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Regina Ammicht Quinn, Monika Bobbert, Hille Haker, Marianne

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444<br />

Frauen in der Praxis der Reproduktions-<br />

medizin und im bioethischen Diskurs –<br />

eine Intervention 1<br />

<strong>Regina</strong> <strong>Ammicht</strong> <strong>Quinn</strong>, <strong>Monika</strong> <strong>Bobbert</strong>, <strong>Hille</strong> <strong>Haker</strong>,<br />

<strong>Marianne</strong> Heimbach-Steins, Ulrike Kostka, Dagmar Mensink,<br />

Mechtild Schmedders, Susanna Schmidt, Marlies Schneider<br />

Die Praxis der Fortpflanzungsmedizin und der bioethische Diskurs<br />

werden auch dort, wo sie das Leben und die Erfahrungsräume von<br />

Frauen betreffen, weitgehend als „neutraler“ Diskurs betrieben.<br />

Frauen sind in der Regel Objekte im Geschehen dieses Diskurses: diejenigen,<br />

denen „man“ hilft, diejenigen, die „Rohstoffe“ liefern, oder<br />

auch diejenigen, die sich - im Namen ihrer „Autonomie“ - den biotechnologischen<br />

Möglichkeiten nicht verschließen sollen.<br />

Eine solche Praxis und ein solcher gestalteter Diskurs sind für die<br />

wissenschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung insgesamt ungenügend,<br />

besonders aber im Hinblick auf Leben und Lebenskrisen von<br />

Frauen im Kontext von Fragen nach Zeugung, Geburt und Nachkommenschaft.<br />

Als katholische Christinnen und damit aus einem theologischen Vorverständnis<br />

heraus ist es unser Ziel, auf blinde Flecken von Praxis und<br />

Diskurs aufmerksam zu machen, deren implizite ideologische Vorannahmen<br />

zu benennen und ihnen in ethisch verantworteter Weise die<br />

Perspektiven von Frauen einzuschreiben.<br />

Vier Reflexionsorte, die für Frauen zentral sind, bislang aber zu selten<br />

reflektiert werden, stehen im Mittelpunkt dieses Papiers: die Kategorien<br />

von Erfahrung, Körper, Autonomie und Behinderung. Sie<br />

bestimmen unsere Perspektive auf die Handlungsfelder Pränataldiagnostik<br />

(PND), In-vitro-Fertilisation (IVF) und Präimplantationsdiagnostik<br />

(PID), für die wir unsere Desiderate formulieren.<br />

1 Der Text ist im Auftrag von Agenda - Forum katholischer Theologinnen e. V. und in Zusammenarbeit<br />

mit der Katholischen Akademie Berlin und der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart<br />

entstanden. Die Autorinnen sind katholische Theologinnen (<strong>Ammicht</strong> <strong>Quinn</strong>,<br />

<strong>Bobbert</strong>, <strong>Haker</strong>, Heimbach-Steins, Kostka, Mensink, Schmidt), eine Biologin und Gesundheitswissenschaftlerin<br />

(Schmedders) und eine Politikwissenschaftlerin (Schneider).


1. Die Perspektive von Frauen: Ausgangspunkte und Beobachtungen<br />

Drei Grundüberzeugungen sind es, die wir aus der biblischen und theologischen<br />

