstypisch billig, aber möglichst echt. In<br />

Kabul gründet er dann s<strong>ein</strong>en Deutschen Hof und beschließt, Deutschland<br />

auch nach Ende der Dienstzeit fernzubleiben. Als ihm Kabul<br />

zu heiß wird, nimmt ihn <strong>ein</strong> Freund 2005 mit nach Erbil, und Völker<br />

entscheidet sich <strong>für</strong> den Neuanfang in Kurdistan.<br />

Sechs Jahre später hat er sich etabliert, und was <strong>für</strong> Außenstehende<br />

mitunter unglaublich ersch<strong>ein</strong>t, ringt Gunter Völker höchstens <strong>ein</strong> freund-<br />

liches Lächeln ab. Bier im muslimischen <strong>Irak</strong>? Das importiert er selbst,<br />

und Völker hat s<strong>ein</strong>en Deutschen Hof mit Bedacht im christlichen Viertel<br />

Ankawa angesiedelt, wo man auch W<strong>ein</strong> und Whiskey problemlos im<br />

Geschäft kaufen kann. „Ich hatte nie Beschwerden wegen m<strong>ein</strong>er Bier-<br />

schwemme“ sagt er, „und bei mir fließen jedes Jahr um die 18.000<br />

Liter durch den Hahn. Plus Flaschenbier.“ Und wie verträgt sich deut-<br />

sches Schw<strong>ein</strong>eschnitzel mit islamischen Speisevorschriften? Das<br />

Problem sei eher, m<strong>ein</strong>t Völker, dass man Schw<strong>ein</strong> auch in Kurdistan<br />

gar nicht bekomme, weshalb er s<strong>ein</strong>e Küche ohnehin „Halal“ ausgerichtet<br />

habe. „Westler nehmen am liebsten Steak und Schnitzel, Kurden<br />

nehmen Schnitzel und Steak – das <strong>ein</strong>e ist vom Rind, das andere vom<br />

Huhn.“ Mit solchen Einschränkungen komme er schon zurecht – „Brat-<br />

wurst mach` ich dann eben aus Geflügelfleisch, bin ja gelernter Ossi,<br />

da gab`s das auch.“ Und s<strong>ein</strong>e Köchin stammt aus Leipzig – auch sie kann<br />

Mangelwirtschaft nicht schrecken.<br />

Der Deutsche Hof ist mittlerweile <strong>ein</strong>e feste Größe in Erbil, und sei-<br />

ne Feste sind so legendär, dass Unternehmen dabei gern ihre Werbung<br />

unters Volk bringen. Trotzdem denkt Gunter Völker daran, s<strong>ein</strong>e<br />

Geschäfte in Zukunft etwas auszuweiten. Mit s<strong>ein</strong>er „Black Red Gold<br />

Trading“–Tochter möchte er Flaschenbier an Hotels verkaufen, Kaffee<br />

importieren. Auch <strong>für</strong> Wasserfilter und Küchenmöbel stünden die Chan-<br />

cen gut. Vor kurzem wollte er <strong>ein</strong> ganz modernes Café eröffnen – als<br />

er fertig war, verlor er die Genehmigung. „Man kann auch ohne die Bör-<br />

se Geld verlieren“, m<strong>ein</strong>t Völker und schnauft durch, „aber es geht<br />

immer weiter, irgendwie.“<br />

Eines sch<strong>ein</strong>t jedoch sicher: In Richtung Deutschland geht es vorerst<br />

nicht. Der Deutsche Hof, sagt Gunter Völker, sei s<strong>ein</strong> Zuhause, das<br />

„Daheim“ aber liege noch immer in Tabarz, wo er Ehrenmitglied ist im<br />

Trachtenver<strong>ein</strong> – „mit Volkstanz und so, aber Hardcore, nicht so`n<br />

Quatsch wie im Fernsehen.“ Und wenn er Heimweh hat, dann zieht er<br />

sich <strong>ein</strong>e Herbert-Roth-CD r<strong>ein</strong> und fliegt auf Google Earth über den<br />

heimischen Inselsberg im Thüringer Wald. Und das Erste auf s<strong>ein</strong>en sel-<br />

tenen Besuchen daheim ist <strong>ein</strong>e richtige Bockwurst.<br />

In Erbil, sagt der Gunter, fühlt er sich geborgen. S<strong>ein</strong>e Mutter kommt<br />

zum Überwintern in die Stadt. „Ich war schon ewig nicht mehr so lang<br />

an <strong>ein</strong>em Ort wie jetzt“, sagt Gunter Völker, „das muss doch etwas zu<br />

bedeuten haben.“<br />

Herr Rufoo...<br />

S<br />

ie sind der größte Importeur <strong>für</strong> Bier im Nordirak und vertreiben<br />

das Getränk im gesamten <strong>Irak</strong>. Haben Sie eigentlich k<strong>ein</strong>e<br />

Probleme, Bier an Muslime zu verkaufen?<br />

Dler Rufoo: N<strong>ein</strong>. Denn <strong>für</strong> <strong>Irak</strong>er ist es durchaus üblich, auch mal<br />

<strong>ein</strong> Bier zu trinken. Schätzungsweise 20 bis 30 Prozent der Bevölkerung<br />

trinken ab und an mal <strong>ein</strong> Gläschen.<br />

Und was zahlt man so <strong>für</strong> <strong>ein</strong> Bierchen im <strong>Irak</strong>?<br />

Das kommt darauf an. Da der Import recht teuer ist, kosten deutsche<br />

Biere <strong>ein</strong> wenig mehr. Auch die von<strong>ein</strong>ander abweichenden Wechselkurse<br />

von Euro und Dollar spielen <strong>ein</strong>e Rolle. Türkisches Bier etwa<br />

wird in Dollar verrechnet, deshalb ist es dementsprechend billiger.<br />

Hinzu kommt, dass die Transportkosten geringer sind.<br />

Geht türkisches Bier deshalb besser als deutsches?<br />

So pauschal kann man das nicht sagen. Aber tatsächlich hat das<br />

deutsche Bier auf dem irakischen Markt <strong>ein</strong> kl<strong>ein</strong>es Problem. Es<br />

ist sehr herb und trifft daher nicht jedermanns Geschmack.<br />

Haben Sie schon <strong>ein</strong>mal daran gedacht, im <strong>Irak</strong> <strong>ein</strong>e eigene Brauerei<br />

zu eröffnen?<br />

N<strong>ein</strong>, n<strong>ein</strong>, n<strong>ein</strong>. Selbst wenn es bis jetzt im <strong>Irak</strong> noch k<strong>ein</strong>e Brauerei<br />

gibt. Das lohnt sich <strong>ein</strong>fach noch nicht. Da<strong>für</strong> ist der Import von<br />

türkischem Bier wie Efes noch zu billig.<br />

Importieren Sie eigentlich nur Bier?<br />

N<strong>ein</strong>, ich importiere alle alkoholischen Produkte. Neulich war ich<br />

etwa in Moldawien.<br />

Was wollen Sie denn von dort in den <strong>Irak</strong> importieren?<br />

Na, was wohl? Wodka natürlich.<br />

43


Dichter ran<br />

Der Poet Faris Harram versucht von Nadschaf aus, den geistigen Wiederaufbau<br />

der irakischen Gesellschaft voranzutreiben. Und setzt sich da<strong>für</strong><br />

mitten auf die Straße.<br />

44<br />

W<br />

ährend ich mich auf das Gesicht m<strong>ein</strong>es Freundes konzen-<br />

trierte, vergaß ich vollkommen, dass wir gerade, an <strong>ein</strong>em<br />

Sommerabend des Jahres 2010, dabei waren, zusammen <strong>ein</strong>en<br />

überdimensionalen Tisch zu schleppen, auf der Suche nach <strong>ein</strong>em<br />

geeigneten Platz, ihn auf der Straße abzustellen, im Marra-Viertel, dem<br />

Stadtzentrum von Nadschaf. Der Straße, auf der sich schon bald die<br />

Menschenmassen drängen würden.<br />

All das vergaß ich, als ich das Gesicht m<strong>ein</strong>es Dichterfreundes Mahdi<br />

Shaalan studierte, und mich bemühte, die schnellen Bilder, die s<strong>ein</strong>e<br />

Falten versendeten, zu empfangen. Dieser Fünfzigjährige schien voller<br />

Elan, ganz anders als früher. Jetzt, wo er s<strong>ein</strong>e kulturellen Tätigkeiten<br />

wiederaufgenommen hatte, nach <strong>ein</strong>er Pause, die über fünfzehn Jahre<br />

gedauert hatte. Während dieser Zeit hatte er k<strong>ein</strong>e Gedichte mehr ge-<br />

schrieben. Weil es „nichts bringt“, wie er es auszudrücken pflegte. Er<br />

hatte sich <strong>ein</strong>zig und all<strong>ein</strong> der Versorgung s<strong>ein</strong>er Familie gewidmet,<br />

indem er in <strong>ein</strong>em kl<strong>ein</strong>en Laden Bücher verkaufte.<br />

Ich vergaß alles um mich herum, während ich so über Shaalans Lebens-<br />

wandel nachsann. Über die enorme Menge an Zeit, die ihm aus der Hand<br />

geglitten war, während er angestrengt versucht hatte, <strong>ein</strong>erseits <strong>ein</strong><br />

Dichter zu s<strong>ein</strong>, der von s<strong>ein</strong>en Landsleuten auch gelesen wird, und an-<br />

dererseits <strong>ein</strong> „erfolgreicher“ Familienvater.<br />

Während ich über all das nachdachte, vergaß ich, mich darauf zu kon-<br />

zentrieren, wie wir im Hier und Jetzt den großen Tisch an s<strong>ein</strong>en Platz<br />

stellten: vor Reihen hunderter wartender Stühle, mitten im Marra-Vier-<br />

tel, in der Nähe <strong>ein</strong>es Zeltes mit Bücherständen. Anlass dieser Veranstaltung<br />

war die Ernennung Nadschafs zur Kulturhauptstadt des Islam 20<strong>12</strong>.<br />

Die Idee war <strong>ein</strong>e Art Kampagne, initiiert von irakischen Intellektuellen:<br />

Eine öffentliche Diskussion, die wortwörtlich auf der Straße statt-<br />

finden sollte. Gegenstand der Diskussion waren die Gründe <strong>für</strong> den<br />

drastischen Rückgang der Lesegewohnheiten in unserer Gesellschaft<br />

und das Verschwinden <strong>ein</strong>es Kulturpublikums im Allgem<strong>ein</strong>en. Diese<br />

Kampagne war zum Teil auch auf m<strong>ein</strong>en persönlichen Wunsch hin ent-<br />

standen. Bin ich doch schließlich auch <strong>ein</strong>er der „betroffenen“ Dich-<br />

ter. Betroffen, natürlich nicht in künstlerischer, sondern in kultureller<br />

Hinsicht. Betroffen durch den Verlust der Leserschaft und damit<br />

des direkten Einflusses auf zumindest <strong>ein</strong>en Teil der Menschen mittels<br />

m<strong>ein</strong>er Gedichte.<br />

Viele m<strong>ein</strong>er Freunde m<strong>ein</strong>ten allerdings, dass dieses Seminar, von<br />

dem ich unbedingt wollte, dass es auf der Straße neben dem Zelt m<strong>ein</strong>es<br />

Freundes Shaalan stattfinden sollte, im Hinblick auf die heutige Lage<br />

im <strong>Irak</strong> nichts weiter als <strong>ein</strong> „Abenteuer“ werden konnte.<br />

V<br />

or dem Fall des Saddam-Regimes im Jahr 2003 hatte es im<br />

<strong>Irak</strong> k<strong>ein</strong>e <strong>ein</strong>zige Institution gegeben, sei sie staatlich oder<br />

nicht-staatlich, die sich gezielt und strategisch <strong>für</strong> kulturelle<br />

Entwicklung <strong>ein</strong>gesetzt hätte. Es wurde nichts unternommen, um die<br />

Beziehung des irakischen Individuums zum Buch wiederzubeleben.<br />

Haarsträubende Zahlen internationaler und lokaler Statistiken über den<br />

Niedergang des Lesens in der arabischen Gesellschaft verschärften<br />

noch den latenten Zustand der Depression, in dem die irakischen Dichter<br />

sich befanden. Sie hatten das Gefühl, dass sie es nicht mehr miterleben<br />

würden, dass <strong>ein</strong> Lesepublikum außerhalb der intellektuellen Nische ihre<br />

Gedichte liest und sich da<strong>für</strong> interessiert.<br />

Ab und an leide auch ich an Schlaflosigkeit, wenn ich mir diese er-<br />

schreckenden Zahlen vergegenwärtige: Im Durchschnitt liest jeder Ame-<br />

rikaner elf Bücher jährlich, in England sind es sieben, aber in der ara-<br />

bischen Welt ist es pro Kopf nur <strong>ein</strong>e Viertelseite. Insofern ist es wenig<br />

verwunderlich, dass k<strong>ein</strong>er selbst der bekanntesten zeitgenössischen<br />

arabischen Dichter mehr als 5.000 Kopien <strong>ein</strong>es Buches verkauft.<br />

Womöglich ist die Krise der Lyrik ja <strong>ein</strong> weltweites Phänomen, in ei-<br />

ner Welt, in der die Menschen ständig von Bildern aus Popkultur und<br />

Sportwelt berieselt werden. Der wesentliche Unterschied aber ist, dass


wir es hier mit <strong>ein</strong>er allgem<strong>ein</strong>en Krise, was das Lesen im Alltag betrifft,<br />

zu tun haben. So ist das im <strong>Irak</strong> der Fall und in anderen Ländern, deren<br />

Situation der des <strong>Irak</strong>s ähnelt.<br />

Zwar sind die Bewohner des Zweistromtals verblüffenderweise – unabhängig<br />

von ihrem Bildungsgrad – nahezu vernarrt in Lyrik. Aber die<br />

Gedichte, an denen die meisten Gefallen finden, sind <strong>ein</strong>e Art volkstümlicher<br />

Verse, die über das Mündliche nicht hinausgehen. Sie werden<br />

von ihren Dichtern in Umgangssprache vorgetragen. Verbreitet sind sie<br />

bei Volksfesten, als Audioaufnahmen und als Texte <strong>ein</strong>fältiger Lieder.<br />

Für Lyrik, die auf Hocharabisch, der Schrift- und Unterrichtssprache im<br />

<strong>Irak</strong>, verfasst ist, interessieren sich die Massen kaum.<br />

Selbst die gute alte Wohnzimmerbibliothek ist heutzutage <strong>ein</strong>e Seltenheit<br />

geworden. Ich schäme mich nicht zu sagen, dass es mir seit m<strong>ein</strong>er<br />

Jugendzeit bis zum heutigen Tage nie passiert ist, <strong>ein</strong>en Haushalt zu<br />

betreten und darin <strong>ein</strong>e Privatbibliothek mit <strong>ein</strong>er gewissen Vielfalt<br />

an Büchern vorzufinden. Jedenfalls nicht außerhalb des intellektuellen<br />

Milieus. Weder bei Nachbarn noch bei Verwandten oder Bekannten,<br />

weder in Nadschaf noch in Bagdad. Allerdings gibt es in religiösen Haus-<br />

halten, oder solchen, deren Bewohner religiös-kultiviert sind, oft große<br />

Büchersammlungen. Diese enthalten aber von vorne bis hinten nichts<br />

von dem, was ich allgem<strong>ein</strong> als Kultur bezeichnen würde.<br />

E<br />

s ist die Mittelschicht, die die Verbreitung von Wissen und<br />

ästhetischen Werten in Gesellschaften gewährleistet. Ihre syste-<br />

matische Zerstörung unter Saddam Huss<strong>ein</strong> bedeutete zugleich<br />

die Zerstörung des irakischen Kulturpublikums, und mit ihm die der Lyrik-<br />

leserschaft. So wurden zum Beispiel zehntausende Beamte, Ärzte,<br />

Ingenieure, Anwälte, Lehrer und Universitätsprofessoren im <strong>Irak</strong>-Iran-<br />

Krieg (1980-1988) an die Front geschickt. Wer weder gestorben, noch<br />

in <strong>ein</strong>em Gefängnis gelandet ist, trägt jetzt <strong>ein</strong> entstelltes Bild vom Leben<br />

mit sich herum.<br />

Ein weiteres Beispiel sind die tausenden unverdient vergebener<br />

Hochschulabschlüsse in der Zeit des Zusammenbruchs des irakischen<br />

Schulsystems während der internationalen Belagerung (1990–2003).<br />

Es liegt auf der Hand, das diese „neuen Professoren“ zu <strong>ein</strong>em neuen<br />

Teil des Problems wurden, da sie der Jugend ihre eigene Bildungs-<br />

fernheit übertragen haben.<br />

Auch Saddams Dichter sind <strong>ein</strong>e tragische Episode. Auf s<strong>ein</strong>e ihm ei-<br />

gene tyrannische Weise präsentierte das Saddam-Regime dem irakischen<br />

Publikum s<strong>ein</strong>e ganz speziellen Dichter, mit breitgefächerter medialer<br />

Werbung. Es handelte sich bei ihnen meistens um mittelmäßige, wenn<br />

nicht sogar schlechte Dichter, die es auf diese Weise zu <strong>ein</strong>er Berühmt-<br />

heit geschafft haben, vergleichbar mit der von Fußballspielern oder<br />

Sängern. In der Tat wurden aus ihnen Personen des öffentlichen Lebens.<br />

Sie erschienen ja auch fast täglich in Zeitungen und auf den Fernsehbildschirmen.<br />

Sie lasen und verbreiteten ihre Gedichte, von denen das Pu-<br />

blikum – als Folge der enormen medialen Aufmerksamkeit – glaubte, sie<br />

seien „die wahren Poeten“. Einige von ihnen traten in Militärkluft auf.<br />

Im Hintergrund sah man zweifarbige Kriegsbilder, in Erd -und Blutfarben.<br />

Das Bild des Dichters war also durch diese verkehrte Tragödie eng mit<br />

dem Bild des Narren verwachsen. So gewöhnten sich die Leute daran, in<br />

<strong>ein</strong>em Dichter nichts Geringeres als <strong>ein</strong>en „Wächter des Regimes“ zu<br />

sehen, während jene dem Dichter zueigene Lebendigkeit und Freiheit<br />

in der Gesellschaft völlig aus dem gängigen Blickfeld verschwand. Der<br />

Dichter, kurz gesagt: Viel Seele im Gegensatz zu viel Materie, die unsere<br />

große metallische Welt umgibt. Eines der unwahrsch<strong>ein</strong>lichsten Dinge<br />

überhaupt zu Saddams Zeiten war es, dass <strong>ein</strong>er der wahren Lyriker, die<br />

meistens k<strong>ein</strong> Mensch kannte, es geschafft hätte, <strong>ein</strong> Gedicht zu veröf-<br />

fentlichen. Ein Gedicht, das vielleicht imstande gewesen wäre, das Lebens-<br />

gefühl <strong>ein</strong>er ganzen Generation zu verewigen. Ein Gedicht, das den<br />

seelischen Durst <strong>ein</strong>er Gesellschaft wirklich zu stillen vermocht hätte.<br />

Während ich in diesem kurzen Abriss über Realitäten und Ideen schrei-<br />

be, die natürlich lediglich Formen weitaus größerer und komplexerer<br />

Phänomene sind, befinde ich mich wieder <strong>ein</strong>mal in der Position, auf<br />

folgende Frage antworten zu müssen: Was können die irakischen Dichter<br />

heute zum Wiederaufbau ihres Landes beitragen?<br />

E<br />

s ist nicht befremdlich <strong>für</strong> <strong>ein</strong>en Dichter wie mich, dessen Gedich-<br />

te das breite Publikum nicht kennt, zu denken, dass die Ant-<br />

wort auf diese Frage unmöglich in der Poesie selbst liegen kann.<br />

Ich kann nicht zur Lösung der Probleme m<strong>ein</strong>es Landes beitragen, in-<br />

dem ich zum Beispiel <strong>ein</strong>e besondere Art von Lyrik veröffentliche oder<br />

m<strong>ein</strong>e Gedichte auf Mauern und an Straßenränder schreibe, auch wenn<br />

das Zielpublikum die breite Masse ist und es mir viel Spaß machen würde,<br />

dergleichen zu tun. Gegen den Verfall der Lesetradition und den Verlust<br />

ästhetischer Werte würde ich auf diese Weise nichts ausrichten können.<br />

Das ist die Realität, die m<strong>ein</strong>e Existenz jeden Tag aufs Neue attackiert.<br />

Und genau das ist es, was mich und viele m<strong>ein</strong>er Dichterfreunde dazu<br />

antreibt, uns den Kopf darüber zu zerbrechen, wie wir zum Wiederaufbau<br />

unseres Landes auf anderem Wege beitragen können. Wie wir<br />

schnellere, selbstverständlichere und verbreitetere Mittel als Lyrik<br />

finden können. Da wäre zum Beispiel das Schreiben von Zeitungskolumnen,<br />

Essays, Artikeln, der Auftritt in Fernseh- und Radioprogrammen,<br />

als Plattformen, um über Landesangelegenheiten zu sprechen und sie zu<br />

analysieren. Auch die Teilnahme an von unterschiedlichen Institutio-<br />

nen organisierten Konferenzen und Seminaren und das ununterbrochene<br />

Gespräch mit den Menschen in unserem Umfeld. Wir, die Dichter, hat-<br />

ten bei dieser unpoetischen Aktion fast <strong>ein</strong>stimmig das selbe Ziel: Den<br />

geistigen Wiederaufbau unserer Gesellschaft.<br />

Natürlich finde ich es schade, dass die Lyrik nicht selbst auf direkte<br />

Weise diese Aufgabe übernehmen kann. Es geht eben nicht, da<strong>für</strong> fehlt<br />

es an Kulturpublikum. Von daher war es m<strong>ein</strong>e Pflicht gegenüber der<br />

Zukunft m<strong>ein</strong>es Landes, über die Frage der Umformung des Kulturpublikums<br />

selbst nachzudenken. Denn weder von staatlicher noch von<br />

nicht-staatlicher Seite wurde bisher etwas zu dieser Problematik unter-<br />

nommen. Die Tatsache, dass ich im Juli 2010 zum Vorstand des Lite-<br />

ratenverbands Nadschaf gewählt worden bin, half mir dabei, bereits nach<br />

<strong>ein</strong>em Monat <strong>ein</strong>e m<strong>ein</strong>er gewagtesten Ideen zu verwirklichen: Einen<br />

überdimensionalen Tisch auf die überfüllte Straße in Nadschaf im Marra-<br />

Viertel zu stellen, in der Nähe <strong>ein</strong>er kl<strong>ein</strong>en Buchmesse <strong>für</strong> die Bücher<br />

m<strong>ein</strong>es Freundes, des „Ex-Dichters“ Mahdi Shaalan, wo wir, durch Laut-<br />

sprecher verstärkt, über Mittel und Wege sprachen, wie gebildete ira-<br />

kische Menschen ihre Beziehung zur Lektüre wiederherstellen könnten.<br />

Die Initiative wuchs, entwickelte sich weiter und wurde mit Erfolg<br />

mehrmals wiederholt, bis zur Endveranstaltung, die gestern, am 21. Sep-<br />

tember <strong>2011</strong> stattgefunden hat. Da hat Professor Abd Ali al-Khaffaf,<br />

Dekan der Fakultät <strong>für</strong> Literaturwissenschaften der Universität al-Koufa,<br />

<strong>ein</strong>e Vorlesung auf der Straße gehalten. Im ganzen <strong>Irak</strong> gab es mediales<br />

Interesse <strong>für</strong> unsere Idee. Erfolgreich haben wir es geschafft, wichtige<br />

Persönlichkeiten des kulturellen Lebens dazu zu ermutigen, auf der<br />

Straße Vorlesungen zu halten, ohne dass sie irgendetwas vom Marra-<br />

Viertel getrennt hätte. Trotz all dem kann ich nicht behaupten, die<br />

Initiative hätte <strong>ein</strong>scheidend zu <strong>ein</strong>em Umdenken des Kulturpublikums<br />

beigetragen. Dieses Experiment war in erster Linie symbolischer Natur.<br />

Wir wollten <strong>ein</strong>fach daran erinnern, dass es in der Zukunftsgestaltung<br />

des heutigen <strong>Irak</strong>s <strong>ein</strong>e abwesende - oder verdrängte - Stimme gibt:<br />

die Stimme der Intellektuellen.<br />

Wirklich entscheidende Initiativen zum Aufbau <strong>ein</strong>er Wissensge-<br />

sellschaft, <strong>ein</strong>er, in der Dichter auch wirklich als Dichter leben können,<br />

müssen unbedingt von staatlicher Seite kommen. Strategisch und<br />

radikal. Kulturinstitutionen müssen <strong>ein</strong>e tragende Rolle spielen. Sie<br />

müssen die Sichtweise der Regierung im Hinblick auf Maßnahmen<br />

<strong>für</strong> gesellschaftliche Entwicklung mitgestalten. Die erste Grundlage<br />

<strong>für</strong> diese Veränderung findet in der Pädagogik und im Bildungssek-<br />

tor statt. Dort muss <strong>ein</strong> neues Selbstverständnis <strong>für</strong> den <strong>Irak</strong> entstehen.<br />

Der <strong>Irak</strong>, dieses Land, in dem es vom Ende der osmanischen Besat-<br />

zung Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts bis heute k<strong>ein</strong>en echten<br />

Staat gegeben hat.<br />

45


„Ich will <strong>ein</strong><br />

Vorbild s<strong>ein</strong>“<br />

E<br />

s fällt mir schwer, das zu sagen, aber es ist wirklich noch oft<br />

so: Unsere Männer sind doch recht selbstbezogen. Sie wollen<br />

<strong>ein</strong>e hübsche Frau, und wenn sie abends nach Hause kom-<br />

men, soll das Essen auf dem Tisch stehen. Aber dass ihre Frau arbeiten<br />

geht – das kommt nur wenigen in den Sinn. Für sie gehört <strong>ein</strong>e Frau<br />

nach Hause zu den Kindern.<br />

Sicher - kochen und Kinder betreuen, das können Frauen oft besser<br />

als Männer. Aber das ist nur die <strong>ein</strong>e Hälfte des Lebens. Die andere ist<br />

Arbeit und Geldverdienen, auch <strong>für</strong> die eigene Familie. Das ist wich-<br />

tig, weil Frauen erst dann verstehen, was ihre Männer jeden Tag leisten,<br />

und je mehr <strong>ein</strong>e Frau rausgeht, weiß und arbeitet, umso besser kann<br />

sie auch ihre Kinder erziehen. Das habe ich erkannt und beschlossen,<br />

m<strong>ein</strong> Leben entsprechend <strong>ein</strong>zurichten, und das auch möglichst vie-<br />

len anderen Frauen zu ermöglichen.<br />

Auch deshalb habe ich im Jahr 2007 m<strong>ein</strong>e Firma „Erbil Manpower“<br />

(EMP) gegründet. Wir bieten Personaldienstleistungen, erledigen als<br />

externe Dienstleister <strong>für</strong> andere Unternehmen typische Aufgaben<br />

der Personalabteilung, vermitteln irakweit Arbeitskräfte, organisieren<br />

diverse Veranstaltungen wie Messen oder Konferenzen. In m<strong>ein</strong>em<br />

Büro in Erbil arbeiten neun Menschen, unser landesweites Netzwerk<br />

umfasst über 100 Mitarbeiter, hinzu kommen Honorarkräfte. Und<br />

immer versuche ich, möglichst viele Frauen unterzubringen. Fifty-Fifty<br />

– das ist m<strong>ein</strong> Ziel. Frauen sollen arbeiten!<br />

Ich selbst musste dabei gar nicht so große Widerstände überwinden.<br />

M<strong>ein</strong> Vater hat mich früh Selbstbewussts<strong>ein</strong> gelehrt und den Mut, mir<br />

m<strong>ein</strong>e Rechte zu nehmen. Ich habe Elektrotechnik studiert und da-<br />

nach sieben Jahre <strong>für</strong> internationale Organisationen Projekte betreut,<br />

bei denen es um Demokratie, Menschenrechte und Bürgergesellschaft<br />

ging. Dort habe ich gemerkt, dass Frauen Organisationsarbeit oft viel bes-<br />

ser erledigen als Männer, weil sie ruhiger sind und umsichtiger.<br />

46<br />

M<strong>ein</strong> Mann hat mich bei der Unternehmensgründung sehr unterstützt<br />

– obwohl er viel Druck bekommen hat von anderen Männern. Das war<br />

nicht leicht <strong>für</strong> ihn. Auch ich wurde auf dem Markt nicht mit offenen<br />

Armen empfangen – obwohl ich nicht <strong>ein</strong>e traditionelle Männerbranche<br />

wie Bau oder Handel <strong>ein</strong>gebrochen bin. Aber lokale Firmen haben<br />

mich glatt ignoriert, zum Glück hatte ich gute Kontakte zu internatio-<br />

nalen Unternehmen und konnte mir nach viel Klinkenputzen <strong>ein</strong><br />

Geschäft aufbauen. Heute öffnen sich auch die lokalen Firmen, aber<br />

zu 85 Prozent arbeite ich noch immer mit den ausländischen.<br />

Von m<strong>ein</strong>er Fifty-Fifty-Quote <strong>für</strong> Frauen bin ich noch weit entfernt.<br />

Das liegt auch an den Bewerberinnen; vor allem <strong>für</strong> hochqualifizierte<br />

Jobs finde ich kaum Frauen. Mal ist die Ausbildung zu schlecht, mal<br />

mauert der Ehemann, oder die Frau selbst traut sich nicht. Das stresst<br />

mich wirklich, und ich habe schon überlegt, ob ich nicht <strong>ein</strong> Trai-<br />

ningscenter starten sollte, wo Frauen lernen können, wie <strong>ein</strong>e Firma<br />

funktioniert und wie man sich klug in ihr bewegt.<br />

Viele Frauen entscheiden sich ja gegen <strong>ein</strong>en Beruf aus Angst, so-<br />

ziale Normen zu verletzen – bei mir aber sieht man, dass dem nicht<br />

so s<strong>ein</strong> muss. Privat lebe ich recht traditionell. Mit m<strong>ein</strong>em Mann<br />

habe ich <strong>ein</strong>e 9-jährige Tochter, unser Sohn ist zwei<strong>ein</strong>halb Jahre alt<br />

– m<strong>ein</strong> Zuhause ist m<strong>ein</strong> Paradies. Ich koche und helfe m<strong>ein</strong>er<br />

Tochter bei den Hausaufgaben, wir machen Ausflüge. Natürlich hoffe<br />

ich, dass ich m<strong>ein</strong>er Tochter <strong>ein</strong> gutes Vorbild bin. Aber nicht nur<br />

ihr, auch anderen Frauen. Dabei geht es mir weniger um Geld als um<br />

den eigenen Weg.<br />

Talan Aouny ist die Gründerin der Firma „Erbil Manpower“ (EMP). Ihr<br />

Unternehmen bietet Personaldienstleistungen an, vermittelt Arbeitskräfte<br />

und organisiert Messen oder Konferenzen.


„Ich bin nicht so der Typ <strong>für</strong> Golf und<br />

Kreuzfahrten. Im <strong>Irak</strong> werde ich gebraucht<br />

und kann m<strong>ein</strong> Wissen <strong>ein</strong>setzen.“<br />

Der Medienplaner Thomas Koch hat zusammen mit Klaas Glene-<br />

winkel die Agentur Plural Media Services gegründet, die lokale und<br />

internationale Werbekunden mit unabhängigen Medien in entstehenden<br />

Märkten wie dem <strong>Irak</strong> zusammenbringt.<br />

47


Ich über <strong>Irak</strong><br />

Die deutsch-irakischen Beziehungen im Zitat.<br />

„ Entschuldigung,<br />

ich bin nicht überzeugt!“<br />

Außenminister Joschka Fischer auf der Münchner Sicherheitskonferenz<br />

im Februar 2003 zu US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld.<br />

„ Wer gegen Krieg ist, ist nicht<br />

zum Appeasement verdammt.“<br />

Bundeskanzler Gerhard Schröder in <strong>ein</strong>er Regierungserklärung,<br />

Februar 2003.<br />

„ Wir müssen rasch die Lebens-<br />

bedingungen der irakischen Bevöl-<br />

kerung verbessern.“<br />

Der irakische Staatspräsident Ghasi al Jawar setzt sich im September<br />

2004 bei Bundespräsident Horst Köhler in Berlin <strong>für</strong> <strong>ein</strong>en irakischen<br />

Schuldenerlass <strong>ein</strong>.<br />

„ Deutschland könnte <strong>ein</strong>e bedeutende<br />

Rolle beim Wiederaufbau <strong>Irak</strong>s spielen.“<br />

Der irakische Ministerpräsident Ijad Allawi zu Bundeskanzler Gerhard<br />

Schröder in Berlin, Dezember 2004.<br />

48<br />

„ Wir alle müssen <strong>ein</strong>en Beitrag leisten,<br />

dass im <strong>Irak</strong> <strong>ein</strong>e freiheitliche Grundord-<br />

nung wiederhergestellt wird.“<br />

Bundesinnenminister Otto Schily besichtigt im Februar 2005 die Ausbildung<br />

irakischer Polizisten durch deutsche BKA-Beamte in den Ver<strong>ein</strong>igten<br />

Arabischen Emiraten.<br />

„ Deutsche Firmen sind im<br />

<strong>Irak</strong> <strong>für</strong> ihre Qualität bekannt.“<br />

Richard Fett von der Erfurter Alwa Montagenbau auf der 2. Deutsch-<br />

<strong>Irak</strong>ischen Wirtschaftskonferenz in München, Juli 2005.<br />

„ Wer sich <strong>für</strong> <strong>ein</strong>e friedliche Zukunft<br />

des <strong>Irak</strong>s <strong>ein</strong>setzen will, muss nun mit<br />

der Planung beginnen.“<br />

EU-Handelskommissar Peter Mandelson zu Beginn der Verhandlungen<br />

über <strong>ein</strong> Handels- und Kooperationsabkommen der EU mit dem <strong>Irak</strong>,<br />

November 2006.<br />

„ Alles wird entscheidend davon<br />

abhän gen, ob es der irakischen Regierung<br />

gelingt, wirklich <strong>ein</strong>en nachhaltigen<br />

Prozess der nationalen Aussöhnung in Gang<br />

zu bringen.“<br />

EU-Ratspräsident Frank-Walter St<strong>ein</strong>meier auf der <strong>Irak</strong>-Konferenz<br />

in Sharm El-Sheik, Mai 2007.<br />

„ Der neue <strong>Irak</strong>, der <strong>Irak</strong> der Men-<br />

schenrechte, der Demokratie, der<br />

Frauenrechte ist mehr denn je <strong>ein</strong> Partner<br />

<strong>für</strong> Deutschland.“<br />

Der Schiitenführer Sayed Ammar al-Hakim bei s<strong>ein</strong>em Berlin-Besuch<br />

im Mai 2008.<br />

„ Ich habe etliche Unternehmen in<br />

m<strong>ein</strong>er Begleitung. Sie sind praktisch<br />

die Vorhut <strong>für</strong> andere, die hoffentlich bald<br />

in den <strong>Irak</strong> kommen und sich insbesondere<br />

auch an den Privatisierungen beteiligen.“<br />

Bundeswirtschaftsminister Michael Glos reist Anfang Juli 2008 als<br />

erster deutscher Politiker nach dem Krieg mit <strong>ein</strong>er Unternehmerdelegation<br />

nach Bagdad.


„ Ich bin der M<strong>ein</strong>ung, die Sicher-<br />

heitslage hat sich so verbessert, dass<br />

deutsche Firmen durchaus in den <strong>Irak</strong><br />

kommen können.“<br />

Der irakische Ministerpräsident Nuri Al-Maliki im Juli 2008<br />

zu Bundeskanzlerin Angela Merkel in Berlin.<br />

„ Sie sollen die deutsche Sprache<br />

lernen, damit sie am Arbeitsmarkt<br />

Aufnahme finden können.“<br />

Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble bei der Ankunft der ersten<br />

irakischen Flüchtlinge im Durchgangslager Friedland, November 2008.<br />

„ Das ist der Abschiedskuss,<br />

du Hund!“<br />

Ein irakischer TV-Journalist bewirft US-Präsident George W. Bush<br />

im Dezember 2008 in Bagdad mit s<strong>ein</strong>en Schuhen.<br />

„ Wir reichen dem neuen <strong>Irak</strong> die Hand.“<br />

Frank-Walter St<strong>ein</strong>meier besucht im Februar 2009 als erster deutscher<br />

Außenminister seit 22 Jahren den <strong>Irak</strong>.<br />

„ Bei allem Respekt gegenüber den<br />

anderen EU-Staaten – Deutschland<br />

ist und bleibt der bevorzugte Partner<br />

der irakischen Regierung <strong>für</strong> den wirtschaft-<br />

lichen Wiederaufbau.“<br />

Der irakische Regierungssprecher Ali al-Dabbagh auf dem Deutsch-<br />

Arabischen Wirtschaftsforum im Juni 2009 in Berlin.<br />

„ Wir lieben den <strong>Irak</strong>.“<br />

Florian Amereller, Vorstandsmitglied der Arabisch-Deutschen Industrie-<br />

und Handelskammer (Ghorfa), im Juli 2010 in Berlin.<br />

„ Ich freue mich sehr, dass deutsche<br />

Geschäftsleute in den <strong>Irak</strong> gehen und<br />

dort mit ihren eigenen Augen sehen, dass<br />

das ganze Land wieder zum Leben erwacht.“<br />

Der irakische Botschafter in Berlin, Huss<strong>ein</strong> Mahmud al-Khatib, antwortet<br />

auf Florian Amerellers Liebeserklärung an den <strong>Irak</strong>.<br />

„ Es wird im <strong>Irak</strong> <strong>ein</strong> neues Kapitel auf-<br />

geschlagen; politisch und wirtschaftlich.“<br />

Außenminister Guido Westerwelle im Dezember 2010 in Bagdad.<br />

„ Die Sicherheitsprobleme werden<br />

m<strong>ein</strong>er M<strong>ein</strong>ung nach überbewertet.<br />

Außer in Bagdad geht es überall aufwärts.“<br />

Jürgen Leyde war Mitglied der Unternehmerdelegation, die Guido<br />

Westerwelle in den <strong>Irak</strong> begleitete. S<strong>ein</strong>e Firma produziert chemische<br />

Baustoffzusätze im <strong>Irak</strong>.<br />

„ Ein stabiler <strong>Irak</strong> ist auch in unserem,<br />

deutschen Interesse.“<br />

Entwicklungsminister Dirk Niebel während <strong>ein</strong>er Bagdad-Reise<br />

im Februar <strong>2011</strong>.<br />

„ Wir nehmen alle nur positive<br />

Eindrücke mit.“<br />

Randolf Rodenstock leitete <strong>ein</strong>e bayrische Wirtschaftsdelegation,<br />

die im Mai <strong>2011</strong> Erbil besuchte.<br />

„ Der <strong>Irak</strong> unternimmt große Anstren-<br />

gungen <strong>für</strong> den Wiederaufbau. Wir<br />

wollen, dass deutsche Unternehmen künftig<br />

noch stärker am wirtschaftlichen Aufschwung<br />

teilhaben.“<br />

Bundeswirtschaftsminister Philipp Rösler vor der Abreise mit <strong>ein</strong>er<br />

Wirtschaftsdelegation nach Bagdad, November <strong>2011</strong>.<br />

49


50<br />

Mozart statt<br />

Kugeln<br />

Uwe Eric Laufenberg, Intendant der Oper in Köln brachte „Die Entführung<br />

aus dem Serail“ nach Sulaymania. Ein Lobgesang <strong>für</strong> den Kulturaustausch<br />

mit dem <strong>Irak</strong>.<br />

H<br />

err Laufenberg, wie kommt man auf die Idee, <strong>ein</strong>e Oper im <strong>Irak</strong><br />

zu inszenieren?<br />

Es war ja k<strong>ein</strong>e Neuinszenierung, die wir im März diesen Jahres im<br />

Kunstpalast „Telary Honer“aufführten, sondern es handelte sich um<br />

<strong>ein</strong> Gastspiel. Die Premiere hatte bereits wenige Monate zuvor an<br />

der Oper Köln, im Palladium in Köln-Mülheim, stattgefunden. Ihsan<br />

Othmann, unser Bassa Selim, der die Rolle bei uns auf Kurdisch<br />

spricht, ist <strong>ein</strong> irakischer Künstler. Er hat dieses Gastspiel initiiert und<br />

uns davon überzeugt, dass Mozart in dieser modernen Interpretation<br />

zur ersten Operngesamtaufführung im <strong>Irak</strong> werden muss.<br />

Waren alle Beteiligten der Oper Köln sofort <strong>ein</strong>verstanden oder mussten<br />

Sie Überzeugungsarbeit leisten?<br />

Die Solisten und Dirigent Konrad Junghänel, die Ihsan Othmann alle<br />

gut kannten, waren sofort <strong>ein</strong>verstanden. In der Technik und bei den<br />

Ankleidern, darunter auch viele aus dem arabischen Sprachraum, war<br />

<strong>ein</strong>e große Bereitschaft, bei den Musikern des Gürzenich Orchesters<br />

Köln gab es große Skepsis, aber auch große Begeisterung.<br />

Wie war die Resonanz in Kurdistan auf das Stück?<br />

Die Resonanz war großartig, jubelnd, euphorisch. Während der ersten<br />

Vorstellung gab es sehr viele Reaktionen, es wurde gelacht, geklatscht,<br />

weniger dazwischengerufen. Bei der zweiten wurde leider auf Kurdisch<br />

<strong>ein</strong>e Ansage gemacht, dass man die Aufführung nicht mit Reaktionen<br />

unterbrechen sollte. Da<strong>für</strong> entlud sich der Schlussapplaus noch heftiger.<br />

Wie verlief die Zusammenarbeit mit den kurdischen Kollegen vor Ort?<br />

Außer dass der Transportwagen mit den Dekorationen drei Tage zu<br />

spät und in <strong>ein</strong>em völligen Durch<strong>ein</strong>ander ankam, man sich außerdem<br />

an die vielen Waffen und die strenge Hierarchie gewöhnen musste,<br />

lief alles reibungslos und freundschaftlich.<br />

Deutsche Kultur im <strong>Irak</strong> – <strong>ein</strong>e Eintagsfliege, oder ist das noch ausbaufähig?<br />

Das Bedürfnis nach Kulturaustausch in diesem kriegs- und krisengeschüttelten<br />

Land sch<strong>ein</strong>t so elementar wie das Bedürfnis nach Nahrung.