Tradition heraus für unverzichtbar halten:<br />

- Menschliche Existenz ist keine „gemachte“ Existenz, und sie wird<br />

auch nicht zu einer solchen durch technische Assistenzleistungen -<br />

welcher Art auch immer. Menschliche Existenz ist per se und noch<br />

vor jeder religiösen Interpretation verdankte Existenz. Sie ist offen<br />

für die Gottesbeziehung, was sich in vielen verschiedenen Formen<br />

der Religiosität äußert. Dabei rückt das Christentum die Einzigartigkeit<br />

eines Menschen genauso wie die Vielfalt unter den Menschen in<br />

den Mittelpunkt. Es ist nicht so sehr die ontologische Auszeichnung<br />

des Menschen vor anderen Geschöpfen, sondern vielmehr das Angerufensein<br />

des Menschen durch Gott noch vor jeder Verpflichtung<br />

und jeder Leistung, die wir mit dem Begriff der verdankten Existenz<br />

zum Ausdruck bringen.<br />

- Jeder Mensch weiß um seine Endlichkeit und Kontingenz - oder<br />

kann um sie wissen. Angesichts der zunehmenden Eingriffsmöglichkeiten<br />

und angesichts der Eingriffstiefe in die biologische<br />

Konstitution des Menschen erscheint es uns jedoch notwendig,<br />

eigens auf Endlichkeit und Kontingenz zu verweisen: Kein<br />

Mensch ist für seine physische Konstitution, mit der er auf die Welt<br />

kommt, verantwortlich, und auch Eltern sind es nicht im Hinblick auf<br />

die spezifische Konstitution ihrer Kinder. Frauen sind weder sich<br />

noch anderen das Gebären von Kindern schuldig. Paare sind nicht<br />

verantwortlich für Unfruchtbarkeit, und sie sind schon gar nicht schuldig<br />

- auch wenn sie vielleicht subjektiv so empfinden. Endlichkeit<br />

zeigt uns die Grenzen unserer Zuständigkeit an.<br />

- Als Christinnen ist für uns die Beurteilung einer Praxis aus dem<br />

Blickwinkel der sozialen Gerechtigkeit von entscheidender Bedeutung.<br />

Durch unseren Glauben sind wir auf diese Perspektive verpflichtet,<br />

die nicht zuletzt auch für die bioethischen Praktiken gelten<br />

muss. Soziale Gerechtigkeit muss dabei nicht nur für die nationale<br />

Prioritätensetzung in der Gesundheitsversorgung Geltung beanspruchen,<br />

sondern sie gilt auch - vielleicht sogar vor allem - für die globale<br />

Perspektive. Hier wird schnell deutlich, dass Frauen und Kinder<br />

häufig die Leidtragenden einer ungerechten und unsozialen Verteilung<br />

von Gesundheitsgütern sind.<br />

445


Als Frauen in der katholischen Kirche sehen wir es als unsere Aufgabe,<br />

auch die innerkirchliche Diskussion einer kritischen Reflexion zu unterziehen.<br />

Folgende Punkte sind unseres Erachtens hier entscheidend:<br />

- Wir gehen von einer Gleichwertigkeit der Geschlechter aus, die auf die<br />

der Geschlechterkategorie vorausliegenden theologischanthropologischen<br />

Annahme der Einzigartigkeit und Vielfalt verwiesen bleibt. Eine<br />

theologische Anthropologie hingegen, die von einer impliziten oder<br />

expliziten Hierarchisierung von Körper und Seele und von einer impliziten<br />

oder expliziten Hierarchisierung von weiblichem und männlichem<br />

Geschlecht durchzogen ist, können wir nicht teilen.<br />

- Es ist eine Errungenschaft der Moderne, sowohl in biologischer als<br />

auch in sozialer Hinsicht Wege eröffnet zu haben, die insbesondere die<br />

Abhängigkeit von Frauen (bedingt durch ihre Gebärfähigkeit und dem<br />

daraus resultierenden gesellschaftlichen Status) verringert hat. Alle<br />

Vorstellungen, die Fortpflanzung als vorrangigen Zweck und Sinn der<br />

Ehe sehen, werden diesem emanzipatorischen Anspruch nicht gerecht.<br />

Kinder sind ein Geschenk, deswegen sind sie aber auch nicht Mittel<br />

der Selbstverwirklichung oder der sozialen Versorgung ihrer Eltern.<br />

Ungewollte Kinderlosigkeit mag für viele Paare eine schmerzliche Erfahrung<br />

sein; sie ist jedoch weder eine Krankheit noch ein Defekt, auf<br />

deren Heilung oder auf dessen Ausgleich einzelne einen Anspruch erheben<br />

können.<br />

- Es gehört zur dringlichen Aufgabe der Kirchen, Konzepte einer verantwortlichen<br />

Autonomie zu entwickeln, die es Frauen ermöglichen,<br />

Verantwortung zu übernehmen, ohne damit den Verlust der eigenen<br />

Identität in Kauf nehmen zu müssen. Weder darf der Paternalismus<br />

vergangener Zeiten, und sei es subtil, fortgeführt werden, noch darf<br />

dieser durch ein verantwortungsfreies Konzept der Selbstbestimmung<br />

ersetzt werden. Durch die späte Anerkennung der Frauenrechte als<br />

Rechte ist hier besonders die katholische Kirche in einer Bringschuld.<br />

Aus dieser Perspektive beobachten wir im aktuellen bioethischen Diskurs<br />

gravierende Missstände:<br />

- Wir beobachten, dass ohne Rekurs auf die Ebene der Erfahrungen normative<br />

Schlüsse aus feststehenden Annahmen gezogen werden. Dies<br />

gilt auch für unsere, die katholische Kirche.<br />

- Wir beobachten, dass die „individuelle Autonomie“, be-<br />

sonders diejenige von Frauen, als zentrales Argument für die Einführung<br />

oder Durchführung reproduktionsmedizinischer oder gen-<br />

446


diagnostischer Maßnahmen benannt wird, ohne dass eine ethische Reflexion<br />

auf die Autonomie selbst erfolgen würde. Dadurch gerinnt jedoch<br />

der Rekurs auf „Autonomie“ zu einer Immunisierung gegenüber<br />

Einwänden.<br />

- Wir beobachten, dass in vielen Beiträgen unterschwellig ein bestimmter<br />

Lebensentwurf (Familie mit biologisch eigenem Kind) favorisiert wird,<br />

ohne dass dies artikuliert oder begründet würde.<br />

- Wir beobachten, dass in weiten Bereichen unseres gesellschaftlichen<br />

Zusammenlebens Visionen des „Guten“ fehlen, die über ein liberales<br />

Gesellschaftskonzept hinausgehen würden. Zudem sehen wir, dass eine<br />

zunehmende Individualisierung in zentralen Fragen des Zusammenlebens<br />

verschiedener Menschen, verschiedener Generationen und Gruppen<br />

um sich greift. Sie erscheint zwar als eine „Befreiung“, aber sie<br />

verhindert gleichzeitig die Diskussion darüber, was eine moralische<br />

Kultur angesichts eines Pluralismus der Werte heute leisten muss.<br />

Die Perspektive des vorliegenden Diskussionspapiers nimmt die Anliegen<br />

von Frauen und ihre spezifische Betroffenheit durch die neuen Techniken<br />

ernst, während gleichzeitig Frauen in ihrer Divergenz der Lebensläufe,<br />

Überzeugungen und Ziele wahrgenommen werden.<br />

2. Handlungsfelder und Systemlogiken<br />

Die konkreten Handlungsfelder, in denen Frauen am direktesten mit<br />

biotechnologischen Entwicklungen konfrontiert werden und die eine ethische<br />

Reflexion notwendig machen, stehen im Zusammenhang mit<br />

„Reproduktion“ - mit dem Wunsch nach einem Kind und dem Wunsch<br />

nach einem gesunden Kind. Ohne dass unterstellt werden kann, dass alle<br />

Frauen diese Wünsche teilen oder in gleicher Weise teilen, so nimmt<br />

doch die komplexe Frage nach Fruchtbarkeit im Leben von Frauen einen<br />

deutlich anderen Stellenwert ein als im Leben von Männern.<br />

Ein genauer Blick auf Pränataldiagnostik, In-vitro-Fertilisation und Präimplantationsdiagnostik<br />

zeigt, wie diese Orte in der aktuellen Debatte gesehen<br />

und konstruiert werden, welche Folgen sich daraus ergeben und<br />

wie sich ihre Wahrnehmung ändert, wenn die Perspektiven betroffener<br />

Frauen ernst genommen werden.<br />

447


448<br />

2.1. Pränataldiagnostik<br />

Pränatale Diagnostik bezeichnet verschiedene Diagnosetechniken, bei<br />

denen während der Schwangerschaft, zumeist zwischen der 10. und 20.<br />

Schwangerschaftswoche, krankheitsbezogene Merkmale des Kindes gesucht<br />

und unter anderem über molekularbiologische Verfahren chromosomale<br />

bzw. genetische Abweichungen analysiert werden. Auf der<br />

Grundlage dieser Untersuchungen kann bei einem auffälligen Befund eine<br />

Schwangere über die Fortsetzung oder den Abbruch der Schwangerschaft<br />

entscheiden. Nach dem § 218 StGB ist ein Schwangerschaftsabbruch<br />

aus Gründen des Gesundheitsschutzes für die Frau nicht rechtswidrig.<br />

Der konstruierte Ort der Pränataldiagnostik in der aktuellen Debatte ist<br />

ein Ort des Helfens und Heilens. Wird Pränataldiagnostik ausschließlich<br />

in dieser Weise wahrgenommen, dann wird die Komplexität des gesamten<br />

Handlungsfeldes samt seiner gefährlichen Automatismen dabei ausgeblendet.<br />

Dazu gehört, dass die allgemeine, häufig auch diffuse Erfahrung<br />

von Schwangerschaft verengt wird zu der Erfahrung von Unsicherheit<br />

oder Angst mit der Folge einer notwendigen Kontrolle. Diese Kontrolle<br />

erweist sich als „Qualitätskontrolle“: Es ist alarmierend, dass<br />

„der lebendige Prozess der Schwangerschaft mit seinen körperlichen, seelischen<br />

und sozialen Anteilen immer mehr zu einem überwachungspflichtigen Produktionsprozess<br />

wird. Der medizinische Umgang mit dem sich entwickelnden Kind<br />

wird zur Qualitätskontrolle, die schwangeren Frauen die technische Machbarkeit<br />

von gesunden Kindern vortäuscht“. (Bund deutscher Hebammen).<br />

Eine Schwangerschaft, die zum Produktionsprozess mit nötiger Qualitätsüberwachung<br />

und -sicherung geworden ist, ist professionalisiert. In<br />

dieser Professionalisierung wird die Schwangerschaft immer mehr zur<br />

„Sache“ derer, die die Qualitätsüberwachung steuern und immer weniger<br />

zur Sache - und das heißt: zum Lebensvollzug - der Schwangeren selbst.<br />

Die leibliche Erfahrung des Schwangerseins wandelt sich zu einer wissenschaftlichen<br />

oder pseudo-wissenschaftlichen Körperbeobachtung. Die<br />

Konsequenz davon ist, dass das ungeborene Kind zu einem versachlichten<br />

Gegenüber und die Schwangerschaft insgesamt institutionell übereignet<br />

wird.<br />

Ein expertenabhängiger empirischer Zugang zur Schwangerschaft<br />

und zu dem ungeborenen Kind hat zur Folge, dass die Nor-


men des empirisch-professionellen Bereiches zu den dominierenden<br />

Normen werden. Am deutlichsten zeigt sich dies in einer als objektiv erscheinenden<br />