„Auch nach über zwei Jahren<br />

im <strong>Irak</strong> fühle ich mich hier noch<br />

sehr wohl.“<br />

A<br />

llerdings hat sich auch <strong>ein</strong> wenig Ernüchterung <strong>ein</strong>gestellt:<br />

Dass Dinge hier nach Plan und Zeitrahmen entwickelt werden<br />

könnten, ist leider <strong>ein</strong> Wunschtraum. Es ist gut, dass wir hier<br />

vor Ort sind. Bei der ausgeprägten Bürokratie in diesem Lande ginge es<br />

gar nicht anders. Gleichzeitig können wir deutsche Unternehmen aus<br />

erster Hand informieren, sind <strong>ein</strong> wichtiges Bindeglied zu Deutschland.<br />

Im <strong>Irak</strong> wächst ja die Erkenntnis, Dinge verändern zu müssen. Das po-<br />

litische Umfeld erweist sich dabei noch als Hemmschuh, aber die Privat-<br />

wirtschaft drängt. Ein wichtiger Ansatz, diesem Land zu helfen, liegt<br />

in der Entwicklung des Ausbildungssystems. Die Jugend steht in den<br />

Startlöchern, aber man lässt sie nicht zum Zuge kommen. Das Patriarchat<br />

der alten Generation lähmt die Entwicklung. Ich habe in <strong>ein</strong>er<br />

Schule in Basra <strong>ein</strong>mal in strahlende Kinderaugen gesehen. Das ist<br />

schon Grund genug, sich <strong>für</strong> dieses Land zu engagieren.<br />

Dr. Clemens von Olfers leitet seit 2009 das Deutsche Wirtschaftsbüro<br />

<strong>Irak</strong> in Bagdad. Träger des Büros, das sich als Brückenbauer zwischen dem<br />

irakischen und dem deutschen Markt versteht, ist MENA Projektpartner e.V.<br />

51


<strong>Irak</strong>ischer<br />

Ikarus<br />

„Als Dreijähriger bin ich vom Dach unseres Hauses gesprungen, weil<br />

ich fliegen wollte. Die Leute sagten, ich hätte nicht mehr alle Tassen im<br />

Schrank. Ich hab’ drauf gepfiffen. Menschen wie ich sind eben etwas<br />

merkwürdig.“<br />

Nariman Anwar, Flugzeugbauer, Pilot, Automechaniker.<br />

52<br />

N<br />

ariman Anwar steht in s<strong>ein</strong>er Autowerkstatt in Erbil und<br />

macht eigentlich <strong>ein</strong>en ganz bodenständigen Eindruck. Er ist<br />

34 Jahre alt, nicht besonders groß, aber kompakt. Über den<br />

öligen Fußboden eilt er vorbei an <strong>ein</strong>em aufgebockten Pick-up, springt<br />

<strong>ein</strong>e Treppe hoch und zeigt in <strong>ein</strong>en wohnzimmergroßen Raum.<br />

Rundgeschliffene Schablonen hängen an den Wänden, Aluminiumplatten<br />

liegen auf dem Boden. An der Seite klafft <strong>ein</strong> großes Loch. „Da<br />

habe ich das Fenster herausgenommen“, sagt Anwar, „damit der Flug-<br />

zeugflügel r<strong>ein</strong>passt.“<br />

In diesem Raum hat sich Nariman Anwar <strong>ein</strong>en Traum erfüllt. Hier<br />

hat er <strong>ein</strong> Flugzeug fabriziert, das wirklich fliegen kann. Mit ihm selbst<br />

am Steuerknüppel. Nach fast zwanzig Jahren voller Leidenschaft und<br />

Beharrlichkeit, mit Rückschlägen und hohen Kosten. Nariman Anwar<br />

ist k<strong>ein</strong> Irrer, aber <strong>ein</strong>en Besessenen kann man ihn schon nennen – den<br />

Mann, der das erste Flugzeug Kurdistans baute. Im Selbstversuch. Per<br />

Hand. Bis er am <strong>12</strong>. Juli 2010 endlich abhob in den Himmel über Erbil.<br />

Nariman Anwar zeigt den Jungfernflug auf s<strong>ein</strong>em Computer, unten<br />

in <strong>ein</strong>em winzigen Kabuff im hinteren Teil der Werkstatt. Eine kl<strong>ein</strong>e,<br />

<strong>ein</strong>motorige Maschine mit zwei Sitzen, gelb und rot gestrichen, hebt<br />

in der Abendsonne von <strong>ein</strong>em schmalen Streifen Asphalt ab und röhrt<br />

sich in die Höhe. Sie steigt und steigt. „Über 300 Meter hoch bin ich<br />

geflogen“, erinnert sich Anwar, „ohne Fallschirm und ohne Handy, da-<br />

mit mich niemand stört. Als ich wieder unten war, habe ich gew<strong>ein</strong>t.<br />

Vor Freude. Ich hatte immer gesagt: Eines Tages werde ich fliegen.


Und an diesem Tag konnte ich m<strong>ein</strong> Versprechen <strong>ein</strong>lösen.“ Auch die<br />

Menschen unten an der Landebahn hätten Tränen in den Augen gehabt.<br />

„Es war doch das erste kurdische Flugzeug überhaupt. Die Leute waren<br />

regelrecht geschockt, dass ich heil wieder nach unten kam. Viele hatten<br />

noch nie <strong>ein</strong> Flugzeug aus der Nähe gesehen. Und Typen wie ich wären<br />

unter Saddam doch umgebracht worden, da durfte man nicht <strong>ein</strong>fach Pilot<br />

werden. Und jetzt? Ich bin <strong>ein</strong> ganz normaler Typ aus <strong>ein</strong>er ganz nor-<br />

malen Familie, und ich habe so etwas geschafft.“<br />

Wie Nariman Anwar hatte auch s<strong>ein</strong> Vater <strong>ein</strong>e Autowerkstatt. Er besaß<br />

k<strong>ein</strong>e großen Reichtümer, verfügte über k<strong>ein</strong>e besonderen Beziehungen,<br />

aber er hatte diesen Sohn mit dem Flugzeugtick. Nariman Anwar kann<br />

sich den nicht wirklich erklären – „aber es ist eben so, und ich musste<br />

ihm folgen.“<br />

Die Werkstatt des Vaters war der ideale Ort da<strong>für</strong>. Mit 14 Jahren baut<br />

Nariman Anwar dort s<strong>ein</strong> erstes Flugzeug zusammen – <strong>ein</strong> ferngesteuer-<br />

tes Modell, fast zwei Meter lang. Wenig später tobt um ihn herum der<br />

Bürgerkrieg, er lötet derweil die nächsten Maschinen zurecht. „Letztlich<br />

alles Spielzeug“, sagt Anwar, „aber ich habe daran viel gelernt.“ Über<br />

die Grundlagen liest er in Büchern und im Internet, Freunde bringen ihm<br />

aus dem Ausland Flugzeugpläne mit, die er immer wieder verändert.<br />

Mal verschiebt er den Schwerpunkt, formt Nase und Flügel anders, pro-<br />

biert alles aus. Er biegt alles selbst zurecht, auch Flugbenzin mixt er<br />

sich zusammen. Er steckt s<strong>ein</strong> gesamtes Geld in diese Leidenschaft, und<br />

er kommt damit überhaupt nur durch, weil er 1997 s<strong>ein</strong>e eigene<br />

Werkstatt eröffnet. „Ich hatte <strong>ein</strong>fach große Hoffnung“, sagt<br />

Nariman Anwar. „Ich dachte immer: Irgendwann wird es <strong>ein</strong> rich-<br />

tiges Flugzeug s<strong>ein</strong>.“<br />

Doch daran wagt sich Nariman Anwar erst im Jahr 2006, nach <strong>ein</strong>er<br />

langen Zeit steten Tüftelns in den Stunden nach Feierabend. Er fühlt<br />

sich reif <strong>für</strong> die Fliegerei, macht <strong>ein</strong> Pilotentraining in der Türkei,<br />

absolviert in China <strong>ein</strong>en professionellen Kurs in Flugzeugbau, nimmt<br />

weitere Flugstunden – drei Monate kosten ihn 18.000 Dollar.<br />

Zurück in Erbil sammelt er drei Freunde um sich. Trotz des Embar-<br />

gos organisieren sie im Ausland wichtige Teile, aus großen Aluminium-<br />

platten schneiden sie die Bleche <strong>für</strong> Rumpf und Flügel, hämmern sie<br />

zusammen. Sie orientieren sich an bewährten, amerikanischen Kl<strong>ein</strong>flug-<br />

zeugen <strong>für</strong> besonders kurze Landebahnen, wandeln deren Pläne je-<br />

doch nach eigenen Vorstellungen ab.<br />

Drei Flugzeuge bauen sie vergebens. Beim ersten stimmt der<br />

Schwerpunkt nicht. Das zweite kommt mit dem Druck nicht zurecht.<br />

Das dritte ist zu schwer.<br />

Beim vierten spendiert <strong>ein</strong> Geschäftsmann 35.000 Dollar <strong>für</strong> den<br />

Motor samt Propeller und löst damit <strong>ein</strong>es der größten Probleme. Und<br />

dieses Flugzeug trägt Nariman Anwar schließlich in die Luft, nach<br />

<strong>ein</strong>em Jahr gewissenhaften Testens und Übens, auch mit Hilfe <strong>ein</strong>es<br />

deutschen Fluglehrers, am <strong>12</strong>. Juli 2010.<br />

Seitdem ist alles anders. War Nariman Anwar bis dahin <strong>für</strong> viele<br />

nur <strong>ein</strong> Verrückter, ist er nun ganz offiziell <strong>ein</strong> kurdischer Held. Vom<br />

Kommandeur der irakischen Luftwaffe bekam er <strong>ein</strong>en Orden. Und<br />

Massoud Barzani, der Präsident der Autonomen Region Kurdistan, ge-<br />

währt ihm Unterstützung. „Die Regierung steht hinter mir“, sagt<br />

Nariman Anwar, und man sieht ihm an, wie das die Sache erleichtert.<br />

Nicht dass er <strong>ein</strong> ganz anderer geworden wäre. Wie immer betreibt<br />

er s<strong>ein</strong>e Autowerkstatt. Wie immer bastelt er nach Feierabend ab 14 Uhr<br />

in s<strong>ein</strong>er Freizeit an Flugzeugen. Aber er hat <strong>ein</strong>e neue, große Halle<br />

bekommen im Stadtteil Harir, und s<strong>ein</strong>e drei Mitschrauber stehen jetzt<br />

auf der Gehaltsliste der Regierung. Wenn Nariman Anwar <strong>ein</strong>en neu-<br />

en Pilotenkurs in Russland besuchen möchte, wird ihm das bezahlt, und<br />

Massoud Barzani hat persönlich versucht, ihn <strong>für</strong> <strong>ein</strong> Praktikum bei<br />

Airbus unterzubringen. Daraus wurde zwar nichts, „aber wir haben Fall-<br />

schirme bekommen“, sagt Anwar, „das ist doch auch was.“<br />

Anwars erstes Flugzeug steht mittlerweile im Hangar, nur ab und<br />

an steigt s<strong>ein</strong> Schöpfer damit auf, um nicht aus der Übung zu kommen.<br />

S<strong>ein</strong>e aktuelle Leidenschaft gilt vielmehr ZAN, s<strong>ein</strong>em neuen Flugzeug,<br />

das so heißt wie <strong>ein</strong>e Ex-Freundin und das s<strong>ein</strong>en Vorstellungen<br />

„schon recht nahe“ kommt. Auch ZAN ist Handarbeit, ähnelt <strong>ein</strong>em<br />

amerikanischen Modell von 1987, aber Nariman Anwar will den ursprüng-<br />

lichen Zweisitzer zu <strong>ein</strong>em Viersitzer umbauen. „Man könnte da-<br />

mit Touristen herumfliegen, Polizisten könnten Kontrollflüge machen“,<br />

m<strong>ein</strong>t Nariman Anwar, „oder Bauern streuen damit Dünger auf<br />

ihre Felder.“ ZAN soll bis zu fünf Kilometer hoch fliegen, bis zu acht<br />

Stunden lang mit 250 km/h. Da<strong>für</strong> frickelt Anwar wieder an Flü-<br />

geln und Rumpf herum, so ganz ohne Risiko sei das nicht, aber er habe<br />

ja jetzt Erfahrung.<br />

Und was, nachdem auch ZAN abgehoben ist? Wird er später <strong>ein</strong>mal<br />

wirklich eigene Flugzeuge bauen? „Ich konstruiere ja schon <strong>ein</strong>en Zwei-<br />

sitzer um“, sagt Anwar, „und mal sehen, vielleicht werde ich irgendwann<br />

m<strong>ein</strong>e Maschinen vollständig selbst entwerfen.“ Was dann daraus<br />

wird, stehe allerdings noch in den Sternen. „Ich will aber ausprobie-<br />

ren, wie weit ich komme.“<br />

Anwars Träume sind groß. Er würde gern <strong>ein</strong> Zentrum <strong>für</strong> Flie-<br />

gerei und Flugzeugbau <strong>ein</strong>richten. S<strong>ein</strong>e Pläne <strong>für</strong> <strong>ein</strong>e Flugzeugfabrik<br />

ersch<strong>ein</strong>en utopisch, aber das war s<strong>ein</strong> Wunsch zu fliegen ja irgendwann<br />

auch.<br />

53


„Ich hatte wirklich Glück, dass ich in Erbil<br />

<strong>ein</strong>e Mitarbeiterin wie Nashmil Rahimi gefunden<br />

habe. Die gute Beziehung zwischen uns<br />

ist <strong>ein</strong>er der Gründe <strong>für</strong> den Erfolg des Wirt-<br />

schaftsbüros. Mit ihr an m<strong>ein</strong>er Seite weiß<br />

ich um die kulturellen F<strong>ein</strong>heiten der Region<br />

und sie vermittelt die deutschen Ansprüche.<br />

Während sie ihre Landsleute dazu anhält, die<br />

Arbeit nicht allzu lässig zu nehmen, erkläre<br />

ich den Deutschen, warum ihre Mails nicht in-<br />

nerhalb 24 Stunden beantwortet werden.“<br />

Volker Wildner leitet seit 2010 das Deutsche Wirtschaftsbüro Erbil, das<br />

deutsche Unternehmen dabei unterstützt, Handelsbeziehungen im Norden<br />

des <strong>Irak</strong>s auf- und auszubauen.<br />

54


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„Das Glück<br />

der <strong>Irak</strong>er ist<br />

ihr Unglück“<br />

Bagdad, Bayreuth, deutsche Betten. Das Schicksal m<strong>ein</strong>te es mit Abbas<br />

Khider nicht immer nur gut. Dem Schriftsteller Jan Brandt verrät er s<strong>ein</strong>e<br />

Überlebensstrategien: Licht in der Dunkelheit finden / Widerstand leisten<br />

mit Witzen / Schreiben<br />

H<br />

err Khider, in Ihrem zweiten Roman „Die Orangen des Präsidenten“<br />

erzählen Sie die Geschichte <strong>ein</strong>es jungen Mannes, der zu<br />

Unrecht im Gefängnis landet; <strong>ein</strong>e wahre Geschichte, wie es im<br />

Untertitel heißt. Was hat es damit auf sich?<br />

Es ist nicht m<strong>ein</strong>e Geschichte. Ich war zwar wie der Held des Bu-<br />

ches, Mahdi Muhsin, zwei Jahre im <strong>Irak</strong> inhaftiert, aber aus politischen<br />

Gründen, nicht aufgrund <strong>ein</strong>es Irrtums. Trotzdem ist alles, was ich in<br />

dem Buch schreibe, wahr. Zum Beispiel gab es am 28. April, an Saddam<br />

Huss<strong>ein</strong>s Geburtstag, tatsächlich oft <strong>ein</strong>e Amnestie <strong>für</strong> alle Gefange-<br />

nen. Im Roman erhalten sie jedoch nicht ihre Entlassungspapiere, son-<br />

dern Blutorangen.<br />

Warum verwehren Sie Ihren Figuren die Freiheit?<br />

Ich wollte über Menschen schreiben, die melancholisch sind. Die<br />

Melancholie gehört fest zur irakischen Identität. Die <strong>Irak</strong>er haben <strong>ein</strong>e<br />

lange Geschichte, angefangen mit den Sumerern, aber der Staat <strong>Irak</strong><br />

ist sehr jung, <strong>ein</strong> künstliches Gebilde, geschaffen von den Briten, und<br />

seitdem haben die <strong>Irak</strong>er nur schlechte Zeiten erlebt, <strong>ein</strong>en Krieg<br />

nach dem anderen. Und das be<strong>ein</strong>flusst natürlich auch die Mentalität.<br />

Obwohl Ihr Roman von Folter und Tod handelt, von Macht und<br />

Unterdrückung, Diktatur und Armut, zeichnet er sich doch, gerade<br />

in diesen bitteren Pointen wie mit den Blutorangen, durch <strong>ein</strong>en<br />

sehr abgründigen Humor aus.<br />

Das Glück der <strong>Irak</strong>er ist ihr Unglück. Das habe ich während des <strong>Irak</strong>-<br />

Iran-Krieges gemerkt. Manchmal habe ich mich gefragt: Wie kann man<br />

s<strong>ein</strong>en Alltag weiterführen, während an der Front pausenlos Leute<br />

sterben? Aber es geht gar nicht anders. Menschen sind nicht die ganze<br />

Zeit traurig. Und diese ganz spezielle Form von Glück erlebt man<br />

nur im Krieg, im Gefängnis, auf der Flucht. Das ist das Licht im Dunkeln:<br />

das Glück, am Leben zu s<strong>ein</strong>.<br />

Wie zeigt sich das im Gefängnis, wenn man nicht weiß, warum man <strong>ein</strong>sitzt<br />

und wie lange es dauern wird?<br />

Im Gefängnis gibt es Regeln, und solange man sich daran hält, hat<br />

man Ruhe. Und dann kann man lachen und Witze machen und dadurch<br />

Widerstand leisten, wie in der Anfangsszene von „Die Orangen des<br />

Präsidenten“, die Szene mit dem Trauerlachen, als Mahdi die Schläge<br />

und Tritte der Aufseher mit <strong>ein</strong>em Lachen erwidert. Beim Schreiben<br />

habe ich diese Momente der Schönheit gesammelt.<br />

Provoziert nicht das Lachen noch mehr Gewalt?<br />

Ja, aber man hat wenigstens das Gefühl, etwas zu tun. Insgesamt<br />

war ich elf Mal im Gefängnis, erst im <strong>Irak</strong> und später auf der Flucht<br />

in Libyen, Tunesien, der Türkei, Griechenland, Italien und Deutsch-<br />

land, vor allem wegen fehlender Aufenthaltsgenehmigungen; ich habe<br />

Kriege erlebt und Revolutionen, die gescheitert sind, und immer<br />

dachte ich: Du bist schwach und wehrlos. Mit der Sprache habe ich<br />

<strong>ein</strong>e Waffe gefunden, dagegen anzukämpfen. Die Literatur verleiht<br />

denen, die k<strong>ein</strong> Gehör finden, <strong>ein</strong>e Stimme. Ich weiß, dass das naiv ist,<br />

aber ich hoffe trotzdem, mit m<strong>ein</strong>en Büchern die Welt zu verändern.<br />

War das <strong>ein</strong> Auslöser <strong>für</strong>s Schreiben?<br />

Als ich 14 Jahre alt war, habe ich m<strong>ein</strong> erstes Gedicht geschrieben,<br />

auf Arabisch, das war in Bagdad. Damals war alles, was man tat, straf-<br />

bar. Es gab viele verbotene Bücher, und das machte Lesen und Schrei-<br />

ben zu <strong>ein</strong>em Akt der Rebellion. Und ich dachte, wenn <strong>ein</strong> Instrument<br />

wie die Zensur nötig ist, dann muss die Literatur mächtig s<strong>ein</strong>, dann<br />

muss in ihr doch das Potenzial stecken, <strong>ein</strong> Regime zu Fall zu bringen<br />

und das Unrecht zu beseitigen.<br />

Hat man Sie deswegen inhaftiert, wegen des Schreibens?<br />

Ich komme aus <strong>ein</strong>em besonderen, hässlichen Stadtviertel; es be-<br />

steht aus 88 Wohnblöcken und hieß ursprünglich Revolution City.<br />

Anfangs lebten dort Bauern aus dem Süden, Zugezogene, arme<br />

Leute, viele Kommunisten, die 1979 gegen Saddam protestiert haben.<br />

Saddam hat den Aufstand niedergeschlagen und den Namen des<br />

Viertels in Saddam City geändert. Damals beherrschte tagsüber die<br />

Polizei die Gegend, aber nachts regierten wir. Als junger Mann<br />

habe ich viele Mitglieder verbotener Parteien kennengelernt, und<br />

weil ich Geld brauchte, habe ich Bücher auf der Straße verkauft,<br />

völlig legal, offizielle Literatur, Tolstoi, Dostojewski, und darüber habe<br />

ich Leute getroffen, die mich gefragt haben, ob ich auch Verbotenes<br />

verkaufen würde, Marx, Engels und Schriften der Islamisten, Flugblätter,<br />

und ich sagte: Okay, ich bin bereit, und irgendwann hat mich<br />

der Geheimdienst erwischt. Zwei Jahre später, 1995, an Saddams Geburts-<br />

tag, kam die Amnestie.<br />

Sind Sie dann gleich aus dem Land geflohen?<br />

Das hat <strong>ein</strong>ige Monate gedauert. Ich musste mich ja <strong>ein</strong>mal pro Wo-<br />

che bei der Polizei melden, studieren durfte ich nicht mehr, stattdessen<br />

wollte man mich als Soldat ausbilden und an die Front schicken.<br />

Mitte der 1990er Jahre herrschte aber doch ausnahmsweise mal<br />

Frieden im <strong>Irak</strong>.<br />

Ja, aber es gab <strong>ein</strong> Embargo, und die Generäle, die alle irgendwie zu Sad-<br />

dams Familie gehörten, sind Unternehmer geworden und haben große<br />

57


Geschäfte gemacht, und das Land total zerstört, kulturell, die Liebe zwi-<br />

schen Menschen, den Respekt. In der Zeit sind Millionen ausgewandert.<br />

Sie auch.<br />

Anfangs habe ich mich versteckt und mir <strong>ein</strong>en gefälschten Rei-<br />

sepass besorgt. Über Afrika, Asien und die arabische Welt bin ich<br />

schließlich in Europa gelandet, bis man mich in Ansbach wieder<br />

verhaftet hat und ich Asyl beantragen konnte. Da hat m<strong>ein</strong> Leben<br />

langsam angefangen.<br />

Haben Sie selbst im <strong>Irak</strong> schon Literatur veröffentlicht?<br />

N<strong>ein</strong>, das wäre nicht möglich gewesen. M<strong>ein</strong> erstes Buch, <strong>ein</strong> Gedichtband<br />

mit dem Titel „Chronik der verlorenen Zeit“, ist erst 2002<br />

in Beirut erschienen. Da gibt es <strong>ein</strong>e schöne Geschichte: Früher ha-<br />

be ich nur Gedichte geschrieben, manchmal betrunken, manchmal mit<br />

Freunden, manchmal habe ich die Gedichte wieder verloren, aber im-<br />

mer war da diese Begeisterung <strong>für</strong> Poesie. Das titelgebende Gedicht<br />

„Chronik der verlorenen Zeit“ ist 1997 in Libyen entstanden. Drei Jahre<br />

später lebte ich in Bayreuth, in <strong>ein</strong>em Asylantenheim.<br />

Bayreuth?<br />

Ja, in Bayern.<br />

Ich mag den Gleichklang von Beirut und Bayreuth; <strong>ein</strong> größerer Gegensatz<br />

ist wohl kaum denkbar.<br />

Das stimmt.<br />

Wie sind Sie Schriftsteller geworden?<br />

In diesem Asylantenheim in Bayreuth sagte <strong>ein</strong> Mann, auch <strong>ein</strong> Exil-<br />

iraker, zu mir: „Da hat jemand <strong>ein</strong> Gedicht an die Wand m<strong>ein</strong>es Zimmers<br />

geschrieben, willst du es lesen?“ Ich bin mitgegangen, und es war<br />

dieses Gedicht von mir, „Chronik der verlorenen Zeit“. Und da wusste<br />

ich, ich muss Schriftsteller werden.<br />

Warum schreiben Sie jetzt auf Deutsch? Schließlich ist das nicht Ihre<br />

Muttersprache.<br />

Ich hatte k<strong>ein</strong> Publikum. Ich lebte im Exil und schrieb von dort aus<br />

auf Arabisch gegen die Diktatur im <strong>Irak</strong>. Ich konnte zwar schreiben,<br />

was ich wollte, aber ich habe niemanden damit erreicht, weil die<br />

Bücher in m<strong>ein</strong>em Heimatland verboten waren.<br />

Wann haben Sie Deutsch gelernt?<br />

Ich habe Sprachkurse in Bayreuth besucht, aber <strong>ein</strong>e fremde Sprache lernt<br />

man nicht an <strong>ein</strong>er Schule, sondern im Bett. Beziehungen spielen <strong>ein</strong>e<br />

große Rolle, weil der Druck, sich verständlich zu machen, viel größer ist.<br />

Lebt Ihre Familie noch im <strong>Irak</strong>?<br />

Bis auf <strong>ein</strong>en Bruder, der in München wohnt, und m<strong>ein</strong>e Schwester,<br />

die gestorben ist, sind alle noch da, m<strong>ein</strong>e sechs Geschwister und de-<br />

ren Familien.<br />

Wie war das <strong>für</strong> Sie, als 2003 <strong>ein</strong> neuer Krieg ausbrach und Truppen unter<br />

Führung der Ver<strong>ein</strong>igten Staaten von Amerika ins Land <strong>ein</strong>marschierten?<br />

Bis George W. Bush gesagt hat, „mission accomplished“, konnte ich<br />

niemanden erreichen. Ich habe die ganze Zeit vor dem Fernseher geses-<br />

sen. Ich war gegen den Krieg, aber auch gegen Saddam. Ich war hilflos.<br />

Und dann musste ich mit ansehen, wie sie versuchten, <strong>ein</strong>e Demokratie<br />

ohne Demokraten zu gründen. Demokratie ist k<strong>ein</strong>e Maschine,<br />

die man in <strong>ein</strong>em Land <strong>ein</strong>fach installieren kann, das muss aus der<br />

Gesellschaft heraus entstehen.<br />

58<br />

Sind Sie noch <strong>ein</strong>mal nach Bagdad zurückgekehrt?<br />

Ja, direkt im Anschluss an den Krieg, das war seit 1996 zum ersten<br />

Mal. Ich wollte auch dort bleiben, aber es gab nur Probleme: Das<br />

Leben im <strong>Irak</strong> ist zu gefährlich geworden. Man wusste nicht mehr, wer<br />

F<strong>ein</strong>d und wer Freund ist, man konnte sich nicht mehr frei bewegen.<br />

Einmal habe ich <strong>ein</strong>en Bombenanschlag aus dem Taxi heraus miterlebt,<br />

plötzlich gab es <strong>ein</strong>en Knall, dann war Rauch da, und um uns herum<br />

zerstörte Häuser und tote Menschen. M<strong>ein</strong>e Schwester und ihre drei<br />

Kinder sind bei <strong>ein</strong>em solchen Anschlag ums Leben gekommen.<br />

Ist Frieden im <strong>Irak</strong> möglich?<br />

Ich warte immer noch auf die Revolution in Syrien. Wenn das klappt,<br />

träume ich davon, dass sich das politische System im <strong>Irak</strong> ändert. So wie<br />

es jetzt ist, haben die <strong>Irak</strong>er k<strong>ein</strong>e Zukunft. Solange al-Assad an der<br />

Macht ist, wird auch das Morden im <strong>Irak</strong> weitergehen. Sollte die Oppo-<br />

sition in Damaskus an die Macht kommen, wird das auch die demo-<br />

kratischen Kräfte in Bagdad stärken.<br />

Würden Sie dann auch in den <strong>Irak</strong> zurückziehen, oder ist es wie mit<br />

den Tauben in Ihrem Roman, die <strong>ein</strong>e neue Heimat gefunden haben und<br />

in ihrem Schlag bleiben?<br />

Heimat, da geht es um <strong>ein</strong>e Idee oder <strong>ein</strong>e Kultur. Die arabische<br />

Welt ist m<strong>ein</strong>e Heimat. Der <strong>Irak</strong> ist <strong>ein</strong> politisches Konstrukt, das mich<br />

nie interessiert hat. Heimat könnte aber auch <strong>ein</strong>e Frau s<strong>ein</strong>, Liebe,<br />

Freunde, gute Menschen oder <strong>ein</strong> Buch. Literatur ist die größte Heimat:<br />

Da<strong>für</strong> braucht man nicht <strong>ein</strong>mal <strong>ein</strong> Visum.<br />

Abbas Khider, geboren 1973 in Bagdad. Nachdem er wegen politischer<br />

Aktivitäten zwei Jahre in <strong>ein</strong>em irakischen Gefängnis verbrachte, floh er über<br />

Jordanien, Ägypten, Libyen, Tschad, Tunesien, Türkei, Griechenland nach<br />

Deutschland. In München und Potsdam studierte er Literaturwissenschaft<br />

und Philosophie. 2002 erhielt er die deutsche Staatsbürgerschaft. S<strong>ein</strong><br />

erster Roman, „Der falsche Inder“, in dem er das Schicksal <strong>ein</strong>es politisch<br />

verfolgten <strong>Irak</strong>ers beschreibt, erschien 2008 bei der Edition Nautilus, s<strong>ein</strong><br />

zweiter Roman, „Die Orangen des Präsidenten“, <strong>2011</strong>. S<strong>ein</strong> Werk wurde mit<br />

dem Alfred-Döblin-Stipendium, <strong>ein</strong>em Stipendium des Deutschen Litera-<br />

turfonds und dem Adalbert-von-Chamisso-Förderpreis ausgezeichnet. Im<br />

Herbst <strong>2011</strong> war er Stipendiat der Villa Aurora in Los Angeles.<br />

Jan Brandt, geboren 1974 in Leer, studierte Geschichte und Lite-<br />

raturwissenschaft in Köln, London und Berlin und besuchte die Deutsche<br />

Journalistenschule in München. S<strong>ein</strong> erster Roman „Gegen die Welt“<br />

erschien <strong>2011</strong> im DuMont Literaturverlag und wurde <strong>für</strong> die Shortlist<br />

des Deutschen Buchpreises nominiert.


„Freedom is just another word<br />

for nothing left to lose“<br />

E<br />

gal, was ich mache, mir geht es immer um die Menschen,<br />

ob nun im <strong>Irak</strong>, im Kosovo oder im Knast. Es geht nicht darum,<br />

was man tut, sondern dass man etwas tut. Und was ich am<br />

besten kann, ist, mich auf <strong>ein</strong>e Bühne zu stellen und zu singen. Ich halte<br />

es da mit Johnny Cash. Man muss <strong>ein</strong>fach singen, vor allem <strong>für</strong> die,<br />

denen die Sonne gerade nicht ins Gesicht sch<strong>ein</strong>t. Für die Bundeswehr-<br />

Soldaten im Kosovo habe ich damals den Song „Es steht <strong>ein</strong> Haus im<br />

Kosovo“ geschrieben. Ich mache das nicht aus Publicity-Gründen und<br />

ich unterstütze auch k<strong>ein</strong>e nationalistischen Gedanken. Diese Kerner-<br />

und-Guttenberg-Show in Afghanistan fand ich zum Beispiel total dane-<br />

ben. Ich spiele <strong>für</strong> die Bundeswehr und ich spiele ebenso <strong>für</strong> die US-<br />

Boys im <strong>Irak</strong> – und natürlich erst recht <strong>für</strong> die Mädels. Im Sommer 2008<br />

bin ich nach Erbil gefahren und habe dort <strong>ein</strong> Konzert <strong>für</strong> die Amis<br />

gegeben, die dort unten ihren Kopf hinhalten müssen. Das sind ja eigent-<br />

lich alles arme Schw<strong>ein</strong>e, die nichts da<strong>für</strong> können, dass irgend<strong>ein</strong><br />

Präsident zum Krieg bläst. All<strong>ein</strong> die Reise in den <strong>Irak</strong> war <strong>ein</strong> Abenteuer.<br />

Wir sind damals mit <strong>ein</strong>em alten, klapprigen Taxi vom türkischen<br />

Flughafen Diyarbakır über die Grenze quer durch Kurdistan gefahren.<br />

Das Konzert war jedes Schlagloch wert. Als ich „Freedom is just<br />

another word for nothing left to lose“ gespielt habe, sind alle GIs auf-<br />

gestanden und haben laut mitgesungen. Nur wenn man sich die<br />

Dinge mit eigenen Augen anschaut, kann man wirklich etwas erfahren.<br />

Ich würde sofort und jederzeit wieder im <strong>Irak</strong> auftreten.<br />

Drei Tage Kurdistan, <strong>ein</strong> Konzert. Im Sommer 2008 spielte der Country-<br />

sänger Gunter Gabriel in Erbil groß auf. Zur Zeit tourt er mit s<strong>ein</strong>em Musical<br />

„Hello, I’m Johnny Cash“ durch Deutschland.<br />

59


60<br />

„Früher war immer jemand vom<br />

Geheimdienst dabei“<br />

W<br />

ir machen seit drei Generationen Geschäfte mit dem <strong>Irak</strong>.<br />

Dabei arbeiten wir eng mit <strong>ein</strong>er Familie aus Bagdad zusammen,<br />

die unsere Technik im <strong>Irak</strong> bekannt macht und die<br />

Aufträge akquiriert. Schon die Großvätergeneration hat <strong>für</strong> uns den<br />

Kontakt zu den Kunden gehalten, dann haben deren Söhne über-<br />

nommen, und jetzt wird die nächste Generation in das Geschäft <strong>ein</strong>gear-<br />

beitet. Wenn ich überlege, was sich in dieser Zeit verändert hat, fällt<br />

mir als erstes <strong>ein</strong>: Früher war immer jemand vom Geheimdienst dabei,<br />

wenn unsere Partner nach Berlin gekommen sind. Der hatte immer<br />

<strong>ein</strong>en Schnurrbart, genau wie Saddam Huss<strong>ein</strong>.<br />

Heute merkt man, dass viele <strong>Irak</strong>er religiöser geworden sind. Wenn<br />

wir <strong>ein</strong>en größeren Vertrag im <strong>Irak</strong> abschließen, ist darin meistens <strong>ein</strong><br />

Schulungsprogramm enthalten. Dann kommen die Leute, die später<br />

die Notstromaggregate bedienen sollen, <strong>für</strong> 14 Tage nach Berlin. Da wird<br />

dann um acht Uhr früh gem<strong>ein</strong>sam gebetet, was wir gar nicht kannten.<br />

Früher waren die Menschen etwas offener <strong>für</strong> unsere Kultur. Wenn wir<br />

gem<strong>ein</strong>sam essen gegangen sind, haben die <strong>Irak</strong>er auch mal deutsche<br />

Gerichte ausprobiert. Heute müssen es immer bestimmte arabische<br />

Restaurants s<strong>ein</strong>. Damals war alles etwas lässiger. Ob das jetzt negativ<br />

ist oder nicht, will ich gar nicht beurteilen.<br />

Vor dem Krieg bin ich häufig nach Bagdad gereist. Auch da war zu<br />

beobachten, dass der <strong>Irak</strong> <strong>ein</strong>mal säkularer war. Wir sind bis Amman<br />

geflogen und mit dem Taxi weiter nach Bagdad. 200 Dollar hat die<br />

Fahrt etwa gekostet. Es gab dann immer Bestellungen, bei den Frauen<br />

waren das meistens Handarbeitszeitschriften, die wir in speziellen<br />

Läden in Amman gekauft haben. Da saßen dann Leute, die jede europä-<br />

ische Zeitschrift durchgeblättert und alle Seiten mit nackten Brüsten<br />

rausgerissen haben. Erst dann durften wie sie mitnehmen.<br />

Was auch kurios war: Vor dem Krieg habe ich im Al-Rashid in Bag-<br />

dad übernachtet, das war das Ausländerhotel. Da war im Eingangsbereich<br />

<strong>ein</strong> großes Mosaik mit dem Gesicht von George Bush auf dem<br />

Fußboden – der US-Präsident, der 1991 den ersten Krieg gegen den <strong>Irak</strong><br />

geführt hat. Sie wissen ja: Im <strong>Irak</strong> ist es <strong>ein</strong> Zeichen der Verachtung,<br />

von Schuhen berührt zu werden. Als die Amerikaner unter George W.<br />

Bush dann zum zweiten Mal in den <strong>Irak</strong> <strong>ein</strong>marschiert sind, hat der<br />

das Mosaik s<strong>ein</strong>es Vaters mitnehmen lassen.<br />

Aber zurück zu heute. Ich habe vorhin gesagt, dass die <strong>Irak</strong>er früher<br />

wissbegieriger waren und offener. Ein bisschen muss ich das korrigieren.<br />

Wenn sie nach Berlin hierherkommen, haben sie doch auch viele<br />

Wünsche. Können wir mal <strong>ein</strong>en Abstecher nach Paris machen? Hier-<br />

oder dorthin? Und wir organisieren das dann übers Wochenende.<br />

Manchmal fahren wir auch nach Hamburg oder München und verbinden<br />

das mit <strong>ein</strong>em Besuch bei den Herstellern, die uns die Generatoren<br />

oder Schaltanlagen liefern. Wir sind auch schon zusammen ins Varieté<br />

oder ins Museum gegangen. Das wurde sehr gern angenommen. Teil-<br />

weise waren das Menschen, die zum ersten Mal in ihrem Leben aus dem<br />

<strong>Irak</strong> herausgekommen sind. Da war dann schon <strong>ein</strong> umfangreicher<br />

Begeisterungseffekt zu beobachten.<br />

Axel Kraft ist Inhaber und Geschäftsführer der H<strong>ein</strong>kel Umwelttechnik +<br />

Energieanlagen GmbH in Berlin-R<strong>ein</strong>ickendorf. Das Unternehmen mit 21<br />

Angestellten konstruiert Notstromaggregate und erzielt 20 Prozent sei-<br />

nes Umsatzes im <strong>Irak</strong>.