Bewertung tatsächlicher und potenzieller Krankheiten, die<br />

jenseits von individuellen Erfahrungen, Lebensentwürfen, Emotionen<br />

und Standpunkten mit der Autorität der Wissenschaftlichkeit zu wissen<br />

behauptet, was „gut“ und was „schlecht“ sei.<br />

Dabei sind sowohl die professionell Arbeitenden als auch die Schwangeren<br />

in derartige institutionelle und strukturelle Normierungen verstrickt.<br />

Dadurch kann ein - von niemandem gewollter - schleichender<br />

Automatismus entstehen: von der Schwangerschaft zur Diagnostik, vom<br />

positiven Befund zum Abbruch.<br />

2.2. In-vitro-Fertilisation<br />

Die In-vitro-Fertilisation ist ein Verfahren zur so genannten assistierten<br />

Fortpflanzung, das neben der Insemination und häufig in Verbindung<br />

mit der intrazytoplasmatischen Spermieninjektion (ICSI) aufgrund männlicher<br />

Infertilität oder Subfertilität, angewendet wird. Es setzt unter anderem<br />

eine Hormonbehandlung der Frau zur vermehrten Eireifung voraus,<br />

darüber hinaus zeitlich kontrollierten Geschlechtsverkehr, die Gewinnung<br />

von Spermien über Masturbation und die medizinische Begleitung<br />

der Zeit vor und nach der Fertilisation bzw. des Embryonentransfers.<br />

Eine Besonderheit der IVF besteht darin, dass sie unter Umständen<br />

überzählige Embryonen produziert, dass sie der Embryonenforschung<br />

zur Verbesserung der Kulturmedien für die Embryonen vor dem Transfer<br />

bedarf und potenziell zahlreiche Komplikationen vor und während der<br />

Schwangerschaft nach sich ziehen kann. Für die nach IVF geborenen<br />

Kinder gibt es widersprüchliche Untersuchungen zur Entwicklung, sicher<br />

ist aber, dass durch die deutlich gesteigerte Mehrlingsgeburtenrate mit<br />

Entwicklungsstörungen in dieser Gruppe zu rechnen ist. Die Erfolgsrate<br />

in Deutschland liegt derzeit bei ca. 15 % bezogen auf Lebendgeburten,<br />

im internationalen Vergleich liegt sie etwas höher. 2<br />

Auch die In-Vitro-Fertilisation ist nicht nur ein Instrument zur Erfüllung<br />

eines bestimmten und legitimen Bedürfnisses - sie ist ein eigenes<br />

Handlungsfeld mit eigenen Regeln und Mechanismen.<br />

Ihr Kontext ist eine gesellschaftliche Situation, in der immer<br />

mehr Frauen und Paare sich sehr spät für Kinder entscheiden,<br />

nicht zuletzt deshalb, weil Kinder schwer in Ausbildungs- und Be-<br />

2 Deutsches IVF-Register, (Jahrbuch 2003). http://www.meb.uni-bonn.de/frauen/ DIR<br />

downloads/dirjahrbuch2003.pdf.<br />

449


ufsentwürfe „passen“ und weil Kinder das größte Armutsrisiko sind.<br />

Viele Frauen und Paare entscheiden sich deshalb auch generell gegen<br />

Kinder. Einer gesellschaftlichen Tendenz der seit Jahren rückläufigen<br />

Geburtenrate steht damit eine Technologie und eine (beginnende) Industrie<br />

gegenüber, die unerfüllte Kinderwünsche zu erfüllen versucht und<br />

damit die Schizophrenie einer Gesellschaft verdeutlicht.<br />

Eine erste Konsequenz der In-vitro-Fertilisation ist, dass für das Paar<br />

die Einbindung ihrer Sexualität in das Beziehungsleben zurückgenommen<br />

oder unterlaufen wird. Der historische und kulturelle<br />

Fortschritt der Koppelung von Sexualität und Partnerschaft wird tendenziell<br />

rückgängig gemacht. Sexualität wird funktionalisiert und unter Leistungskriterien<br />

gesehen; ihre Qualität wird am gewünschten „Produkt“<br />

gemessen. Ihr „Produkt“ ist der Embryo. Mit dieser Sichtweise wird eine<br />

ähnliche Übereignung und Objektivierung der Schwangerschaft in Gang<br />

gesetzt wie bei der Pränataldiagnostik, durch den Kontext der In-vitro-<br />

Fertilisation aber verschärft: Der Embryo ist ein tatsächliches „Gegenüber“<br />

und als „überzähliger Embryo“ kein künftiges Kind mehr, sondern<br />

- tendenziell - ein Gegenstand.<br />

450<br />

2.3. Präimplantationsdiagnostik<br />

Präimplantationsdiagnostik (PID) bezeichnet ein Verfahren zur (zyto)genetischen<br />