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Herr Salah<br />

Ahmad, wie<br />

geht es der<br />

irakischen<br />

Seele?<br />

Was Sie vielleicht zuerst über mich wissen sollten: Vor über 30 Jah-<br />

ren habe ich m<strong>ein</strong> Land, den <strong>Irak</strong>, und damit m<strong>ein</strong>e Familie und<br />

Freunde verlassen müssen. Nach den ersten demokratischen Wahlen<br />

kehrte ich im Januar 2005 in den <strong>Irak</strong> zurück, um in m<strong>ein</strong>er Hei-<br />

matstadt Kirkuk <strong>ein</strong> Rehabilitationszentrum <strong>für</strong> Opfer von schweren<br />

Menschenrechtsverletzungen zu gründen. Wir waren damals froh,<br />

dass das alte Regime entmachtet war. Viele Menschen, <strong>Irak</strong>er und Nicht-<br />

<strong>Irak</strong>er, wollten das Land wieder aufbauen. Aus diesem Traum wurde<br />

nichts. Terror, Angst, Gewalt, alles, was wir nicht mehr erwartet hatten,<br />

beherrschen den Alltag dort. Wie damals unter der Herrschaft Sad-<br />

dam Huss<strong>ein</strong>s, als der <strong>Irak</strong> <strong>ein</strong> großes Gefängnis war, in dem sehr viele<br />

Seelen zerstört wurden.<br />

62


Zara<br />

Wir hatten unser Zentrum noch gar nicht richtig geöffnet und reno-<br />

vierten gerade das Haus. Eines Tages fragte <strong>ein</strong> älterer Mann nach mir,<br />

der nur aus Haut und Knochen bestand. Woher er m<strong>ein</strong>en Namen<br />

und die Adresse hatte, weiß ich nicht. Wir waren ja noch nicht sehr<br />

bekannt damals. Er sagte: Ich habe <strong>ein</strong> großes Problem, du musst<br />

mir helfen.<br />

Er setzte sich und fing an zu erzählen.<br />

„Es ist lange, sehr lange her, da haben sie m<strong>ein</strong>en Sohn und m<strong>ein</strong>e<br />

zwei Töchter mitgenommen. Als dann die Gefängnisse geöffnet wurden,<br />

bin ich hingegangen, um m<strong>ein</strong>e Kinder wiederzufinden. Es wurde<br />

mir gesagt, dass sie getötet wurden. Da habe ich <strong>ein</strong>e Frau gesehen mit<br />

drei Kindern, sie sahen ängstlich und verwahrlost aus. Lange habe<br />

ich sie beobachtet. Niemand kam zu ihnen. So habe ich die Mutter an-<br />

gesprochen und es dauerte lange, bis sie antwortete. Sie hat mich<br />

verstanden, sie sprach Kurdisch. Sie kam aus <strong>ein</strong>em Dorf nicht weit von<br />

unserem. Ich wusste aber, dass das Dorf zerstört war wie Tausende<br />

andere. Die Kinder waren so verstört, dass ich mit ihnen nicht sprechen<br />

konnte. Ich habe sie nach Hause mitgenommen. Ich sagte m<strong>ein</strong>er<br />

Frau, unsere Kinder sind tot, aber ich habe dir andere mitgebracht.<br />

Es war k<strong>ein</strong>e gute Idee. In der Nacht schreien alle und w<strong>ein</strong>en, das<br />

Bett der Kinder ist immer nass.“<br />

Die Mutter dieser Kinder hieß Zara. Als ich sie auf Bitten dieses Man-<br />

nes traf, war sie dünn, blass und hatte schwarze Augenränder. Sie hatte<br />

schöne braune Augen, die nur Traurigkeit ausstrahlten. Ich habe sie<br />

die „lebendige Tote“ genannt. Sie wurde m<strong>ein</strong>e erste Patientin in Kirkuk<br />

und <strong>ein</strong>e der größten Herausforderungen m<strong>ein</strong>er Berufskarriere.<br />

Zara war 14 Jahre alt, als sie mit ihrer Mutter vom Geheimdienst ab-<br />

geholt wurde. Die beiden Brüder und ihr Vater waren nicht da, so wurden<br />

sie stattdessen festgenommen. Kurz darauf starb ihre Mutter, sie hat<br />

die Folterungen nicht überlebt. Das junge Mädchen musste <strong>für</strong> die Poli-<br />

zisten zur Verfügung stehen, wann immer sie wollten. Nach 14 Jahren<br />

im Gefängnis hatte sie mehrere Abtreibungen und drei Geburten hinter<br />

sich. Erst nach über <strong>ein</strong>em Jahr intensiver Therapie habe ich Zara<br />

das erste Mal lächeln sehen. Ihre Kinder gingen später zur Schule und<br />

leben heute <strong>ein</strong> fast normales Leben. Dennoch weiß ich bis heute<br />

nicht, ob <strong>ein</strong> Mensch nach so viel Gewalt und Unmenschlichkeit noch<br />

<strong>ein</strong>e Seele hat.<br />

Saddams Vermächtnis<br />

Seit Zara haben wir über 7.500 Menschen behandelt, viele von ihnen<br />

schwer traumatisiert. Immer wieder habe ich mir die Frage gestellt, wie<br />

viele Menschen es in diesem Land gibt, die seelisch zerstört worden<br />

sind. Wie viele Frauen unter den unbewältigten Erlebnissen ihrer Män-<br />

ner leiden. Wie viele Kinder die Aggressionen ihrer Eltern erdulden.<br />

Ich habe in den vergangenen sechs Jahren mehr komplizierte Fälle ge-<br />

habt als in den 15 Jahren als Therapeut <strong>für</strong> traumatisierte Flüchtlinge<br />

in Berlin. Im <strong>Irak</strong>, und besonders in m<strong>ein</strong>er Heimatstadt Kirkuk, begeg-<br />

nen wir Menschen, die Geschichten erzählen, wie sie sonst nur in<br />

Gruselfilmen zu sehen sind. Einmal wollte ich das Handtuch werfen und<br />

mit der Arbeit aufhören. An dem Tag war die Stadt wie ausgestorben<br />

und Angst war Herr der Lage. Die Ungewissheit und Unsicherheit lag<br />

wie <strong>ein</strong> Schatten über Kirkuk. Ich konnte nur weitermachen, weil ich<br />

mir sagte, dass ich aushalten muss, was m<strong>ein</strong>e Patienten seit Jahren aus-<br />

halten. Wie Herr Baram, der neun Jahre und sieben Monate im Ge-<br />

fängnis verbrachte, ohne jemals den Grund <strong>für</strong> s<strong>ein</strong>e Inhaftierung zu<br />

erfahren. Jeden Termin nahm er pünktlich wahr. Nur <strong>ein</strong>mal rief er<br />

an: Herr Doktor, in unserer Straße ist <strong>ein</strong>e Bombe explodiert, ich werde<br />

mich leider etwas verspäten.<br />

Als der <strong>Irak</strong> 1924 gegründet wurde, gab es die heutige Grenze nicht.<br />

Die kolonialistischen Engländer waren nicht daran interessiert, wie das<br />

Land aussehen soll. Wichtig war ihnen nur, dass sie den <strong>Irak</strong> weiter<br />

regieren können. Die Gründung des <strong>Irak</strong>s war die künstliche Geburt<br />

<strong>ein</strong>es Staates ohne Zusammenhang. Die Kurden, die eigentlich <strong>ein</strong>en<br />

eigenen Staat anstrebten, wurden zwangsweise in das künstliche Ge-<br />

bilde aufgenommen. Seitdem gibt es Aus<strong>ein</strong>andersetzungen und Kriege.<br />

Über die Jahre hat es die Regierung in Bagdad geschafft, das Volk da-<br />

zu anzutreiben, sich gegenseitig zu hassen und zu verfolgen. Die Diktatur<br />

Saddam Huss<strong>ein</strong>s und der Baathpartei hat das gesamte Land und s<strong>ein</strong>e<br />

Menschen verändert.<br />

Wenn <strong>ein</strong> Mensch Gewalt durch andere Menschen erleidet, bleiben<br />

die Verletzungen nicht nur oberflächlich, sondern gehen sehr tief und<br />

erreichen s<strong>ein</strong>e Seele. Oft verliert der Mensch so s<strong>ein</strong> seelisches<br />

Gleichgewicht und verhält sich danach nicht mehr wie früher. So ist<br />

es auch mit diesem Land. Das Misstrauen gegenüber anderen und<br />

gegenüber dem Staat sitzt tief. Durch die andauernden Enttäuschungen<br />

fällt es den Menschen schwer, an Veränderung zu glauben und ihr Le-<br />

ben in die Hand zu nehmen. Besonders in Kirkuk, aber auch in den von<br />

den so genannten „Anfal“-Operationen betroffenen Gebieten Kurdistans<br />

ersch<strong>ein</strong>en viele Menschen müde und gleichgültig. So schützt sich<br />

die Seele vor weiteren Verletzungen. Erst langsam und zaghaft begin-<br />

nen die Menschen an Veränderung zu glauben.<br />

Hoffnung<br />

Wenn ich heute durch die kurdischen Gebiete reise und die großen<br />

Städte besuche, dann denke ich, es ist gut, dass die Hoffnung zuletzt<br />

stirbt. Was die Bevölkerung im Norden des Landes in den vergange-<br />

nen acht Jahren aufgebaut hat, ist unglaublich. Während in vielen Teilen<br />

des <strong>Irak</strong>s und gerade in Kirkuk bis heute Terror und Unsicherheit<br />

herrschen, hat sich in den kurdischen Gebieten sehr vieles zum Posi-<br />

tiven verändert. Seit 2009 gibt es <strong>ein</strong>e politische Opposition. Zum<br />

ersten Mal gibt es die politische Freiheit und die finanziellen Mittel,<br />

allen Bürgern Zugang zu Bildung zu verschaffen. Erst kürzlich wur-<br />

de häusliche Gewalt unter Strafe gestellt. Bis auf wenige Ausnahmen<br />

herrscht Presse- und M<strong>ein</strong>ungsfreiheit, die Region Kurdistan ist <strong>ein</strong><br />

positives Beispiel im Nahen Osten geworden. Dies sind große Schritte<br />

auf dem Weg zu <strong>ein</strong>er stabilen demokratischen Gesellschaft. Und<br />

dies hat auch Auswirkungen auf die Menschen.<br />

In der Arbeit stellen wir jeden Tag fest, wie Menschen wieder auf-<br />

blicken, zur Ruhe kommen, Luft schnappen. Ehepartner finden wieder<br />

zu<strong>ein</strong>ander, Familien finden Frieden. Einzelne geben ihre Rachege-<br />

danken auf. Frauen fühlen sich zum ersten Mal verstanden und treffen<br />

auf Frauen mit ähnlichen Problemen. Unsere Zentren sind Orte der<br />

Ruhe und Erholung, wo man auch mal im Garten die Seele baumeln las-<br />

sen kann. Ich denke da an <strong>ein</strong>e Patientin, die unsere Einrichtung als<br />

heilig bezeichnete und als etwas, das ihr bisher verwehrt geblieben war.<br />

Doch trotz all der positiven Entwicklungen und Rückmeldungen<br />

sind diese Arbeit und dieses Land nicht auf der sicheren Seite. Es wäre<br />

fatal, die Aufarbeitungs- und Demokratisierungsprozesse nicht weiter<br />

zu begleiten und zu unterstützen. Wir stehen erst ganz am Anfang <strong>ein</strong>es<br />

langen Genesungsprozesses.<br />

Salah Ahmad ist Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut und Fami-<br />

lientherapeut im Berliner Behandlungszentrum <strong>für</strong> Folteropfer. Im Juli 2005<br />

baute er in s<strong>ein</strong>er Heimatstadt Kirkuk die erste Rehabilitations<strong>ein</strong>richtung<br />

<strong>für</strong> Überlebende schwerer Menschenrechtsverletzungen im <strong>Irak</strong> auf. In den<br />

folgenden Jahren erweiterte das Kirkuk Center for Torture Victims s<strong>ein</strong>e<br />

Angebote und eröffnete weitere Einrichtungen in den kurdischen Städten<br />

Sulaymania, Erbil (Hewlêr), Chamchamal, Halabja und Duhok. Salah Ahmad<br />

pendelt heute regelmäßig zwischen Berlin und Kurdistan.<br />

63


Ahmed Rambo<br />

Gegen alle Widerstände hat er sich vom belächelten Bodybuilder zum<br />

berühmten Betreiber <strong>ein</strong>er Kette von Fitness-Studios nach oben gekämpft.<br />

Das Porträt <strong>ein</strong>es Mannes, dem fast nichts zu schwer ist.<br />

64<br />

Eine s<strong>ein</strong>er leichtesten Übun-<br />

gen. Ahmed Rambo trainiert <strong>ein</strong><br />

bisschen den Bizeps.<br />

Sogar den entschlossenen<br />

Schlafzimmerblick s<strong>ein</strong>es Vorbildes<br />

Sylvester Stallone hat er drauf.


A<br />

hmed Majeed erinnert sich noch gut an den Film, der s<strong>ein</strong><br />

Leben ändern sollte. Begeistert sah der damals 16-Jährige den<br />

Actionfilm Rambo I. Von jenem Augenblick an wusste er,<br />

dass er in die Fußstapfen s<strong>ein</strong>es Idols, Silvester Stallone, treten wollte.<br />

Um genauso stark und muskulös zu werden wie er, musste Ahmed<br />

nur noch mit dem Bodybuilding anfangen, was in Kurdistan im Jahr<br />

1988 gar nicht so <strong>ein</strong>fach war.<br />

Damals hielten die Kurden nicht allzu viel von westlichen Vorbildern.<br />

Zu sehr war man darum besorgt, dass die eigene Kultur und Tradition,<br />

die schon unter Saddams Regime Gefahr lief, ausgelöscht zu werden,<br />

noch mehr gefährdet würde. Doch Ahmed ließ sich weder durch den<br />

schlechten Ruf, den die Kraftsportart unter s<strong>ein</strong>en Landsleute besaß,<br />

noch durch die Mahnungen der Mutter, Bodybuilding mache unfruchtbar,<br />

be<strong>ein</strong>flussen.<br />

Als er nach nur zwei Jahren Training bei der irakischen Bodybuil-<br />

ding-Meisterschaft Gold gewann, war es an der Zeit, den Namen s<strong>ein</strong>es<br />

Idols anzunehmen. Von nun an hieß er Ahmed Rambo. Heute ist er<br />

<strong>ein</strong>er der bekanntesten Bodybuilder <strong>Irak</strong>s.<br />

Seit nun mehr als 22 Jahren begleitet der Kraftsport Ahmeds Leben.<br />

Mal mehr und mal weniger.<br />

1995, als im Nordirak der Bruderkrieg zwischen Anhängern der Pa-<br />

triotischen Union Kurdistan (PUK) und der Demokratischen Partei<br />

Kurdistans (DPK) herrschte, floh Ahmed nach Deutschland. In ei-<br />

nem Asylantenheim in Bayern fand er Zuflucht und baute sich nach<br />

und nach <strong>ein</strong> Leben auf. S<strong>ein</strong> steter Begleiter war der Sport. „Bei<br />

der Arbeitssuche war m<strong>ein</strong> Ersch<strong>ein</strong>ungsbild immer von Vorteil. Die<br />

66<br />

Menschen wissen, dass man diszipliniert s<strong>ein</strong> muss, wenn man so<br />

sportlich ist. Das be<strong>ein</strong>druckte die deutschen Arbeitgeber immer.“<br />

Ahmed schlug sich in München mit Nebenjobs durch und klagte<br />

nie über die Umstände in den Asylantenheimen. Nebenbei machte<br />

er bei zwei Landesmeisterschaften in den Jahren 1999 und 2000<br />

mit. Er belegte den dritten und vierten Platz. „Um zu gewinnen, hätte<br />

ich mehr trainieren müssen, da<strong>für</strong> reichte neben der Arbeit die<br />

Zeit <strong>ein</strong>fach nicht. In Deutschland arbeitet man viel mehr,“ sagt der<br />

heute 38-Jährige.<br />

Nach neun Jahren in Deutschland kehrte Rambo in s<strong>ein</strong>e Heimat<br />

zurück und erkannte, dass sich der Ruf des Bodybuildings in der Zwi-<br />

schenzeit verbessert hatte. Man begegnete ihm sowohl in der Fa-<br />

milie als auch auf der Straße mit Respekt. Und nicht nur das, im Land<br />

herrschte <strong>ein</strong>e regelrechte Bodybuilding-Kultur. Nach <strong>ein</strong>em Jahr<br />

widmete er sich wieder verstärkt s<strong>ein</strong>er Leidenschaft. Er trainierte<br />

monatelang mehrmals täglich, hielt Diäten und quälte sich, bis er<br />

im Jahr 2009 die Asienmeisterschaften gewann.<br />

Die Nachfrage nach Fitnesscentern stieg in der Zwischenzeit konti-<br />

nuierlich. Ahmed Rambo eröffnete s<strong>ein</strong> erstes Studio. Heute ist s<strong>ein</strong><br />

Name Gold wert. In Bagdad und Basra bezahlen ihn Fitnessstudio-<br />

Betreiber all<strong>ein</strong> da<strong>für</strong>, s<strong>ein</strong>en Namen als Aushängeschild benutzen<br />

zu dürfen.<br />

Doch so richtig zufrieden ist er damit nicht: „Es ist schwer zu kon-<br />

trollieren, ob die Studios in Bagdad und Basra m<strong>ein</strong>en Standards ent-<br />

sprechen.“ Und die Messlatte da<strong>für</strong>, was <strong>ein</strong> gutes Fitnessstudio<br />

ausmacht, wird immer höher gelegt. Da<strong>für</strong> sorgt Ahmed in s<strong>ein</strong>em


Amt als Vorstandsmitglied der Bodybuilding-Föderation. „Kur-<br />

distan wird immer moderner. Alte Studios passen da nicht mehr ins<br />

Bild.“ Damit die Studios besser ausgestattet werden, betreibt er<br />

zusätzlich Fitness-Shops und importiert da<strong>für</strong> Geräte aus der Türkei.<br />

Doch der Vater von drei Kindern will mehr. Weitere Studios sind in<br />

Planung, darunter <strong>ein</strong>es <strong>für</strong> Frauen. Die Zusage von der Regierung, die<br />

<strong>ein</strong> kl<strong>ein</strong>es Budget da<strong>für</strong> zur Verfügung stellt, hat er schon. Jetzt muss<br />

nur noch gebaut werden.<br />

Nebenher schreibt er an <strong>ein</strong>em Buch, das auf Kurdisch veröffent-<br />

licht wird. Titel: „Der Sport, der m<strong>ein</strong> Leben veränderte“. Neben der<br />

Geschichte des Kraftsports sollen darin Ernährungstipps und medizinische<br />

Ratschläge enthalten s<strong>ein</strong>. „Denn es reicht nicht, all<strong>ein</strong> die<br />

Muskeln zu stärken, man muss auch an der Ernährung und der eige-<br />

nen Willenskraft arbeiten.“ So wie Ahmed Rambo, der 20<strong>12</strong> wieder an<br />

den Asienmeisterschaften teilnehmen will. Dieses Jahr hat er darauf<br />

verzichtet, weil s<strong>ein</strong>e Frau schwanger war und er ihr zur Seite stehen<br />

wollte. Aber im kommenden Jahr will er wieder dabei s<strong>ein</strong>. „So <strong>ein</strong>e<br />

Meisterschaft ist wie <strong>ein</strong>e Schwangerschaft. Hat man es hinter sich,<br />

schwört man darauf, es nie wieder zu machen. Aber wenn die Schmerzen<br />

vorbei sind, bleibt nur noch die Freude.“<br />

Da sich Ahmed Rambo im Aufbautraining befindet, bat er beim Fototermin<br />

ausnahmsweise darum, auf Aufnahmen in Wettkampfmontur zu verzichten.<br />

Volle Konzentration auf die nächste<br />

Wettkampfform.<br />

Im Jahr 20<strong>12</strong> will Ahmed Rambo<br />

erneut Asienmeister werden.<br />

67


Also<br />

sprach der<br />

Verleger...<br />

Khalid Al-Maaly bringt Nietzsche in den <strong>Irak</strong>. Sitz s<strong>ein</strong>es Al-Kamel Verlags<br />

ist Köln. Und sonst? Alles <strong>ein</strong>e Frage der Philosophie.<br />

68<br />

H<br />

err Al-Maaly, die meisten Verlage vertreiben im <strong>Irak</strong> Sachbücher,<br />

Ratgeber und religiöse Schriften. Sie verlegen Nietzsches „Der<br />

Antichrist“. Kann das gut gehen?<br />

Al-Maaly: Bis jetzt hatten wir k<strong>ein</strong>e Probleme damit. Nietzsches Werke<br />

gehören sogar zu den Büchern, die auf dem arabischen Markt am<br />

besten laufen – jedenfalls bei den Übersetzungen aus dem Deutschen.<br />

Warum ausgerechnet Nietzsche?<br />

Ich kann mir das auch nicht erklären, aber die Araber lesen ihn halt gerne.<br />

Was kann man bei Ihnen noch finden?<br />

Aus dem Deutschen hauptsächlich Sachbücher über Philosophie<br />

und Soziologie, Romane sowie Lyrik. Neben Nietzsche haben wir unter<br />

anderem Thomas Manns „Der Zauberberg“ im Angebot. Zudem ist<br />

in unserem Verlag zum ersten Mal das Gesamtwerk Rilkes auf Ara-<br />

bisch erschienen.<br />

Und das kaufen die <strong>Irak</strong>er alles?<br />

Seit 2005 geht es dem Buchmarkt im <strong>Irak</strong> besser. Die Leute lesen<br />

insgesamt mehr. Leider gibt es viele Raubkopien und Prosa verkauft<br />

sich auch nicht so gut. Aber Sachbücher sind sehr gefragt, vor allem<br />

aus den Geisteswissenschaften. Die Übersetzung von Sebastian Haffners<br />

„Anmerkungen zu Hitler“ ist beispielsweise bereits in der zweiten<br />

Auflage erschienen. Hitlers „M<strong>ein</strong> Kampf“ wird ja leider in der arabischen<br />

Welt immer noch gelesen. Mit der Übersetzung Haffners wollen wir<br />

<strong>ein</strong> Gegengewicht schaffen.<br />

... und die Leser wissen das beim Kauf des Buches?<br />

Nicht immer. Da<strong>für</strong> sind sie nach der Lektüre schlauer. Stoff zum<br />

Diskutieren haben sie aber allemal.


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3er, 7er etc.<br />

70<br />

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s ist <strong>ein</strong>fach so: Ich liebe Autos. Die Technik, das Design,<br />

ständig neue Innovationen – das berührt mich wirklich, und<br />

deshalb bin ich hier genau am richtigen Ort. Ist unser<br />

Autohaus nicht wunderschön? So groß und hell, mit <strong>ein</strong>er Glasfront,<br />

weißem Boden, Möbeln aus schwarzem Leder. Wir können hier<br />

ganz bequem 18 Autos präsentieren, und nebenan haben wir <strong>ein</strong>e richtige<br />

Werkstatt <strong>für</strong> den After-Sales-Service. Hier arbeiten 30 Menschen,<br />

die Sache hat Niveau, und so muss das auch s<strong>ein</strong>.<br />

Autos begleiten mich schon viele Jahre m<strong>ein</strong>es Lebens. Ich habe<br />

Maschinenbau studiert in Bagdad und Manchester, war Hochschul-<br />

lehrer an der Universität und habe in <strong>ein</strong>em Ministerium gearbei-<br />

tet. Zu den Autos bin ich über m<strong>ein</strong>e Arbeit bei der Al-Bunnia Group<br />

gekommen, <strong>ein</strong>er großen Traditionsfirma im <strong>Irak</strong>. Zunächst habe<br />

ich Fabriken und Produktionsprozesse geplant, ab 1989 war ich auch<br />

<strong>für</strong> die BMW-Vertretung im <strong>Irak</strong> verantwortlich. Selbst in den<br />

Embargozeiten haben wir die Sache nicht <strong>ein</strong>schlafen lassen, haben<br />

Autos repariert und so etwas, obwohl wir k<strong>ein</strong>e Neufahrzeuge<br />

<strong>ein</strong>führen durften. Aber wir wollten am Ball bleiben und unsere Re-<br />

putation wahren. Nun ist der Markt wieder offen, und so haben<br />

wir gem<strong>ein</strong>sam mit dem kuwaitischen BMW-Importeur die Al-<br />

Uroush Automotive Trading Company gegründet. Al Uroush heißt<br />

„der Thron“, der <strong>Irak</strong> ist unser Markt. Im Januar <strong>2011</strong> haben wir<br />

mit dem Verkauf begonnen, und seit Juni <strong>2011</strong> ist nun hier in Erbil<br />

unser erstes Autohaus geöffnet.<br />

Dass wir hier begonnen haben, hat s<strong>ein</strong>e Gründe. Kurdistan ist <strong>ein</strong>e<br />

stabile Region, die Regierung unterstützt Geschäftsgründungen. Und<br />

Erbil selbst boomt – ich kam 2006 aus Bagdad hierher, die Stadt hat<br />

sich enorm entwickelt. Bis Mitte <strong>2011</strong> haben wir 56 Autos verkauft, und<br />

seitdem hat sich das Geschäft eher noch gesteigert.


Wobei man nicht sagen kann, dass das Geschäft <strong>ein</strong>facher geworden<br />

ist. Es gibt Konkurrenz, und die Kunden sind wählerischer geworden.<br />

Kauften sie früher recht impulsiv <strong>ein</strong>fach <strong>ein</strong>en guten Namen, <strong>ein</strong>e<br />

Marke, legen sie heute viel mehr Wert auf <strong>ein</strong> wirklich gutes Produkt.<br />

Sie wissen viel über Autos und sie wissen genau, was sie wollen.<br />

Dass wir uns trotzdem gut behaupten können, macht mich schon stolz.<br />

Allerdings müssen wir immer recht hart um den Preis verhandeln,<br />

denn <strong>Irak</strong>er legen zwar sehr viel Wert auf Qualität, aber sie sind auch<br />

preissensibel und erwarten <strong>ein</strong>en Rabatt. Da geht es manchmal zu<br />

wie auf dem Basar.<br />

Unsere Kunden kommen aus dem ganzen <strong>Irak</strong> und die Bandbreite<br />

ist groß. Junge Leute, Frauen, Unternehmer oder Regierungsmitarbeiter,<br />

Prominente. Die kommen manchmal selbst oder sie schicken Leute<br />

mit klaren Anweisungen. Die beliebtesten Modelle sind der X6 und<br />

der X5, letzterer vor allem bei den Damen, denn es ist <strong>ein</strong> sportliches<br />

Auto, das etwas hermacht, zugleich aber nicht zu groß – man kann gut<br />

damit <strong>ein</strong>parken. Die 7er-Reihe wird nicht so stark nachgefragt, aber<br />

die ist wirklich sehr luxuriös und entsprechend teuer – eigentlich nur<br />

etwas <strong>für</strong> Promis, Tycoone oder hohe Regierungsbeamte, und davon<br />

gibt es ja dann doch nicht so viele. Aber man kann diese Wagen auch<br />

an Hotels verkaufen, <strong>für</strong> den Fahrdienst, da steckt noch Potenzial drin.<br />

Natürlich kann man sich fragen, warum man hier im <strong>Irak</strong> solch dicke<br />

Autos braucht. Man kann sie auf unseren Straßen ja gar nicht ausfahren,<br />

wegen der Checkpoints, dem mitunter schlechten Asphalt oder den<br />

Beton-Schwellen, die immer wieder zum Bremsen zwingen. Aber zum<br />

<strong>ein</strong>en geht es um Sicherheit inmitten des doch recht wilden Verkehrs<br />

im <strong>Irak</strong>. Viele Leute fahren wie sie wollen, ohne Regeln, und obwohl<br />

sie mittlerweile besser gelernt haben, Ampeln und Tempolimits zu<br />

beachten, wird es mitunter brenzlig. Mit <strong>ein</strong>em BMW kommt man aus<br />

<strong>ein</strong>em Unfall eher mit heiler Haut davon, egal, ob man an ihm Schuld<br />

ist oder nicht.<br />

Vor allem aber geht es hier bei Autos um Prestige. Mit <strong>ein</strong>em Auto<br />

zeigt man, was man sich leisten kann, dass man Geschmack hat. Da<br />

wird bar bezahlt und fertig. Junge Leute cruisen dann gern stolz<br />

durch Ankawa, <strong>ein</strong> Stadtviertel, wo auch abends noch etwas los ist.<br />

Besitzerstolz zeigt sich auch in diversen Sonderausstattungen – am<br />

beliebtesten sind TV-Monitore, Vorhänge und verchromte Trittbretter<br />

an Geländewagen.<br />

Für mich persönlich ist das allerdings nichts. Ich bin <strong>ein</strong> eher prak-<br />

tisch veranlagter Mensch. Deshalb habe ich <strong>ein</strong>en schwarzen 7er-BMW<br />

ohne besondere Extras. Ich fahre gern mit der Familie raus in die<br />

Sommer-Resorts, etwa nach Salahaddin oder Shaqlawa oder zum Was-<br />

serfall Geli Ali Beg. Da kann man so schön dem Wasser zuhören, ist<br />

raus aus der täglichen Routine, trinkt Tee und isst etwas.<br />

Ich glaube, wir werden hier weiterhin gute Geschäfts machen, wes-<br />

halb wir zurzeit <strong>ein</strong> zweites Autohaus planen, und das wird noch größer<br />

als dieses hier. Ein BMW bleibt <strong>ein</strong> BMW – das werden die Leute<br />

auch in Zukunft wertschätzen. Hier im <strong>Irak</strong> verleihen die Leute vielen<br />

Autos Spitznamen – <strong>ein</strong>en Toyota Landcruiser etwa nennen sie<br />

„Monica“. Ich wüsste nicht, dass BMW-Autos auch solche Spitznamen<br />

bekämen. Das wäre auch wirklich despektierlich.<br />

Dr. Sabah Abdul Latif Salem ist Generaldirektor der BMW Group im <strong>Irak</strong>.<br />

„Wir sind im <strong>Irak</strong>“<br />

Der Kölner Unternehmer Michael Kurth wurde zwei Jahre lang von<br />

der Wirtschaftsplattform <strong>Irak</strong> auf s<strong>ein</strong>em Weg in den <strong>Irak</strong> begleitet. Heute<br />

gibt es k<strong>ein</strong>en Grund mehr, die Serie „Herr Kurth will in den <strong>Irak</strong>“ fort-<br />

zuschreiben. Michael Kurth al Naqib ist längst dort, Seite an Seite mit s<strong>ein</strong>er<br />

Frau, der gebürtigen <strong>Irak</strong>erin Inas al Naqib al Samarray al Abassy.<br />

71


Die<br />

Sammlerin<br />

Oum Huss<strong>ein</strong> ist all<strong>ein</strong>erziehende Mutter und arbeitet bei der Müllabfuhr.<br />

Eine Geschichte von Schande und dem Segen des Schleiers.<br />

Z<br />

ehn Kinder hat sie schon zur Welt gebracht, obwohl sie erst<br />

35 Jahre alt ist. Ihr Alter, ihr Name? Über diese Fragen muss<br />

Oum Huss<strong>ein</strong> erst <strong>ein</strong>en kurzen Moment nachdenken, ehe<br />

sie antworten kann. Auf ihren richtigen Namen hört sie sowieso nicht,<br />

sagt sie schließlich lachend, deshalb ist er auch gar nicht so wichtig.<br />

Wenn sie spricht, werden die Falten in ihrem Gesicht tiefer. Falten, die<br />

eigentlich nicht zu ihrem Alter passen. Ihren ersten Sohn hat sie be-<br />

reits mit 16 bekommen. Seitdem nennen sie alle nur noch Oum Huss<strong>ein</strong><br />

– Huss<strong>ein</strong>s Mutter.<br />

Ihr Mann hat als Fahrer gearbeitet, bevor er krank wurde. Fünf Jahre<br />

lang hat Oum Huss<strong>ein</strong> ihren vor drei Jahren verstorbenen Mann gepflegt<br />

– und gleichzeitig die Familie versorgt. Sie hat in Haushalten gear-<br />

beitet, geputzt, auf den Straßen Taschentücher oder kl<strong>ein</strong>e Andenken<br />

verkauft, gebettelt und Müll gesammelt, um über die Runden zu<br />

kommen. Ausgerechnet beim Müllsammeln wurde ihr <strong>ein</strong> Job angeboten.<br />

Ironie des Schicksals, wie sie sagt: „Früher habe ich nach brauchba-<br />

ren Gegenständen im Müll gesucht. Heute sammele ich Abfälle und<br />

bekomme da<strong>für</strong> Geld.“<br />

72<br />

Oum Huss<strong>ein</strong> ist <strong>ein</strong>e von 20 Frauen in Basra, die gegen <strong>ein</strong>en Mo-<br />

natslohn von umgerechnet 250 Dollar <strong>für</strong> <strong>ein</strong> Müllunternehmen arbeiten.<br />

Sie alle tun das nicht freiwillig. Sie alle brauchen <strong>ein</strong> sicheres Ein-<br />

kommen. Jeden Morgen trifft sich Oum Huss<strong>ein</strong> mit ihnen in <strong>ein</strong>er ehe-<br />

maligen Grundschule im Stadtviertel Hayaniya; die Schicht beginnt<br />

kurz vor fünf. In <strong>ein</strong>em kl<strong>ein</strong>en Raum ziehen sie sich um. Schlüpfen<br />

in gelbe Plastikwesten, streifen Arbeitshandschuhe über, steigen in<br />

Stiefel und setzen sich <strong>ein</strong>e Baseballkappe auf den Kopf. Nur widerwillig<br />

tun sie das. Oum Huss<strong>ein</strong> stören die Handschuhe besonders. „Sie<br />

sind so männlich“, sagt sie.<br />

Aber es geht nicht nur um den persönlichen Geschmack. Mit der<br />

Arbeitskleidung sind die Frauen auf den Straßen sofort zu erkennen<br />

– und das mag k<strong>ein</strong>e von ihnen. Denn im schiitisch geprägten Basra<br />

begreifen es viele Familien als Schande, wenn ihre weiblichen Mitglieder<br />

arbeiten gehen. Oum Huss<strong>ein</strong> versteckt ihr Gesicht hinter <strong>ein</strong>em<br />

schwarzen Schleier, um nicht erkannt zu werden. Sie will nicht, dass ih-<br />

re Kinder Probleme bekommen. K<strong>ein</strong>es von ihnen hat je <strong>ein</strong>e Schule<br />

besucht. Denn Bildung „macht k<strong>ein</strong>en Bauch voll“, sagt Oum Huss<strong>ein</strong>.


Ihre drei Söhne mussten sich Arbeit suchen. Der ältere hatte Glück<br />

und fand <strong>ein</strong>en Job als Träger bei <strong>ein</strong>em Zementhändler in der Stadt.<br />

Zu den Haushaltskosten kann er trotzdem wenig beisteuern. Er muss<br />

<strong>für</strong> <strong>ein</strong> Tuck-Tuck sparen. „Danach kann er, wenn Gott es will, deutlich<br />

mehr verdienen.“ Ihre älteste Tochter hat Oum Hussain vor kurzem<br />

verheiratet. „Eine Last weniger.“ Es sind aber noch sechs Mädchen da.<br />

„Auch die werde ich so schnell wie möglich verheiraten.“ Sie hofft,<br />

dass ihre Töchter <strong>ein</strong> besseres Leben führen können als sie selbst. Da-<br />

<strong>für</strong> betet sie jeden Tag zu Gott.<br />

Das Viertel Hayaniya ist <strong>ein</strong>es der ärmsten in Basra. Dicht an dicht<br />

stehen hier kl<strong>ein</strong>e Hütten mit Blechdächern. Nur enge Gassen, die von<br />

Kindern als Spielplatz benutzt werden, trennen die Blocks von<strong>ein</strong>ander.<br />

Oum Huss<strong>ein</strong>s Hütte besteht aus <strong>ein</strong>em großen und <strong>ein</strong>em klei-<br />

nen, neu gebauten Zimmer. Da<strong>für</strong> hat Oum Huss<strong>ein</strong> <strong>ein</strong>en Kredit<br />

aufgenommen und muss jetzt jeden Monat <strong>ein</strong>e Rate von umgerechnet<br />

100 Dollar zahlen. Auf dem Boden des großen Zimmers, das der<br />

Familie als Wohn- und Kochraum dient, liegen Teppiche, auf dem Bo-<br />

den sind Kissen verstreut. In der <strong>ein</strong>en Ecke steht <strong>ein</strong> Fernseher,<br />

gegenüber sind Herd und Kühlschrank. An den Wänden hat Oum<br />

Huss<strong>ein</strong> Bilder von schiitischen Heiligen aufgehängt. Auch Moktada<br />

Sadr ist dabei. Mit böser Miene und gestrecktem Zeigefinger schaut<br />

er aus dem Bild raus, als würde er auch hier vor moralischen Entgleisungen<br />

warnen.<br />

In der Hütte liegen hier und da alte Gerätschaften, Kleider und<br />

weitere Gebrauchsgegenstände, die Oum Huss<strong>ein</strong> oder <strong>ein</strong>es ihrer<br />

Kinder von dem Müll gesammelt haben. Vieles davon ist unbrauch-<br />

bar. Frauen wie sie dürfen nicht in den reichen Gegenden von Basra<br />

nach wertvollem Müll suchen. Dort kann man Lebensmittel, Gold<br />

oder sogar Waffen finden. Früher hat Oum Huss<strong>ein</strong> es trotzdem<br />

versucht, „bis mir der Zugang dorthin von <strong>ein</strong>er Bande verboten<br />

wurde“. Dort gibt es überall organisierte Gruppen, die die reichen<br />

Bezirke unter sich aufteilen. Umso dankbarer ist sie <strong>für</strong> ihren jet-<br />

zigen Job. Da nimmt sie die gelbe Weste in Kauf. Sogar die Handschuhe.<br />

Eines Tages, daran glaubt sie fest, werden ihre Kinder<br />

sie unterstützen. Und dann wird sie das ganze Gerümpel in den<br />

Müll schmeißen.<br />

73


Er wird<br />

Milliardär<br />

Über den Aufstieg des Geschäftsmannes Shaswar Abdul-Wahid<br />

74<br />

Z<br />

ur Person<br />

Shaswar Abdul-Wahid ist Inhaber der Nalia Company,<br />

<strong>ein</strong>er irakischen Firma <strong>für</strong> Investitions- und Immobiliengeschäfte.<br />

Zudem gehört ihm der Fernsehkanal Nalia Radio and Television<br />

(NRT). Das Vermögen des 33-Jährigen wird auf mehr als 400 Millionen<br />

Dollar geschätzt.<br />

Wie alles angefangen hat<br />

Shaswar Abdul-Wahid erzählt, er habe schon als Kind <strong>ein</strong>e merkwürdige<br />

Vorliebe <strong>für</strong> Geschäfte gehabt und s<strong>ein</strong>e Zeit am liebsten im Basar<br />

verbracht. Als er 6 Jahre alt ist, arbeitet er in der Bäckerei und dem<br />

Restaurant s<strong>ein</strong>es Vaters. Oft schläft er vor Müdigkeit am Lehmofen<br />

der Bäckerei <strong>ein</strong>. Als Teenager macht er s<strong>ein</strong> erstes Geschäft. Er<br />

eröffnet <strong>ein</strong>en Laden <strong>für</strong> elektronische Kinderspiele. Später betreibt<br />

er Handel zwischen den Städten Sulaymania und Bagdad. Und zwar<br />

in <strong>ein</strong>er Zeit, als die Beziehung zwischen der Region Kurdistan und<br />

dem Baath-Regime sehr schlecht war.<br />

Shaswar Abdul-Wahid bricht die Schule ab. Später setzt er s<strong>ein</strong>e<br />

schulische Ausbildung fort und bekommt <strong>ein</strong>en Studienplatz <strong>für</strong> Ar-<br />

chitektur. Er schließt s<strong>ein</strong> Studium erfolgreich ab. Über s<strong>ein</strong>e geschäftlichen<br />

Erfahrungen nach dem Studium sagt er: „Ich konnte mir<br />

nicht vorstellen, als <strong>ein</strong> Angestellter im öffentlichen Dienst zu ar-<br />

beiten. Deswegen habe ich entschieden, mich als Architekt bei den<br />

privaten Firmen zu bewerben. Untergekommen bin ich bei <strong>ein</strong>er<br />

Firma namens Bery. Nach zwei Monaten war ich Leiter all ihrer Pro-<br />

jekte.“ Sieben Jahre lang bereist er jeweils <strong>für</strong> <strong>ein</strong> paar Monate die<br />

Bundesrepublik Deutschland, bis er als Asylberechtigter anerkannt<br />

wird. Danach kehrt <strong>für</strong> immer nach Kurdistan zurück.<br />

Das deutsche Dorf Gondy Almany<br />

Gondy Almany ist das erste Bauprojekt der Nalia Company.<br />

Shaswar Abdul-Wahid bezeichnet es als den wichtigsten Schritt<br />

auf dem Weg zum Reichtum. Gondy Almany, wörtlich übersetzt<br />

„das deutsche Dorf“, wird auf <strong>ein</strong>er Fläche von 22 Donum, umgerechnet<br />

55.000 Quadratmeter in Sulaymania gebaut. Das Dorf besteht<br />

aus 380 Wohn<strong>ein</strong>heiten.<br />

Die Idee dazu hat er während s<strong>ein</strong>er Zeit in Deutschland. Die Häu-<br />

ser sollten nach deutschem Vorbild gebaut und nach dem deutschen<br />

System isoliert und beheizt werden. Auch die Baupläne zeichnet er<br />

in Deutschland. Da er k<strong>ein</strong> Startkapital hat, muss das Bauvorhaben erst<br />

<strong>ein</strong>mal warten.<br />

Für <strong>ein</strong>e private Firma verwirklicht er das Bauprojekt Gondy Englisi,<br />

wörtlich übersetzt das „englische Dorf“, in Erbil. Über den Bau der 50<br />

Häuser erzählt er: „Durch m<strong>ein</strong>e Arbeitserfahrung im Gondy Englisi<br />

habe ich verstanden, dass die Investition in Bauprojekte und Immobi-<br />

lien sehr gewinnversprechend ist. Aber wenige Menschen haben<br />

sich getraut, in diesem Bereich zu investieren. Deswegen habe ich<br />

mich entschieden, in Sulaymania den ersten Schritt zu machen“.<br />

Mit zwei Freunden beginnt er mit der Arbeit an Gondy Almany. Sie<br />

haben <strong>ein</strong>e Million Dollar als Startkapital. Ihr Plan sieht vor, erst Villen<br />

und Wohnungen zu bauen und diese zu verkaufen. Mit den Einnah-<br />

men daraus soll der Rest des Projekts fertiggestellt werden. „Wir hoff-<br />

ten, in diesem Projekt <strong>ein</strong> bis zwei Millionen Dollar zu gewinnen“.<br />

Nach kurzer Zeit kauft Shaswar Abdul-Wahid die Anteile s<strong>ein</strong>er bei-<br />

den Geschäftspartner auf, da der erste Geschäftspartner sich nach<br />

<strong>ein</strong> paar Wochen und der zweite nach <strong>ein</strong> paar Monaten aus dem Pro-<br />

jekt zurückgezogen haben. Er entscheidet, das Projekt all<strong>ein</strong>e durchzuführen:<br />

„Das bereitete mir viel Kopfschmerzen, aber wenn man Ge-<br />

schäfte machen will, darf man sich nicht <strong>ein</strong>schüchtern lassen“.<br />

Gondy Almany wird von ihm fertiggestellt und die Wohn<strong>ein</strong>heiten sind<br />

schnell verkauft. Das motiviert ihn zu weiteren Bauprojekten: Kurdsat 1


und 2, Gondy Almany 2 sowie zwei touristische Anlagen. Mo-<br />

mentan baut er <strong>ein</strong>e große Zementfabrik. Insgesamt wohnen über<br />

3.000 Familien in Sulaymania in Häusern und Wohnungen, die<br />

die Nalia Company gebaut hat. Über 4.500 Personen sind bei der<br />

Firma beschäftigt.<br />

Der Sprung in die Medien<br />

Schon vor s<strong>ein</strong>er Karriere als Geschäftsmann hat Shaswar Abdul-<br />

Wahid <strong>ein</strong> Faible <strong>für</strong> Medien. Im Jahr 2000 ist er der erste Herausgeber<br />

<strong>ein</strong>er unabhängigen Studentenzeitschrift an der Universität in<br />

Sulaymania. Ihr Titel lautet: Xuyndny Libral, übersetzt „das liberale<br />

Studium“. Im Jahr <strong>2011</strong> gründet er den Satelliten-Kanal NRT.<br />

Am 17. Februar <strong>2011</strong> strahlt der Fernsehsender zum ersten Mal sei-<br />

ne Programme aus; allerdings nur <strong>für</strong> 15 Stunden. Am gleichen Tag<br />

brechen in Sulaymania Demonstrationen aus, die mehr als zwei<br />

Monate anhalten werden. In der Nacht des 19. Februars wird die<br />

Sendezentrale von NRT von <strong>ein</strong>er Gruppe bewaffneter Personen<br />

in Brand gesteckt. Er schätzt s<strong>ein</strong>e Verluste bei diesem Feuer auf 10<br />

Millionen Dollar. Über die Hintergründe <strong>für</strong> den Brandanschlag<br />

sagt Shaswar Abdul-Wahid: „Manche Leute waren wohl der M<strong>ein</strong>ung,<br />

die Demonstrationen würden aufhören, wenn wir nicht mehr sen-<br />

den. Das Gegenteil war der Fall.“ Als sich die Lage wieder beruhigt,<br />

strahlt der Kanal s<strong>ein</strong>e Programme erneut aus. Neben dem Nach-<br />

richtenkanal sollen bald auch <strong>ein</strong> Unterhaltungs- und <strong>ein</strong> Filmkanal<br />

auf Sendung gehen.<br />

Das Vermögen<br />

Das gesamte Kapital der Projekte von Shaswar Abdul-Wahid wird<br />

auf 400 Millionen Dollar geschätzt. Er selbst sagt, s<strong>ein</strong> Vermögen betra-<br />

ge 50 Millionen Dollar. „Ich möchte m<strong>ein</strong>e Geschäfte aber auf Erbil<br />

und andere Städte im <strong>Irak</strong> ausdehnen und auch im Ausland investieren.<br />

Wenn man s<strong>ein</strong> Vermögen vermehren möchte, soll man s<strong>ein</strong>e Geschäfte<br />

nicht nur auf <strong>ein</strong>e Stadt beschränken“.<br />

Die Frage, wie viel Zeit er noch braucht, um Milliardär zu wer-<br />

den, beantwortet er so: „Mit Projekten in nur drei Städten mit insge-<br />

samt vier Millionen Einwohnern ist es nicht so <strong>ein</strong>fach, <strong>ein</strong>e Mil-<br />

liarde zu verdienen. Das werde ich in den kommenden fünf Jahren<br />

nicht schaffen“.<br />

Die Politik<br />

Da Shaswar Abdul-Wahid zu vielen Politikern in der Region Kur-<br />

distan, besonders in der Provinz Sulaymania, enge Verbindungen hat,<br />

wird vermutet, dass er bei Projekten mit Politikern zusammenar-<br />

beitet. Er dementiert das jedoch: „Diese Behauptungen sind haltlos.<br />

Ich bin all<strong>ein</strong>e und führe m<strong>ein</strong>e Projekte selber durch“.<br />

Shaswar Abdul-Wahid ist sich nicht sicher, ob er sich selbst in <strong>ein</strong>er<br />

nahen Zukunft in die Politik <strong>ein</strong>mischen will. „Unsere Parteien haben<br />

momentan so viel Geld, dass sie das Geld der Reichen nicht brau-<br />

chen. Aber wenn die Situation sich ändert, werden sie sich an uns wen-<br />

den. Dann kann es durchaus s<strong>ein</strong>, dass ich selbst in die Politik gehe.“<br />

Auf der Homepage s<strong>ein</strong>er Firma Nalia lässt er die Bauprojekte von den<br />

Lesern bewerten. Stand Dezember <strong>2011</strong>: 71 Prozent finden s<strong>ein</strong>e Projekte<br />

gut, 8 Prozent stimmten <strong>für</strong> hervorragend und 20 Prozent <strong>für</strong> schlecht.<br />

„Wer immer diesen Angriff durchgeführt hat,<br />

denkt, dass er uns dadurch zum Schweigen<br />

bringen kann. Das Gegenteil ist der Fall. Das<br />

bekräftigt uns nur in unserer Arbeit.“<br />

Asos Hardi ist Chefredakteur von Awena, der ersten privaten Zeitung<br />

in der Region Kurdistan. Im August <strong>2011</strong> wurde er von <strong>ein</strong>er Gruppe be-<br />

waffneter Personen angegriffen und schwer verletzt.<br />

75


76<br />

Hahn<br />

im Korb<br />

Ersin Ekiz aus Istanbul ist der Chef der ersten Wienerwald-Filiale im<br />

<strong>Irak</strong>. Seit Juni <strong>2011</strong> frittiert und brät er Hühnchen in der Majidi-Mall in Erbil.<br />

Als Haupt-Franchise-Nehmer <strong>für</strong> den <strong>Irak</strong> plant er, weitere Restaurants<br />

zu eröffnen.