Analyse embryonaler Zellen von in-vitro erzeugten Embryonen.<br />

Die Diagnose verfolgt den gleichen Zweck wie die Pränataldiagnostik,<br />

enthält bei auffälligem Befund jedoch nicht die Implikation eines<br />

Schwangerschaftsabbruchs. Vielmehr werden nur die (zyto)genetisch als<br />

geeignet bewerteten Embryonen in die Frau transferiert. Die Erfolgsrate<br />

bezogen auf die Lebensgeburten liegt bei etwa 10 % 3 . In Deutschland ist<br />

die PID nicht erlaubt.<br />

Ähnlich wie die Pränataldiagnostik erscheint die Präimplantationsdiagnostik<br />

im herrschenden Diskurs auch als Ort des Helfens und<br />

der Sorge für Gesundheit und Glück. Dabei sind zwei unterschiedlich gelagerte<br />

Anwendungsweisen zu unterscheiden:<br />

Kinderlosen Paaren, die hoffen, mit Hilfe von IVF/ICSI die Sehn-<br />

sucht nach einem eigenen Kind verwirklichen zu können, wird<br />

eine Verbesserung der Erfolgsrate der In-vitro-Fertilisation ver-<br />

sprochen. Basierend auf der PID sollen vor der Implantation<br />

3 ESHRE 2002.


diejenigen Embryonen aussortiert werden, die aufgrund chromosomaler<br />

Veränderungen aller Voraussicht nach zu einem spontanen „Schwangerschaftsverlust“<br />

führen. Davon unterschieden werden muss die PID bei -<br />

in den meisten Fällen fruchtbaren - Paaren mit einer genetisch bedingten<br />

Krankheitsveranlagung. Hier dient sie der Selektion genetisch erwünschter<br />

Embryonen in-vitro. Trotz dieser „Vorauswahl“ wird nicht zuletzt zur<br />

Überprüfung des PID-Ergebnisses im Verlauf der Schwangerschaft oftmals<br />

noch eine invasive pränatale Diagnostik (z. B. eine Fruchtwasseruntersuchung)<br />

durchgeführt.<br />

Der erste Fall, die Anwendung der PID zur Verbesserung der IVF-<br />

Erfolgsrate, bettet sich in das Handlungsfeld der In-vitro-Fertilisation ein,<br />

erweitert es jedoch um die Möglichkeit der zytogenetisch begründeten<br />

Embryonenselektion. Dabei wird der Embryo erst zum „Gegenüber“,<br />

nachdem seine Chromosomen überprüft wurden, er für implantationswürdig<br />

befunden und schließlich tatsächlich in eine Frau übertragen<br />

wurde. Mit der PID radikalisiert sich der expertenabhängige Zugang zur<br />

Schwangerschaft und zum Embryo bzw. Kind, was sich in diesem Fall<br />

als logische Konsequenz reproduktionsmedizinischen Denkens und Handelns<br />

präsentiert. Auch hier findet sich das Motiv des Helfens und Heilens<br />

wieder: Frauen, die sich auf die In-vitro-Fertilisation einlassen, sollen<br />

vor sich wiederholenden Misserfolgen der IVF und deren physischen<br />

und psychischen Konsequenzen möglichst bewahrt werden. Dies geschieht<br />

aber um den Preis der Selektion von Embryonen.<br />

Im Falle der Anwendung der PID bei Paaren mit einer genetisch<br />

bedingten Krankheitsveranlagung spitzen sich die an die PND<br />

geknüpften Logiken zu. PID soll helfen, den im Falle eines „auf-<br />

fälligen Befundes“ auf die Pränataldiagnostik folgenden<br />

Schwangerschaftsabbruch zu vermeiden. Nicht nur die Schwangerschaft,<br />

sondern bereits die Zeugung muss dazu institutionell übereignet<br />

werden. Die in-vitro erzeugten Embryonen werden einer<br />

(zyto)genetischen Begutachtung gemäß den dominierenden, biomedizinischen<br />

Normen unterworfen. Hinter dieser radikalisierten<br />

Objektivierung des Fortpflanzungsgeschehens drohen jedoch (familien)biografische<br />