I<br />

ch hätte nie gedacht, dass dieser Laden so schnell so gut<br />

läuft. Wir verkaufen jede Woche etwa 200 gebratene Hühner<br />

und 280 Päckchen mit Hähnchenflügeln oder –keulen. Ich<br />

hatte geglaubt, <strong>für</strong> solche Zahlen brauche ich mindestens <strong>ein</strong> Jahr. Aber<br />

bei uns kaufen viele arabischstämmige <strong>Irak</strong>er, die sich nach <strong>ein</strong>em<br />

Ausflug in die Berge und <strong>ein</strong>er Tour durch Erbil entspannen wollen<br />

– die bestellen fix mal die Karte rauf und runter, vor allem aber lie-<br />

ben sie unsere „Atomic Hot - Jumbowings“. Das ist ungewöhnlich,<br />

denn sie sind wirklich sehr scharf, aber sie packen sie auch gern <strong>ein</strong><br />

<strong>für</strong> die Heimfahrt etwa nach Bagdad.<br />

Selbst die Kurden lieben unsere scharfen Sachen, aber sie fragen<br />

oft: „Das schmeckt ja sogar besser als es aussieht, ist das wirklich<br />

Huhn?“ Naja, wer dem Braten nicht traut, kann sich <strong>ein</strong> halbes<br />

Hähnchen mitnehmen, auch das ist <strong>ein</strong> Verkaufsrenner. Wobei ich<br />

persönlich lecker frittierte Hähnchenteile am liebsten mag, die<br />

sind <strong>für</strong> mich wie Zigaretten, ich kann <strong>ein</strong>fach nicht davon lassen.<br />

Bis vor <strong>ein</strong>em Jahr hatte ich überhaupt nichts mit Hähnchen zu<br />

tun. Ich hatte <strong>ein</strong>e kl<strong>ein</strong>e Baufirma in Istanbul, mit zwölf Angestell-<br />

ten, wir haben Häuser renoviert. Aber das war sehr stressig, man<br />

musste dem Geld hinterherlaufen. Ich habe mich sehr unwohl gefühlt<br />

und suchte <strong>ein</strong>en Job, den ich auch machen kann, wenn ich etwas<br />

älter werde.<br />

Türkische Geschäftsleute hatten mir erzählt, dass Fastfood im Nord-<br />

irak <strong>ein</strong> weitgehend unbestelltes Feld ist, und <strong>ein</strong>e Reise hierher hat mir<br />

das bestätigt. Dann erzählte mir <strong>ein</strong> Freund von „Wienerwald.“ Ich<br />

fragte nur „Wiener – was?“, hatte nie davon gehört, geschweige denn<br />

dort gegessen. In Istanbul habe ich es dann ausprobiert, bin <strong>ein</strong>ige<br />

Male mit der ganzen Familie hingegangen. Allen hat es geschmeckt,<br />

und mir war klar, dass ich damit auch in Erbil gute Chancen haben<br />

würde. Zumal die türkische Regierung <strong>ein</strong>e Unternehmensgründung<br />

im Nordirak mit sehr niedrigen Zinsen unterstützt.<br />

Warum das hier so gut läuft? In Erbil werden jede Woche Restau-<br />

rants wegen mangelnder Hygiene geschlossen – bei uns können die<br />

Gäste sicher s<strong>ein</strong>, dass alles sauber ist. Wir bekommen unsere Wa-<br />

ren aus der Türkei, da wird nicht geschludert. Natürlich könnte man<br />

sagen, es sei doch besser, lokale Produkte zu verarbeiten, und selbst-<br />

verständlich gibt es auch im <strong>Irak</strong> Hähnchen. Aber ich finde, die sehen<br />

alle <strong>ein</strong> bisschen krank aus. Zum anderen lieben die Leute hier alles,<br />

was aus Deutschland kommt, und unsere Gewürze sind wirklich ori-<br />

ginal. Hier zu essen ist auch <strong>ein</strong> bisschen Lifestyle, man lädt gern<br />

Freunde <strong>ein</strong>. Zum Glück haben die Leute k<strong>ein</strong>e Probleme mit mächtigem<br />

Essen – wenn du ihnen <strong>ein</strong>en dicken Hamburger servierst,<br />

fragen sie oft noch nach extra Brot. Und was uns auch hilft, ist ihre<br />

Neugier. Wir verkaufen ja auch Apfelstrudel und Mousse au Cho-<br />

colate – anfangs wussten die Leute damit nichts anzufangen, aber<br />

nachdem wir Stückchen umsonst verteilt haben, sind sie auf den<br />

Geschmack gekommen.<br />

Ich bin wirklich sehr glücklich mit m<strong>ein</strong>er neuen Arbeit. Verglichen<br />

mit der Baubranche ist alles viel <strong>ein</strong>facher, trotzdem bin ich m<strong>ein</strong><br />

eigener Boss mit fünf Angestellten. Alles ist so professionell, das Design<br />

ist toll, die Kunden kommen gerne wieder. Es ist <strong>ein</strong>fach <strong>ein</strong>e schöne<br />

Bestätigung, wenn sie mich bitten, doch demnächst <strong>ein</strong> Gartenrestaurant<br />

zu eröffnen. Oder sie fragen, ob wir nicht auch Hähnchen-Döner<br />

anbieten wollen – was wir demnächst tun werden. Und vielleicht kann<br />

ich bald in anderen Shopping-Malls oder in Sulaimaniya weitere<br />

Filialen eröffnen.<br />

Die Leute mögen unsere Farben, Weiß und Grün, denn die sind auch<br />

in der Landesflagge. Was „Wienerwald“ bedeutet, wissen die meisten<br />

Kunden allerdings nicht. Aber ihnen ist das Essen wichtig, nicht der<br />

Name, <strong>für</strong> sie sind wir <strong>ein</strong>fach der Laden mit den Hähnchen. Und wenn<br />

mich doch jemand fragt, sage ich immer, Wienerwald sei <strong>ein</strong> Ort in<br />

Österreich. Zugegeben, ich weiß wenig darüber. Aber ich würde gern<br />

<strong>ein</strong>mal hinfahren.<br />

„Das Goethe-Institut, der Deutsche Akademi-<br />

sche Austauschdienst, die Deutsche Schule<br />

Erbil, das Wirtschaftsbüro <strong>Irak</strong> – wir haben hier<br />

<strong>ein</strong> Geflecht von deutschen Institutionen auf-<br />

gebaut, mit denen man etwas bewegen kann.“<br />

Rolf Ulrich ist seit August <strong>2011</strong> Generalkonsul der Bundesrepublik<br />

Deutschland in Erbil.<br />

77


Gestatten,<br />

Khulusi!<br />

Er ist die graue Eminenz der deutsch-irakischen Wirtschaftsbeziehungen.<br />

Von Naumburg in Sachsen-Anhalt aus handelt Gelan Khulusi mit Schmierseife,<br />

Dosenbier und Datteln. Vor allem aber ex- und importiert er den<br />

wertvollsten Rohstoff der Welt: Beziehungen.<br />

78<br />

V<br />

or <strong>ein</strong> paar Jahren wäre Gelan Khulusi b<strong>ein</strong>ahe in den Naum-<br />

burger Stadtrat gewählt worden. Auf dem Wahlzettel stand er<br />

neben „Hans-Jürgen Schmidt, Druckermeister“ und „Andreas<br />

Rietschel, Pfarrer in Rente“. „Gelan Khulusi, Kaufmann“ als Naumburger<br />

Stadtrat – das wären <strong>ein</strong>ige Premieren auf <strong>ein</strong>mal gewesen. Khulusi<br />

wäre der erste <strong>Irak</strong>er mit deutschem Pass und kölschem Dialekt gewe-<br />

sen, der es in <strong>ein</strong> deutsches Stadtparlament schafft. Der erste, der <strong>ein</strong><br />

Patent auf <strong>ein</strong>e Falschgelderkennungsmaschine hält. Und der erste, der<br />

Inhaber <strong>ein</strong>er irakischen „Temporary Weapon Card“ ist, die ihm zum<br />

Waffentragen in <strong>Irak</strong> berechtigt. Erlaubte Waffen: AK47 Kalaschnikow<br />

und Pistolen bis Kaliber neun Millimeter. Leider kam es nicht dazu.<br />

Am Ende fehlten sieben Stimmen. Eine schöne Geschichte wäre das<br />

gewesen – allerdings nur <strong>ein</strong>e von vielen.<br />

Gelan Khulusi, Jahrgang 1963, <strong>ein</strong> kl<strong>ein</strong>er, kompakter Mann mit festem<br />

Händedruck und wachen Augen, ist so etwas wie die graue Eminenz der<br />

deutsch-irakischen Wirtschaftsbeziehungen. Er kann <strong>für</strong> sich in An-<br />

spruch nehmen, Naumburg, <strong>ein</strong>e 34.000-Einwohner-Stadt im südlichen<br />

Sachsen-Anhalt, zum unangefochtenen Zentrum eben dieser Bezieh-<br />

ungen gemacht zu haben. Seit Khulusi hier wirkt, lauten Reiserouten<br />

von Geschäftsleuten nicht selten: Bagdad-Istanbul-Naumburg.<br />

Khulusi leitet die „Deutsch-irakische Mittelstandsver<strong>ein</strong>igung Midan<br />

e.V.“ In ihr sind 4.000 mittelständische Unternehmen aus dem <strong>Irak</strong><br />

und Deutschland organisiert. 80 Prozent davon sind <strong>Irak</strong>er, der Rest deut-<br />

sche Unternehmer und Firmen. Mitgliedsbeitrag: 250 Euro jährlich.<br />

Für Midan arbeitet Khulusis ehrenamtlich. Midan unterhält Büros<br />

in Dohuk und Sulaymania sowie in Kirkuk und Kerbala. Das Büro<br />

in Bagdad wurde zwischenzeitlich mal in die Luft gesprengt, hat aber<br />

längst wieder eröffnet.<br />

S<strong>ein</strong> Geld verdient der Diplom-Betriebswirt, der 1980 in Köln ge-<br />

landet ist, damit, Gerätschaften <strong>für</strong> die Ölförderung in den <strong>Irak</strong> zu


exportieren. Die Firma da<strong>für</strong> heißt Kit. Einmal im Jahr, meist im Ok-<br />

tober, kommt es wegen Midan in Naumburg – wo Khulusi sich übrigens<br />

niederließ, weil s<strong>ein</strong>e Tochter hier <strong>ein</strong>e Hochbegabten-Schule besucht<br />

– zu exotischen Szenen.<br />

Dann ist wieder „deutsch-irakischer Unternehmertag“ und es stapfen<br />

schon mal knapp 200 <strong>Irak</strong>er am „Mohrencafe“ und der Kneipe „Bier-<br />

deckel“ vorbei in den Ratskeller, wo der Bürgermeister die Männer mit<br />

den Schnauzbärten gern erwartet. Dann ist Naumburg, wo vor Khu-<br />

lusis Ankunft der Höhepunkt des Jahres in <strong>ein</strong>er Mittelalter-Kostüm-Sau-<br />

se namens „Hussiten-Kirschfest“ bestand, <strong>für</strong> <strong>ein</strong> paar Tage eben jenes<br />

Zentrum der deutsch-irakischen Beziehungen.<br />

Die <strong>Irak</strong>er kommen nicht nur zu Besuch – oft investierten sie gleich<br />

<strong>ein</strong> wenig. Ein Haus in der Naumburger Altstadt ist jetzt in irakischer<br />

Hand und wird gerade denkmalpflegegerecht renoviert. Außerdem<br />

gibt es jetzt <strong>ein</strong>e Putzkolonne, die ihre Aufträge quasi aus dem <strong>Irak</strong><br />

bezieht: Ein <strong>Irak</strong>er hatte gleich <strong>ein</strong>e ganze R<strong>ein</strong>igungsfirma gekauft.<br />

60 Angestellte sind darüber glücklich.<br />

Midan e.V. ist <strong>ein</strong>e Art Anbahnungsinstitut <strong>für</strong> mittelständische<br />

Geschäfte aller Art. Mal wird zwischen den Mitgliedern der Import<br />

von Datteln ausgehandelt, dann geht es um Lkw oder gleich um<br />

<strong>ein</strong>e ganze Anlage zum Abfüllen von Mineralwasser.<br />

In Khulusis Flur stehen Bierdosen von Bitburger. „Ich bin seit 2004<br />

deren Generalvertreter im <strong>Irak</strong>“, sagt der gebürtige Bagdader. Auf dem<br />

Wohnzimmertisch hingegen, neben den saudischen Datteln, stehen<br />

Nüsse. „Haben Sie schon mal so große Nüsse gesehen?“, fragt Khulusi.<br />

Und die Frage ist bereits die Antwort. Natürlich nicht. „Kommen aus<br />

Moldawien“. Die Nüsse gehen auch in den <strong>Irak</strong>. Außerdem hält Khulusi<br />

<strong>ein</strong> Patent <strong>für</strong> <strong>ein</strong>e Maschine zur Falschgelderkennung.<br />

Ob die Unternehmung Kit oder Midan e.V. heißt, in Wahrheit hat<br />

Gelan Khulusi nur <strong>ein</strong> Produkt im Programm. Er ex- und importiert<br />

Beziehungen. Kontakte. Bindungen. Es ist der wertvollste Rohstoff<br />

der Welt. Manche machen daraus Politik. Manche Freundschaft. Manche<br />

Macht. Andere Geld. Bei Khulusi ist es von allem <strong>ein</strong> bisschen, am<br />

Ende kommt dabei das <strong>ein</strong>e oder andere gute Geschäft heraus.<br />

Dass Khulusi, seit drei Jahrzehnten in Deutschland, ausgeprägtes<br />

Kölsch spricht und Köln als <strong>ein</strong>e Stadt der Lebensfreude, der Kontaktfreude<br />

und der auf diesem Phänomen aufgebauten Geschäftswelt<br />

gilt, das passt zum Mann und s<strong>ein</strong>er Welt. Vielleicht muss man, wenn<br />

man wie Khulusi zweimal im Jahr nach Bagdad fliegt, sowieso <strong>ein</strong><br />

kölsches Gemüt haben: „Et hätt noch immer jot jejange“, sagt man<br />

auf Kölsch. Auf Arabisch heißt das: „Inschallah“.<br />

Die Partnerstadt von Naumburg liegt trotz aller Aktivitäten von Gelan<br />

Khulusi noch nicht im <strong>Irak</strong>, sondern ganz tief im Westen. Es ist Aachen.<br />

„M<strong>ein</strong> Ziel? Den <strong>Irak</strong> so schnell wie möglich<br />

mit dem 21. Jahrhundert zu verbinden.“<br />

Faruk Mustafa Rasool, Vorstand des Telekommunikationsunternehmens<br />

Asiacell, das nach eigenen Angaben im <strong>Irak</strong> 7,8 Millionen Kunden hat.<br />

79


„Es war kalt. Es war<br />

k<strong>ein</strong> Winter, aber <strong>für</strong><br />

mich war es kalt.“<br />

80<br />

U<br />

nd man verstand k<strong>ein</strong> Wort. Das sind m<strong>ein</strong>e ersten Erinne-<br />

rungen an Deutschland. Es war 2005, als ich mit <strong>ein</strong>em DAAD-<br />

Stipendium hierher gekommen bin. Erst habe ich an <strong>ein</strong>em<br />

Deutschkurs in Berlin teilgenommen, und im Oktober ging das Studium<br />

in Hannover los. 2008 habe ich den Master in Public Health erworben<br />

und arbeite seitdem an <strong>ein</strong>er Promotion im selben Fach.<br />

Public Health ist <strong>ein</strong> sehr breiter Bereich, es gibt da<strong>für</strong> k<strong>ein</strong>e Über-<br />

setzung. Das Fach umfasst die Gesundheit der gesamten Bevölkerung:<br />

Welche Krankheiten sind verbreitet, wie kann man den Gesundheits-<br />

zustand von Risikogruppen verbessern. M<strong>ein</strong>e Doktorarbeit beschäftigt<br />

sich mit der präventiven Orientierung von Zahnärzten in Niedersachsen<br />

und Bremen. Ich stehe kurz vor der Abgabe. Das freut mich<br />

riesig – das sind drei Jahre m<strong>ein</strong>es Lebens.<br />

In Hannover bin ich schnell in Kontakt mit den Menschen gekom-<br />

men. Ich habe <strong>ein</strong> paar ganz liebe Freundinnen in Deutschland gewon-<br />

nen. Leider sind sie nicht mehr in Hannover, aber wir treffen uns <strong>ein</strong><br />

paar Mal im Jahr. Von deren Familien wurde ich auch mehrmals zu Weih-<br />

nachten <strong>ein</strong>geladen, das fand ich sehr schön. Das war <strong>für</strong> mich <strong>ein</strong><br />

neues Erlebnis.<br />

Ich glaube, die Menschen sind hier manchmal etwas ängstlich. Sie<br />

wissen nicht genau, wie sie mit Ausländern umgehen sollen. Ich denke<br />

auch, dass sie zu wenig über den <strong>Irak</strong> wissen; ob das nun die Ge-<br />

schichte, die geographische Lage, die Religion oder die Frauen betrifft.<br />

Teilweise hat man mir nicht geglaubt, dass ich m<strong>ein</strong> zahnmedizini-<br />

sches Studium im <strong>Irak</strong> absolviert habe. Woran die Menschen als erstes<br />

denken, sind die Märchen aus Tausenund<strong>ein</strong>er Nacht. Das finde ich<br />

putzig. Aber ich denke, das liegt an den Medien und dem geringen gegen-<br />

seitigen Interesse der Verlage. Es gibt so wenige arabische Bücher,<br />

die ins Deutsche übersetzt werden. Da denken die Menschen halt an<br />

das <strong>ein</strong>e Buch, das sie kennen.<br />

Was ich am <strong>Irak</strong> vermisse? Die Wärme m<strong>ein</strong>er Familie. Die Sonne.<br />

Frische Datteln, die man hier nicht bekommt. Andererseits: Ich liebe<br />

das deutsche Brot. Schwarzbrot, Vollkornbrot, Mehrkornbrot – das<br />

ist wirklich <strong>ein</strong> Markenzeichen <strong>für</strong> Deutschland. Aber ich vermisse<br />

vor allem die Familie. Einige Male habe ich m<strong>ein</strong>e Eltern und m<strong>ein</strong>e<br />

Schwester in der Türkei, Syrien und Jordanien getroffen, weil es zu un-<br />

sicher war, in den <strong>Irak</strong> zu fliegen. Im April war ich nach sechs Jahren<br />

das erste Mal wieder in Bagdad, um m<strong>ein</strong>e Familie zu treffen. Das war<br />

<strong>ein</strong>e lange Zeit.<br />

Wo ich in zehn Jahren s<strong>ein</strong> will, das ist <strong>ein</strong>e schwierige Frage. Am<br />

liebsten würde ich im internationalen Bereich arbeiten, <strong>für</strong> die Welt-<br />

gesundheitsorganisation etwa. Dort gibt es <strong>ein</strong>e Abteilung Oral<br />

Health, das wäre <strong>für</strong> mich sehr interessant. Ich könnte mir aber auch<br />

vorstellen, an <strong>ein</strong>er Schnittstelle zwischen <strong>Irak</strong> und Deutschland<br />

zu arbeiten. Ich kenne beide Länder gut. Außerdem würde ich gerne<br />

in Kontakt mit m<strong>ein</strong>en Freundinnen, den Professoren und der<br />

Universität bleiben. Diese Verbindung nach Deutschland möchte<br />

ich nie verlieren.<br />

Rugzan Jameel Huss<strong>ein</strong> promoviert an der Medizinischen Hochschule<br />

Hannover im Bereich Bevölkerungsmedizin und Gesundheitswesen (Public<br />

Health). Zuvor hat die DAAD-Stipendiatin dort von 2005 bis 2008 ihr<br />

Masterstudium absolviert. Auch ihre Promotion wird vom DAAD gefördert.<br />

Das Thema der Arbeit: „Präventive Aktivität niedergelassener Zahnärzte<br />

in Niedersachsen und Bremen“.


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82<br />

Auf Achse<br />

Der Lkw-Verkäufer Gerhard Mangold hat sich in den <strong>Irak</strong> gewagt.<br />

Entweder fährt er demnächst auf der Überholspur oder er landet im<br />

Graben. Ein Hausbesuch in Matzenbach-Gimsbach.<br />

D<br />

er Weg zu Gerhard Mangold führt vom Bahnhof in Land-<br />

stuhl zunächst über die Autobahn und schließlich über schmale<br />

Straßen durch das saftige Wald- und Wiesenland der Pfalz<br />

hin<strong>ein</strong> nach Matzenbach-Gimsbach, <strong>ein</strong> Örtchen am Hang mit gut 250<br />

Einwohnern. Dann in <strong>ein</strong> gepflegtes Einfamilienhaus, hinter der<br />

Eingangstür gleich links die Treppe hinunter in <strong>ein</strong> Büro mit zwei nicht<br />

zu großen Fenstern. Vor dem linken Fenster steht <strong>ein</strong> Schreibtisch,<br />

dahinter sitzt Gerhard Mangold, 63 Jahre alt, Brille, weißes Hemd. Auf<br />

s<strong>ein</strong>em Schreibtisch steht <strong>ein</strong>e bronzene Grußplakette von Moham-<br />

mad Hamid Al Mousawi, dem Chef des Provinzrates von Kerbela, und<br />

an der Wand gegenüber hängt <strong>ein</strong> Foto der Imam-Huss<strong>ein</strong>-Moschee.<br />

Mangold lächelt und sagt: „Ich stehe kurz vor m<strong>ein</strong>er dritten Reise in den<br />

<strong>Irak</strong>. Die Anfänge sind gemacht, jetzt aber sollte etwas Substanzielles<br />

folgen.“ In den vergangenen zwei Jahren war er schon zweimal in Kerbela,<br />

hat sich herumreichen lassen und Gespräche geführt. Im Sommer<br />

hat er <strong>ein</strong>e irakische Regierungsdelegation durch s<strong>ein</strong>e Region geleitet.<br />

Er hat erste Aufträge bekommen und erste Hilfe geleistet. Jetzt hofft<br />

er auf feste Bande.<br />

Gerhard Mangold ist nicht im Gepäck <strong>ein</strong>es wichtigen deutschen<br />

Ministers gereist. Er ist auch nicht Teil der etablierten Netzwerke aus<br />

deutschen Geschäftsleuten, Saddams ehemaligen Getreuen und<br />

denjenigen irakischen Familien, die schon seit Urzeiten in der Geschäfts-<br />

welt die Strippen ziehen. Mangold ist <strong>ein</strong> selbstständiger Lkw-Händ-<br />

ler aus der Pfalz auf der Suche nach Möglichkeiten. Er ist <strong>ein</strong>er, über<br />

den die Großen gern lachen. Ein winziges Rad im Wirtschaftsge-<br />

triebe, dem man oft überhaupt k<strong>ein</strong>e Chancen <strong>ein</strong>räumt. Ein Putzerfisch<br />

im Haifischbecken.<br />

Aber Gerhard Mangold ist <strong>ein</strong>er von Tausenden, ohne die erfolg-<br />

reiche Wirtschaft nicht denkbar wäre, weil es dazu <strong>ein</strong>er Vielzahl von<br />

Ideen bedarf und Menschen, die Chancen angehen, auch wenn sie<br />

noch zu kl<strong>ein</strong> sind <strong>für</strong> die Tanker des Big Business. Zwar ist s<strong>ein</strong>e Ge-<br />

schichte noch nicht die großer Siege, und ob er sie in Zukunft <strong>ein</strong>fahren<br />

wird, ist ungewiss. Aber sie ist die Geschichte von <strong>ein</strong>em, der<br />

etwas will, und der Fähigkeit, durchzuhalten – was gerade im <strong>Irak</strong><br />

entscheidend ist. „Ich will nicht die dicken Millionen scheffeln“, sagt<br />

Gerhard Mangold, „und ich bin k<strong>ein</strong> Hasardeur. Natürlich möchte<br />

ich Geld verdienen, aber es geht mir auch darum, dem Land zu helfen.<br />

Es geht um Arbeitsplätze und Infrastruktur. Ich will probieren, ob<br />

ich etwas schaffe. Und <strong>ein</strong> bisschen was geht ja schon.“<br />

Gerhard Mangold war <strong>ein</strong>mal Lkw-Fahrer, 11 Jahre lang lenkte er Be-<br />

tonmischer über Straßen und Baustellen. Ende der 1980er Jahre begann<br />

er nebenher, <strong>für</strong> <strong>ein</strong>en Baumaschinenhändler in Niedersachsen ge-<br />

brauchte Autos und Lkw zu besorgen, 1992 schließlich machte er sich<br />

selbstständig. Seitdem handelt er vor allem mit fabrikneuen Lkw,<br />

kauft sie von den Herstellern und verkauft sie etwa an Speditionen und<br />

Baufirmen. „Ich war nie insolvent, und m<strong>ein</strong> Rating ist erstklassig“,<br />

sagt Mangold, und man merkt, dass er stolz ist auf die Strecke, die er


zurückgelegt hat. Deutschland hat er dabei nicht verlassen – „hier ist<br />

m<strong>ein</strong> Feld, hier kenne ich mich aus.“<br />

Wie kommt <strong>ein</strong>er wie Mangold in den <strong>Irak</strong>? Ein Land, von dem er lange<br />

nur wusste, dass dort Krieg war und jetzt im Grunde alles kaputt ist?<br />

Er hat den <strong>Irak</strong> nicht gesucht. Im Lkw-Geschäft läuft viel über Netzwerke,<br />

man kennt sich, vermittelt <strong>ein</strong>ander. Mangold wurde gefunden,<br />

von zwei Exilirakern auf der Suche nach Geschäften. Das war im<br />

Frühjahr 2009. „Das waren Leute, die eigentlich alles suchten, was sich<br />

im <strong>Irak</strong> verkaufen lässt“, erinnert sich Mangold, „und sie hatten<br />

Kontakte zur Provinzregierung in Kerbela.“<br />

Er hört ihnen zu, sie laden ihn <strong>ein</strong> zu <strong>ein</strong>er Reise in den <strong>Irak</strong>, auf ihre<br />

eigenen Kosten. Mangold denkt nach: „Der <strong>Irak</strong> ist ausbaufähig, Möglichkeiten<br />

bestehen in fast allen Geschäftsbereichen. In Dubai standen früher<br />

auch nur Zelte in der Wüste. Also probiere ich das mal aus.“<br />

Und so reist Gerhard Mangold im Juni 2009 das erste Mal in den<br />

<strong>Irak</strong>. Im gepanzerten Konvoi rast er von Bagdad nach Kerbela. Schon<br />

ungewohnt sei das gewesen, sagt Mangold, „aber man muss k<strong>ein</strong>e<br />

Angst haben, sondern Respekt.“<br />

Mangold lässt sich auf die Sache <strong>ein</strong>, lässt sich <strong>ein</strong>e Woche lang he-<br />

rumreichen, spricht mit Regierenden, mit Geschäftsleuten. „Wasser,<br />

Hochbau, Lkw“, erinnert sich Mangold, „wer kann und braucht was<br />

- darüber haben uns unterhalten.“ Gute Gespräche seien das gewesen,<br />

in <strong>ein</strong>em kaputten Land. Als er zurückfährt, glaubt er, vieles sei<br />

machbar, wenn beide Seiten gut kooperieren und ihre Hausaufgaben<br />

machen. S<strong>ein</strong>e irakischen Partner haben ihm Gelände zur Verfügung<br />

stellt, <strong>für</strong> das soll er nun ansiedlungswillige Firmen aus Deutschland<br />

finden. Er könnte auch Waren liefern, die der <strong>Irak</strong> dringend benötigt<br />

– und was braucht der <strong>Irak</strong> nicht, außer Öl? Das alles hat nichts mit Lkw<br />

zu tun, aber das ängstigt ihn nicht: „Ich bin flexibel“, sagt Mangold,<br />

„ich kann auch Wasseraufbereitungsanlagen verkaufen.“<br />

U<br />

nd so rutscht Gerhard Mangold voller Enthusiasmus in s<strong>ein</strong>e<br />

erste Enttäuschung. Er sucht Firmen, sucht Lieferanten – aber<br />

k<strong>ein</strong>er beißt an. „Es hieß dann immer: K<strong>ein</strong> Bedarf“, sagt<br />

Mangold, „aber eigentlich hatten sie wohl Angst.“ Mangold sagt, er sei<br />

davon doch ziemlich überrascht gewesen. „Im <strong>Irak</strong> gibt es viel Arbeit<br />

und billige Arbeitskräfte“, wundert er sich noch heute, „das sind doch<br />

Chancen. Alle reden, aber dann geht doch k<strong>ein</strong>er los. Man könnte Ar-<br />

beitsplätze schaffen und die Leute von der Straße holen, aber oft geht<br />

es wohl nur darum, das dicke Geld zu machen.“<br />

Gerhard Mangold hätte schon zu diesem Zeitpunkt aufstecken kön-<br />

nen. Er hatte k<strong>ein</strong> eigenes Geld investiert, das er irgendwie wieder r<strong>ein</strong>-<br />

holen musste. Auch ließ er s<strong>ein</strong> eigentliches Lkw-Geschäft niemals<br />

schleifen. Aber Mangolds Zuversicht war ungebrochen. „Es muss schließ-<br />

lich was passieren. Im Norden geht es doch auch. Im <strong>Irak</strong> liegt so<br />

vieles im Argen, wenn da nicht investiert wird, gehen die Leute irgend-<br />

wann auf die Barrikaden. Und es gibt ja durchaus ausländische Fir-<br />

men, die es auf den Markt geschafft haben.“<br />

Gerhard Mangold wartet nicht ab, er erweitert s<strong>ein</strong> Spektrum. Er<br />

kooperiert mit <strong>ein</strong>em Wirtschaftsingenieur, der sich gut mit Bauma-<br />

schinen auskennt und sich ums Auslandsgeschäft kümmert. Zementmühlen,<br />

Betonfräsen, Krane – so vieles ist möglich. Er sucht Kontakt<br />

zu <strong>ein</strong>em Solaranlagenbauer. Im Januar <strong>2011</strong> reist Mangold erneut<br />

nach Kerbela, trotz beidseitiger Lungenentzündung. Wieder lässt er<br />

sich <strong>ein</strong>e Woche herumreichen, redet mit anderen Leuten über die<br />

immer gleichen Dinge. Kommt voller Verständnis <strong>für</strong> die Mentalität<br />

im <strong>Irak</strong> zurück: „Es dauert eben. Die Leute dort gucken sich ihre<br />

Partner genau an, sie haben Angst vor Hasardeuren.“<br />

Und wieder fällt er ins Loch. „Auch danach ist <strong>ein</strong>fach nichts passiert“,<br />

sagt Mangold. „Aber ich hatte mir schon soviel Arbeit gemacht, da gibt<br />

man nicht auf.“<br />

Vielleicht liegt es daran, dass Gerhard Mangold seit über 20 Jahren<br />

s<strong>ein</strong> Schicksal in den eigenen Händen hält. Wer k<strong>ein</strong>en hat, der ihm<br />

sagt, wo es langgeht, muss sich eben selbst etwas <strong>ein</strong>fallen lassen.<br />

Und so sucht Mangold nach Geschäften, die er selbst gestalten kann,<br />

erinnert sich an s<strong>ein</strong>e Besuche in irakischen Kliniken. „Eine Tablette<br />

<strong>für</strong> alle Krankheiten, Schmutz. Und in der Küche wird überm offenen<br />

Feuer gekocht. Das zu sehen, tat weh.“<br />

A<br />

us s<strong>ein</strong>er Betroffenheit zieht Gerhard Mangold schließ-<br />

lich <strong>ein</strong>e Geschäftsidee: Medizintourismus. Ein halbes Jahr<br />

lang verhandelt er mit Krankenhäusern in s<strong>ein</strong>er Region<br />

über die Aufnahme privat zahlender Patienten aus dem <strong>Irak</strong>, natürlich<br />

gegen Vermittlungsprovision, und er schafft es schließlich an der<br />

Uniklinik Homburg, dort zusätzlich irakische Ärzte zur kostenlosen<br />

Weiterbildung unterzubringen, was ihm k<strong>ein</strong> Geld bringt, aber <strong>ein</strong><br />

gutes Gefühl. Und hoffentlich <strong>ein</strong>en guten Ruf bei s<strong>ein</strong>en irakischen<br />

Partnern in Regierungskreisen, die er zudem zu sich <strong>ein</strong>lädt im<br />

Sommer diesen Jahres, mit denen er die Klinik und diverse regionale<br />

Firmen besucht.<br />

Einige Monate später sitzt Gerhard Mangold an s<strong>ein</strong>em Schreibtisch<br />

unter dem linken Fenster s<strong>ein</strong>es Büros im Keller, denkt zurück und<br />

damit zugleich nach vorn. Die Patienten, die Ärzte – im November soll<br />

es losgehen. Mangolds monetäre Erwartungen sind bescheiden<br />

– „fünf-sechs Patienten die Woche, damit wäre ich zufrieden. Ich bin<br />

genügsam, will ja nicht den höchsten Turm von Kerbela bauen.“<br />

Aber er hofft, dass er damit Signale gesetzt hat, die s<strong>ein</strong>e irakischen<br />

Partner verstehen. „Die irakischen Ärzte kehren nach ihrer Weiter-<br />

bildung zurück ins Land, das hat durchaus <strong>ein</strong>en humanitären Aspekt,<br />

ist etwas Gutes. Ich habe gearbeitet und gezeigt, dass ich nicht nur<br />

absahnen will. Aber ich kann nicht nur von Luft und Liebe leben,<br />

deshalb muss sich jetzt was bewegen.“<br />

Wer etwas leistet, wünscht sich eben auch <strong>ein</strong>e Gegenleistung.<br />

In Mangolds Fall heißt das: Aufträge.<br />

Mangold beschwert sich nicht, er wünscht sich <strong>ein</strong>fach, dass end-<br />

lich was losgeht. Aus dem <strong>Irak</strong> hat er Bauprojekte <strong>für</strong> <strong>ein</strong> paar tausend<br />

Wohnungen bekommen, Firmen soll er da<strong>für</strong> suchen, <strong>für</strong> Joint Ventures<br />

mit irakischen Unternehmen. Wieder versucht er es, allerdings<br />

kaum mehr in Deutschland, sondern in der Türkei und der Ukraine.<br />

„Die Ukrainer haben k<strong>ein</strong>e Angst, aber die Deutschen…“, sagt Mangold<br />

nur, „dabei würde ich doch selbst mitfliegen, und <strong>für</strong> den Schutz wäre<br />

gesorgt.“ Es hängt viel an diesen Bauprojekten – nicht nur die mögliche<br />

Provision, sondern all die Lkw und Baumaschinen, die Mangold den<br />

durch ihn vermittelten Firmen vielleicht liefern könnte.<br />

Gerhard Mangold beißt sich durch, und er wird nun <strong>ein</strong> drittes Mal<br />

nach Kerbela reisen. Natürlich könne er <strong>für</strong> <strong>ein</strong>en Erfolg nicht garan-<br />

tieren, trotzdem sei er nach wie vor zuversichtlich. Warum? „Ich<br />

arbeite nicht mit irgendwelchen Händlern zusammen, sondern mit<br />

der Regierung“, m<strong>ein</strong>t er, „das muss langfristig klappen, schließlich<br />

wird dort das Geld verteilt.“ Dass Leute wie er Schlange stehen an<br />

den Geldtöpfen und viele irakische Auftraggeber mögliche Partner<br />

zwar an der langen L<strong>ein</strong>e halten, aber letztlich nie zum Zuge kommen<br />

lassen – all das weiß Mangold. „Aber ich will doch nicht den ganzen<br />

Kuchen, sondern nur <strong>ein</strong> kl<strong>ein</strong>es Stück. Da ist mit Sicherheit auch was<br />

<strong>für</strong> mich drin.“<br />

Und wie steht es mit der Gefahr, dass er sich viel Arbeit macht, sich<br />

aber jemand anders am Ende den Hals vollschlägt? Dass <strong>ein</strong> Hai den<br />

kl<strong>ein</strong>en Putzerfisch <strong>ein</strong>fach verschluckt? Gerhard Mangold hebt die<br />

Schultern. „Natürlich kann man an <strong>ein</strong>em Kuchenstück knabbern und<br />

am Ende reißt es <strong>ein</strong>em <strong>ein</strong> Großer aus dem Mund. Aber man muss<br />

es eben probieren.“<br />

Wenn es jetzt wieder nichts wird, sagt der Lkw-Händler Gerhard<br />

Mangold noch, wolle er noch immer nicht aufgeben. „Aber dann<br />

schalte ich aus dem sechsten in den zweiten Gang.“<br />

83


W<br />

enn man über den <strong>Irak</strong> spricht, dann spricht man über<br />

die älteste Zivilisation der Welt. Das Zweistromland gilt als<br />

Krippe der Geschichte. Es geht um <strong>ein</strong> kreatives, tapferes<br />

und vielfältiges Volk, dem Gott natürliche Ressourcen und phantasie-<br />

volle Menschen beschert hat. Vor 2003 haben die <strong>Irak</strong>er unter Un-<br />

recht, Elend und Verschwendung ihres Vermögens gelitten. Nun dürfen<br />

sie in Freiheit leben, die sie teuer bezahlt haben. Auch deshalb sind<br />

sie entschlossen, mit dem Aufbau des demokratischen und föderalen<br />

<strong>Irak</strong>s weiterzumachen – trotz der vielen Herausforderungen, die<br />

diese Aufgabe mit sich bringt.<br />

Das neue Regime hat <strong>ein</strong>e zerbrochene Infrastruktur geerbt – <strong>ein</strong>e<br />

kaputte Industrie und <strong>ein</strong>en großen Mangel an Grundleistungen. Des-<br />

halb wollen die <strong>Irak</strong>er das Land möglichst schnell und möglichst<br />

gut wiederaufbauen. Das erfordert mehr Ressourcen und Wissen,<br />

als uns heute zur Verfügung stehen. Aus diesem Grund versucht<br />

unsere Regierung, Investoren Garantien zu geben und ihnen so den<br />

Zugang zum irakischen Markt zu erleichtern. Damit sie sich an dem<br />

Wiederaufbau – in welchem Bereich auch immer – beteiligen können.<br />

Ich habe mich über 20 Jahre lang <strong>für</strong> die Umsetzung der Men-<br />

schenrechte engagiert. Nach Jahren der Repression und der Freiheits<strong>ein</strong>schränkungen<br />

auf allen Ebenen genießen die <strong>Irak</strong>er heute <strong>ein</strong>e<br />

Demokratie, die sie in der Gesellschaft verfestigen wollen. Auch der<br />

Freiraum <strong>für</strong> Glaubens- und M<strong>ein</strong>ungsfreiheit ist größer geworden.<br />

Es gibt über 200 Zeitungen und 40 Fernsehkanäle – das sind heute ech-<br />

te Kontrollorgane, die Fehler in allen Bereichen aufzudecken versuchen.<br />

Trotzdem müssen wir unsere Arbeit intensivieren, um sich<br />

immer wieder <strong>ein</strong>schleichende Systemfehler zu beseitigen – <strong>ein</strong><br />

Erbe des alten Regimes.<br />

Mir persönlich sind die nationalen und moralischen Pflichten be-<br />

wusst. Ich will alles nur Erdenkliche tun, um m<strong>ein</strong>er Heimat und mei-<br />

84<br />

nem Volk zu dienen. Zusammen mit weiteren mutigen <strong>Irak</strong>ern bin<br />

ich bereit, den Wiederaufbau voranzutreiben und <strong>für</strong> den Wohlstand<br />

m<strong>ein</strong>es Volkes zu sorgen. Ich bin sehr froh, diesen Beitrag durch m<strong>ein</strong>e<br />

Arbeit in Deutschland leisten zu dürfen. Deutschland ist <strong>ein</strong> wunderbares<br />

Land, es hat großartige Ressourcen und <strong>ein</strong> kreatives Volk. Über-<br />

all bin ich auf guten Willen gestoßen, mit uns zusammenzuarbeiten<br />

und das gem<strong>ein</strong>same Ziel zu realisieren: den Aufbau <strong>ein</strong>es demokra-<br />

tischen Staates<br />

Dr. Huss<strong>ein</strong> Mahmud al-Khatib, irakischer Botschafter in Berlin.