Erfahrungen mit der genetisch bedingten<br />

Krankheitsveranlagung oder Krankheit in ihrer Komplexität nicht<br />

wahrgenommen und/oder nicht ausreichend reflektiert zu werden.<br />

PID bedeutet insgesamt die Selektion von Embryonen anhand<br />

genetisch definierter Selektionskriterien und hat somit normierende<br />

Implikationen. Damit besitzt sie ein klar diskriminierendes<br />

Moment, auch wenn dies nicht zwangsläufig eine unmittelbare Diskriminierung<br />

von Personen mit bestimmten (zyto)genetischen<br />

451


Eigenschaften, die eine Behinderung oder Krankheit verursachen, zur<br />

Folge haben muss.<br />

452<br />

2.4. Fazit<br />

PND, IVF und PID werden in der Regel als Techniken des Helfens und<br />

Heilens propagiert, mit denen Frauen und Paaren der Wunsch nach einem<br />

Kind bzw. nach einem gesunden Kind erfüllt werden könne. Die damit<br />

einhergehende biomedizinische Perspektivenverengung droht jedoch den<br />

komplexen Lebenssituationen von Frauen und Paaren nicht gerecht zu<br />

werden. PND, IVF und PID müssen als Handlungsfelder verstanden<br />

werden, in denen komplexe, psychosoziale Lebenssituationen sichtbar zu<br />

machen, zu beachten und zu reflektieren sind. Nur mit einer Blickerweiterung<br />

kann der „Medikalisierungsfalle“ entkommen werden, in der das<br />

Fortpflanzungsgeschehen gefangen zu sein scheint.<br />

3. Reflexionsorte von Frauen<br />

Die bioethische Reflexion kann nicht ohne den Rekurs auf die Erfahrungen<br />

von Frauen auskommen. Gerade im Kontext der assistierten<br />

Fortpflanzung sowie der Gendiagnostik, in denen der Körper der Frauen<br />

zu einem Ort und Gegenstand medizinischen Handelns wird, sehen wir die<br />

Notwendigkeit eines über das Empirisch-Medizinische hinausreichenden<br />

Zuganges: Es ist ein Zugang, der Erfahrungen wahrnimmt, ernst nimmt<br />

und deutet, der den Körper in seiner symbolischen Verfasstheit sieht, der<br />

Autonomie reflektiert und sich dem Phänomen „Behinderung“ stellt.<br />

3.1. Erfahrung oder die Verstrickung von Anbietern und Klienten<br />

Vor dem Hintergrund, dass bestimmte Angebote entwickelt und, sofern<br />

sie die juristischen und berufsethischen Hürden nehmen, auch<br />

implementiert werden, stellt sich die Frage: Auf welche Bedürfnisse<br />

reagieren die Angebote der Reproduktionsmedizin und Genetik eigentlich?<br />

Es sind dies vor allem die zwei Bereiche der ungewollten Kinderlosigkeit<br />

(mit dem Bedürfnis oder Wunsch nach einem Kind)<br />

und des Umgangs mit Krankheit bzw. Behinderung (mit dem<br />

Bedürfnis nach Vermeidung, wo dies möglich erscheint). Beide Erfahrungskontexte<br />

können für die Betroffenen sehr leidvoll sein.<br />

Nicht das Ziel - Hilfe für Paare, die unter einer bestimmten


Situation leiden - steht somit zur Debatte, sondern einzig die Methoden<br />

des Hilfeangebots und der Hilfeleistung. Unter Umständen lösen ein<br />

unerfüllter Kinderwunsch und eine „Risikoschwangerschaft“ 4 gravierende<br />

Identitätsverunsicherungen aus, die dazu führen können, vorschnell<br />

Handlungen zu vollziehen oder Handlungen nur deshalb zuzustimmen,<br />

weil sie eine Lösung bzw. Auflösung der Krise versprechen.<br />

Wenn wir „Erfahrung“ in reflektierter Weise verstehen, dann muss die<br />

Reflexion bei der durch eine Krise ausgelösten Desorientierung ansetzen.<br />

Dabei müssen nicht nur soziologische und psychologische Erkenntnisse<br />

wahrgenommen werden, sondern darüber hinaus auch die Komplexität der<br />

Erfahrung selbst. Dies ist eine allgemeine Einsicht, der jedoch im Kontext<br />

von Fortpflanzung und Schwangerschaft eine besondere Bedeutung<br />

zukommt.<br />

Die Hermeneutik der Erfahrung berücksichtigt, dass gerade diejenigen<br />

Erfahrungen, die eine besondere - positive oder negative - Tiefe haben, die<br />