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Aber mit ihrer Kommunikation tragen<br />

sie ebenso Verantwortung.<br />

Verantwortung <strong>für</strong> die Entstehung <strong>ein</strong>er<br />

unabhängigen Medienlandschaft – von<br />

der sie selbst profitieren. So schließt sich<br />

der Kreis.“<br />

Thomas Koch<br />

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Auf nach<br />

Bagdad<br />

Ein Plädoyer, <strong>ein</strong>e Liebeserklärung oder <strong>ein</strong>fach nur sechs gute Gründe<br />

<strong>für</strong> den <strong>Irak</strong>. Von Dr. Florian Amereller, Rechtsanwalt.<br />

1.<br />

Die Menschen: Die <strong>Irak</strong>er, soweit man überhaupt von „dem <strong>Irak</strong>er“<br />

sprechen kann, sind <strong>ein</strong> ganz besonderes Volk. Ich lebe seit 25 Jahren<br />

im Nahen Osten und der <strong>Irak</strong> ist <strong>für</strong> mich <strong>ein</strong>es der spannendsten<br />

Länder in der Region, <strong>ein</strong> Land der Extreme. Ich genieße deshalb die<br />

Zusammenarbeit mit m<strong>ein</strong>en extrem zuverlässigen, offenen, lern-<br />

willigen, professionellen, hart arbeitenden und moralisch fest verwurzelten<br />

irakischen Kollegen. Ich genieße die Sympathie, die uns Deut-<br />

schen überall im <strong>Irak</strong> begegnet, ich genieße es, wenn ich fast an jeder<br />

Ecke, insbesondere in Kurdistan, von jungen und in Deutschland<br />

aufgewachsenen <strong>Irak</strong>ern in m<strong>ein</strong>er Sprache angesprochen werde, die<br />

jetzt <strong>für</strong> uns <strong>ein</strong>e Brücke in den <strong>Irak</strong> bauen. Und ich kann dann so-<br />

gar mit der deutschen Volksmusik leben, die <strong>ein</strong> Mitarbeiter unseres<br />

Büros in Basra voller Stolz abspielt, wenn er mich vom Flughafen<br />

abholt (es ist wirklich das „volle Programm“).<br />

2.<br />

Chancen: Es gibt wenige Märkte mit größeren Chancen als den <strong>Irak</strong>.<br />

Das Land hat unglaublichen Aufbaubedarf, enorme Erdölreserven und<br />

<strong>ein</strong>en damit verbundenen Ausbaubedarf der Öl- und Gas-Infrastruk-<br />

tur, ist geostrategisch <strong>ein</strong>zigartig positioniert und hat immer noch <strong>ein</strong>e<br />

gut ausgebildete Gruppe von Arbeitnehmern. Es hat seit 1990 - und<br />

sogar eigentlich noch früher - k<strong>ein</strong>e wesentlichen Infrastrukturprojekte<br />

mit ausländischer Hilde durchgeführt und deshalb <strong>ein</strong>en enormen<br />

Nachholbedarf, und zwar sowohl im privaten Sektor als auch im öffent-<br />

lichen. Nach seriösen Schätzungen wird der <strong>Irak</strong> die Liste der aus-<br />

ländischen Investitionsempfänger im Nahen Osten mit ganz weitem Ab-<br />

stand anführen, und vor Ort wird fast alles gebraucht. Deshalb haben<br />

wir auch in Bagdad, Erbil und Basra Büros eröffnet.<br />

3.<br />

Herausforderungen: Es gibt wenig Märkte, die Ausländer vor grös-<br />

sere Herausforderungen stellen, sowohl im Hinblick auf die Verwaltung,<br />

die Sicherheit, die Rekrutierung von Mitarbeitern, die Anwendung<br />

des lokalen Rechts als auch im Hinblick auf die Rechtssicherheit. Fast<br />

nichts ist so, wie es am Anfang ersch<strong>ein</strong>t und Projekte brauchen viel<br />

Geduld, Planung und politisches Gespür. Wer aber das System verstan-<br />

den hat und mit lokalen Partnern vor Ort gut und vertrauensvoll<br />

zusammenarbeitet, dem öffnet sich <strong>ein</strong>er der interessantesten Märkte<br />

der Welt, zumindest dann, wenn man die nötige Geduld zur Marktbearbeitung<br />

mitbringt.<br />

4.<br />

Vielfalt und Widersprüche: Der <strong>Irak</strong> ist <strong>ein</strong> Land der Extreme, der<br />

Vielfalt, der Gegensätze und der Widersprüche, und zwar auf allen<br />

Ebenen: politisch, religiös, gesellschaftlich, administrativ, verfas-<br />

sungsrechtlich und ethnisch. Und es gibt wenige Gesellschaften im<br />

Nahen Osten, in denen die Extreme weiter aus<strong>ein</strong>ander liegen, sei<br />

es im Bereich Compliance, Demokratieverständnis, Verantwortung <strong>für</strong><br />

das Gem<strong>ein</strong>wesen, Frömmigkeit und gelebte Werte und das, was wir<br />

in Deutschland Sekundärtugenden nennen. Die Stämme, die Religionen,<br />

die Parteien, die Familien, die Allianzen - all das ist <strong>ein</strong> faszinieren-<br />

des und manchmal undurchschaubares Geflecht von Interessen und<br />

Allianzen, die es zu verstehen gilt.<br />

5.<br />

Das Land, die Natur und das Essen: Ich liebe m<strong>ein</strong>e Abendessen<br />

im libanesischen Club auf <strong>ein</strong>em Ponton am Tigris, den Masgouf im<br />

Alawiyya Club, das irakische Kebab am Shatt Al Arab, die Dattel-<br />

haine in Basra und die etwas kitschigen Goldkacheln im eben wiedereröffneten<br />

Ishtar Hotel in Bagdad. Ich genieße die Ausflüge in die<br />

Berge und zu den Seen in Kurdistan, bin be<strong>ein</strong>druckt von Atmosphäre<br />

und Architektur der heiligen Stätten in Kerbala und Nadschaf, habe es<br />

leider bis heute noch nicht zu den Ausgrabungen von Babylon geschafft.<br />

6.<br />

Die internationale Wahrnehmung und die Wirklichkeit: Wie so oft<br />

ist die internationale Wahrnehmung des <strong>Irak</strong>s häufig verzerrt; heute<br />

ist der <strong>Irak</strong> in vielen Teilen relativ sicher, und man kann sich als<br />

Europäer mittlerweile ohne große Sicherheitsvorkehrungen bewegen.<br />

Andererseits muss man in manchen Teilen des Landes (und Bag-<br />

dads) immer noch extrem vorsichtig s<strong>ein</strong> und kann sich dort manch-<br />

mal auch nicht ohne Sicherheitsschutz bewegen. Es gibt sicherlich<br />

<strong>ein</strong> Geschäft mit der Angst, aber manchmal ist diese auch sehr berech-<br />

tigt. <strong>Irak</strong> ist weder kontrolliert von den USA noch vom Iran, aber<br />

die Gewichte verschieben sich langsam, alles bleibt spannend und<br />

vieles wird wohl nicht so laufen, wie von den vielen internatio-<br />

nalen Spezialisten vorausgesagt.<br />

87


Wie es<br />

uns<br />

gefällt!<br />

Kopftuch aus Iran, Jacke aus Berlin, Schuhe aus China.<br />

Ein modischer Streifzug durch die Salahaddin Universität in Erbil.<br />

Renas Skur Aziz, 20<br />

Auch das Kopftuch sollte man mit Stil tragen. Die schönsten<br />

kommen aus Iran, wie überhaupt unser Stil sehr von dort be<strong>ein</strong>flusst<br />

ist. Dreiviertellange Mäntel kombiniert mit engen Hosen und dazu<br />

das Kopftuch etwas lockerer tragen, das ist iranische Mode.<br />

Ashzi Abdulla, 21<br />

M<strong>ein</strong>e Inspiration hole ich mir bei MTV. Wenn ich die Klamotten<br />

hier nicht finde, melde ich mich bei m<strong>ein</strong>em Onkel in Berlin. Die Jacke,<br />

die ich trage, hat er <strong>für</strong> mich bei H&M gekauft. Warum ich k<strong>ein</strong><br />

Kopftuch trage? Weil es darauf ankommt, was im Kopf drin ist, nicht,<br />

ob was drauf ist.<br />

89


Muhamed O. Qadir, 23<br />

Das ist m<strong>ein</strong> Business-Anzug. Ich habe ihn auf dem Markt <strong>für</strong> 200<br />

Dollar gekauft. Welche Marke der hat? K<strong>ein</strong>e Ahnung, ich habe ihn<br />

genommen, weil er mir gefallen hat.<br />

90<br />

Jwan A. Rahim, 21<br />

Ich mag m<strong>ein</strong>e Schuhe, ich mag m<strong>ein</strong>e Tasche, ich mag m<strong>ein</strong> Kleid.<br />

Was ich überhaupt nicht mehr mag, sind Schuhe mit hohen Absätzen<br />

und Make-up. Beides hat mir nicht gut getan, und wenn ich ehrlich<br />

bin, verstehe ich nicht, wieso das außer mir hier fast k<strong>ein</strong>e kapiert.


Vaheen Haider, 21<br />

Ich schaue mir hin und wieder im Internet <strong>ein</strong> paar internationale<br />

Modeseiten an. Eins zu <strong>ein</strong>s lässt sich der westliche Stil aber nicht auf<br />

unsere Kultur übertragen. Wir haben unsere Religion, unsere Traditionen<br />

und deshalb auch unsere ganz eigene Mode.<br />

Shawin Adel Hammad, 19<br />

Der Schal ist <strong>ein</strong> Geschenk. Zum Glück, denn Geld <strong>für</strong> Kleider gebe<br />

ich schon genug aus. Mindestens <strong>ein</strong>mal in der Woche mache ich <strong>ein</strong>en<br />

Streifzug durch die Shops und schaue nach, ob was Neues r<strong>ein</strong>gekommen<br />

ist. Das muss <strong>ein</strong>fach s<strong>ein</strong>, schließlich ziehe ich ja auch jeden Tag<br />

etwas anderes an.<br />

91


Rekan Fathi, 25, (rechts) und s<strong>ein</strong> Freund Musafar Mamand, 25<br />

Ich komme eigentlich aus Düsseldorf. Ich habe dort 19 Jahre lang<br />

gelebt, dann sind wir zurückgekommen. Ich fühle mich immer noch<br />

mehr als Deutscher denn als Kurde. Das sieht man auch an m<strong>ein</strong>en<br />

Kleidern. Alles, was ich trage, kommt aus Deutschland. Die Sachen, die<br />

man hier kaufen kann, sind doch nach <strong>ein</strong> paar Tagen kaputt.<br />

92<br />

von links:<br />

Shadan Mahmad Mohamed, 22<br />

Die Kette, die ich anhabe, ist nichts Besonderes. Ich habe sie vor<br />

<strong>ein</strong>em Jahr auf dem Basar gekauft und heute mal wieder angezogen,<br />

weil sie so gut zu dem roten T-Shirt und den roten Schuhen passt.<br />

Sara Jalal, 21<br />

N<strong>ein</strong>, m<strong>ein</strong> Mantel ist nicht neu. Der ist sogar schon zwei Jahre alt.<br />

Ich gebe auf m<strong>ein</strong>e Kleider <strong>ein</strong>fach sehr, sehr gut acht, damit ich länger<br />

was davon habe.<br />

Irani Amjad, 21<br />

Zuletzt habe ich mir auf dem Bazar die Schuhe gekauft, die ich<br />

gerade trage. Sie haben 10.000 irakische Dinar (ca. 7 Euro) gekostet<br />

und kommen aus China.


Personen-<br />

register<br />

Abdulla, Ashzi 89<br />

Abdul-Wahid, Shaswar 74f.<br />

Ahmad, Salah 62f.<br />

Ahmad 27<br />

Ali, Sabri Karim 14f.<br />

Allawi, Ijad 48<br />

Amereller, Florian 49, 86f.<br />

Amjad, Irani 92<br />

Anu 23<br />

Anwar, Nariman 8f., 52f.<br />

Aouny, Talan 46<br />

al-Assad, Bashar 58<br />

Aziz, Renas Skur 88f.<br />

Baram 63<br />

Barzani, Massoud 53, <strong>12</strong>8<br />

Barzani, Molla Mustafa 116, <strong>12</strong>8<br />

Berger, Christian 31<br />

Bieber, Justin 41<br />

Birkholz, Nasyr 34<br />

Brahms, Johannes 18<br />

Brandt, Jan 57f.<br />

Bremer, Paul 110<br />

Bush, George H.W 60<br />

Bush, George W. 49, 58, 60<br />

Cash, Johnny 59<br />

al-Dabbagh, Ali 49<br />

Dostojewski, Fjodor 57<br />

Ekiz, Ersin 76f.<br />

Engels, Friedrich 57<br />

Englund, Björn 32f.<br />

Fadil, Ahmed 21<br />

Fathi, Rekan 92<br />

Fett, Richard 48<br />

Fischer, Joschka 48<br />

Gabriel, Gunter 59<br />

Gaga, Lady 41<br />

Gilgamesch 17, 22f.<br />

Giwan 38f.<br />

94<br />

Glenewinkel, Klaas 47<br />

Glos, Michael 48<br />

zu Guttenberg, Karl-Theodor 59<br />

Hachmeier, Klaus 16-19<br />

Haffner, Sebastian 68<br />

Haidar, Abu 36f.<br />

Haider, Vaheen 91<br />

Haifa 27<br />

al-Hakim, Sayed Ammar 48<br />

Hammad, Shawin Adel 91<br />

Hardi, Asos 75<br />

Harram, Faris 44f.<br />

Hartmann, Christian 28<br />

Hiba 38f.<br />

Hitler, Adolf 68<br />

Hoyer, Werner 3<br />

Huss<strong>ein</strong>, Ali 27<br />

Huss<strong>ein</strong>, Oum 72f.<br />

Huss<strong>ein</strong>, Rugzan Jameel 80<br />

Huss<strong>ein</strong>, Saddam 19, 45, 57, 60,<br />

62f., 102, 104, 1<strong>12</strong>, 117, <strong>12</strong>6, <strong>12</strong>8<br />

Inanna 23<br />

Jalal, Sara 92<br />

al-Janabi, Shazi 27<br />

Jasni, Hasiba <strong>12</strong>f.<br />

al Jawar, Ghasi 48<br />

Kerner, Johannes B. 59<br />

al-Khaffaf, Abd Ali 45<br />

Al-Khatib, Huss<strong>ein</strong> Mahmud 49, 84<br />

Khider, Abbas 56-58<br />

Khulusi, Gelan 78f.<br />

Klum, Heidi 34<br />

Kobler, Martin 24<br />

Koch, Thomas 47<br />

Köhler, Horst 48<br />

Kraft, Axel 60<br />

Kurth al Naqib, Michael 71<br />

Laufenberg, Uwe Eric 50<br />

Leyde, Jürgen 49<br />

Al-Maaly, Khalid 68<br />

al-Mahdi, Hadi 30<br />

Majeed, Ahmed 66f.<br />

al-Maliki, Nuri 3, 19, 49<br />

Mamand, Musafar 92<br />

Mandelson, Peter 48<br />

Mangold, Gerhard 82f.<br />

Mann, Thomas 68<br />

al-Mansur, Ali 18<br />

Marx, Karl 57<br />

Merkel, Angela 49<br />

Mohamed, Shadan Mahmad 92<br />

Mohsen, Fadel Ali 10f.<br />

Al Mousawi, Mohammad Hamid 82<br />

Mozart, Wolfgang Amadeus 50<br />

al Naqib, Inas 71<br />

Niebel, Dirk 49<br />

Nietzsche, Friedrich 68<br />

Nma 38f.<br />

von Olfers, Clemens 51<br />

Othmann, Ihsan 50<br />

Qadir, Muhamed O. 90<br />

Qoja, Nihad 25<br />

Rahim, Jwan A. 90<br />

Rahimi, Nashmil 54<br />

Rambo, John 66<br />

Rasool, Faruk Mustafa 79<br />

Rietschel, Andreas 78<br />

Rilke, Rainer Maria 68<br />

Rodenstock, Randolf 49<br />

Rösler, Philipp 3, 31, 49<br />

Roth, Herbert 43<br />

Roya 38f.<br />

Rufoo, Dler 43<br />

Rumsfeld, Donald 48<br />

Sadr, Moktada 73<br />

Salem, Sabah Abdul Latif 70f.<br />

Salih, Muhhur 22f.<br />

Sarakan 38f.<br />

Schäuble, Wolfgang 49<br />

Schily, Otto 48<br />

Schmidt, Hans-Jürgen 78<br />

Schröder, Gerhard 48<br />

Selim, Bassa 50<br />

Shaalan, Mahdi 44f.<br />

as-Sistani, Ali 37<br />

Stallone, Silvester 66<br />

St<strong>ein</strong>meier, Frank-Walter 49<br />

Talabani, Dschalal <strong>12</strong>8<br />

Tolstoi, Leo 57<br />

Ulrich, Rolf 77<br />

Völker, Gunter 42f.<br />

Westerwelle, Guido 3, 49<br />

Wildner, Volker 54<br />

Yaqo, Lana Khoshaba 20f.<br />

Zara 26, 63


wp.i<br />

wirtschaftsplattform irak<br />

wp-irak.de<br />

<strong>Wirtschaftsbericht</strong> <strong>Irak</strong><br />

<strong>2011</strong>/<strong>12</strong>


Syrien<br />

Jordanien<br />

Saudi-Arabien<br />

Türkei<br />

Dohuk<br />

Mosul<br />

Euphrat<br />

Ramadi<br />

Samarra<br />

Kerbala<br />

Tigris<br />

Nadschaf<br />

Erbil<br />

Kirkuk<br />

Bagdad<br />

Hilla<br />

Sulaimaniya<br />

Kut<br />

Samawa<br />

Nasiriya<br />

Iran<br />

Amara<br />

Basra<br />

Kuwait<br />

Arabischer Golf /<br />

Persischer Golf


Abkürzungsverzeichnis<br />

CBI Central Bank of Iraq<br />

CMC Communications and Media Commission<br />

COSIT Central Organization for Statistics and Information Technology<br />

CSIS Center for Strategic and International Studies<br />

Destatis Statistisches Bundesamt<br />

EU DG Trade Generaldirektion Handel der Europäischen Union<br />

Eurostat Statistisches Amt der Europäischen Union<br />

FAO Food and Agriculture Organization<br />

GoI Government of Iraq<br />

ISX Iraq Stock Exchange Index<br />

ITS International Trade Statistics<br />

ITU International Telecommunication Union<br />

IWF Internationaler Währungsfonds<br />

MENA Middle East and North Africa<br />

MoTrans Ministry of Transport<br />

NIC National Investment Commission<br />

OPEC Organization of the Petroleum Exporting Countries<br />

SIGIR Special Inspector General for Iraq Reconstruction<br />

UNCC United Nations Compensation Commission<br />

UNCTAD United Nations Conference on Trade and Development<br />

UNDP United Nations Development Programme<br />

UNESCO United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization<br />

UNICEF United Nations International Children’s Emergency Fund<br />

USAID United States Agency for International Development<br />

WHO World Health Organization<br />

WHS World Health Statistics<br />

WTO World Trade Organisation<br />

US-Dollar Währungs<strong>ein</strong>heit der USA<br />

Dollar „International Dollar“ nach Kaufkraftparität


<strong>Wirtschaftsbericht</strong> <strong>Irak</strong> <strong>2011</strong>/<strong>12</strong><br />

Einleitung: Vorsicht, vorläufige Volkswirtschaft<br />

Daten über die Ökonomie des <strong>Irak</strong>s sind unwägbar.<br />

Die Ökonomie selbst ist es auch<br />

10 0<br />

Staatsgeschichte: Nation aus Öl<br />

Was den <strong>Irak</strong> zusammenhält<br />

10 2<br />

Staatsverschuldung: Das regionalpolitische Problem<br />

Ein „80-Prozent-Erlass“ ebnet dem <strong>Irak</strong> langfristig den Weg<br />

auf den Kapitalmarkt<br />

10 4<br />

Finanzsektor: Wenn die Krise fehlt<br />

Die irakischen Banken sind <strong>ein</strong> bisschen zu liquide<br />

10 6<br />

Außenhandel: In 80 Tagen in die Welt<br />

Exportprodukte stecken im Stau<br />

10 8<br />

Ausländische Direktinvestitionen: Luft nach oben<br />

Ein kurzer Wegweiser <strong>für</strong> <strong>ein</strong>en langen Hürdenlauf<br />

110<br />

Erdöl und Erdgas: Flüssiges Gold, flammende Zukunft<br />

Sieben Millionen Barrel täglich sind möglich<br />

1<strong>12</strong><br />

Industrie: Übervater Staat<br />

Das produzierende Gewerbe braucht mehr Konkurrenz<br />

114<br />

Landwirtschaft: Bauer sucht Business<br />

Über die großen Chancen der Agrarprodukte<br />

116<br />

Versorgung: Immer Ärger mit dem Kühlschrank<br />

Darum mangelt es an Strom und Wasser<br />

118<br />

Telekommunikation: Anschluss gesucht<br />

Festnetz, Facebook, Funkloch<br />

<strong>12</strong> 0<br />

Transport: Vom rechten Weg<br />

10.000 Kilometer warten auf ihren Ausbau<br />

<strong>12</strong> 2<br />

Gesundheit & Bildung: Sozialstaat mit Sorgen<br />

Ärzte und Lehrer dringend gesucht<br />

<strong>12</strong> 4<br />

Arbeitsmarkt: Armut in Grenzen<br />

Der unauffällige Aufschwung von al-Anbar<br />

<strong>12</strong> 6<br />

Die Föderale Region Kurdistan-<strong>Irak</strong>: Das andere Land<br />

Die Marktfreundlichkeit im Norden hat historische Gründe<br />

<strong>12</strong> 8


100<br />

Einleitung: Vorsicht, vorläufige Volkswirtschaft<br />

Daten über die Ökonomie des <strong>Irak</strong>s sind unwägbar.<br />

Die Ökonomie selbst ist es auch<br />

W<br />

ohl alle Informationen über die wirtschaftliche Entwicklung<br />

im <strong>Irak</strong> werden mit Zurückhaltung behandelt – zu Recht. Im<br />

Land arbeiten kaum ausgebildete irakische Wirtschaftsjournalisten,<br />

k<strong>ein</strong>esfalls alle der dort akkreditierten internationalen<br />

Korrespondenten sprechen überhaupt Arabisch, und grundsätzlich<br />

werden die Angaben der Behörden zu wenig hinterfragt.<br />

Mangelhaft ist auch die Datenlage selbst. Die Sicherheitsrisiken bei der<br />

Arbeit im Land sind noch immer so erheblich, dass die Statistikbehörde<br />

COSIT und viele internationale Organisationen auf regelmäßige Erhebungen<br />

in den erforderlichen Intervallen verzichten. Welche Angaben aus den<br />

Berichten der Zentralbank auf <strong>ein</strong>fachen Meldungen von Behörden und<br />

Institutionen beruhen oder aber auf kritischen, kontrollierten Prüfungen,<br />

ist nicht zu erkennen. Selbst dem Internationalen Währungsfonds fehlt<br />

noch immer <strong>ein</strong> konsistentes Zahlenwerk, das <strong>ein</strong>e gewisse Dichte und<br />

Plausibilität aufweist. Es ist bisher auch nicht gelungen, den <strong>Irak</strong> in den<br />

Bericht über die menschliche Entwicklung des UN-Entwicklungsprogramms<br />

(UNDP) aufzunehmen, der als „Bericht der Berichte“ wohl am verlässlichsten<br />

die sozioökonomische Lage <strong>ein</strong>es Landes in Zahlen fasst.<br />

Hinzu kommt, dass Informationen in der staatlichen Verwaltung und<br />

der Staatswirtschaft zuweilen als Herrschaftsinstrument oder interessengeleitet<br />

<strong>ein</strong>gesetzt werden – etwa im Kampf um Haushaltsmittel und<br />

Zuständigkeiten zwischen Behörden, häufig auch im Spannungsfeld von<br />

Reales Wirtschaftswachstum<br />

in Prozent<br />

2005<br />

2006<br />

2007<br />

2008<br />

2009<br />

2010<br />

<strong>2011</strong> p/a<br />

20<strong>12</strong> p<br />

Bruttonational<strong>ein</strong>kommen<br />

Kaufkraftparität, in Milliarden Dollar<br />

2005<br />

2006<br />

2007<br />

2008<br />

2009<br />

2010<br />

religiösen und politischen Parteiungen und Clanzugehörigkeiten. Auch<br />

zivilgesellschaftliche Akteure fordern bisher kaum Daten <strong>ein</strong>; das demokratische<br />

Prinzip <strong>ein</strong>er öffentlichen Gesellschaft findet im <strong>Irak</strong> nur<br />

langsam Widerhall. Der <strong>Irak</strong> ist k<strong>ein</strong>e Bürgerdemokratie, die sich bei den<br />

Steuerzahlern <strong>für</strong> die Verwendung der Gelder zu rechtfertigen hätte,<br />

die Staatsfinanzen beruhen auf Öl<strong>ein</strong>nahmen. Und wo kaum Steuern gezahlt<br />

werden brauchen, reagieren umgekehrt Bürger und Unternehmen<br />

auf staatliches Interesse an ihren ökonomischen Verhältnissen mehr als<br />

reserviert. Amtliche Berichterstattung über Wirtschaft und Soziales<br />

nach internationalen Standards ist unter diesen Bedingungen <strong>ein</strong> fast<br />

aussichtloses Unterfangen.<br />

Das größte Hindernis bei der Erfassung der tatsächlichen wirtschaftlichen<br />

Entwicklung ist allerdings Korruption in Verbindung mit Diebstahl<br />

und Unterschlagung. Im <strong>Irak</strong> verschwinden jährlich all<strong>ein</strong> bis zu 20<br />

Prozent des geförderten Öls oder der Erlöse spurlos aus der langen Pipeline<br />

vom Bohrloch zum Zentralbankkonto der Regierung. Und das Geld,<br />

das es bis in den Staatshaushalt „geschafft“ hat, wird auf der Ausgabenseite<br />

weiter dezimiert, besonders beim öffentlichen Auftragswesen. Unter<br />

diesen Bedingungen bleibt jede Einnahmeprojektion, jede Kostenkalkulation<br />

und jede volkswirtschaftliche Gesamtrechnung unzuverlässig –<br />

dies gilt erst recht <strong>für</strong> die Wirtschaftsstatistik. Nicht ohne Ironie ist zu<br />

bemerken, dass der Diebstahl von Öl mit <strong>ein</strong>em gleichmäßigen Volumen<br />

von fünf bis zehn Milliarden Dollar kalkuliert wird.<br />

Wirtschaftsleistung pro Kopf<br />

Kaufkraftparität, in Dollar<br />

Quellen: IWF, indexmundi.com, CBI<br />

p projektiert, e geschätzt, a geschätzt Herbst <strong>2011</strong><br />

-2 0 2 4 6 8 10 <strong>12</strong> 0 20 40 60 80 100 <strong>12</strong>0 0 1000 2000 3000 4000 5000<br />

2007<br />

2008 e<br />

2009 e<br />

2010 e


Als exogener Schock im positiven wie negativen Sinn wirkt der<br />

Ölpreis. Schwankungen um bis zu 40 Prozent machen <strong>ein</strong>e seriöse<br />

Finanz- und damit auch Investitionsplanung fast unmöglich. Alle<br />

Angaben sind vorläufiger Natur, denn die irakische Ökonomie im<br />

Allgem<strong>ein</strong>en und der Staatshaushalt des Landes im Besonderen<br />

sind zu 85 Prozent – also de facto vollständig – von den Erlösen der<br />

Rohöl-Ausfuhr abhängig. Immerhin beginnt <strong>ein</strong>e Diversifizierung<br />

mit dem Export von Petro-Produkten. Die Steuerbasis ist mit zwei<br />

Prozent der Staats<strong>ein</strong>nahmen praktisch inexistent. Eine Verbreiterung<br />

dieser Basis wäre schwer zu legitimieren, zumal mit ihr<br />

<strong>ein</strong>e stärkere Erfassung von Arbeit und Wirtschaft durch den Staat<br />

<strong>ein</strong>her ginge.<br />

Nachteilig wirkt sich auch der weitgehende Verzicht auf Zoll<strong>ein</strong>nahmen<br />

aus. Nahezu jeder Sektor der irakischen Produktion ist damit<br />

ungeschützt der Weltmarktkonkurrenz ausgesetzt. Dies gilt auch<br />

<strong>für</strong> das verarbeitende Gewerbe. Insbesondere aber die Landwirtschaft<br />

wird hart getroffen, die Landflucht hat deutlich zugenommen.<br />

Die ungebremste Einfuhr der sehr preiswerten Fahrzeuge kann<br />

durch die Investitionen in den Straßenbau kaum aufgefangen werden.<br />

Insgesamt sinkt bei dieser Zollpolitik auch der Anreiz <strong>für</strong> produktive<br />

in- und ausländische Investitionen im Nicht-Öl-Sektor. Insgesamt<br />

überwiegen die Nachteile der zwischen 2003 und 2005 von<br />

den USA installierten Freihandelspolitik.<br />

Staatshaushalt<br />

in Billionen Dinar<br />

Die Haushaltsplanung <strong>für</strong> <strong>2011</strong> beruhte auf kalkulierten Exporterlösen von 76,50 US-Dollar pro Barrel Rohöl. Durch die arabischen<br />

Demokratiebewegungen lag der Rohlölpreis seit März <strong>2011</strong> über 100 Dollar und verbesserte die Haushaltslage beträchtlich.<br />

<strong>12</strong>0<br />

100<br />

80<br />

60<br />

40<br />

20<br />

0<br />

Einnahmen Ausgaben Defizit Mehr<strong>ein</strong>nahmen <strong>2011</strong><br />

2008 2009 2010 <strong>2011</strong> p/a<br />

Staatshaushalt 2010<br />

in Billionen Dinar<br />

20<strong>12</strong> p<br />

Defizitquote<br />

2008 2009 2010 <strong>2011</strong> p/a<br />

wirtschaftsbericht irak 101<br />

Defizit in Prozent des Bruttonational<strong>ein</strong>kommens<br />

Die Defizite werden vom Development Fund for Iraq (aus vormals<br />

<strong>ein</strong>gefrorenen Staatsguthaben) sowie durch innere und äußere<br />

Verschuldung finanziert. 10 Billionen Dinar entsprachen im<br />

Oktober <strong>2011</strong> rund 6 Milliarden Euro.<br />

Quelle: CBI, p projektiert 2010, a geschätzt Herbst <strong>2011</strong><br />

10<br />

5<br />

0<br />

-5<br />

-10<br />

-15<br />

-20<br />

Aufkommen<br />

Steuern 1,2<br />

Beihilfen 1,6<br />

Rohöl-Erlöse 60,0<br />

staatliche<br />

Ölunternehmen 1,4<br />

andere 5,2<br />

Summe 69,4<br />

Verwendung<br />

Gehälter und<br />

Pensionen 28,5<br />

Güter und<br />

Dienstleistungen 11,0<br />

Transferleistungen 13,4<br />

Zinsen, Reparationen,<br />

sonstiges 4,7<br />

Investitionen 25,8<br />

davon Ölindustrie 4,0<br />

Summe 83,4<br />

20<strong>12</strong> p


102<br />

Staatsgeschichte: Nation aus Öl<br />

Was den <strong>Irak</strong> zusammenhält<br />

D<br />

er <strong>Irak</strong> gehört zu den Ländern mittleren Einkommens, ist<br />

Erdölexporteur und strebt <strong>ein</strong>e liberale Volkswirtschaft an.<br />

Das ist schnell formuliert, <strong>für</strong> <strong>ein</strong>e tiefer gehende Analyse<br />

aber untauglich: Die Rahmenbedingungen <strong>für</strong> die Ökonomie<br />

des Landes sind so ungewöhnlich, dass selbst <strong>ein</strong> Vergleich mit Nachbarstaaten<br />

k<strong>ein</strong>e verlässlichen Schlüsse zulässt.<br />

Historisch gesehen ist der Staat <strong>Irak</strong> <strong>ein</strong> Produkt des späten Kolonialismus,<br />

gegründet als Folge von Ver<strong>ein</strong>barungen zwischen Großbritannien und Frankreich<br />

um 1920, während das Osmanische Reich kollabierte. Erst legten die<br />

Westmächte <strong>ein</strong> Mandatsgebiet fest und setzten dann in Bagdad <strong>ein</strong>en König<br />

<strong>ein</strong>. Es hat im <strong>Irak</strong> k<strong>ein</strong> Bürgertum gegeben, das sich <strong>ein</strong>en Staat geschaffen<br />

hätte. Deshalb war er <strong>für</strong> die Bevölkerung auch nie <strong>ein</strong> Identifikationsobjekt.<br />

Legitimationsdefizite entstanden auch aus dem in den 1920er Jahren lebendigen<br />

Panarabismus – der die politische Aufteilung der arabischen Halbinsel<br />

ablehnte –, sowie aus den insgesamt 58 Kabinetten vor und fünf<br />

putschistischen Regierungen nach dem Sturz des Königshauses im Jahr 1958.<br />

Auch wenn die Entwicklungsdiktatur der Baath-Partei kurzzeitig <strong>für</strong> ökonomischen<br />

Fortschritt sorgte, blieb der Staat <strong>ein</strong> Herrschaftsinstrument, das<br />

den Menschen gegenüber oft <strong>ein</strong>en f<strong>ein</strong>dseligen Zug an den Tag legte.<br />

Identitätsstiftend war nicht der Staat, sondern s<strong>ein</strong> Öl. Mit der Unabhängigkeit<br />

vieler ehemaliger Kolonien seit den 1950er Jahren änderte sich auch<br />

das Verständnis vom Eigentum an den Bodenschätzen. Sie galten nun als<br />

nationale Ressource. Im <strong>Irak</strong> löste dies <strong>ein</strong>en langen Kampf um die Einkünfte<br />

aus der Rohölförderung aus. Er begann 1961, als erstmals Konzessionen <strong>für</strong><br />

die ausländischen Multis begrenzt wurden, und endete 1975, als ihre Verstaatlichung<br />

abgeschlossen war.<br />

Die Exporterlöse bedeuteten, dass die Regierung in Bagdad erstmals in<br />

nennenswertem Umfang Eigenmittel erhielt, die sie <strong>für</strong> die Industrialisierung<br />

des <strong>Irak</strong>s benötigte. Steuern zu erheben, war wirtschaftlich schnell<br />

nicht mehr erforderlich. Weniger Steuern <strong>ein</strong>erseits, mehr Entwicklungsprojekte<br />

andererseits – dies legitimierte den Staat neu. Auch politisch kam<br />

<strong>ein</strong> neuer Nationalismus auf. Mehrere Ver<strong>ein</strong>igungsprojekte arabischer Länder<br />

mit irakischer Beteiligung scheiterten an Machtfragen und Richtungskämpfen.<br />

Einen letzten Anlauf, den Zusammenschluss mit Syrien, verhinderte<br />

Saddam Huss<strong>ein</strong> 1979.<br />

Die Ölvorkommen berührten noch auf andere Weise die nationale Frage.<br />

1926 schlugen Großbritannien und Frankreich die ölreichen Gebiete um<br />

Kirkuk dem <strong>Irak</strong> zu, <strong>ein</strong>e erste bedeutsame Entscheidung gegen <strong>ein</strong> unabhängiges<br />

Kurdistan. Somit waren Staats- und Ölinteressen schon in der<br />

Gründungsphase des <strong>Irak</strong>s mit<strong>ein</strong>ander verknüpft, auch wenn sich der<br />

Export aus den Kurdengebieten erst nach dem Zweiten Weltkrieg zu lohnen<br />

begann. Ein destruktives Potenzial bis in die jüngste Zeit: Beide Seiten<br />

stellten bei Bedarf die wirtschaftlichen und sozialen Spannungen zwischen<br />

Kurden und Arabern als Konflikte zwischen Kurdistan und <strong>Irak</strong> dar und<br />

schärften ihr nationales Profil auf Kosten des Gegenübers. Heute ist der<br />

<strong>Irak</strong> <strong>ein</strong>e föderale Republik, aber die offiziellen Exporterlöse werden<br />

zwischen der Zentralregierung in Bagdad und der Region Kurdistan-<strong>Irak</strong><br />

säuberlich im Verhältnis 83 zu 17 aufgeteilt.<br />

Bittere Ironie: Das Öl hält den Staat insofern zusammen, als weiter darüber<br />

gestritten wird, wer <strong>ein</strong> Anrecht auf die Ölregion von Kirkuk hat.<br />

Obwohl sie wegen ihrer Besiedlungsgeschichte als kurdisch gilt, gehört<br />

sie nicht zur Region Kurdistan-<strong>Irak</strong>, sondern untersteht der Zentralregierung<br />

in Bagdad. Ginge Kirkuk an Kurdistan, wäre der größte Teil der<br />

irakischen Kurden territorial ver<strong>ein</strong>t. Dann stünde nicht nur die Gefahr<br />

<strong>ein</strong>er Sezession im Raum, sondern auch die <strong>ein</strong>es Krieges, um diese<br />

Abspaltung zu verhindern.<br />

So wie das Öl nach und nach die Identität des <strong>Irak</strong>s formte, so höhlte sie<br />

sie zugleich aus: Für alle fünf Korruptionswellen, die in den vergangenen<br />

50 Jahren durch das Land rollten, waren das Öl und die Einkünfte daraus<br />

konstitutiv. Nach dem Militärputsch von 1958, der <strong>ein</strong> unfähiges Königtum<br />

beseitigte, begannen erstmals große, mit Exporterlösen finanzierte Modernisierungsversuche.<br />

Im Zentrum standen Verstaatlichungen und der Aufbau<br />

<strong>ein</strong>er „nationalen Wirtschaft“ in den 1960er und 1970er Jahren. Die<br />

gewaltigen Investitionssummen, Ämterpatronage und Pfründendenken führten<br />

dazu, dass die meisten Reformen wegen Unfähigkeit und Korruption<br />

stecken blieben.<br />

Hatte sich die erste Welle der Korruption durch die Staatswirtschaft<br />

entwickelt, folgte die zweite durch die Kriegswirtschaft. Saddam Huss<strong>ein</strong><br />

übernahm 1979 die Macht und führte von 1980 bis 1988 gegen den Iran<br />

s<strong>ein</strong>en ersten Krieg. Er wurde zunächst fast ganz aus den Devisenreserven<br />

und -<strong>ein</strong>nahmen finanziert. Vor allem die Beschaffung der Rüstungsgüter<br />

aus aller Welt, der Ausbau der Infrastruktur und der Wiederaufbau zerstörter<br />

Industrieanlagen boten allen Beteiligten die branchenüblichen Möglichkeiten<br />

zur Bereicherung. 1990 besetzte die irakische Armee Kuwait, das auch<br />

noch ausgeplündert wurde.<br />

Saddam Huss<strong>ein</strong>s nicht ganz vernichtende Niederlage 1991 führte zu<br />

internationalen Sanktionen, die 1995 in das „Oil for Food“-Programm der<br />

UN mündeten. Es erlaubte dem <strong>Irak</strong>, gegen den Verkauf irakischen Öls<br />

auf dem Weltmarkt humanitäre Güter <strong>ein</strong>zuführen. Bis 2003 erreichte es<br />

<strong>ein</strong> Volumen von fast 70 Milliarden Dollar – die Mangelwirtschaft löste <strong>ein</strong>e<br />

in der Geschichte der Korruption zuvor unbekannte Intensität von<br />

Bestechung und Bestechlichkeit aus. Später verdächtigte <strong>ein</strong> US-Bericht 2.200<br />

ausländische Unternehmen der Teilnahme. Es stellte sich auch heraus, dass<br />

internationale Kunden dem <strong>Irak</strong> Öl <strong>für</strong> fast elf Milliarden Dollar an<br />

der UN vorbei abgekauft hatten.<br />

Nach der Invasion der USA und ihrer Verbündeten im Jahr 2003 schob die<br />

alliierte Besatzungswirtschaft die vierte Welle an. Die unkontrollierte Aushändigung<br />

der zuvor blockierten Auslandsguthaben an frisch berufene<br />

irakische Ministerialbeamte und die gewaltigen Mittel <strong>für</strong> die Versorgung<br />

der alliierten Truppen sowie <strong>für</strong> den Wiederaufbau des <strong>Irak</strong>s lösten <strong>ein</strong>e<br />

neue Jagd nach Pfründen aus. In <strong>ein</strong>er fünften Welle hat die neue politische<br />

und ökonomische Elite des <strong>Irak</strong>s die Kultur der Bereicherung und des<br />

Betrugs in die Marktwirtschaft übergeleitet, die sich seit 2005 herausbildet.<br />

Praktisch alle Formen des privatwirtschaftlichen und staatswirtschaftlichen<br />

Handels unterliegen inzwischen der Korruption, oft durchaus in Partnerschaft<br />

mit ausländischen Unternehmen.<br />

Die in Staats-, Kriegs-, Mangel-, Besatzungs- und Marktwirtschaft entstandenen<br />

Strukturen haben zum verheerenden Image des <strong>Irak</strong>s geführt. Doch<br />

es hat sich auch etwas getan: Die Demonstranten, die an Rechtsstaatlichkeit,<br />

öffentliche Kontrolle und die Verantwortung der Regierung <strong>für</strong> ihre Bürger<br />

appellieren, bekräftigen damit zugleich die Legitimation des Staates.


Sie zeigen sich als zornige Bürger, die diesem Staat etwas abfordern. Und<br />

zugleich geschieht das Gegenteil: Mit <strong>ein</strong>igem Erfolg haben gänzlich unkorrupte<br />

islamistische Bewegungen in manchen Städten mit dem Aufbau<br />

von Parallelstrukturen begonnen. Mit dem Unvermögen der Verwaltung, die<br />

Lebensbedingungen zu verbessern, ist dort die Existenzberechtigung der<br />

auf Öl gebauten weltlichen Republik wieder verloren gegangen – die Alternative<br />

lautet Gottesstaat.<br />

Entscheidend ist letztlich, ob die Zeit <strong>für</strong> oder gegen die Regierung läuft.<br />

Für <strong>2011</strong> und den Jahresbeginn 20<strong>12</strong> verschafft ihr der hohe Ölpreis mit<br />

neuen Möglichkeiten der Geldausschüttung <strong>ein</strong>e Atempause. Und der Korruption<br />

neue Möglichkeiten.<br />

Der <strong>Irak</strong> als Wirtschaftsstandort<br />

Position unter den arabischen Ländern, 2010/<strong>2011</strong><br />

<strong>12</strong> 10 13<br />

Marokko<br />

erlebte Bürokratie 1<br />

wahrgenommene Korruption 2<br />

soziale Lage 3<br />

14 13 10<br />

Algerien<br />

Systematik der arabischen Länder: Weltbank, Quellen:<br />

1<br />

Weltbank: Doing Business in the Arab World <strong>2011</strong>,<br />

20 arabische Länder<br />

2<br />

Transparency International: Index der wahrgenommenen<br />

Korruption 2010, 19 arabische Länder<br />

3<br />

UNDP: Human Development Index 2010, 17 arabische Länder<br />

5 9 8<br />

Tunesien<br />

16 9<br />

Libyen<br />

8 <strong>12</strong> 11<br />

Ägypten<br />

11 14<br />

13 Libanon<br />

Westbank<br />

& Gaza<br />

16 18 17<br />

Sudan<br />

10 6 9<br />

Jordanien<br />

15 14 <strong>12</strong><br />

Syrien<br />

17 11 16<br />

Dschibuti<br />

20 19<br />

<strong>Irak</strong><br />

1 6 6<br />

Saudi-<br />

Arabien<br />

wirtschaftsbericht irak 103<br />

7 8 4<br />

Kuwait<br />

9 14<br />

Jemen<br />

2 5 3<br />

Bahrain<br />

18 17 15<br />

Komoren<br />

4 1 2<br />

Katar<br />

3 2 1<br />

Ver<strong>ein</strong>igte<br />

Arabische<br />

Emirate<br />

6 4<br />

Oman<br />

19 3 7<br />

Mauritius


104<br />

Staatsverschuldung: Das regionalpolitische Problem<br />

Ein „80-Prozent-Erlass“ ebnet dem <strong>Irak</strong> langfristig den Weg<br />

auf den Kapitalmarkt<br />

Ü<br />

ber die Gesamtverschuldung des <strong>Irak</strong>s kursieren nach wie vor<br />

widersprüchliche Angaben. Der Zentralbank zufolge steht das<br />

Land bei in- und ausländischen Gläubigern mit etwas weniger<br />

als 100 Milliarden Dollar in der Kreide; die inländische Verschuldung<br />

macht davon weniger als zehn Prozent des Gesamtbetrages aus. Bemerkenswert<br />

sind die niedrigen Zinszahlungen. Sie liegen bei unter fünf Prozent<br />

des Staatshaushaltes, während die Außenschulden etwa so hoch sind wie das<br />

Bruttonational<strong>ein</strong>kommen. Die Ursachen <strong>für</strong> dieses ungewöhnliche Verhältnis<br />

ergeben sich bei der Betrachtung der <strong>ein</strong>zelnen Positionen, aus denen sich<br />

die Staatsverschuldung zusammensetzt.<br />

Als größte historische Last gelten die Entschädigungen aus dem Überfall<br />

auf Kuwait 1990/91. Die Ansprüche von ursprünglich mehr als 350 Milliarden<br />

Dollar stellten <strong>ein</strong> Mehrfaches der irakischen Wirtschaftsleistung dar.<br />

In <strong>ein</strong>em über die zuständige UN Compensation Commission abgewickelten<br />

Verfahren wurden nach Ende der Sanktionen im Jahr 2004 Forderungen von rund<br />

200 Milliarden Dollar als zulässig anerkannt, erhoben überwiegend von<br />

kuwaitischen Institutionen und Privatpersonen. Vergleichsverhandlungen<br />

erbrachten mit <strong>ein</strong>er Quote von rund 26 Prozent etwas über 50 Milliarden Dollar<br />

Entschädigungen. Sie werden aus jährlich fünf Prozent der irakischen Öl<strong>ein</strong>nahmen<br />

beglichen. Nach plausiblen Schätzungen werden 20<strong>12</strong> bereits zwei<br />

Drittel der Summe bezahlt s<strong>ein</strong>.<br />

Große innenpolitische Probleme bereitete allerdings <strong>ein</strong>e darin enthaltene<br />

– bereits verglichene – Forderung über 400 Millionen Dollar, deren Anerkennung<br />

das Parlament im Sommer <strong>2011</strong> zustimmte. Damit sollen US-Amerikaner entschädigt<br />

werden, die 1991 vom Regime als lebende Schutzschilde gegen Angriffe<br />

der Alliierten bei der Operation „Desert Storm“ missbraucht oder anderweitig<br />

traumatisiert wurden. Auf positive Resonanz im Land stieß die Forderung<br />

<strong>ein</strong>iger irakischer Politiker, auch die von den US-Amerikanern infolge ihrer<br />

Invasion 2003 traumatisierten <strong>Irak</strong>er zu entschädigen, statt sie indirekt auch<br />

noch <strong>für</strong> die Untaten des Diktators zahlen zu lassen.<br />

Die traditionellen Formen der Staatsverschuldung umfassen Verbindlichkeiten<br />

aus Handelsverträgen und Krediten. Ursprünglich handelte es sich um<br />

fast 200 Milliarden Dollar, darunter auch je 50 Milliarden Dollar <strong>für</strong> russische<br />

Lieferungen vor allem von Ölförderausrüstung sowie <strong>für</strong> Kredit- und Verzugszinsen,<br />

die der <strong>Irak</strong> in der Sanktionszeit gar nicht zahlen konnte. Die im Pariser<br />

Club zusammengeschlossenen staatlichen Gläubiger aus den Industrieländern<br />

gewährten <strong>ein</strong>en Schuldenerlass von 80 Prozent. Auch die Vergleichsquote<br />

<strong>für</strong> Nichtstaatliche, etwa private Unternehmen, lag bei rund 20 Prozent.<br />

Diese Restschulden wurden in zwei Anleihen umgewandelt, von denen die<br />

„Pariser“ ab <strong>2011</strong> zurückzuzahlen war, während die Tilgung der „kommerziellen“<br />

erst 2020 <strong>ein</strong>setzt.<br />

Unübersichtlicher stellen sich weiterhin die irakischen Schulden bei Ländern<br />

dar, die nicht Mitglied im Pariser Club sind. Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit<br />

steht <strong>ein</strong>e Summe von 32 bis 55 Milliarden Dollar aus den Golfstaaten<br />

<strong>ein</strong>schließlich Saudi-Arabiens und Kuwaits. Die irakische Seite argumentiert,<br />

hierbei habe es sich größtenteils um nicht rückzahlbare Zuwendungen gehandelt<br />

– <strong>ein</strong>e Ansicht, die in den Geberländern nicht auf Zustimmung stößt. Offenbar<br />

sind die mit diesen Zahlungen zusammenhängenden Bedingungen auch<br />

nur unzureichend dokumentiert.<br />

Dieser größte Einzelkomplex innerhalb der Staatsverschuldung hat inzwischen<br />

politische Dimensionen. Denn die sunnitischen Herrscherfamilien<br />

der Golfstaaten hatten ihre finanzielle Unterstützung gewährt, als das Regime<br />

Saddam Huss<strong>ein</strong>s noch die Zugehörigkeit zum sunnitischen Lager garantierte<br />

– heute bestimmen jedoch mehrheitlich Schiiten die irakische Politik. Ferner<br />

zeigt sich in den zähen Verhandlungen zwischen dem <strong>Irak</strong> und Kuwait über den<br />

Zugang zu den irakischen Seehäfen <strong>ein</strong> zunehmender Konflikt um Verladekapazitäten<br />

im nördlichen Golf – Kuwait kann diesen Zugang aufgrund des<br />

Grenzverlaufes erschweren. Nicht hilfreich war zudem, dass die Regierung<br />

in Bagdad 2010 <strong>ein</strong>seitig ankündigt hatte, sich bis <strong>2011</strong> mit den Golfstaaten auf<br />

<strong>ein</strong>e Rückzahlung von 20 Prozent wie mit dem maßgeblichen Pariser Club zu<br />

verständigen, <strong>ein</strong> Betrag von 45 Milliarden Dollar.<br />

Weil die Angaben offiziell auch gegenüber dem Internationalen Währungsfonds<br />

erfolgten, wurde diese Reduktion bereits Bestandteil <strong>ein</strong>iger Finanzprojektionen<br />

bei der Entwicklung der Staatsverschuldung. Im Herbst <strong>2011</strong><br />

waren noch k<strong>ein</strong>e Ver<strong>ein</strong>barungen mit den zwölf Golfstaaten erzielt; die sieben<br />

Mitglieder der Ver<strong>ein</strong>igten Arabischen Emirate treten hier <strong>ein</strong>zeln auf.<br />

Wiederholte Rückzahlungszusagen der Regierung in Bagdad auf der Basis der<br />

20-Prozent-Regelung ließen offen, welche Art von Forderungen und welche<br />

Summen damit abgedeckt werden sollten. Weil <strong>ein</strong>zelne Emirate erkennbar<br />

an größeren Investitionen im <strong>Irak</strong> oder an deren Finanzierung interessiert<br />

sind, sch<strong>ein</strong>en auch bilaterale Einigungen möglich, um diese Hindernisse aus<br />

der Welt zu schaffen.<br />

Zudem gab und gibt es noch weitere Forderungen aus Ländern, die an irakischem<br />

Öl und an Investitionen dort interessiert sind. Sie werden außerhalb<br />

der internationalen Strukturen verhandelt. So hat zu <strong>ein</strong>em unbekannten<br />

Zeitpunkt im Jahr 2010 die Volksrepublik China 80 Prozent ihrer Forderungen<br />

von insgesamt 8,5 Milliarden Dollar gestrichen, nachdem der chinesische<br />

Ölkonzern CNPC bei der Vergabe von Ölförderrechten berücksichtigt wurde.<br />

Umgekehrt erkennt die irakische Regierung, um juristische Probleme zu lösen,<br />

gelegentlich auch weitere Forderungen an.<br />

Im Ergebnis belaufen sich derzeit die jährlichen Etatbelastungen aus den<br />

verschiedenen Titeln – Entschädigungen und Staatsschulden werden in der<br />

irakischen Haushaltsrechnung getrennt – auf weniger als zehn Prozent der<br />

Gesamtausgaben. Die Golfstaaten-Schulden werden derzeit nicht bedient;<br />

solange die Regierungen verhandeln, bleibt es so. Falls es aber 20<strong>12</strong> zu substanziellen<br />

Ver<strong>ein</strong>barungen kommt, ist <strong>ein</strong>e Halbierung der Auslandsschuld<br />

auf etwa 45 Milliarden Dollar möglich. Daraus folgt <strong>ein</strong>e Steigerung des<br />

Schuldendienstes oder bei zahlungsfreien Jahren möglicherweise <strong>ein</strong> anfängliches<br />

Auflaufen von Zinsen.<br />

Ein positiver Effekt ist jedoch, dass bei <strong>ein</strong>er Maximallösung die rechnerische<br />

Verschuldung des <strong>Irak</strong>s auf etwa 50 Prozent des Bruttonational<strong>ein</strong>kommens fällt.<br />

Bei <strong>ein</strong>em projektierten Wachstum von zehn Prozent im kommenden Jahr<br />

ersch<strong>ein</strong>en auch 45 Prozent realistisch. Ein solcher Wert öffnet die Tür zur<br />

Ausgabe regulärer Staatsanleihen mit attraktiven Ratings auf dem internationalen<br />

Kapitalmarkt; dies würde die Zentralbank von den klar erkennbaren<br />

Finanzierungsbegehrlichkeiten der Regierung entlasten. Zu guter Letzt wirken<br />

sich die langfristig zunehmenden Ölexporte des <strong>Irak</strong>s und die damit <strong>ein</strong>hergehende<br />

verbesserte Haushaltslage risikomindernd auf Schuldpapiere aus.<br />

Auch der Anstieg der Devisenreserven aus Ölverkäufen trägt dazu bei.<br />

Die irakische Staatsverschuldung wird also nicht zur wirtschaftlichen Destabilisierung<br />

führen. Eher sind hier Chancen <strong>für</strong> <strong>ein</strong>e stärkere regionalpolitische<br />

Entspannung und Integration auszumachen.


Wie die Staatsschulden schwanden<br />

Alle Angaben in Milliarden US-Dollar<br />

Entschädigungsansprüche aus dem Golfkrieg 1990/91<br />

Handelsschulden<br />

Finanzschulden<br />

Der kl<strong>ein</strong>e Schatz<br />

<strong>Irak</strong>s Devisenreserven, in Milliarden US-Dollar<br />

60<br />

50<br />

40<br />

30<br />

20<br />

10<br />

Russland 52<br />

Niederlande 2,6<br />

sonstige 2,4<br />

Kredite 80<br />

Zinsen 47<br />

Dez. 2009 Dez. 2010 Sept. <strong>2011</strong><br />

alle Ansprüche<br />

2004 offen<br />

institutionelle Entschädigte<br />

private Entschädigte<br />

bilateral geregelt 0,7<br />

Pariser Club,<br />

80 Prozent Erlass 42,5<br />

Golfstaaten 32,4-55,4<br />

Nichtstaatliche, u. a.<br />

Unternehmen 16-18<br />

52,4<br />

Überweisungen nach Kuweit,<br />

Abgeltung aus jährlich 5 Prozent<br />

der Öl<strong>ein</strong>nahmen <strong>Irak</strong>s<br />

Gläubiger meist Golfstaaten,<br />

Teilschuldenerlass <strong>für</strong> <strong>2011</strong><br />

angekündigt, nicht absehbar<br />

?<br />

Anleihe, rückzahlbar<br />

<strong>2011</strong>–2034 7,6<br />

Anleihe, rückzahlbar<br />

2020–2028 2,7<br />

weitere<br />

Forderungen<br />

Zusammensetzung<br />

US-Dollar 45 Prozent<br />

Euro 45 Prozent<br />

Britische Pfund 10 Prozent<br />

Quelle: CBI<br />

26,0<br />

26,4<br />

2009<br />

offen<br />

beglichen<br />

wirtschaftsbericht irak 105<br />

Quellen: CSIS, UNCC, IWF, CBI, R. J. Zedalis<br />

p projektiert, e geschätzt<br />

Äußere und innere<br />

Staatsverschuldung<br />

95,6<br />

2009<br />

26,9<br />

25,5<br />

2010<br />

93,3<br />

2010<br />

33,3<br />

19,0<br />

<strong>2011</strong> e<br />

45<br />

43,6<br />

<strong>2011</strong><br />

36,8<br />

15,5<br />

20<strong>12</strong> e<br />

45<br />

45,2<br />

20<strong>12</strong><br />

Gesamtverschuldung<br />

Erlass der Golfstaaten, Prognose


106<br />

Finanzsektor: Wenn die Krise fehlt<br />

Die irakischen Banken sind <strong>ein</strong> bisschen zu liquide<br />

I<br />

n <strong>ein</strong>er Öl-Ökonomie läuft die lokale Währung immer Gefahr,<br />

durch Export<strong>ein</strong>nahmen inflationiert zu werden. Den Dinar davor<br />

zu schützen, darf eher als Luxusproblem der irakischen<br />

Zentralbank verstanden werden. Und es ist gelöst: Seit 2008 ist<br />

die Inflationsrate nicht mehr zweistellig gewesen. Auch besteht nicht mehr<br />

das Risiko, dass der Dinar durch die Devisen<strong>ein</strong>nahmen an die Wand gedrängt<br />

wird. Seit 2009 zeigt der amtliche Wechselkurs zum Dollar <strong>ein</strong>e erstaunliche<br />

Stabilität: Der Marktpreis weicht vom Fixkurs kontinuierlich um nicht<br />

mehr als zwei Prozent ab. Die Bürger des Staates haben Vertrauen in den<br />

Dinar. Damit sind grundlegende Ziele der Stabilitätspolitik erreicht.<br />

Auch deswegen ist der Finanzsektor seit zwei Jahren von Aufregung<br />

verschont geblieben. Die Börse in Bagdad hat sich von <strong>ein</strong>er Spekulationsblase<br />

in den ersten Monaten des Jahres 2009 und der folgenden Stagnation<br />

erholt. Der Index ISX stieg innerhalb <strong>ein</strong>es Jahres um 50 Prozent,<br />

wobei die Marktkapitalisierung winzig ist und börsentäglich oft weniger<br />

als die Hälfte der gelisteten Gesellschaften gehandelt werden. Die<br />

Erschütterungen an den Weltbörsen haben das Geschehen im <strong>Irak</strong><br />

nicht be<strong>ein</strong>trächtigt. Und die Banken sind liquide – k<strong>ein</strong> <strong>ein</strong>ziger Kollaps<br />

hat den Finanzsektor bislang erschüttert.<br />

Doch gerade diese relative Stabilität ist das Problem. Sie drückt <strong>ein</strong>en<br />

erheblichen Modernisierungsrückstand und -unwillen aus. Die Banken<br />

Inflation<br />

in Prozent<br />

Zunahme der Inflationsrate <strong>2011</strong> maßgeblich<br />

durch gestiegene Öl<strong>ein</strong>nahmen.<br />

Quelle: CBI, p projektiert, e geschätzt Marktpreis amtlicher Preis<br />

60<br />

50<br />

40<br />

30<br />

20<br />

10<br />

0<br />

-10<br />

2005 2006 2007 2008 2009 2010 <strong>2011</strong> e 20<strong>12</strong> p<br />

Wechselkurs<br />

<strong>Irak</strong>ische Dinar zum US-Dollar<br />

1300<br />

1000<br />

500<br />

verfügen über weit mehr Einlagen, als sie Kredite vergeben haben.<br />

Nur fünf Prozent der Kl<strong>ein</strong>- und Mittelbetriebe des formellen Sektors<br />

sollen je <strong>ein</strong>en Bankkredit erhalten haben, hat das Hilfsprogramm<br />

USAID festgestellt. Das Gesamtvolumen der Kredite liegt im <strong>Irak</strong> nach<br />

Angaben der Weltbank bei zehn Prozent des Bruttonational<strong>ein</strong>kommens;<br />

in den MENA-Ländern des Nahen Ostens und Nordafrikas beläuft<br />

sich der Durchschnittswert auf 55 Prozent. Das Bankpersonal ist oft<br />

nicht geeignet, Risiken abzuschätzen. Buchhaltungs- und Prüfungsvorschriften<br />

sowohl <strong>für</strong> die Bank- wie <strong>für</strong> die Kundenseite sind unvollständig,<br />

und es herrscht <strong>ein</strong> gewaltiger Mangel an Fachpersonal. Ferner<br />

ist die technische Infrastruktur – vom Liquiditätsmanagement bis zur<br />

Stromversorgung – mangelhaft.<br />

Im Zentrum des Finanzsektors stehen die großen, ineffizienten Staatsbanken,<br />

die sich bisher k<strong>ein</strong>er grundlegenden Reform stellen mussten. Sie<br />

schleppen alte un<strong>ein</strong>bringliche Forderungen mit, die ihre Bilanzen ins<br />

Gigantische aufblähen und eigentlich in <strong>ein</strong>en gesonderten Konsolidierungsfonds<br />

gehören. Sie müssen <strong>für</strong> diese Zahlungsausfälle auch k<strong>ein</strong>e<br />

angemessenen Rückstellungen bilden und sind deswegen buchhalterisch<br />

bankrott – <strong>ein</strong> aus den 1990er Jahren in den Reformländern des ehemaligen<br />

Ostblocks bekanntes Phänomen. Real dürfte nach eigener Einschätzung<br />

der Staatsbanken ihr aktueller Marktanteil bei den Einlagen um<br />

86 Prozent, bei den Krediten um 69 Prozent liegen. Zudem sind sie deutlich<br />

Quelle: CBI<br />

Januar 2008 Januar 2009 Januar 2010 Januar <strong>2011</strong> Juli <strong>2011</strong>


unterkapitalisiert. Da kann es auch nicht erstaunen, dass die Zentralbank<br />

nur <strong>ein</strong> <strong>ein</strong>geschränktes Aufsichtsrecht hat.<br />

Zudem werden die Staatsbanken gegen Konkurrenz geschützt. Regierungsstellen<br />

und Staatsbetriebe dürfen bei den Privatbanken k<strong>ein</strong>e<br />

Konten eröffnen, um dort Kapital anzulegen – und Schecks privater<br />

Banken werden bei Zahlungen an den Staat nicht akzeptiert. Die Regierung<br />

mag das Kapitalanlageverbot als Schlag gegen Korruption,<br />

Unterschlagung oder Geldwäsche propagieren. Tatsächlich verhindert<br />

es, dass die Privatbanken stark werden. Obwohl westliche Experten<br />

von <strong>ein</strong>igen k<strong>ein</strong>en sehr überzeugenden Eindruck haben, sahen sich die<br />

Privatbanken bislang auch nicht gezwungen, <strong>ein</strong>en gem<strong>ein</strong>samen<br />

Einlagensicherungsfonds zu bilden. Den haben die Staatsbanken zwar<br />

auch nicht, aber deren Eigentümerschaft lässt <strong>ein</strong>e quasi amtliche<br />

Sicherheitsgarantie vermuten.<br />

Insgesamt befinden sich die Banken noch in <strong>ein</strong>er vorkritischen Phase<br />

des Reformprozesses. Sicherstes Indiz da<strong>für</strong> ist, dass es k<strong>ein</strong>e programmatische<br />

Diskussion über die künftige Rolle des Staates im Finanzsektor<br />

gibt, nachdem <strong>ein</strong> erster Anlauf bereits 2006 abgebrochen wurde. Ausländische<br />

Beobachter stimmen der Zentralbank nur selten zu, wenn<br />

sie unterstreicht, dass sie von der Regierung unabhängig und unbe<strong>ein</strong>flusst<br />

sei. Die Vorarbeiten <strong>für</strong> <strong>ein</strong> Wertpapiergesetz stecken seit Jahren fest.<br />

Börse Bagdad<br />

Index ISX<br />

wirtschaftsbericht irak 107<br />

Über Ziele, Kompetenzen und auch nur die Ausstattung der vorläufigen<br />

Wertpapierkommission ist selbst der Weltbank nur wenig bekannt.<br />

Noch präsenter als im Banksektor ist der Staat in der Assekuranz. Zwar<br />

schreibt er den Ankauf von Versicherungsleistungen öffentlich aus, aber<br />

nur die staatlichen Versicherungsunternehmen erhalten den Zuschlag.<br />

Die kl<strong>ein</strong>en privaten Versicherer sollen <strong>ein</strong>er Aufsicht unterliegen, aber<br />

es gibt k<strong>ein</strong>e Bestimmungen, was diese Aufsicht genau zu tun hat. Zudem<br />

arbeitet sie seit sechs Jahren so, dass sie nicht <strong>ein</strong>mal allen Marktteilnehmern<br />

bekannt ist. Gesetze und Verordnungen fehlen auch im Bereich des<br />

Einheitspensionsfonds, der aus dem bisherigen Rentensystem entstehen<br />

soll. Hier ist die Weltbank aktiv und versucht nach eigener Aussage<br />

zu verhindern, dass der Pensionsfonds geschaffen wird, noch bevor s<strong>ein</strong>e<br />

Einlagen gesichert sind.<br />

Der Finanzsektor ist <strong>für</strong> Korruption, Geldwäsche und Unterschlagung<br />

naturgemäß besonders anfällig. Dass dies in der Öffentlichkeit weniger<br />

stark wahrgenommen wird, liegt an der Konzentration der beteiligten<br />

Stellen darauf, die illegalen Vorgängen an der Quelle zu erkennen, etwa<br />

beim Ölverkauf oder bei Staatsaufträgen. Fast vollständig fehlen jedoch<br />

Strukturen, um auf auffällige Zahlungsströme reagieren zu können und ihre<br />

Herkunft zu erforschen. Die geringe Skandalträchtigkeit des irakischen<br />

Finanzsektors ist k<strong>ein</strong> Anlass zur Beruhigung, sondern eher zur Sorge.<br />

Quelle: Iraqstockx.com staatlich privat<br />

Quelle: Weltbank<br />

400<br />

350<br />

300<br />

250<br />

200<br />

150<br />

100<br />

50<br />

3.11.04<br />

22.4.05 9.10.05 28.3.06 14.9.06 3.3.07 20.8.07 6.2.08 25.7.08 11.1.09 30.6.09 17.<strong>12</strong>.09 5.6.10 22.11.10 11.5.11 28.10.11<br />

Die zehn größten Banken<br />

Bilanzsummen 2010 in Milliarden US-Dollar<br />

300<br />

250<br />

200<br />

150<br />

100<br />

50<br />

Rafidain 285<br />

Trade Bank 17<br />

Rasheed 14<br />

Agricultural 1,4<br />

Real Estate 1,1<br />

Baghdad 0,9<br />

North 0,8<br />

Warka 0,7<br />

Credit0,6<br />

Al-Bilad Islamic 0,6


108<br />

Außenhandel: In 80 Tagen in die Welt<br />

Exportprodukte stecken im Stau<br />

D<br />

er Außenhandel versorgt den <strong>Irak</strong> mit den Erlösen, von denen er<br />

lebt. In den vergangenen Jahren war von Politikern gelegentlich zu<br />

hören, die Exportstruktur des Landes solle diversifiziert werden,<br />

um die totale Abhängigkeit von den Öl<strong>ein</strong>nahmen etwas zu verringern.<br />

Vor allem sollte in der Landwirtschaft <strong>ein</strong> Exportsektor entstehen, der<br />

zugleich Arbeitsplätze schafft und erhält. Noch 2009 bestanden immerhin fünf<br />

Prozent der Exporte aus Agrarprodukten, überwiegend Fleisch und Tieren.<br />

Die Weltwirtschaftskrise senkte die Rohölerlöse drastisch, wodurch die Agrarprodukte<br />

ihren wertmäßigen Anteil an der Ausfuhr steigern konnten – nur <strong>ein</strong><br />

statistischer Erfolg. Denn der Trend geht auch in absoluten Zahlen in die andere<br />

Richtung. 2010 stammten nur noch 130 Millionen Dollar Exporterlöse aus dem<br />

Nicht-Öl-Sektor. Ob in größerem Umfang Waren aus dem Land geschmuggelt<br />

wurden, lässt sich nicht feststellen, obwohl es nicht unwahrsch<strong>ein</strong>lich ist. Sieht<br />

man aber vom Schwarzmarkt ab, hat der rückläufige Export aus dem Nicht-Öl-<br />

Sektor <strong>ein</strong>e inländische und <strong>ein</strong>e internationale Komponente.<br />

Weil die Regierung auf <strong>ein</strong>e ausgesprochene Schutzzollpolitik verzichtet und<br />

globalisierte Produkte – das belegt schon der Augensch<strong>ein</strong> – fast ungebremst<br />

ins Land fließen, sind viele Landeserzeugnisse nicht mehr konkurrenzfähig.<br />

Fatalerweise dienen die Importe, die mit den Öl<strong>ein</strong>nahmen finanziert werden,<br />

nicht nur der Modernisierung des Landes, sondern auch der Zerstörung s<strong>ein</strong>er<br />

kl<strong>ein</strong>industriellen und handwerklichen Basis. In großem Umfang gelangen<br />

Nahrungsmittel, Verbrauchs- und Konsumgüter ins Land, die das kapitalarme,<br />

ohnehin ums Überleben kämpfende produzierende Gewerbe noch weiter<br />

schwächen. Und bisher konnten neben dem Rohöl auch k<strong>ein</strong>e industriellen<br />

Großexportstrukturen geschaffen werden. Investitionsprojekte, die auf die<br />

Versorgung der Golfanrainer und der Industriestaaten mit petrochemischen<br />

Produkten abzielen, wurden bisher nicht realisiert.<br />

Die nationale Komponente der irakischen Exportmonostruktur sch<strong>ein</strong>t<br />

also <strong>ein</strong> Problem des Angebotes zu s<strong>ein</strong>, die internationale <strong>ein</strong>es der Nachfrage.<br />

Außenhandel des <strong>Irak</strong>s mit der Welt<br />

in Milliarden Euro<br />

2006<br />

2007<br />

2008<br />

2009<br />

2010<br />

Exporte Importe<br />

Außenhandel des <strong>Irak</strong>s mit der EU<br />

in Milliarden Euro<br />

2006<br />

2007<br />

2008<br />

2009<br />

2010<br />

<strong>Irak</strong>ische Produkte, selbst solche mit komparativen Kostenvorteilen, fehlen<br />

im globalen Großhandel. Transportstrukturen sind nicht etabliert und<br />

es ist immer wieder möglich, dass Lieferungen aus Sicherheitsgründen ausfallen.<br />

Die bürokratischen Hürden sind enorm: Nach <strong>ein</strong>er Erhebung der<br />

Weltbank verlangt k<strong>ein</strong> Land am Golf mehr Exportpapiere. Zudem fehlt den<br />

Produzenten der Kontakt zu den internationalen Handelshäusern, die<br />

regelmäßige und verlässliche Abnahme. K<strong>ein</strong> Wunder: 80 Tage braucht <strong>ein</strong>e<br />

Ware im Durchschnitt, bis sie das Land verlassen hat. Die Kosten pro<br />

Container liegen drei- bis viermal höher als sonst am Golf, <strong>ein</strong> weiterer<br />

Anreiz <strong>für</strong> Schmuggel.<br />

Da die Investitionsgüter zur Modernisierung des Landes ganz überwiegend<br />

vom Staat beziehungsweise von Staatsbetrieben finanziert werden,<br />

ist ihr Kauf in erheblichem Maße von den Haushalts<strong>ein</strong>nahmen abhängig.<br />

Innerhalb welcher Zeit Ölpreisschwankungen auf das Importvolumen durchschlagen,<br />

ist nicht recht zu erkennen, denn auch binnenwirtschaftliche<br />

und vor allem politische Gründe können Bestellungen im Ausland reduzieren.<br />

So gingen die Importe zugunsten <strong>ein</strong>iger Wirtschaftszweige stark zurück,<br />

als nach den Wahlen von 2010 acht Monate k<strong>ein</strong>e Regierung gebildet<br />

werden konnte.<br />

Der <strong>Irak</strong> hat 2004 den Beitritt zur Welthandelsorganisation WTO beantragt<br />

und ist seither dort Beobachter. Die Vollmitgliedschaft würde wie <strong>ein</strong> Zertifikat<br />

verstanden, das dem Land die Tauglichkeit <strong>für</strong> den Weltmarkt bestätigt.<br />

Beratungen darüber werden geführt, doch nach den Berichten der Arbeitsgruppen<br />

sch<strong>ein</strong>t es fraglich, ob das Beitrittsziel in zwei Jahren erreicht s<strong>ein</strong><br />

wird, wie die Regierung offiziell ankündigt. Auch wenn die nötigen gesetzlichen<br />

Bestimmungen zum Eigentumsschutz des privaten Sektors, zu Zolltarifen<br />

und Hygienebestimmungen in Kraft treten, sie müssen von den Institutionen<br />

auch umgesetzt werden. Einstweilen wird der Außenhandel des <strong>Irak</strong>s geprägt<br />

von <strong>ein</strong>em steten Ölstrom in die <strong>ein</strong>e Richtung und <strong>ein</strong>em unsteten Warenstrom<br />

in die andere.<br />

Außenhandel des <strong>Irak</strong>s mit Deutschland<br />

in Millionen Euro<br />

Quellen: EU DG Trade, Eurostat, Destatis, eigene Berechnungen <strong>2011</strong><br />

*Januar-August<br />

0 5 10 15 20 25 30 35 40 0 2 4 6 8 10 0 200 400 600 800 1000<br />

2006<br />

2007<br />

2008<br />

2009<br />

2010<br />

<strong>2011</strong>*


Die zehn wichtigsten Handelspartner des <strong>Irak</strong>s 2010<br />

in Milliarden Euro<br />

Importe Exporte<br />

Türkei 5,0<br />

Syrien 3,7<br />

China 3,0<br />

EU 2,7<br />

USA 1,4<br />

Jordanien 0,8<br />

Südkorea 0,6<br />

Indien 0,4<br />

Thailand 0,4<br />

Ägypten 0,3<br />

Struktur des Außenhandels, Welt, 2010<br />

in Milliarden US-Dollar<br />

Importe Exporte<br />

Maschinen 3,4<br />

Elektrik, Elektronik 2,4<br />

Straßenfahrzeuge 2,1<br />

Eisen- und Stahlprodukte 1,3<br />

Eisen und Stahl 0,9<br />

Getreide 0,8<br />

Kunststoffprodukte 0,6<br />

Pharmaprodukte 0,5<br />

Möbel, Gebäudeteile 0,4<br />

Fleisch 0,4<br />

<strong>Irak</strong>ische Importe aus Deutschland 2010<br />

in Millionen Euro<br />

Maschinen 323,1<br />

Straßenfahrzeuge <strong>12</strong>5,7<br />

Elektrische Ausrüstungen 91,1<br />

Datenverarbeitungs-,<br />

Elektrogeräte 59,8<br />

Metalle 48,7<br />

Sonstiges 240,7<br />

Gesamt 899,1<br />

USA 8,7<br />

EU 5,6<br />

Indien 5,5<br />

China 4,3<br />

Südkorea 2,8<br />

Japan 2,3<br />

Kanada 1,4<br />

Türkei 0,9<br />

Syrien 0,6<br />

Brasilien 0,6<br />

wirtschaftsbericht irak 109<br />

Rohöl und Ölprodukte 43,3<br />

Metalle, Perlen, Edelst<strong>ein</strong>e 0,04<br />

Wasserfahrzeuge 0,02<br />

Chemikalien 0,02<br />

Früchte und Nüsse 0,01<br />

<strong>Irak</strong>ische Exporte nach Deutschland 2010<br />

in Millionen Euro<br />

Erdöl 156.1<br />

Ölerzeugnisse 2,6<br />

Lebensmittel 0,7<br />

Gesamt 160,8<br />

Quellen: WTO/ITS, Destatis


110<br />

Ausländische Direktinvestitionen: Luft nach oben<br />

Ein kurzer Wegweiser <strong>für</strong> <strong>ein</strong>en langen Hürdenlauf<br />

F<br />

ür Investoren aus dem Ausland sind die Sicherheitsprobleme<br />

im <strong>Irak</strong> das größte Hindernis, sich über die Potenziale<br />

des Landes <strong>ein</strong> eigenes Bild machen zu können. Schon Gespräche<br />

und Verhandlungen in Bagdad gestalten sich mühsam,<br />

und <strong>für</strong> Besichtigungen vor Ort sind zusätzlich umfangreiche Schutzmaßnahmen<br />

erforderlich. Ganz unmöglich ist <strong>ein</strong>e systematische Erkundung<br />

des Landes; es gibt zahlreiche offizielle Reisewarnungen. In folgenden<br />

Investitionsprojekten ist es – ebenfalls aus Sicherheitsgründen – erforderlich,<br />

so wenig Manager wie möglich zu beschäftigen, die auf den ersten<br />

Blick als Ausländer erkennbar sind.<br />

Aber auch die hinteren Ränge im „Index der wahrgenommenen Korruption“<br />

von Transparency International und im „Geschäftsklimavergleich“ der Weltbank<br />

spiegeln Alltagserfahrungen von Investitionswilligen wider. Bestechung<br />

und Bestechlichkeit <strong>ein</strong>erseits, <strong>ein</strong>e langsame und inkompetente Bürokratie<br />

andererseits hemmen das Engagement ausländischer Unternehmen,<br />

sei es <strong>für</strong> die Bedienung des Inlandsmarktes oder <strong>für</strong> den Export.<br />

Die Zentralregierung in Bagdad und die kurdische Regionalregierung in<br />

Erbil haben in den vergangenen Jahren viele hemmende Vorschriften abgeschafft<br />

oder ver<strong>ein</strong>facht, doch die Umsetzung lässt zu wünschen übrig.<br />

Die zuständige National Investment Commission (NIC) bemüht sich, selbst<br />

Investitionen vorzuschlagen, und ist <strong>ein</strong> wichtiger Ansprechpartner, um<br />

Informationen über Projekte zu gewinnen. Der Umstand aber, dass die NIC<br />

Einzelvorhaben bewirbt, deutet auf Misshelligkeiten hin – sonst wären die<br />

Investitionen wahrsch<strong>ein</strong>lich bereits erfolgt.<br />

Ausländische Direktinvestitionen<br />

in Millionen US-Dollar<br />

2000<br />

1500<br />

1000<br />

500<br />

0<br />

Neue Projekte<br />

in Millionen US-Dollar<br />

Zufluss Abfluss Volumen Anzahl<br />

25.000<br />

20.000<br />

15.000<br />

10.000<br />

5000<br />

8<br />

6<br />

4<br />

2<br />

Dennoch haben sich ausländische Investoren in <strong>ein</strong>igen Branchen etabliert.<br />

In erster Linie hat der Erdölsektor ausländisches Kapital angezogen,<br />

naturgemäß vor allem von den Konzernen, die Förderkonzessionen erhalten<br />

haben, und von Dienstleistungsfirmen in ihrem Umfeld. Augenfällig<br />

ist die Präsenz ausländischer Mobilfunkunternehmen. Die Immobilienspekulation<br />

des Jahres 2008 hat nachgelassen, aber erstmals zu <strong>ein</strong>er Grundversorgung<br />

an Hotels geführt. 2010 hat sich die Zahl der ausländischen<br />

Direktinvestitionen in der irakischen Hauptstadt verdreifacht. Und der<br />

Kapitalfluss in die kurdische Metropole Erbil erreicht 40 Prozent des<br />

Wertes von Bagdad.<br />

Noch zögerlich sind die Direktinvestitionen im Finanzsektor, seien<br />

es Beteiligungen an oder Neugründungen von Banken. Sie stammen überwiegend<br />

aus den Golfländern; die größten Einzelinvestitionen im <strong>Irak</strong><br />

kommen aus dem Emirat Abu Dhabi. Das Engagement in Privatbanken<br />

kann als langfristige Strategie betrachtet werden. Ihre Dienstleistungen<br />

werden während und nach <strong>ein</strong>er Liberalisierung des irakischen Bankensektors<br />

auch <strong>für</strong> ausländische Investoren interessant, die auf der<br />

Suche nach verlässlichen und mit den Gegebenheiten des Landes vertrauten<br />

Partnern sind. Ausländische Investitionen, die auf Versicherungsund<br />

andere Finanzdienstleistungen <strong>für</strong> Auslandsinvestoren abzielen,<br />

sind nicht bekannt geworden.<br />

Mit größeren Investitionsmöglichkeiten auf Grund von Privatisierungen<br />

ist weiterhin nicht zu rechnen. Paul Bremer, der damalige US-Chef der Übergangsverwaltung<br />

im <strong>Irak</strong>, hatte 2003 mit s<strong>ein</strong>er berüchtigten „Order Nr. 39“<br />

18<br />

16 46<br />

* Jan-Apr<br />

0<br />

2005 2006 2007 2008 2009 2010 2005 2006 2007 2008 2009 2010 <strong>2011</strong>*<br />

10<br />

Der <strong>Irak</strong> und s<strong>ein</strong>e Nachbarn<br />

Gesamthöhe der Auslandsinvestitionen 2010<br />

in Millionen US-Dollar<br />

181.901<br />

Türkei<br />

20.406<br />

Jordanien<br />

8715<br />

Syrien<br />

6487<br />

<strong>Irak</strong><br />

170.450<br />

Saudi-Arabien


6514<br />

Kuwait<br />

die Privatisierung von 200 staatlichen<br />

Unternehmen mit rund 500<br />

Betrieben außerhalb der Erdölindustrie<br />

<strong>ein</strong>leiten und bis 2005 erreichen<br />

wollen. Das Vorhaben wurde<br />

abgebrochen, weil es gegen die<br />

Genfer Konvention verstoßen hätte,<br />

unter Besatzung über die Eigentumsrechte<br />

des Staates zu bestimmen.<br />

Passiert ist seither nicht viel.<br />

Die Staatsbetriebe sind im Produktions-,<br />

Energie- und Bausektor<br />

sowie im Handel tätig. Die Zahl<br />

ihrer Beschäftigten steigt um etwa<br />

drei Prozent jährlich. Viele sind<br />

nicht in marktgängige Gesellschaftsformen<br />

überführt worden und<br />

gelten als nicht sanierbar; <strong>ein</strong>ige<br />

Privatisierungen überleben mit<br />

staatlicher Unterstützung. Bei den<br />

von Zeit zu Zeit lancierten Privatisierungsplänen<br />

größeren Umfangs<br />

ist zu bedenken, dass die<br />

Zukunft der Staatswirtschaft von<br />

politischen und personellen Machtfragen<br />

abhängt.<br />

Quelle: UNCTAD World Investment Report, <strong>2011</strong><br />

27.600<br />

Iran<br />

Bürokratie: Der <strong>Irak</strong> und die arabische Welt im Vergleich.<br />

Beispiele aus dem Bericht „Doing Business in the Arab World“, <strong>2011</strong><br />

Quelle: Weltbank<br />

Geschäftsgründung<br />

Zahl der Schritte<br />

Tage bis Gründung<br />

Antragskosten in Prozent<br />

<strong>ein</strong>es Jahresdurchschnitts<strong>ein</strong>kommens<br />

Saudi-Arabien 4<br />

<strong>Irak</strong> 11<br />

Algerien 14<br />

Saudi Arabien 5<br />

<strong>Irak</strong> 77<br />

Bahrain 0,8<br />

<strong>Irak</strong> 107,8<br />

Registrierung von Immobilien<br />

Zahl der Schritte<br />

Tage bis zur Registrierung<br />

Kosten in Prozent des<br />

Immobilienwertes<br />

Steuern<br />

Zahl der Zahlungen<br />

pro Jahr<br />

Zeitaufwand, Stunden<br />

pro Jahr<br />

Gewinnbesteuerung<br />

Ver<strong>ein</strong>. Arab. Emirate 1<br />

<strong>Irak</strong> 5<br />

Algerien 11<br />

Saudi-Arabien 2<br />

<strong>Irak</strong> 51<br />

Ägypten 72<br />

Saudi-Arabien 0<br />

<strong>Irak</strong> 6,4<br />

Syrien 27,9<br />

Katar 3<br />

<strong>Irak</strong> 13<br />

Jemen 44<br />

Ver<strong>ein</strong>. Arab. Emirate <strong>12</strong><br />

<strong>Irak</strong> 3<strong>12</strong><br />

Algerien 451<br />

Katar 11,3<br />

<strong>Irak</strong> 28,4<br />

Algerien 72,0<br />

Baugenehmigung<br />

Zahl der Schritte<br />

Tage bis Gründung<br />

Antragskosten in Prozent<br />

<strong>ein</strong>es Jahresdurchschnitts<strong>ein</strong>kommens<br />

wirtschaftsbericht irak 111<br />

Saudi-Arabien <strong>12</strong><br />

<strong>Irak</strong> 14<br />

Syrien 26<br />

Bahrain 43<br />

<strong>Irak</strong> 215<br />

Sudan 271<br />

Katar 0,8<br />

<strong>Irak</strong> 506,8<br />

Tunesien 858,7<br />

Schutz von Minderheitsaktionären<br />

10=voll<br />

Libanon 9<br />

<strong>Irak</strong> 4<br />

Sudan 0<br />

Vertragsrechtliche Klagen<br />

Zahl der Schritte<br />

Tage bis zum Urteil<br />

Kosten in Prozent des<br />

Streitwertes<br />

Jemen 36<br />

<strong>Irak</strong> 51<br />

Syrien 55<br />

<strong>Irak</strong> 520<br />

Ägypten 1010<br />

Oman 13,5<br />

<strong>Irak</strong> 28,1<br />

Jordanien 31,2


1<strong>12</strong><br />

Erdöl und Erdgas: Flüssiges Gold, flammende Zukunft<br />

Sieben Millionen Barrel täglich sind möglich<br />

O<br />

b der <strong>Irak</strong> tatsächlich über förderbare Ölreserven von<br />

350 Milliarden Barrel verfügt, wie die Regierung in Bagdad<br />

in diesem Jahr mehrfach bekannt gab, muss dahin gestellt<br />

bleiben. All<strong>ein</strong> die von der OPEC Anfang <strong>2011</strong> offiziell<br />

anerkannten 150 Milliarden Barrel reichen, um dem Land die viertgrößten<br />

Reserven der Welt zuzusprechen. Mit ihnen könnte der <strong>Irak</strong> s<strong>ein</strong>e tägliche<br />

Fördermenge 158 Jahre lang aufrecht erhalten. Dabei sind zahlreiche<br />

Gebiete noch nicht <strong>ein</strong>mal hinreichend auf ihre Ölvorkommen erforscht.<br />

Auch in der technischen Nachbesserung der Altfördergebiete liegt<br />

noch viel Potenzial. Nicht wenige Experten teilen deswegen den Optimismus<br />

des irakischen Ölministers, dass dieses Land noch über erheblich<br />

mehr Reserven verfügt.<br />

Wenn die globale Nachfrage nach fossilen Rohstoffen nicht deutlich<br />

nachlässt, ist k<strong>ein</strong> Ende der irakischen Öl-Ökonomie abzusehen. Hinzu<br />

kommen zwei weitere, in der kommenden Dekade wirksam werdende<br />

Faktoren: Die gewaltigen Erdgasvorräte sind noch kaum angetastet, werden<br />

aber jetzt erschlossen. Und bisher haben sich im <strong>Irak</strong> erst wenige energi<strong>ein</strong>tensive<br />

Industrien angesiedelt, die den heimischen und den internationalen<br />

Markt versorgen können.<br />

Die Regierung in Bagdad stellt immer wieder in Aussicht, innerhalb<br />

weniger Jahre die Förderung zu verdoppeln und schließlich gar an das<br />

Ölförderung im <strong>Irak</strong> 1926 bis <strong>2011</strong><br />

Jahresdurchschnitte in Millionen Barrel/Tag<br />

Quelle: Indexmundi.com<br />

1958–1965 k<strong>ein</strong>e Angaben, e geschätzt<br />

4<br />

3,5<br />

3<br />

2,5<br />

2<br />

1,5<br />

1<br />

0,5<br />

1958 Sturz der Monarchie<br />

1920 1940 1960 1980 2000 <strong>2011</strong> e<br />

1969 Regierungsantritt Baath-Partei<br />

1979 Amtsantritt Saddam Huss<strong>ein</strong>s<br />

1981 Krieg gegen den Iran<br />

1988 Kriegsende<br />

1991 Krieg gegen Kuwait, Niederlage<br />

2000 “Oil for Food”-Programm<br />

2003 US-Invasion<br />

Exportvolumen Saudi-Arabiens mit über 10 Millionen Barrel pro Tag anzuschließen.<br />