Identität einer Person prägen. Auf dem Rücken dieser Erfahrungen, denen<br />

eine Person zum Teil ausgeliefert ist, die sie aber auch durch ihr Handeln<br />

mit bestimmt, entstehen Werthaltungen, die wiederum den Hintergrund für<br />

Situationen bilden, in denen Entscheidungen gefällt werden müssen.<br />

Handlungen sind deshalb auf das Vielfältigste verstrickt mit der Identität<br />

einer Person, mit ihrer Lebensgeschichte und der Bedeutung, die eine<br />

Person ihrem Handeln im Zusammenhang mit ihrer Lebensgeschichte und<br />

Lebenswirklichkeit gibt.<br />

Erfahrungen sind sicher in erster Linie Widerfahrnisse - sie kommen auf<br />

Menschen zu und sind nicht herstellbar, nicht vorhersehbar. Insbesondere<br />

Erfahrungen des Nicht-Könnens gehen immer wieder mit einer<br />

Verunsicherung einher, die sich als Identitätskrise äußert. Ungewollte<br />

Kinderlosigkeit und die Konfrontation mit einer potenziellen Behinderung<br />

oder Krankheit des zukünftigen Kindes gehören sicher zu den<br />

Widerfahrnissen, die mit einem hohen Grad an Identitätsverunsicherung<br />

einhergehen.<br />

Dennoch sind Erfahrungen nicht nur Widerfahrnisse, denen<br />

eine Person ausgeliefert ist, sondern sie können zugleich auch<br />

reflexiv und emotional angeeignet werden. Über die Artikulation<br />

und Interpretation werden Widerfahrnisse erst zu bewussten<br />

Erfahrungen. Dies gilt insbesondere für moralisch relevante Erfahrungen.<br />

Die Hermeneutik der Erfahrung verweist deshalb nicht nur<br />

auf den Zusammenhang von Handeln und Identität, sondern<br />

4 Der Begriff der Risikoschwangerschaft wird heute inflationär verwendet und trifft heute nahezu auf<br />

alle Schwangerschaften.<br />

453


darüber hinaus auch auf die Erfahrungsgebundenheit des Ethischen: auch<br />

die ethische Grunderfahrung des „In der Verantwortung Stehens“ kann<br />

nicht unabhängig von der individuellen Lebensgeschichte gesehen werden,<br />

die wiederum auf vielfältige Weise mit der sozialen, kulturellen und<br />

politischen Geschichte verbunden ist. Erfahrungen können ebenso durch<br />

Handlungen in Gang gesetzt werden wie durch die Passivität des Erlebens<br />

und/ oder Erleidens von Handlungen anderer am eigenen Leib. Ethische<br />

Erfahrungen sind dabei in erster Linie evaluative Erfahrungen:<br />

Erfahrungen der Sinnhaftigkeit, der Ungerechtigkeit, der Demütigung oder<br />

der Anteilnahme mit anderen.<br />

Erfahrung ist damit nicht einfach „da“, sondern muss durch eine eigene<br />

Hermeneutik der Erfahrung erhoben, zugänglich gemacht und reflektiv<br />

erfasst werden. Wenn wir von Verantwortung sprechen sollen, muss<br />

zunächst die Entstehung einer moralischen Identität durch Erfahrung und<br />

das Erzählen von Erfahrung reflektiert werden. Dieser Schritt erschließt<br />

die Perspektive (unter Umständen auch die Komplexität), mit der eine<br />

ethisch relevante Handlungssituation zu betrachten ist. Er verhindert, dass<br />