Die Realität sieht bescheidener aus. Es ist unwahrsch<strong>ein</strong>lich,<br />

dass <strong>2011</strong> auch nur die Marke von 2,5 Millionen Barrel täglicher Ölförderung<br />

im Jahresdurchschnitt erreicht wird. Das ist noch weit entfernt von den 3,5<br />

Millionen Barrel der „Entwicklungsdiktatur“ vor Saddam Huss<strong>ein</strong>s Amtsantritt<br />

1979, allerdings bei heute zehn Mal höheren Barrelpreisen ungleich<br />

lukrativer. Experten halten <strong>ein</strong>e Steigerung auf 7 Millionen Barrel täglich<br />

innerhalb der nächsten fünf Jahre <strong>für</strong> möglich, wenn die Sicherheitslage sich<br />

verbessert und technische Engpässe beseitigt werden. Derzeitig macht<br />

der Ölsektor etwa 80 Prozent der gesamten irakischen Volkswirtschaft aus.<br />

Mehr als fünf Milliarden Dollar jährlich entgehen dem Land durch illegale<br />

Verkäufe und andere Formen der Bereicherung mit Ölgeld. Abhilfe verspricht<br />

die Teilnahme <strong>Irak</strong>s an der „Extractive Industries Transparency Initiative“<br />

(EITI), die den Fluss des Rohöls belegen soll. 20<strong>12</strong> soll <strong>Irak</strong> den Kontrollmechanismus<br />

vervollständigt haben, der die Voraussetzung <strong>für</strong> die Teilnahme<br />

an EITI bildet. Doch die Initiative verspricht zu viel und greift zu kurz: So werden<br />

weder die Modalitäten der Konzessionsvergabe noch die Erteilung der<br />

erheblichen Aufträge <strong>für</strong> die Bohrtechnik geprüft, und auch nicht die Verwendung<br />

der Mittel, die als Exporterlöse auf den Konten der Regierung<br />

<strong>ein</strong>treffen. Technisch-statistische Methoden können den politischen Prozess<br />

der Korruptionsbekämpfung nicht ersetzen, aber die in Bagdad da<strong>für</strong><br />

zuständigen Einrichtungen sind zu schlecht ausgestattet, werden gegängelt<br />

Die größten Ölreserven 2010<br />

Welt und OPEC-Länder<br />

Quelle: OPEC <strong>2011</strong><br />

Nicht-OPEC-Länder<br />

OPEC-Länder<br />

Venezuela<br />

Saudi-Arabien<br />

Iran<br />

<strong>Irak</strong><br />

Kuwait<br />

Ver<strong>ein</strong>. Arab. Emirate<br />

Sonstige<br />

274 Milliarden Barrel<br />

1193 Milliarden Barrel<br />

Reserven<br />

in Milliarden Barrel<br />

296,5<br />

264,5<br />

151,2<br />

143,1<br />

101,5<br />

97,8<br />

138.59<br />

18,7 % der Weltreserven<br />

81,3 % der Weltreserven<br />

Prozent der<br />

OPEC-Reserven<br />

24,8<br />

22,2<br />

<strong>12</strong>,7<br />

<strong>12</strong>,0<br />

8,5<br />

8,2<br />

11,6


und bedroht. Auch zivilgesellschaftliche Gruppen oder Medien scheitern<br />

bei dem Versuch, mit EITI oder auf eigene Faust herauszufinden, wer in<br />

welcher Phase des Ölgeschäftes legal oder illegal verdient.<br />

Dass die Ölexporte nur langsam steigen, hat <strong>ein</strong>e Vielzahl in<strong>ein</strong>ander<br />

greifender Gründe. Die technischen Anlagen auf vielen Feldern sind veraltet<br />

und reparaturanfällig. Die Investitionssummen sind gewaltig, das<br />

Pipelinesystem ist unzureichend, die Verladekapazitäten im Golf sind es<br />

ebenfalls. Es hat <strong>ein</strong>ige Zeit gebraucht, bis die irakische Regierung mit<br />

der Bieterrunde von 2009 <strong>ein</strong>en eigenen Weg fand, internationale Mineralölkonzerne<br />

an der Ausbeutung neuer Felder zu beteiligen. Seit der<br />

„Ara-bische Frühling“ ab März den Ölpreis auf über 100 Dollar pro Barrel<br />

und die Exporte auf 2,2 Millionen Barrel täglich getrieben hat, gelten die<br />

Transport- und Umschlagskapazitäten des <strong>Irak</strong>s als vollständig ausgelastet.<br />

Die Fortschritte dürfen dabei nicht übersehen werden. Mehr als 15<br />

Prozent der Förderung werden inzwischen im Land verarbeitet. Wegen<br />

mangelnder Raffineriekapazitäten war der <strong>Irak</strong> bisher gezwungen, <strong>für</strong><br />

fünf Milliarden Dollar jährlich Ölprodukte <strong>ein</strong>zuführen – <strong>2011</strong> soll hier<br />

der Turnaround erreicht s<strong>ein</strong>.<br />

Verstummt ist unterdessen der Vorwurf, US-Ölkonzerne seien im Begriff,<br />

sich den wichtigsten Rohstoff des Landes <strong>ein</strong>zuverleiben. Die großen Bieterrunden<br />

von 2009 haben Staats- und multinationale Konzerne aus fast<br />

Förderung internationaler Ölkonzerne im <strong>Irak</strong><br />

Zuschläge 2009, Angebote 20<strong>12</strong><br />

Quellen: GoI, Evaluate Energy, <strong>2011</strong><br />

2/3/4/5/6<br />

1/2<br />

6/7/11/<strong>12</strong><br />

7<br />

7<br />

8<br />

7/10/11/<strong>12</strong><br />

7/8<br />

10<br />

Badra<br />

9<br />

Halfayah<br />

Majoon<br />

West Quarna<br />

Zubair<br />

Rumaila<br />

wirtschaftsbericht irak 113<br />

<strong>ein</strong>em Dutzend Ländern berücksichtigt. Zudem gelang es der irakischen<br />

Regierung im Verlauf der öffentlichen Auktionen, die Kostenaufteilung<br />

deutlich zu ihren Gunsten zu verändern. Schließlich sorgen auch die irakischen<br />

Eigenbeteiligungen von 25 Prozent an den Förderkonsortien <strong>für</strong><br />

nationale und internationale Akzeptanz. Die intensiv vorbereitete vierte<br />

Bieterrunde mit 46 ausgewählten Energieunternehmen, ursprünglich <strong>für</strong><br />

die erste Jahreshälfte <strong>2011</strong> avisiert und jetzt auf März 20<strong>12</strong> verschoben, wird<br />

zwölf weitere Felder umfassen. Fünf zielen auf Erdöl-, sieben auf Erdgasförderung.<br />

Offiziellen Angaben zufolge sollen durch die Erschließung die<br />

nachgewiesenen Ölreserven um weitere 10 Milliarden Barrel zunehmen.<br />

Zudem wird erwartet, dass die Erdgasreserven von jetzt 3,16 Billionen um<br />

820 Milliarden Kubikmeter steigen.<br />

Noch immer wird viel Erdgas vergeudet: Mangels Infrastruktur und<br />

Verarbeitungskapazitäten werden täglich rund 28 Millionen Kubikmeter<br />

Erdgas abgefackelt, die zusammen mit dem Öl gefördert werden. Vermarktet<br />

werden dagegen nur 150.000 Kubikmeter pro Tag. Als Hauptgrund<br />

<strong>für</strong> dieses Missverhältnis nennen die Energiekonzerne nicht technische,<br />

sondern wirtschaftliche Hindernisse. Die von der Regierung festgesetzten<br />

Gasverkaufspreise seien so niedrig, dass sich die Verwertung des Erdgases<br />

nicht lohne. Gas wird im <strong>Irak</strong> vor allem als dezentraler Energieträger<br />

<strong>ein</strong>gesetzt und zum Kochen in Wohnhäusern und zur Befeuerung von<br />

Stromerzeugern verwendet.<br />

Zuschläge 2009<br />

Majoon Shell (GB), Petronas<br />

(Malaysia)<br />

Halfaya CNPC (China), Petronas<br />

(Malaysia), Total (Frankreich)<br />

Rumaila BP (GB), CNPC (China)<br />

Zubair ENI (Italien), Occidental<br />

(USA), Kogas (Südkorea)<br />

West Qurna 2 Lukoil (Russland),<br />

Statoil (Norwegen)<br />

Badra Gazprom (Russland),<br />

Petronas (Malaysia), Kogas (Südkorea),<br />

TPAO (Türkei)<br />

West Qurna 1 Exxon (USA),<br />

Shell (GB)<br />

Ausschreibung 20<strong>12</strong><br />

Block 1 (Ninawa)<br />

Block 2 (Ninawa & Al-Anbar)<br />

Block 3 (Al-Anbar)<br />

Block 4 (Al-Anbar)<br />

Block 5 (Al-Anbar)<br />

Block 6 (Al-Anbar & An-Najaf)<br />

Block 7 (Al-Qadisyah, Babil, An-<br />

Najaf, Al-Muthanna & Wasit)<br />

Block 8 (Diyala & Wasit)<br />

Block 9 (Al-Basrah)<br />

Block 10 (Al-Muthanna & Thi Qar)<br />

Block 11 (An-Najaf & Al-Muthanna)<br />

Block <strong>12</strong> (An-Najaf & Al-Muthanna)<br />

Öl<br />

Gas


114<br />

Industrie: Übervater Staat<br />

Das produzierende Gewerbe braucht mehr Konkurrenz<br />

D<br />

ie irakische Industrie wird vom Ölsektor bestimmt. Dazu gehört<br />

nicht nur die Förderung, dazu gehören auch die Raffinerien und<br />

andere Anlagen zur Weiterverarbeitung und zum Transport,<br />

ebenso die Herstellung von Chemikalien und Düngemitteln, die<br />

Öl-Vorprodukte und Öl oder Gas als Energieträger <strong>ein</strong>setzen. Damit wird<br />

vor allem der Inlandsmarkt bedient.<br />

Der Ölsektor ist vergleichsweise effizient. Zugespitzt formuliert garantieren<br />

wenige zehntausend Arbeitsplätze die Gesamtökonomie des <strong>Irak</strong>s mit s<strong>ein</strong>en<br />

mehr als 30 Millionen Einwohnern. Bei weiter steigenden Einnahmen wäre<br />

es durchaus vorstellbar, alle überhaupt im Land benötigten Waren zu importieren.<br />

Doch das würde <strong>ein</strong>en Verzicht auf die Nutzung der Möglichkeiten<br />

des Landes und s<strong>ein</strong>er Bewohner bedeuten. Und das wäre nicht nur <strong>ein</strong>e ungeheure<br />

Verschwendung, sondern würde auch die gesellschaftlichen Strukturen<br />

zerstören. Aus beiden Gründen benötigt der <strong>Irak</strong> neben <strong>ein</strong>er intakten<br />

Landwirtschaft und <strong>ein</strong>em lebendigen Dienstleistungssektor auch <strong>ein</strong>e<br />

eigene gewerbliche Infrastruktur.<br />

Sie ist durchaus vorhanden, aber zum größten Teil in Staatsbesitz. Dieser<br />

entstand ab den 1960er Jahren zum <strong>ein</strong>en durch <strong>ein</strong>e Welle der Nationalisierung,<br />

die das Privateigentum an Produktionsmitteln fast komplett abschaffte;<br />

zum anderen durch die anschließende schnelle und gezielte Industrialisierung<br />

des Landes in den 1970er Jahren. Das Entwicklungsmodell spiegelte<br />

sowjetische Vorstellungen von großen Einheiten zur zentral gesteuerten Versorgung<br />

des ganzen Landes wider, auch wenn der <strong>Irak</strong> k<strong>ein</strong>e sozialistische<br />

Planwirtschaft war. Dieses Konzept führte dazu, dass die Alliierten in den<br />

Golfkriegen von 1991 und 2003 die entscheidenden Betriebe leicht finden und<br />

zerstören konnten. In der Embargo-Zeit dazwischen musste die Produktion<br />

zurückgefahren werden oder brach sogar zusammen, weil es k<strong>ein</strong>e Ersatzteile<br />

gab. Hinzu kam, dass das Management der Betriebe weniger unter Fach- als<br />

unter Loyalitätsgesichtspunkten berufen wurde, <strong>ein</strong> Problem, das auch heute<br />

noch existieren soll.<br />

Insgesamt dominiert der Staat nicht nur die Ölindustrie, sondern die ganze<br />

gewerbliche Wirtschaft. Eine Privatisierung vieler Betriebe wird zwar immer<br />

wieder angekündigt, aber nicht ernstlich geplant. Die Sicherheitslage und<br />

die Interessen der beteiligten Stellen tun ihr übriges dazu, den Ausbau <strong>ein</strong>er<br />

Baugenehmigungen<br />

Wohn- und Geschäftsgebäude, Industriebauten<br />

80.000<br />

70.000<br />

60.000<br />

50.000<br />

40.000<br />

30.000<br />

20.000<br />

10.000<br />

0<br />

Quelle: IWF<br />

2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008<br />

privaten Parallelstruktur zu verhindern. Dabei ginge es gar nicht darum, die<br />

staatlichen Betriebe zu verdrängen, sondern darum, mit den internationalen<br />

Produkten konkurrieren zu können, also die Importe zu ersetzen. Eine entsprechende<br />

Bereitschaft in Bagdad vorausgesetzt, können sich hier in den kommenden<br />

Jahren noch enorme Möglichkeiten ergeben.<br />

Sicher ist schon jetzt, dass der Bausektor zu den Konjunkturträgern der<br />

Zukunft gehört. Die Regierung plant hohe Neu- und Erhaltungsinvestitionen<br />

in den Verkehrswegebau, besonders in Straßen, Häfen und Dämme, in<br />

öffentliche Gebäude und Anlagen. Auch im Gewerbebau wird die Nachfrage<br />

anhaltend hoch bleiben. Viele Gebäude haben schadhafte Wasser- und<br />

Sanitärsysteme und sind renovierungsbedürftig. Das Planungsministerium<br />

sieht zudem <strong>ein</strong>en Bedarf von zwei Millionen neuen Wohnungen bis 2015,<br />

von denen 85 Prozent privat errichtet werden sollen. Ein beträchtlicher Teil<br />

ist als Großwohn<strong>ein</strong>heiten geplant, auch um die Ausbreitung der Städte zu<br />

bremsen. In Wohnungsbau und Immobilienerwerb flossen 2010 mit 14 Milliarden<br />

Dollar etwa <strong>ein</strong> Drittel aller ausländischen Direktinvestitionen.<br />

Die Kapazitäten der <strong>ein</strong>heimischen Baustoffindustrie und des Baugewerbes<br />

reichen da<strong>für</strong> nicht aus, die Fachkenntnisse der Beschäftigten sind oft unzureichend,<br />

ebenso die der Baudienstleister <strong>für</strong> Planung, Statik und Ausführungskontrolle.<br />

Während der <strong>Irak</strong> bis 2003 größere Mengen Gips und Zement<br />

und Baumaterialien wie Glas, Rohre und Ziegel selbst herstellte, stammt heute<br />

der größte Teil aus dem Ausland. Die <strong>ein</strong>heimischen Ziegelfabriken können<br />

nur etwa <strong>ein</strong> Viertel des Bedarfs decken, der meiste Zement kommt aus<br />

der Türkei und aus Iran. Generell ist die Qualität der importierten Baustoffe<br />

meist ungeprüft, der Nachschub an passendem Material ist unsicher und<br />

die Vertriebswege sind ineffizient.<br />

Der private Wohnungsbau der <strong>Irak</strong>er beruht noch weitgehend auf finanzieller<br />

Unterstützung aus dem Familien- und Freundeskreis. Bankkredite<br />

zur Baufinanzierung, die mit der Immobilie besichert sind, fehlen. Auch<br />

die Ausweisung von Bauland und die Bauvorschriften sind noch mangelhaft<br />

und haben zu <strong>ein</strong>em Rückstau an Aktivitäten geführt. Nach Ansicht der<br />

Entwicklungshilfe-Organisation USAID liegt all<strong>ein</strong> das Baupotenzial im <strong>Irak</strong><br />

in <strong>ein</strong>er Größenordnung von 150 Milliarden Dollar – dem 1,8-fachen des<br />

Bruttonational<strong>ein</strong>kommens.<br />

Zeit <strong>für</strong> Papier<br />

Aufwand in Tagen <strong>für</strong> die Errichtung <strong>ein</strong>es Lagerhauses in Bagdad,<br />

Bausumme 520.000 US-Dollar<br />

Quelle: World Bank Doing Business Project, 20<strong>12</strong>, *zeitgleich möglich<br />

Vollständige Zahlung von Inspektionsgebühren 3<br />

Erhalt der Planungsgenehmigung 28<br />

Erhalt der Bauvorschriften 14<br />

Erhalt <strong>ein</strong>es Grundstücksplans 14<br />

Erhalt der Genehmigung des Ministeriums <strong>für</strong> Kommunikation 30<br />

Erhalt der Genehmigung der Elektrizitätsgesellschaft* 21<br />

Erhalt der Bewilligung der Wasser- und Abwasserabteilungen* 14<br />

Erhalt der Baugenehmigung 30<br />

Erhalt der Bauabnahme, Stadtverwaltung 1<br />

Erhalt der Bauabnahme, Staatsverwaltung* 14<br />

Erhalt von Wasser- und Abwasseranschlüssen* 65<br />

Erhalt <strong>ein</strong>es Telefonanschlusses* 30


<strong>Irak</strong>s Großbetriebe<br />

nach Zahl und Beschäftigten, 2008<br />

Quelle: COSIT 2009. Differenzen durch Rundung<br />

Branche Betriebe Beschäftigte<br />

wirtschaftsbericht irak 115<br />

staatlich gemischt privat Summe staatlich gemischt privat Summe<br />

Bergbau, St<strong>ein</strong>e und Erden 3 3 3200 3200<br />

Lebensmittel 9 132 141 15.700 5600 21.400<br />

Getränke 1 10 11 950 1050 2000<br />

Textilien 6 1 7 23.900 <strong>12</strong> 23.900<br />

Kleidung 2 1 3 5000 400 5400<br />

Schuhe 1 1 4800 4800<br />

Holz u. Möbel 1 1 1 3 240 130 30 400<br />

Papier u. Druck 7 1 7 15 4400 160 80 4600<br />

Öl u. Chemie 16 2 11 29 43.300 400 250 44.000<br />

Nichtmetall-Rohstoffe, Mineralien 28 3 228 259 30.400 150 <strong>12</strong>.000 42.600<br />

Metalle, Halbzeuge 1 1 1900 1900<br />

Metallerzeugnisse 2 2 7200 7200<br />

Maschinen 2 2 7400 7400<br />

Elektroapparate 5 2 1 8 16.200 1100 13 17.400<br />

Fahrzeuge 1 1 2 3800 250 4100<br />

zusammen 84 11 392 487 167.700 3200 19.400 190.200<br />

Industrielle Groß-, Mittel- und Kl<strong>ein</strong>betriebe<br />

Zahl und Beschäftigte, letzte Daten<br />

Quelle: COSIT 2009<br />

2006 2007 2008<br />

Zahl Beschäftigte Zahl Beschäftigte Zahl Beschäftigte<br />

Großbetriebe staatlich 67 145.400 72 151.400 84 167.700<br />

gemischt 10 3.500 10 3.900 11 3.200<br />

privat 334 17.400 341 17.100 392 19.400<br />

Summe 411 166.200 423 172.400 487 190.200<br />

Mittelbetriebe 52 960 57 1100<br />

Kl<strong>ein</strong>betriebe 11.620 46.500 13.400 53.700<br />

Industrielle Großbetriebe: über 30 Beschäftige und/oder bestimmte Mindestinvestitionen<br />

Industrielle Mittelbetriebe: 10 bis 29 Beschäftigte<br />

Industrielle Kl<strong>ein</strong>betriebe: unter 10 Beschäftigte


116<br />

Landwirtschaft: Bauer sucht Business<br />

Über die großen Chancen der Agrarprodukte<br />

T<br />

opographie und Klimaverhältnisse und mit ihnen die Möglichkeiten<br />

der Bewirtschaftung sind im <strong>Irak</strong> von Region zu Region<br />

sehr unterschiedlich. Oberhalb der Niederschlagslinie von 200<br />

mm/Jahr ist Weizenanbau möglich, unterhalb von 100 mm wächst<br />

selbst Gerste schlecht. Die Zone mit verlässlichen Niederschlägen reicht nur<br />

bis etwa Samarra, 100 Kilometer nördlich von Bagdad. Weiter südlich ist nur<br />

Bewässerungslandwirtschaft möglich, die es im Norden auch in den Tallandschaften<br />

gibt. Im Marschland des äußersten Südens hin zur Golfküste<br />

waren Fischfang und Büffelhaltung verbreitet. Überhaupt war das Gebiet<br />

des heutigen <strong>Irak</strong>s früher <strong>ein</strong> agrarischer Selbstversorger.<br />

Vor allem im Norden zwangen die stark schwankenden Niederschläge und<br />

die Unsicherheiten der Getreideernte die Bauern zu kontinuierlichen Landverkäufen<br />

an Großgrundbesitzer und zur Rückpachtung ihrer Flächen. Verbreitet<br />

war <strong>ein</strong>e Abgabe von vier Fünfteln der Ernte an die Besitzer, die ihre Mittel lukrativer<br />

in den Erwerb weiterer Agrarflächen als in die Verbesserung der Erträge<br />

investierten. Günstiger war die Lage in den Bewässerungsgebieten, zum<br />

Beispiel den ausgedehnten Dattelgärten, wo die Großgrundbesitzer auch investierten<br />

und ihr Land als Unternehmer führten. Insgesamt aber brachten die<br />

Stadt und Land<br />

Wirtschaftliche Bedeutung des Agrarsektors<br />

Quelle: Indexmundi.com<br />

Bevölkerung 2010<br />

ländlich 34 Prozent<br />

städtisch 66 Prozent<br />

Anteil an der<br />

Wertschöpfung 2010<br />

Arbeitsplätze 2008<br />

Agrarsektor 9,7 Prozent<br />

Industrie 60,5 Prozent<br />

Dienstleistung 27,3 Prozent<br />

Agrarsektor 21,6 Prozent<br />

Industrie 18,7 Prozent<br />

Dienstleistung<br />

59,8 Prozent<br />

Armut der Bauern, die halbfeudalen Verhältnisse und die soziale Rückständigkeit<br />

– beim Sturz der Monarchie konnten 83 Prozent der Männer und 99<br />

Prozent der Frauen nicht lesen und schreiben – <strong>ein</strong>e erhebliche Landflucht<br />

und sehr schnell steigende Arbeitslosigkeit in den Städten.<br />

Die Militärregierungen der 1960er und 1970er Jahre leiteten Landreformen<br />

und -umverteilungen <strong>ein</strong>, elektrifizierten fast alle Dörfer und verbesserten die<br />

soziale Versorgung, konnten ihre Programme aber nur langsam durchsetzen:<br />

im konservativen Kurdistan sogar erst ab 1975 nach der militärischen Niederlage<br />

der Rebellen unter der Führung Mustafa Barzanis. 60 Prozent des Großgrundbesitzes<br />

wurden verstaatlicht, 400.000 Familien erhielten Land – aber<br />

oftmals nur das schlechteste, und Agrarkredite waren schwer zu bekommen.<br />

Die neuen Staatsfarmen blieben ineffizient, es mangelte an ausgebildeten Akteuren<br />

und Multiplikatoren der Modernisierung.<br />

In den 1980er Jahren übernahmen die Frauen im Agrarsektor <strong>ein</strong>e wichtige<br />

Rolle, weil die Männer zum Krieg gegen den Iran und später gegen Kuwait<br />

<strong>ein</strong>gezogen wurden. In den 1990er Jahren wirkten sich die Lebensmittelsubventionen<br />

des „Oil for Food“-Programmes verheerend aus, weil die Bauern<br />

Nutzung des Agrarlandes<br />

Verteilung der Anbauflächen<br />

Quelle: FAO<br />

Wälder und Forsten<br />

Weideland<br />

Ackerland, Winterregen<br />

Ackerland, künstliche Bewässerung<br />

Grasland<br />

Ödland


mit den Preisen nicht konkurrieren konnten. Zudem hatten die verschiedenen<br />

Kriege zahlreiche in den Jahrzehnten zuvor aufgebaute lebensmittelverarbeitende<br />

Betriebe zerstört. Saddam Huss<strong>ein</strong> hatte ferner das Marschland<br />

des Südens trockenlegen lassen, um die aufständischen Bewohner zur<br />

Umsiedlung zu zwingen.<br />

Das jüngste Hemmnis bei der Stabilisierung der Landwirtschaft ist der Verzicht<br />

der Regierung in Bagdad auf jeden gezielten Zollschutz. Die niedrigen<br />

Preise der Weltmarktprodukte führen dazu, dass immer mehr Kl<strong>ein</strong>bauern<br />

ihre Ländereien verlassen. Gleichzeitig verschlechtert sich die Bodenqualität<br />

durch Versalzung und Verwüstung. Insgesamt befindet sich der Agrarsektor<br />

seit 2003 in stetem Niedergang, auch wenn er nach dem Ölsektor – mit großem<br />

Abstand – der zweitwichtigste Zweig der irakischen Wirtschaft bleibt.<br />

Einer Verbesserung steht zunächst der Mangel an brauchbaren Daten über<br />

die Landwirtschaft entgegen. Über genutzte Flächen, Erträge und Produktivität,<br />

Tierbestände und die Ausstattung der Betriebe existieren oft nur Schätzungen.<br />

Staatsbetriebe arbeiten nur mit reduzierter Kapazität, die Angst vor<br />

Anschlägen schränkt den Kontakt zu potenziellen Kunden <strong>ein</strong>. Auch die<br />

Landwirtschaftliche Produktion im <strong>Irak</strong><br />

Mengen in Millionen Tonnen, Werte in Millionen Dollar<br />

nach inländischer Kaufkraft<br />

4<br />

2<br />

wirtschaftsbericht irak 117<br />

Lebensmittel-Weiterverarbeitung, Kühlhäuser und die Verpackungsindustrie,<br />

insgesamt die Grundlage <strong>für</strong> kostengünstige Produktion in rentablen Größenordnungen,<br />

leiden unter Ausfällen bei der Strom- und Wasserversorgung.<br />

International geförderte Programme zielen auf besseres Wassermanagement,<br />

erweiterte veterinärmedizinische Leistungen, den Neuaufbau von Verarbeitungsbetrieben,<br />

die Förderung der Fischerei, von Baumwoll- und Saatgutbetrieben,<br />

Gewächshäusern sowie Dattelpalmengärten. Für den Agrarsektor<br />

vorteilhaft ist der schnell wachsende Binnenmarkt – innerhalb der nächsten<br />

25 Jahren soll die Bevölkerung von 30 auf 50 Millionen wachsen.<br />

Derzeit liegt das Volumen von Lebensmittelimporten bei drei Milliarden<br />

Dollar. Trotz des Preisdrucks durch den Weltmarkt kann <strong>ein</strong> Teil dieser Einfuhren<br />

lokal substituiert werden, sobald die Voraussetzungen bei Infrastruktur,<br />

Lebensmittelhygiene, Projektfinanzierung und Produktmarketing erfüllt sind.<br />

Produzenten beklagen allerdings auch das niedrige Durchschnitts<strong>ein</strong>kommen<br />

in vielen Teilen des <strong>Irak</strong>s. Mit rund 25 Prozent Einwohnern unterhalb<br />

der Armutsgrenze fehlen Impulse auch auf der Nachfrageseite. Die im<br />

Jahr <strong>2011</strong> erheblich verbesserte Situation der Staatsfinanzen ermöglicht jedoch<br />

zusätzliche Investitionen.<br />

Importe landwirtschaftlicher Güter<br />

Mengen in Millionen Tonnen, Werte in Millionen US-Dollar<br />

Menge Wert Menge Wert<br />

Quelle: FAO<br />

Weizen<br />

Tomaten<br />

Datteln<br />

Gerste<br />

Gurken<br />

Auberginen<br />

Wassermelonen<br />

Kartoffeln<br />

Trauben<br />

Kuhmilch<br />

1000<br />

500<br />

4<br />

2<br />

Weizen<br />

Reismehl<br />

Zucker,<br />

raff.<br />

Weizenmehl<br />

Margarine<br />

Öl,<br />

gehärtet<br />

Hühnerfleisch<br />

Sonnenblumenöl<br />

Zigaretten<br />

Vollmilchpulver<br />

1000<br />

500


118<br />

Versorgung: Immer Ärger mit dem Kühlschrank<br />

Darum mangelt es an Strom und Wasser<br />

Z<br />

u den größten Alltagsproblemen im <strong>Irak</strong> gehören die Versorgung<br />

mit Elektrizität und Trinkwasser sowie die Abwasserentsorgung.<br />

Die Empörung über die Unfähigkeit der Verwaltung<br />

und der Versorgerbetriebe, diese Leistungen sicherzustellen,<br />

mündet immer wieder in öffentliche Proteste. Noch Anfang 2010<br />

erhielten die Haushalte in Bagdad im Schnitt nur 15 Stunden täglich Strom.<br />

Die Begründung, der Krieg von 2003 und die nachfolgenden Anschläge<br />

hätten eben schwere Schäden im Netz angerichtet, wird als Ausrede <strong>ein</strong>er<br />

trägen und planungsunsicheren Administration verstanden.<br />

Der Not<strong>ein</strong>satz zahlloser Kl<strong>ein</strong>generatoren versucht, diese Lücken zu<br />

füllen. Sie werden entweder privat, in nachbarschaftlicher Kooperation<br />

oder durch kommerzielle Anbieter betrieben. Der produzierte Strom<br />

ist mit dem bis zu 14-fachen des subventionierten Staatsstroms teuer und<br />

belastet die armen Haushalte besonders.<br />

Weite Teile der Bevölkerung aber, in manchen Provinzen bis zu <strong>ein</strong>em<br />

Drittel, haben zu dieser Notstromversorgung k<strong>ein</strong>en Zugang. Und so<br />

können sie ihre Kühlschränke bei stundenlangen Ausfällen und Außentemperaturen<br />

von regelmäßig über 40 Grad Celsius kaum mehr betreiben<br />

– <strong>für</strong> Haushalte von zumeist sechs bis acht Personen <strong>ein</strong>e enorme<br />

Belastung. Der Mangel an Elektrizität behindert auch die Versorgung<br />

mit Wasser: Werden die Pumpen nicht mit Strom versorgt, bricht<br />

sie zusammen.<br />

Unzufriedenheit mit der Grundversorgung<br />

als Grund <strong>für</strong> Proteste<br />

Umfrage der US-Botschaft, <strong>2011</strong><br />

<strong>2011</strong> wies k<strong>ein</strong>e Provinz mehr <strong>ein</strong>e stabile Lage auf.<br />

Quelle: SIGIR<br />

sehr stabil<br />

stabil<br />

eher stabil<br />

eher instabil<br />

sehr instabil<br />

In den heißen Sommermonaten brauchen die Klimaanlagen besonders<br />

viel Strom. Das irakische Netz aber deckt in dieser Zeit nur etwa die Hälfte<br />

des tatsächlichen Bedarfs. Erzeugt wird <strong>ein</strong>e Leistung von 9.000 MW,<br />

die geschätzte Nachfrage liegt im Durchschnitt bei 14.000 MW. Aber nicht<br />

<strong>ein</strong>mal im Winter gibt es ausreichend Strom. Und wenn die Kapazitäten<br />

vorhanden sind, können sie nicht genutzt werden. Wegen des Mangels an<br />

Brennstoff kommt es derzeit durchschnittlich zu sechs Prozent oder 400<br />

MW Leistungsausfall: Der erforderliche Diesel wird zwar in hinreichender<br />

Menge gekauft, verschwindet aber beim Transport mit Tanklastwagen<br />

– es fehlt an Pipelines – spurlos.<br />

Der Vergleich von Angebot und Nachfrage mehrerer Jahre zeigt, dass<br />

die großindustrielle Stromerzeugung auch nach dem Abklingen der Gewalt<br />

um 2007 nicht wesentlich zugenommen hat. Gaskraftwerke sind in der<br />

Investition auch teuer und erfordern lange Planungs- und Bauzeiten, aber<br />

selbst die Instandsetzung und Modernisierung der bestehenden gas-,<br />

wasser- und schwerölbetriebenen Kraftwerke verläuft schleppend. Nach<br />

Angaben der Regierung sollen nun bis zum Jahr 2013 Erzeuger mit <strong>ein</strong>er<br />

zusätzlichen Leistung von 7.000 MW ans Netz gehen. Der Strommangel,<br />

beteuert sie, werde so in überschaubarer Zeit abgestellt.<br />

Doch Experten aus dem Ausland sind skeptisch. Selbst wenn die Kraftwerke<br />

rechtzeitig fertig würden, läge die Nachfrage Ende 2013 nicht bei<br />

16.000 MW, sondern konjunkturbedingt bei 17.000 MW.<br />

Stromlieferungen aus dem Netz<br />

und Nachfrage<br />

in Megawattstunden<br />

Vom 13.-19. Juli <strong>2011</strong> lag die Stromlieferung um 13 Prozent über dem Vorjahreszeitraum und erreichte<br />

52 Prozent des geschätzten Bedarfs (Vorjahr: 51 Prozent) Quelle: Iraq Status Report, <strong>2011</strong><br />

Lieferung aus dem Netz<br />

Strom aus eigenen, nachbarschaftlichen oder kommerziellen Kl<strong>ein</strong>generatoren<br />

400.000<br />

300.000<br />

200.000<br />

100.000<br />

Januar<br />

2004<br />

Januar<br />

2005<br />

Januar<br />

2006<br />

Januar<br />

2007<br />

Januar<br />

2008<br />

Januar<br />

2009<br />

Januar<br />

2010<br />

Januar<br />

<strong>2011</strong>


Das Hochspannungsnetz verfüge nicht über die nötigen Anlagen zur<br />

Lastverteilung, um die lokale Nachfrage zu stillen. Und die Aussicht auf<br />

<strong>ein</strong>e sichere Stromversorgung werde wahrsch<strong>ein</strong>lich dazu führen, dass<br />

noch mehr Elektrogeräte gekauft würden. Insgesamt, heißt es, sei Energieeffizienz<br />

wesentlich wirksamer als der Bau von Kraftwerken, doch es<br />

existierten k<strong>ein</strong>erlei Anreize, Strom <strong>ein</strong>zusparen. Im Gegenteil, die Regierung<br />

subventioniere die Energiepreise stark und werde, um Unruhen zu<br />

vermeiden, damit auch fortfahren. Nach <strong>ein</strong>em von den USA entwickelten<br />

Masterplan <strong>für</strong> den Stromsektor seien 20 Jahre nötig, um die Lücke zu<br />

schließen und auch geschlossen zu halten. Das könne nur mit Investitionen<br />

in Höhe von 77 Milliarden Dollar gelingen.<br />

Nicht nur im Hinblick auf die Bewältigung des Alltages, auch unter<br />

gesundheitlichen Aspekten ist der Mangel an Trinkwasser und an korrekter<br />

Abwasserentsorgung problematisch. Schwachstellen zeigen sich entlang<br />

der gesamten Transport- und Nutzungskette des Wassers.<br />

Der <strong>Irak</strong> gilt im Vergleich mit s<strong>ein</strong>en Nachbarländern wegen s<strong>ein</strong>er<br />

Niederschläge und der großen Flüsse als wasserreich. Dürren und der<br />

Klimawandel, neue Staudämme an den Oberläufen von Euphrat und<br />

Tigris sowie der unsachgemäße Verbrauch in Landwirtschaft, Industrie<br />

und privaten Haushalten haben aber dazu geführt, dass die Flüsse nur<br />

noch <strong>ein</strong> Drittel der <strong>ein</strong>stigen Wassermenge führen. Der Zugang zu sicherem<br />

Trinkwasser sank zwischen 1986 und 2006 von 87 Prozent der<br />

Entsorgung<br />

Zugang von Haushalten, in Prozent<br />

Der Zugang zum Abwassersystem erlaubt k<strong>ein</strong>en Aufschluss über das Vorhandens<strong>ein</strong> von Kläranlagen, die<br />

Müllabfuhr k<strong>ein</strong>en über die Abfallbehandlung. Quelle: Brookings Iraq Index, UNICEF, EU<br />

2008<br />

2009<br />

<strong>2011</strong><br />

wirtschaftsbericht irak 119<br />

Haushalte auf nur noch 77 Prozent; auf dem Land liegt er bei 64 Prozent,<br />

in <strong>ein</strong>zelnen Gebieten bei nur 48 Prozent. Für 2010 gibt UNICEF<br />

den Anteil mit 79 Prozent an. Viele Schulen haben weder Trinkwasseranschlüsse<br />

noch angemessene Sanitäranlagen. Sechs Millionen <strong>Irak</strong>er,<br />

darunter drei Millionen Kinder, haben k<strong>ein</strong>en Zugang zu sauberem<br />

Trinkwasser, sondern schöpfen aus Flüssen, Bächen oder verschmutzungsgefährdeten<br />

Brunnen.<br />

Weil überhaupt nur 17 Prozent der Abwässer behandelt werden, ist die<br />

Zahl der Durchfallerkrankungen hoch. Diarrhoe ist nach Erkrankungen des<br />

Atemsystems die zweithäufigste Todesursache bei irakischen Kindern.<br />

Stiege die sichere Wasserversorgung auf 91 Prozent der Haushalte, würde<br />

dies nach UNICEF-Schätzungen die Zahl der Sterbefälle unter Kindern<br />

von jährlich 200.000 auf 100.000 halbieren.<br />

92 Prozent des Trinkwassers wird in der Landwirtschaft verbraucht.<br />

Von der Einspeisung ins Netz geht noch <strong>ein</strong>mal die Hälfte durch undichte<br />

Leitungen und Verschwendung verloren. Der Wasserpreis ist stark<br />

subventioniert: Mit umgerechnet 0,2 Cent pro Kubikmeter liegt er bei<br />

<strong>ein</strong>em Zwölftel des Tarifs in Ägypten, dem arabischen Land mit den<br />

nächst höheren Preisen, und bei fünf Prozent der Gestehungskosten.<br />

Doch selbst wenn Wasser im <strong>Irak</strong> teurer würde, könnten k<strong>ein</strong>e Rechnungen<br />

geschrieben werden: In Bagdad funktionieren 90 Prozent aller<br />

Wasseruhren nicht.<br />

Abwassernetz Müllabfuhr, städtische Gebiete Müllabfuhr, ländliche Gebiete<br />

2010 2010<br />

0 50 100 0 50 100 0 50 100


<strong>12</strong>0<br />

Telekommunikation: Anschluss gesucht<br />

Festnetz, Facebook, Funkloch<br />

D<br />

urch den Krieg von 2003 wurde das irakische Telekommunikationssystem<br />

fast vollständig zerstört. Das Festnetz mit s<strong>ein</strong>en<br />

1,3 Millionen Anschlüssen ist unzuverlässig und längst durch<br />

den Mobilfunk marginalisiert. Investiert wird jedoch in den Ausbau<br />

von Glasfasernetzen zur Datenübermittlung, 60.000 Kilometer sind<br />

verlegt. Die Nachfrage übersteigt das Angebot; vor allem die Zugangsmöglichkeiten<br />

zum Internet wirken stimulierend. Deswegen wird an <strong>ein</strong>em inländischen<br />

Hochleistungsnetz gearbeitet und <strong>ein</strong>e Verbindung zum Unterseekabel<br />

im Golf geplant.<br />

Eine enorme Dynamik hat der Mobilfunkmarkt entfaltet. Inzwischen verfügt<br />

nahezu jeder irakische Haushalt über mindestens <strong>ein</strong> Handy. Drei große<br />

Anbieter konkurrieren um Anschlüsse. Mit 53 Prozent ist das kuwaitische<br />

Unternehmen Zain klarer Marktführer. Asiacell, 30-prozentige Tochter der<br />

katarischen Firma Qtel, liegt mit 38 Prozent auf Rang 2. Auf Kurdistan<br />

ausgerichtet ist Korek, <strong>ein</strong>e Tochter von France Telecom und des kuwaitischen<br />

Logistik-Konzerns Agility. Die Qualität ihrer Leistungen führt immer<br />

wieder zu öffentlicher Kritik und zu Strafgeldern von Behörden.<br />

Wachstum des Mobilfunkmarktes<br />

in Millionen Anschlüssen<br />

Quellen: CMC, Samena Trends<br />

April<br />

2008<br />

Januar<br />

2009<br />

Januar<br />

2010<br />

Mitte<br />

<strong>2011</strong><br />

0<br />

10 20 30<br />

Bei der Lizensierung im Jahr 2007, die je 1,25 Milliarden Dollar kostete<br />

und 15 Jahre läuft, hatten sich alle drei Unternehmen verpflichtet, 20 bis 25<br />

Prozent ihres Gesellschaftskapitals bis August <strong>2011</strong> an der Börse in Bagdad<br />

anzubieten. Wirtschaftspolitisch steht dahinter der Gedanke, auch lokalem<br />

Kapital die Möglichkeit zu bieten, sich an den Gewinnen auf dem irakischen<br />

Mobilfunkmarkt zu beteiligen. Trotz des Drängens der irakischen<br />

Behörden und gelegentlichen Drohungen mit Geldstrafen und Lizenzentzug<br />

geht die Umwandlung der drei Unternehmen in Aktiengesellschaften<br />

nur langsam voran; Asiacell führt das Trio in puncto Geschwindigkeit<br />

an. Größer als die juristischen Probleme sind die finanziellen – die Unternehmen<br />

würden den Zeitpunkt des Börsengangs 20<strong>12</strong> gerne optimieren<br />

und nicht von administrativen Vorgaben abhängig machen.<br />

Besonders kompliziert ist der Vorgang allerdings <strong>für</strong> die irakische Börse<br />

selbst, die bislang täglich Aktien im Wert von 1,5 Millionen Dollar umsetzt.<br />

All<strong>ein</strong> Zains Emissionsvolumen könnte bei 80 Millionen Dollar liegen.<br />

Unklar ist, in welchen Abständen und in welcher Reihenfolge die drei Firmen<br />

zugelassen werden. Zudem hat es noch nie <strong>ein</strong>en Börsengang nach<br />

Internet-Zugänge<br />

in Millionen Anschlüssen<br />

Quellen: Brookings Iraq Index, ITU<br />

Januar<br />

2007<br />

Januar<br />

2008<br />

Januar<br />

2009<br />

Januar<br />

2010<br />

Internet-Nutzer<br />

in Prozent der Bevölkerung, offiziell<br />

Quelle: ITU<br />

2006<br />

2007<br />

2008<br />

2009<br />

2010<br />

inoffiziell offiziell<br />

0 0,5 1 1,5 2<br />

<strong>Irak</strong> Iran Türkei<br />

0 10 20 30 40 50


westlichem Muster mit <strong>ein</strong>em Vorab-Bieterverfahren gegeben. Be<strong>für</strong>chtet<br />

werden Verkäufe unter Wert, <strong>ein</strong>e chaotische Kursentwicklung und <strong>ein</strong><br />

Vertrauensverlust <strong>für</strong> künftige große Emissionen. Eine vierte Mobilfunk-<br />

Lizenz soll 20<strong>12</strong> vergeben werden und zwei Milliarden Dollar erbringen.<br />

Für große Aufmerksamkeit hat gesorgt, dass Asiacell zu Jahresbeginn den<br />

Netzzugang <strong>für</strong> Zain-Kunden sperrte, weil Zain über das lizensierte Volumen<br />

hinaus fünf Millionen zusätzliche SIM-Karten auf den Markt brachte<br />

und damit den Marktanteil s<strong>ein</strong>er Konkurrenten reduzierte. Zain erhielt da<strong>für</strong><br />

<strong>ein</strong>e amtliche Rekordstrafe von 262 Millionen Dollar, die aber der Zustimmung<br />

<strong>ein</strong>er Parlamentskommission bedarf und bislang ausblieb.<br />

Ein Entwicklungsschub steht dem Land noch bei der Nutzung des Internets<br />

bevor. <strong>2011</strong> wurde die Marke von sechs Prozent offizieller Internet-User<br />

überschritten. Kenner halten die amtlichen Zahlen jedoch <strong>für</strong> deutlich<br />

untertrieben, weil Mehrfach- und illegale Zugänge weit verbreitet sind.<br />

Realistische Schätzungen gehen von zwei Millionen Internet-Anschlüssen<br />

aus. Die Personenzahl liegt darüber, auch weil Benutzer von Internet-<br />

Facebook-Nutzer<br />

nach Alter und Geschlecht, <strong>2011</strong>, in Prozent<br />

Die Zahlen zeigen die Aufteilung auf 1,05 Millionen Facebook-Konten. Quelle: Socialbakers.com<br />

Männer 73<br />

Frauen 27<br />

13-15 5<br />

16-17 7<br />

18-24 40<br />

25-34 32<br />

35-44 11<br />

45-54 4<br />

über 55 2<br />

wirtschaftsbericht irak <strong>12</strong>1<br />

Cafés nicht erfasst werden. Es ist nicht feststellbar, auf wen die seit 2008<br />

in den Medien verbreitete Zahl von angeblich <strong>12</strong> Millionen Nutzern zurückgeht;<br />

sie stammt angeblich von <strong>ein</strong>em Berater des Ministeriums <strong>für</strong> Kommunikation.<br />

Nach <strong>ein</strong>er Umfrage von 2010 nutzen 20 Prozent der Erwachsenen<br />

das Internet. Facebook soll mehr als <strong>ein</strong>e Million irakische Kunden haben.<br />

Dennoch ist der <strong>Irak</strong> das Land im Nahen Osten mit der geringsten Internet-Durchdringung<br />

und erleidet dadurch Wachstumsverluste. Derzeit ist<br />

die kommerzielle Nutzung des Internets – etwa <strong>für</strong> <strong>ein</strong>e Business-Website<br />

mit Mailverkehr – auf <strong>ein</strong>em illegalen Anschluss problematisch. Sobald die<br />

Infrastruktur besser wird, ist mit <strong>ein</strong>em Boom der Internet-Dienstleister<br />

im professionellen Sektor zu rechnen. Bis dahin müssen die manchmal improvisierten<br />

Verhältnisse noch in Kauf genommen werden.<br />

Computer-Gefahren<br />

Gemeldete Virenangriffe aus dem Internet auf Computer, 2010, in Prozent<br />

Quelle: Kaspersky Security Bulletin 2010<br />

<strong>Irak</strong><br />

Oman<br />

Russland<br />

Weißrussland<br />

USA<br />

<strong>Irak</strong><br />

Sudan<br />

Ruanda<br />

Nigeria<br />

Tansania<br />

0 50 100<br />

Gemeldete Virenangriffe aus Netzwerken oder mobilen Datenträgern, 2010,<br />

in Prozent<br />

Quelle: Kaspersky Security Bulletin 2010<br />

0 50 100


<strong>12</strong>2<br />

Transport: Vom rechten Weg<br />

10.000 Kilometer warten auf ihren Ausbau<br />

D<br />

ie irakischen Regierungen haben das Transportsystem seit<br />

den 1960er Jahren bis zum Golfkrieg von 1990/91 stetig ausgebaut.<br />

Schlechte Verkehrsverbindungen hatten die industrielle<br />

Entwicklung des Landes verhindert, der Wegebau auch<br />

in abgelegene Gebiete erhöhte die regionale Integration – und die Präsenz<br />

der Zentralregierung. Im Krieg gegen Iran von 1980 an schließlich entwickelte<br />

sich die Transportlogistik aus militärischen Gründen.<br />

Das Wegenetz selbst ist leistungsfähig konzipiert, aber die meisten<br />

Fernstraßen und Brückenbauten der Vorkriegszeit hatten <strong>ein</strong>e Lebenserwartung<br />

von 20 Jahren. Sie sind, soweit nicht zerstört, heute noch in<br />

Betrieb und müssen renoviert oder ersetzt werden. Die Bevölkerung<br />

wächst schnell und mit ihr der Bedarf an Straßen: Die Motorisierung<br />

und der zunehmende Frachttransport mit Lastkraftwagen nehmen zu.<br />

Die Kosten <strong>für</strong> die Generalüberholung aller befestigten Straßen liegen<br />

nach Regierungsangaben bei 40 Milliarden Dollar. Von 20<strong>12</strong> an soll mit<br />

internationaler Finanzierung <strong>ein</strong>e Autobahn von Mosul in die Türkei<br />

gebaut werden.<br />

Ein erheblicher Druck auf den Straßenbau geht dabei vom Öl- und<br />

Gassektor aus. Die Erschließung neuer Felder ist ohne das zügige Heranbringen<br />

schwerer Technik nicht möglich. Hier sind Verluste durch<br />

verspätete Erschließung unmittelbar spürbar. Auch die Investitionen in<br />

mehrere Flughäfen im Land lohnen nur bei attraktiven Anbindungen.<br />

Schließlich ist auch der religiöse Tourismus nach Nadschaf und Kerbala<br />

– im <strong>Irak</strong> <strong>ein</strong> beachtenswerter Wirtschaftszweig – auf steigende Verkehrskapazitäten<br />

angewiesen.<br />

Transportwege<br />

in Kilometern<br />

Quelle: SIGIR<br />

Pipelines<br />

Erdgas<br />

Flüssiggas<br />

Rohöl<br />

Raffinerieprodukte<br />

Eisenbahnen<br />

Standardspur<br />

Straßen<br />

befestigt<br />

unbefestigt<br />

Wasserstraßen<br />

Schatt al-Arab, <strong>für</strong><br />

maritimen Verkehr<br />

Euphrat und Tigris, <strong>für</strong><br />

flache Binnenschiffe<br />

130<br />

2447<br />

2272<br />

885<br />

5104<br />

918 1637<br />

37.851<br />

7049<br />

Pläne zum Ausbau des Eisenbahnnetzes in internationaler Kooperation<br />

– etwa der Bau <strong>ein</strong>er Hochgeschwindigkeitsstrecke zwischen Bagdad und<br />

Basra – werden immer wieder lanciert, von Experten aber skeptisch<br />

beurteilt. Nicht nur die Finanzierung, auch die allgegenwärtigen Sicherheitsprobleme,<br />

das Tauziehen zwischen Parteien und Behörden sowie<br />

rechtliche Unklarheiten behindern solche Projekte.<br />

Anders sieht es beim weniger spektakulären und nicht so prestigeträchtigen<br />

Frachttransport über die Schiene aus. Durch mehrere geplante, begonnene<br />

und fast fertig gestellte Verbindungen mit Syrien, Jordanien, der Türkei und<br />

dem Iran entwickelt sich gerade <strong>ein</strong> grenzüberschreitendes Ferntransportnetz.<br />

Weil der Außenhandel des <strong>Irak</strong>s schnell zunimmt, könnte es wirtschaftlich<br />

betrieben werden und zugleich die regionale Integration fördern,<br />

Straßen und Häfen des <strong>Irak</strong>s von Verkehr und Luftverschmutzung entlasten<br />

sowie den Nicht-Öl-Handel ver<strong>ein</strong>fachen und beschleunigen.<br />

Voraussetzung ist allerdings die Generalüberholung von Strecken und<br />

Material der Iraqi Republic Railways (IRR), die durch Kriege, Anschläge<br />

und Plünderungen gelitten hat. Sie wirtschaftet hoch defizitär, muss mit<br />

<strong>ein</strong>em kaum erwähnenswerten Investitionsbudget auskommen und hat auch<br />

k<strong>ein</strong>e große politische Lobby. Sie verfügt über nur 31 Lokomotiven und<br />

1.685 Waggons. Allerdings gibt es weltweit große Erfahrungen mit der Sanierung<br />

von Frachtverkehrsstrecken. Solche internationalen Kooperationen<br />

wären <strong>für</strong> den <strong>Irak</strong> nichts Neues: In den 1980er Jahren wurden mehrere<br />

Routen von Firmen aus Brasilien, Indien und Südkorea errichtet.<br />

Die Phosphatvorkommen im westlichen <strong>Irak</strong> können aus Kostengründen<br />

ohnehin nur mit Schienenanschluss ausgebeutet werden.<br />

Die Häfen des Südens<br />

Geografische Lage<br />

Quelle: SIGIR<br />

Kuwait<br />

Hafen von<br />

Umm Qasr<br />

Hafen von<br />

al-Zubair<br />

Halbinsel Al-Fao<br />

Insel Bubiyan,<br />

Hafen geplant<br />

Hafen von<br />

Al-Fao<br />

Al Basrah Oil<br />

Terminal<br />

(ABOT)<br />

UN-Demarkationslinie<br />

Iran


Das große Nadelöhr des irakischen Transportsystems sind allerdings<br />

die überlasteten Häfen. 80 Prozent aller Importe erfolgen über den Golf.<br />

Der Rest wird teuer auf der Straße herangeführt. Einziger Tiefwasserhafen<br />

ist Umm Qasr, der ständig, aber nicht in hinreichender Geschwindigkeit<br />

ausgebaut wird. Der Wasserweg dorthin und zum benachbarten<br />

Hafen von al-Zubair wird zudem zur Hälfte vom benachbarten<br />

Kuwait beansprucht, das s<strong>ein</strong>erseits gerne mehr Verladekapazitäten<br />

<strong>für</strong> den <strong>Irak</strong>handel anbieten möchte und <strong>ein</strong>en eigenen Hafen auf der<br />

Insel Bubiyan plant. Das Vorhaben hat zu erheblichen politischen<br />

Spannungen zwischen den beiden Ländern geführt. Ein neuer Frachthafen<br />

soll zudem in Al-Fao entstehen.<br />

Auch 80 Prozent der Ölexporte verlassen das Land über den Süden,<br />

dem Umstand geschuldet, dass dort derzeit die ergiebigsten Ölfelder<br />

liegen und die Pipelines in den Norden wenig leistungsfähig sind.<br />

Zentrale Bedeutung hat der 1,6 Kilometer lange Al Basrah Oil Terminal<br />

(ABOT), früher Mina al Bakr, der offshore vier Tanker gleichzeitig<br />

füllen kann.<br />

An diesem kurzen südlichen Küstenabschnitt soll nach dem Wunsch<br />

der irakischen Regierung der „Trockene Kanal“ beginnen. Als Alternative<br />

über Land soll er mit <strong>ein</strong>em Netz von Eisenbahnverbindungen<br />

und Straßen dem Suezkanal Konkurrenz machen – <strong>ein</strong> weiteres Großprojekt,<br />

über dessen Umsetzung erst mittelfristig entschieden werden<br />

kann. Wenn dieses Projekt so geplant wird, dass sich die Umschlagzeiten<br />

in den südirakischen Häfen deutlich verringern, wird der<br />

positive Effekt überwiegen.<br />

Eisenbahn-Ökonomie<br />

in Millionen US-Dollar<br />

Quelle: MoTrans, 2010<br />

Einnahmen aus Betrieb<br />

Löhne und Gehälter<br />

10<br />

460<br />

Fernstraßennetz des <strong>Irak</strong>s<br />

Geografische Übersicht<br />

Quelle: MICT<br />

Eisenbahnnetz des <strong>Irak</strong>s<br />

Geografische Übersicht<br />

Quelle: MICT<br />

Mosul<br />

Mosul<br />

Erbil<br />

Erbil<br />

Kirkuk<br />

Bagdad<br />

Kirkuk<br />

Bagdad<br />

wirtschaftsbericht irak <strong>12</strong>3<br />

Basra<br />

Basra


<strong>12</strong>4<br />

Gesundheit & Bildung: Sozialstaat mit Sorgen<br />

Ärzte und Lehrer dringend gesucht<br />

D<br />

er irakische Gesundheitssektor (ohne den kurdischen Norden<br />

des Landes) hat derzeit <strong>ein</strong> Volumen von etwas über 3 Milliarden<br />

Dollar. Hinsichtlich der Ausgaben pro Kopf liegt der <strong>Irak</strong> damit<br />

– nach Zahlen verschiedener UN-Organisationen – im regionalen<br />

Vergleich deutlich zurück, auch wenn andere Methoden der Berechnung <strong>ein</strong>en<br />

zügig steigenden Anteil der Gesundheits- an den Staatsausgaben nahelegen. Die<br />

Kosten <strong>für</strong> die Gesundheit werden im <strong>Irak</strong> ganz überwiegend vom Staat aufgebracht;<br />

Krankenversicherungen sind so gut wie unbekannt.<br />

Das System hat <strong>ein</strong>e Reihe von ökonomischen Schwächen. Das Gesundheitsministerium<br />

übernimmt die Beschaffung von Medikamenten und Geräten aus<br />

dem Ausland <strong>für</strong> die Krankenhäuser. Allgegenwärtig allerdings sind Klagen<br />

über Korruption, die zu unnötigen Bestellungen, falscher Distribution und Mängeln<br />

in der Grundversorgung führte, außerdem auch zur bevorzugten Belieferung<br />

von Kliniken aus politischen oder wirtschaftlichen Gründen. An diesem<br />

System beteiligen sich Patienten, die unnötig teure Behandlungen erwirken,<br />

Ärzte, die die eigentlich kostenlosen Medikamente verkaufen, und die Einkäufer<br />

des Ministeriums. Um Vorwürfen zu begegnen, führt das Ministerium derzeit<br />

Gespräche mit der UN-Kinderhilfsorganisation UNICEF, die den Einkauf und die<br />

Gesundheitsausgaben<br />

Gesamtausgaben pro Kopf, in US-Dollar<br />

Quelle: WHO/WHS <strong>2011</strong>. Angaben ohne Föderale Region Kurdistan<br />

150<br />

100<br />

50<br />

1995<br />

2000 2005 2010<br />

Gesundheit und Staat<br />

Anteile an Gesamtausgaben<br />

Quelle: WHO/WHS <strong>2011</strong>. * Angaben ohne Föderale Region Kurdistan<br />

<strong>Irak</strong> 2000* <strong>Irak</strong> 2008* Iran 2008<br />

Verteilung von Verbrauchsgütern, aber auch von Instrumenten und Geräten<br />

übernehmen könnte. Eine dauerhafte Lösung ist das nicht.<br />

Die Einführung <strong>ein</strong>er privaten Finanzierung im Gesundheitssektor ist derzeit<br />

unrealistisch. Kostenlose Leistungen gelten als selbstverständlich, weil das Geld<br />

da<strong>für</strong> in Form von Öl<strong>ein</strong>nahmen schließlich vorhanden sei, so der Tenor in der<br />

Bevölkerung. Die Einkommen sind niedrig, der Staat ist der größte Arbeitgeber.<br />

Und <strong>für</strong> die Einführung <strong>ein</strong>er allgem<strong>ein</strong>en Krankenversicherung fehlt jede<br />

Infrastruktur.<br />

Im Bildungssektor muss ebenfalls aufgeholt werden. Die vielfältigen Erfahrungen<br />

mit der Bildungsverwaltung in sich schnell entwickelnden Ländern machen<br />

die Agenda aber etwas übersichtlicher. Dennoch: Schulen müssen neu gebaut<br />

und renoviert, der Verbleib der Gelder von internationalen Gebern besser überwacht<br />

werden. Die Zuständigkeiten <strong>für</strong> Lehrinhalte, Personal- und Sachkosten<br />

sind zwischen den beteiligten Staats-, Provinzial- und Fachbehörden zu klären.<br />

Noch fehlt <strong>ein</strong>e bildungspolitische Debatte, aus der sich Prioritäten bei der<br />

Entwicklung der <strong>ein</strong>zelnen Schulstufen ergeben könnten, besonders hinsichtlich<br />

der Förderung von Mädchen, der Fach-Curricula und der Schulbuch-Inhalte.<br />

100 50 0<br />

700 600 500 400 300 200 100 0<br />

Gesamtausgaben <strong>für</strong> Gesundheit<br />

in Prozent des Bruttonational<strong>ein</strong>kommens<br />

Anteil der Zentralregierung<br />

in Prozent der Gesamtausgaben<br />

Anteil der privaten Ausgaben<br />

in Prozent der Gesamtausgaben<br />

Anteil der Gesundheitsausgaben der<br />

Zentralregierung in Prozent des Haushaltes<br />

von auswärts stammende Gesundheitsausgaben<br />

in Prozent der Gesamtausgaben<br />

Gesamtausgaben <strong>für</strong> Gesundheit,<br />

pro Kopf in US-Dollar<br />

Gesamtausgaben <strong>für</strong> Gesundheit<br />

pro Kopf nach Kaufkraft, in Dollar<br />

Ausgaben der Zentralregierung <strong>für</strong> Gesundheit<br />

pro Kopf nach Kaufkraft, in Dollar


Weitere Herausforderungen stehen an: Zwar wurde beschlossen, Bildungspolitik<br />

zu dezentralisieren und Verantwortung auf untere Ebenen zu übertragen;<br />

das aber muss noch umgesetzt werden. Die Versetzung von Lehrern und<br />

insbesondere Lehrerinnen an personell schwächer ausgestattete Schulorte stößt<br />

auf Widerstand. Noch schlecht abgesichert ist der Unterricht <strong>für</strong> die über<br />

100.000 innerhalb des Landes vertriebenen Schülerinnen und Schüler und ihre<br />

etwa 10.000 Lehrer. Und noch ist nicht klar, ob Kurden und Araber ihre<br />

Lehrerausbildung, ihre Lerninhalte und Schulabschlüsse wechselseitig anerkennen.<br />

Im gesamten Bildungsbereich fehlt es zudem an schriftlicher Dokumentation<br />

von Beschlüssen und deren Umsetzung, an regelmäßiger Kommunikation<br />

und Datenerhebung.<br />

Hinter diesen vielfältigen operativen Herausforderungen zeigt sich <strong>ein</strong><br />

strukturelles Problem, das aus vielen Gesellschaften bekannt ist, die sich<br />

durch den Export von Rohstoffen finanzieren: die Unter- beziehungsweise<br />

Geringschätzung der beruflichen Bildung. In der kollektiven Bildungsbiografie<br />

<strong>ein</strong>er solchen Gesellschaft werden die technisch-praktischen Berufe des<br />

„blue collar work“ zugunsten des „white collar work“ mit akademischem Hintergrund<br />

<strong>ein</strong>fach übersprungen. Diese mittlere Ebene aus technischen und<br />

Bildungsausgaben<br />

der Zentralregierung in Prozent des Haushalts<br />

Quelle: Geopolicity 2010<br />

2007<br />

2009<br />

4,8<br />

9,9<br />

2008<br />

2010<br />

8,8<br />

13,1<br />

Grundschulbesuch von Mädchen auf dem Land<br />

als Modernitätsbeweis im Bildungssektor, in Prozent<br />

Quelle: COSIT 2007<br />

Anbar<br />

82,1<br />

Niniveh<br />

73,1<br />

Dahouk<br />

83,9<br />

Erbil<br />

86,2<br />

Kirkuk<br />

87,7<br />

Salahuddin<br />

62,1<br />

Kerbala<br />

83,6<br />

Nadschaf<br />

67,0<br />

Baghdad<br />

79,0<br />

Babil<br />

55,0<br />

Suleimaniya<br />

87,8<br />

Diala<br />

88,3<br />

Qadisiya<br />

58,8<br />

Muthanna<br />

52,9<br />

Wasit<br />

58,3<br />

Thi-Qar<br />

61,7<br />

Missan<br />

38,5<br />

wirtschaftsbericht irak <strong>12</strong>5<br />

kaufmännischen Berufen liegt sozial und wirtschaftlich über den un- und<br />

angelernten Tätigkeiten <strong>ein</strong>schließlich tradierter Handwerke, aber deutlich unter<br />

dem Universitätsstudium, das mit Prestige und Eintritt in die öffentliche<br />

Verwaltung honoriert wird.<br />

Wenn die Prioritäten in der Ausbildung zur mittleren Ebene hin verschoben<br />

würden, könnte <strong>ein</strong> bildungspolitischer Fehler der Nachbarländer vermieden<br />

werden. In vielen ölexportierenden Gesellschaften gibt es zu viele<br />

mäßig ausgebildete Akademiker, die nach ihrem Abschluss vom Staat und von<br />

der Staatswirtschaft nicht aufgenommen werden. Und wegen der demografischen<br />

Struktur drängt auf der anderen Seite <strong>ein</strong>e hohe Zahl von Jugendlichen<br />

auf den Arbeitsmarkt, die nach ihrem Schulabschluss wenig qualifizierter<br />

Arbeit nachgehen.<br />

Eine berufliche Bildung, die den bildungsökonomisch häufig ineffizienten<br />

Umweg über die Hochschulen vermeidet, könnte <strong>ein</strong>e Schicht von leistungsstarken<br />

Technikern und Dienstleistern hervorbringen, die zunächst Erfahrungen<br />

bei internationalen Unternehmen machen und schließlich mit <strong>ein</strong>em<br />

eigenen Betrieb in <strong>ein</strong>e starke mittelständische Rolle hin<strong>ein</strong>wachsen.<br />

Basra<br />

80,9<br />

38,5<br />

52,9 - 62,1<br />

67,0 - 73,1<br />

79,0 - 83,9<br />

86,2 - 88,3


<strong>12</strong>6<br />

Arbeitsmarkt: Armut in Grenzen<br />

Der unauffällige Aufschwung von al-Anbar<br />

I<br />

rak ist <strong>ein</strong>e urbane Gesellschaft. Zwei Drittel der Bevölkerung<br />

leben in Städten, <strong>ein</strong> Drittel all<strong>ein</strong> in den vier Metropolen.<br />

Die Hauptstadt Bagdad hat fast sechs Millionen Einwohner,<br />

die Ölstadt Mosul 1,5 Millionen, das kurdische Zentrum<br />

Erbil knapp über <strong>ein</strong>e Million und die Hafenstadt Basra etwas weniger.<br />

Wegen der sehr jungen Bevölkerung liegt die Erwerbsfähigkeit bei nur<br />

knapp 10 Millionen der über 30 Millionen <strong>Irak</strong>er. Die kombinierte Quote<br />

aus Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung liegt je nach offizieller<br />

Quelle zwischen 30 und 45 Prozent, und nach Angaben der Behörden<br />

leben etwa 25 Prozent unter der Armutsgrenze. Die Situation ist in den<br />

ländlichen Gebieten jeweils schlechter als in den Städten.<br />

Doch es mangelt noch an jedem schlüssigen Zahlenwerk über die tatsächliche<br />

sozio-ökonomische Lage der irakischen Bevölkerung. In der<br />

kurzen Zeit relativer Ruhe zwischen Kriegsende 2003 und der schnellen<br />

Zunahme der Gewalt von Mitte 2004 an gelang es der UN-Entwicklungsorganisation<br />

UNDP noch, <strong>ein</strong>e große Studie über die aktuellen<br />

Lebensbedingungen abzuschließen. Nachfolgende Erhebungen blieben<br />

unvollständig, griffen ihrerseits auf veraltete Daten zurück und konnten<br />

mit dem sich verändernden Auskunfts- und Anspruchsverhalten der<br />

Bevölkerung nicht mithalten. Der Aufbau der nationalen Statistikbehörde<br />

COSIT ist noch nicht abgeschlossen. Auch entscheiden gelegentlich<br />

die Sicherheitslage und die Kooperation von Ministerien darüber,<br />

welche Daten erfasst werden und welche nicht.<br />

Es gibt aber <strong>ein</strong>e Ausnahme – die Provinz al-Anbar am Mittellauf des<br />

Euphrats. Viele ihrer heute rund 1,8 Millionen Einwohner, überwiegend<br />

Sunniten, haben unter der von den USA geführten Invasion, der Besatzung<br />

und den bis 2006 allgegenwärtigen Anschlägen gelitten. In der<br />

aufständischen Stadt Falludscha kam es von Ende 2003 bis Ende 2004 zu<br />

heftigen Kämpfen; auch das berüchtigte Gefängnis Abu Ghraib liegt in<br />

al-Anbar. Und 2005 stimmten in der Provinz 97 Prozent gegen die neue<br />

Verfassung, Indiz da<strong>für</strong>, dass es noch starke Sympathien mit der gestürzten<br />

Baath-Partei Saddam Huss<strong>ein</strong>s gab.<br />

Um Erkenntnisse <strong>für</strong> die Bekämpfung des Aufstandes zu gewinnen,<br />

wurde diese Provinz zu <strong>ein</strong>em bevorzugten sozio-ökonomischen Studienobjekt<br />

der US-Armee. Genauere Angaben als die über die Lebensverhältnisse<br />

in al-Anbar, durch Fragebögen 2008 und 2009 erhoben und mit<br />

der UNDP-Studie von 2004 verkoppelt, sind im <strong>Irak</strong> nicht erhältlich.<br />

Die Einschätzungen der Ergebnisse decken sich mit Beobachtungen aus<br />

der Wendezeit in den ehemaligen Ostblockstaaten: Viele amtliche<br />

Erhebungen bilden die Lebenswirklichkeiten nicht korrekt ab, informelle<br />

Einkommen werden ignoriert und materielle Fortschritte unterschätzt.<br />

Dazu gehören unter anderem die Vollbeschäftigung bei Männern über 33,<br />

die Zunahme des Anteils von Löhnen und Gehältern am Familien<strong>ein</strong>kommen<br />

und das Nachlassen von Landverkäufen aus materieller Not.<br />

Diese Fortschritte allerdings können in Zahlen nicht seriös benannt<br />

werden. Außer Zweifel steht, dass die Situation auf dem Arbeitsmarkt,<br />

bei der Armutsbekämpfung, im Gesundheits- und Bildungswesen<br />

und in der Versorgungsinfrastruktur noch mangelhaft ist. Doch Umfragen<br />

zeigen, dass die um 2005 herum allgegenwärtige Hoffnungslosigkeit<br />

– die Situation verschlechterte sich damals kontinuierlich – heute<br />

verschwunden ist.<br />

Die irakische Provinz al-Anbar<br />

Geografische Lage<br />

Alle Angaben <strong>für</strong> die Grafiken<br />

dieser Doppelseite:<br />

Keith Crane et al.: Living<br />

Conditions in Anbar Province in<br />

June 2008. Rand National Defense<br />

Research Institute, 2009.<br />

Audra K. Grant, Martin C. Libicki:<br />

Assessing Living Conditions in<br />

Iraq's Anbar Province in 2009.<br />

Rand National Defense Research<br />

Institute, 2010.<br />

Gewalterfahrungen<br />

Haushalte der Provinz al-Anbar, 2008<br />

Altersverlauf der Beschäftigung<br />

Provinz al-Anbar, 2009<br />

100<br />

%<br />

50<br />

Mosul<br />

Euphrat<br />

Ramadi<br />

Tigris<br />

Erbil<br />

Kirkuk<br />

Bagdad<br />

Basra<br />

Opfer von Verbrechen, innerhalb des<br />

letzten Monats 9 Prozent<br />

Mordopfer, innerhalb des letzten<br />

Monats 3 Prozent<br />

vermisste Person, innerhalb der letzten<br />

zwei Jahre 36 Prozent<br />

vertriebene Person, innerhalb der<br />

letzten zwei Jahre 11 Prozent<br />

inhaftierte Person, innerhalb der<br />

letzten zwei Jahre 27 Prozent<br />

getötete Person, innerhalb der letzten<br />

zwei Jahre 47 Prozent<br />

Männer<br />

Mütter<br />

Nicht-Mütter<br />

Nicht-Mütter wurden<br />

nur bis zum Alter von<br />

38 Jahren erfasst.<br />

0<br />

23 25 27 29 31 33 35 37 39 41 43 45 47 49 51 53 55 57 59 61 63 65 Lebensalter in Jahren


Beschäftigung junger Männer<br />

Provinz al-Anbar, 2009<br />

100<br />

%<br />

50<br />

0<br />

Gesamt<br />

14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30<br />

Arbeitgeber<br />

Provinz al-Anbar, 2009<br />

Männer<br />

Herkunft des Haushalts<strong>ein</strong>kommens<br />

Provinz al-Anbar, 2009<br />

Frauen<br />

nicht auf dem<br />

Arbeitsmarkt<br />

Arbeit suchend<br />

in Arbeit<br />

Lebensalter in Jahren<br />

privater/gemischter<br />

Sektor<br />

Staatsbetriebe<br />

örtliche Verwaltung<br />

Nichtregierungsorganisationen<br />

Familienbetriebe,<br />

Privathaushalte<br />

staatliche Verwaltung<br />

Löhne und Gehälter<br />

Sachzuwendungen<br />

saisonale Arbeit<br />

andere Arbeits<strong>ein</strong>kommen<br />

eigener Landbau<br />

Heimarbeit<br />

Straßenverkauf<br />

eigener Gartenbau<br />

informeller Sektor (u. a.<br />

Taxifahrten)<br />

Sonstiges<br />

Herkunft der Zuwendungen an Haushalte<br />

Provinz al-Anbar, 2009, in Prozent<br />

100 50 0<br />

Leistungskraft von Haushalten<br />

Provinz al-Anbar, 2009, in Prozent<br />

100 50 0<br />

Haushaltsausstattung<br />

Provinz al-Anbar, in Prozent<br />

wirtschaftsbericht irak <strong>12</strong>7<br />

Zuwendungsempfänger<br />

Banken, andere Kreditgeber<br />

Regierung<br />

irakische NGOs<br />

Organisationen von Clans<br />

politische Parteien<br />

religiöse Einrichtungen<br />

Einzelpersonen im <strong>Irak</strong><br />

andere Geschenke und<br />

Geldleistungen aus dem Inland<br />

sonstige inländische Quellen<br />

Einzelpersonen im Ausland<br />

andere Geschenke und<br />

Geldleistungen aus dem Ausland<br />

angemessene Unterkunft<br />

<strong>ein</strong>wöchiger Urlaub, nicht zuhause<br />

Hochzeit <strong>ein</strong>es Familienmitgliedes<br />

hinreichende Heizung im Winter<br />

Begräbnis<br />

Ersetzen alter<br />

Einrichtungsgegenstände<br />

Neu- anstelle von<br />

Second-Hand-Kleidung<br />

Familiengründung, weiteres Kind<br />

hinreichende Kühlung im Sommer<br />

mindestens 3x wöchentlich<br />

Fleisch oder Fisch<br />

2009 2004<br />

100 50 0<br />

Satellitenempfang<br />

Fernsehgerät<br />

Elektroventilator<br />

Kerosin- oder Dieselofen<br />

Gas- oder Stromherd<br />

Klimagerät<br />

Radio-/Kassettenrekorder<br />

Computer<br />

Waschmaschine<br />

Motorrad<br />

Staubsauger<br />

Elektromixer<br />

Fotoapparat<br />

Nähmaschine<br />

Videogerät<br />

Videokamera


<strong>12</strong>8<br />

Die Föderale Region Kurdistan-<strong>Irak</strong>: Das andere Land<br />

Die Marktfreundlichkeit im Norden hat historische Gründe<br />

D<br />

ie „Föderale Region Kurdistan-<strong>Irak</strong>“ ist der Sonderfall im ansonsten<br />

zentralstaatlich regierten <strong>Irak</strong>. Die Politiker und Beamten<br />

in der Hauptstadt Erbil sind in der ungewöhnlichen Lage, sich<br />

kaum um die Einnahmeseite des Haushaltes kümmern zu müssen.<br />

Nach der irakischen Verfassung von 2005 stehen Kurdistan 17 Prozent der Öl<strong>ein</strong>nahmen<br />

des <strong>Irak</strong>s zu, dem Bevölkerungsanteil entsprechend. Wirtschaftlich<br />

hat die Region in den vergangenen Jahren <strong>ein</strong>en enormen Aufschwung verzeichnen<br />

können. Die Arbeitslosigkeit liegt im <strong>ein</strong>stelligen Bereich, die Bautätigkeit<br />

ist rege, <strong>ein</strong>e Reihe ausländischer Unternehmen hat sich angesiedelt, der<br />

grenzüberschreitende Handel floriert vor allem mit der Türkei. Auch die Sicherheitslage<br />

ist in Kurdistan deutlich besser als im restlichen <strong>Irak</strong>.<br />

Doch auf dem Öl beruht auch <strong>ein</strong>er der Wirtschaftskonflikte mit Bagdad.<br />

Des Wartens auf <strong>ein</strong>e gesamtstaatliche Regelung überdrüssig, beschloss das<br />

kurdische Parlament 2006 <strong>ein</strong> eigenes Öl- und Gasgesetz und erteilte 43<br />

ausländischen Ölkonzernen aus 17 Staaten Konzessionen. Nicht nur die Legalität<br />

des Verfahrens war umstritten – die kurdische Seite weigerte sich zudem,<br />

die so entstehenden Öl<strong>ein</strong>nahmen bei der 17-Prozent-Umlage zu berücksichtigen.<br />

Anfang 2009 begannen die Exporte in die Türkei, zunächst im<br />

Umfang von 40.000 Barrel täglich. Die Regierung in Bagdad, auf deren Konten<br />

diese Einnahmen zunächst flossen, zahlte die daraus entstandenen Erlöse<br />

jedoch nicht aus und brachte dadurch die Produktion ins Stocken. Außerdem<br />

setzte sie die ausländischen Unternehmen, die <strong>ein</strong>en Konzessionsvertrag<br />

mit Kurdistan abgeschlossen hatten, auf <strong>ein</strong>e schwarze Liste und schloss sie<br />

damit von Förderaktivitäten im Rest des <strong>Irak</strong>s aus. Vorläufig haben sich Bagdad<br />

und Erbil darauf ge<strong>ein</strong>igt, dass Bagdad die Kosten übernimmt, die der kurdischen<br />

Regierung <strong>für</strong> die Erschließung der Öl- und Gasfelder entstehen. Da<strong>für</strong><br />

fließen die Erlöse in die gesamtirakische Staatskasse und dann ebenfalls zu<br />

17 Prozent nach Erbil.<br />

Mit 100.000 Barrel in der Spitze ist diese Menge selbst vergleichsweise gering<br />

– der <strong>Irak</strong> verkauft fast 2,5 Millionen Barrel täglich ins Ausland. Aber zum <strong>ein</strong>en<br />

steigt das Volumen der nachgewiesenen Erdölvorräte ständig – unter kurdischem<br />

Boden sollen 45 Milliarden Barrel liegen. Zum anderen erhebt die Regierung<br />

in Erbil <strong>ein</strong>en territorialen Anspruch auf die Ölmetropole Kirkuk. Die<br />

dort eigentlich vorgesehene Volksabstimmung ist seit Jahren überfällig, weil<br />

die ansässigen Araber und Turkmenen <strong>ein</strong>e Kurdisierung be<strong>für</strong>chten und<br />

k<strong>ein</strong>e Einigkeit über die Berücksichtigung zu- oder weggezogener Familien<br />

erzielt werden kann. Kirkuk ist aber nicht nur <strong>ein</strong> wichtiges Fördergebiet<br />

mit hohen Rohstofferlösen und <strong>ein</strong> zentraler Ort im Netz der irakischen Pipelines.<br />

Wenn die Stadt zur Föderalen Region Kurdistan-<strong>Irak</strong> geschlagen würde,<br />

wäre <strong>ein</strong>e anschließende Unabhängigkeitserklärung denkbar und <strong>ein</strong>e Sezession<br />

vom <strong>Irak</strong> möglicherweise nur militärisch zu verhindern.<br />

Böse Zungen behaupten, die Arbeitslosigkeit in Kurdistan sei so gering,<br />

weil Arbeitslose <strong>ein</strong>fach im öffentlichen Dienst angestellt werden. Tatsächlich<br />

ist die Verwaltung nicht effizient. Die Investitionsmittel des Regionalhaushaltes<br />

gehen mittlerweile zu <strong>ein</strong>em großen Teil in Projekte, die Jahre hinter dem<br />

geplanten Datum der Fertigstellung zurückliegen; neue Unternehmungen haben<br />

<strong>ein</strong>en Anteil von unter zehn Prozent. Korruption ist in der politischen Öffentlichkeit<br />

Kurdistans <strong>ein</strong> Dauerthema. Und die Versorgung mit Strom oder<br />

Wasser, der Straßenbau und die Sozialsysteme weisen angesichts der zur Verfügung<br />

stehenden Mittel erstaunliche Mängel auf.<br />

Die politische und wirtschaftliche Offenheit der irakischen Kurden gegenüber<br />

dem Westen ist unter anderem historisch zu erklären. Zwar scheiterte nach dem<br />

Ende des Ersten Weltkriegs der Plan <strong>ein</strong>es unabhängigen Kurdistans, und die<br />

ölreichen Regionen fielen mit dem Mosul-Vertrag 1926 an das britische Mandatsgebiet,<br />

den späteren <strong>Irak</strong>. 1958 änderten sich aber die politischen Koordinaten.<br />

Der irakische König wurde durch „fortschrittliche“ Militärs gestürzt, als deren<br />

Gegenspieler sich nun der konservative, führende Kurdenpolitiker Molla<br />

Mustafa Barzani sah. Er forderte nicht nur <strong>ein</strong> großes Kurdistan, sondern verhinderte<br />

etwa auch, dass die irakische Landreform in Kurdistan durchgeführt<br />

wurde. Kurdische Politiker traten auch gegen die Verstaatlichung der ausländischen<br />

Ölkonzerne im <strong>Irak</strong> <strong>ein</strong>, um so die Unterstützung westlicher Regierungen<br />

zu erhalten. Bis heute unterscheidet sich deswegen die kurdische Sicht auf<br />

ausländische Ölkonzerne erheblich von derjenigen in Bagdad, die vom antikolonialen<br />

und staatssozialistischen Diskurs geprägt ist.<br />

Eine Kette von Revolten brachte 1970 <strong>ein</strong>e von der Zentralregierung geschaffene<br />

„kurdische autonome Region“ ohne die Ölstädte Kirkuk und Mosul.<br />

Kurdische Nationalisten hielten die „Region“ <strong>für</strong> <strong>ein</strong>e Alibi-Einrichtung<br />

Bagdads und führten die Aufstände weiter. Die Kämpfe dauerten bis 1975, als<br />

sich <strong>Irak</strong> und Iran über die gem<strong>ein</strong>same Grenze in Kurdistan <strong>ein</strong>igten. Der<br />

Iran beendete s<strong>ein</strong>e Unterstützung der Kurden, die Kurden selbst kapitulierten.<br />

Im <strong>Irak</strong>isch-Iranischen Krieg von 1980 bis 1988 schlugen sich die maßgeblichen<br />

Kräfte in Kurdistan auf die Seite des Iran. Die irakische Regierung reagierte<br />

mit Giftgas-Einsätzen gegen die kurdische Zivilbevölkerung. Nach dem<br />

Golfkrieg von 1990/91 und der schweren Niederlage Saddam Huss<strong>ein</strong>s war die<br />

geschwächte Zentralmacht kaum noch in Kurdistan präsent. Seit 1992 verfügten<br />

die Kurden über <strong>ein</strong>e aktive politische Autonomie, von der US-Luftwaffe<br />

in <strong>ein</strong>er Flugverbotszone vor irakischen Angriffen geschützt.<br />

Die kurdischen Parlamentswahlen von 1992 offenbarten auch <strong>ein</strong>en Parteien-<br />

Dualismus: Beide, die eher sozialdemokratische Patriotische Union Kurdistans<br />

(PUK) Dschalal Talabanis und die konservative, an den alten Clanstrukturen<br />

ausgerichtete Demokratische Partei Kurdistans (DPK) Masud Barzanis, erhielten<br />

fast gleich viele Stimmen. Die gegenseitige Lähmung mündete in Kämpfe um<br />

die Kontrolle über den Schwarzhandel. Der bewaffnete Konflikt kostete mindestens<br />

2.000 Menschenleben und endete 1998 mit <strong>ein</strong>er Zweiteilung der autonomen<br />

Region und ihrer Verwaltung: Der Nordteil mit Erbil fiel an die DPK,<br />

der Südteil mit Sulaymania an die PUK. Die Zahl der nachfolgend aus politischen<br />

Gründen Vertriebenen soll bei 100.000 liegen.<br />

Die nächsten Parlamentswahlen fanden erst 2005 statt. DPK und PUK kandidierten<br />

gem<strong>ein</strong>sam und erhielten 90 Prozent der Stimmen. In der Folge teilten<br />

die Parteien die Institutionen des Staates, auch alle Ministerien, unter sich<br />

auf. Der Proporz berücksichtigte auch die höchsten Ämter: Masud Barsani – der<br />

Sohn Molla Mustafa Barzanis – wurde kurdischer Regionalpräsident, Dschalal<br />

Talabani irakischer Staatspräsident. Gem<strong>ein</strong>samer Regierungssitz, beschlossen<br />

die beiden Parteien, wurde Erbil.<br />

Die politische Dynamik zeigte sich dann aber bei den Parlamentswahlen<br />

von 2009: Die enorme Unzufriedenheit der Bevölkerung mit Politik und<br />

Verwaltung veränderte die politische Landschaft. PUK und DPK, wiederum<br />

auf <strong>ein</strong>er gem<strong>ein</strong>samen Liste, konnten mit nur noch 57 Prozent zwar<br />

weiter regieren, aber die Protestbewegung Goran („Wandel“) erreichte<br />

auf Anhieb fast 25 Prozent. Die Zivilgesellschaft hat hier <strong>ein</strong> Potenzial an<br />

den Tag gelegt, das die traditionelle Politik im irakischen Kurdistan verändern<br />

kann – zumal der „Arabische Frühling“ auch die Autorität nichtarabischer<br />

Führer in Frage stellt.


Föderale Region Kurdistan<br />

Verwaltungsgliederung<br />

Öl und Gas im Norden<br />

Syrien<br />

Vorkommen und Fördergebiete ausländischer Unternehmen<br />

Erdöl<br />

Erdgas<br />

Erdgas/Kondensat<br />

in Untersuchung<br />

Türkei<br />

Mosul<br />

Dohuk<br />

Kirkuk<br />

Tawke<br />

Erbil<br />

Bagdad<br />

Suleimaniya<br />

Shaikan<br />

wirtschaftsbericht irak <strong>12</strong>9<br />

Taq Taq<br />

Kirkuk<br />

Iran<br />

Chemchemal<br />

Miran<br />

Khor Mor


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