die Erfahrungsebene vorschnell zugunsten einer scheinbar objektiven<br />

Verantwortungszuschreibung verlassen wird.<br />

Bei den Erfahrungen anzusetzen, bedeutet deshalb eine methodische<br />

und systematische Umwertung der Relevanzgesichtspunkte: Gegenüber<br />

der normativen Beurteilung des moralischen Status von Embryonen, der<br />

Abwehr von (staatlichen) Übergriffen oder den Grenzen der eigenen<br />

Autonomie im Sinne der Einschränkung durch die Rechte oder Interessen<br />

anderer, stellt der Erfahrungsansatz zunächst die mit einer Situation<br />

einhergehende „Störerfahrung“ der Betroffenen an den Beginn der<br />

ethischen Reflexion. Die psychologische Ebene ist jedoch nicht das einzig<br />

relevante Element der ethischen Reflexion, vielmehr wird die individuelle<br />

Erfahrung im Kontext der verschiedenen sozialen, institutionellen und<br />

politischen Konstellationen betrachtet: - Eine Hermeneutik der Erfahrung<br />

geht von der „Verstrickung“ von Anbietern (Ärzte, Humangenetiker,<br />

private Kliniken, von Krankenkassen abgedeckte Kliniken,<br />

Internetanbieter für Tests oder für Spenderzellen u. a. m.) und<br />

Klienten/Klientinnen aus. Dieser Zugang führt nicht in eine suggerierte<br />

oder gar behaup tete gemeinsame Erfahrung aller Frauen, etwa der<br />

Art, dass die Angebote sie „überwältigen“, ihnen ihre Autonomie<br />

nehmen oder umgekehrt, ihre Autonomie wiederherzustellen<br />

vermögen. Vielmehr macht eine Hermeneutik der Erfahrung die<br />

Ausgangssituation sowohl von so genannten Kinderwunschpaaren<br />

454


als auch von so genannten Risikopaaren aufgrund genetischer<br />

Umstände interpretierbar: In individuellen Entscheidungssituationen<br />

muss die Krisenhaftigkeit der erfahrener. Situation zuallererst<br />

aufgearbeitet werden, sei sie nun durch physische, psychische, soziale<br />

oder kulturelle Faktoren ausgelöst. Wenn man sie als soziale Praxis<br />

interpretiert, muss gefragt werden, welche strukturellen Faktoren die<br />

Instabilität eher noch verstärken und welche sie überwinden helfen.<br />

Dies geschieht normalerweise in der Form eines Beratungsangebots an<br />

die betroffenen Paare. Es stellt sich nun die Frage, ob<br />

Reproduktionsmedizin und Genetik sich als „Service-Anbieter“<br />

verstehen, die der Krise in der Weise begegnen, dass sie mit<br />

technischen Mitteln einen Status wieder herzustellen versuchen, der<br />

gesellschaftlich als „normal“ (Fruchtbarkeit) oder per se erstrebenswert<br />

(Gesundheit) erscheint, oder ob es vielmehr darum geht, den<br />

technischen Weg als nur eine Strategie unter anderen zu entwerfen.<br />

Sobald Informationen und Beratungen aber direkt oder indirekt<br />

interessengeleitet erfolgen (z. B. durch das explizite Angebot einer<br />

einzelnen Strategie), wird die „Verstrickung“ zwischen Klienten und<br />

Anbietern offensichtlich.<br />

- Da beide Bereiche den Körper der Frauen sowie die Identität von<br />

Frauen in stärkerem Maß treffen als den Körper des Mannes, erscheint<br />

eine geschlechtsspezifische Herangehensweise notwendig. Auf diesem<br />

- vermittelten - Weg gelangen wir zu einer Hermeneutik der<br />

geschlechtsspezifischen Erfahrung, die im Fall der neuen Technologien<br />

durch den geschlechterdifferenten Charakter der Schwangerschaft<br />

gegeben ist. Hier wird die Verunsicherung in spezifischer Weise zu<br />

interpretieren sein: historisch und soziologisch genauso wie<br />

psychologisch. Die neuen Technologien scheinen jedoch einen<br />

Verstärkungseffekt im Hinblick auf die Bilder von „weiblicher<br />

Normalität“, Fruchtbarkeit, der Rolle der Mutterschaft und der<br />

Schwangerschaft als Übergangsphase mit einer besonderen<br />

Verantwortung und einer besonderen Verletzbarkeit zu haben.<br />

- Dies heißt nun nicht, dass die Differenz innerhalb der Geschlechter<br />

ignoriert werden könnte oder sollte. Vielmehr besteht die<br />

Aufgabe darin, ein Konzept von individueller und sozialer<br />

Freiheit (Autonomie) zu entwickeln, das diesen besonderen<br />

Bedingungen angemessen Rechnung trägt. Dazu gehört auch<br />

die Berücksichtigung der interkulturell sehr verschiedenen Ausgangslagen<br />

in Bezug auf die neuen Technologien. Nicht erst bei der<br />

Geschlechtsselektion, sondern bereits bei der individuellen und<br />

sozialen Körpererfahrung und der Wertung des Frauenkör-<br />

455


pers (Objekt des männlichen/weiblichen Begehrens; Fruchtbarkeitsbilder;<br />

Frauenkörper als Teil der weiblichen Identität oder<br />

„Gegenstand“ der Welt, an dem und mit dem gehandelt werden darf;<br />

Frauenkörper und Gewalt; Frauenkörper und sexuelle Ausbeutung etc.)<br />

beginnen die sozialen und kulturellen Unterschiede.<br />

- Der politische Liberalismus geht davon aus, dass der Staat die Einzelnen<br />

möglichst wenig in ihren Handlungsspielräumen einschränken darf.<br />

Dieser Gedanke spielt eine zentrale Rolle in der Auseinandersetzung um<br />

die rechtlichen Regelungen von Reproduktionsmedizin und der<br />

Humangenetik in der Fortpflanzungsmedizin. Er zeichnet jedoch schon<br />

deshalb ein Zerrbild, weil er von der „reproduktiven Freiheit“ ausgeht,<br />

wo es eigentlich um „reproduktive Assistenz“ oder um<br />

Diagnoseleistungen geht, die ebenfalls Unterstützungsleistungen<br />

darstellen. Ausgehend von der „Verstrickungsthese“ ist die Haltung des<br />

„rein privaten Handelns“, in das der Staat möglichst nicht eingreift, für<br />

die neuen Technologien nicht zu halten. Vielmehr erfordert die<br />

„Hermeneutik der Erfahrung“ eine genaue Berücksichtigung der<br />

Dialektik von individuellem Handeln und sozialer Normierung durch den<br />

„freiwilligen Zwang“ (Beck-Gernsheim). Dies gilt freilich nur im<br />

Rahmen der rechtlichen Bedingungen, die das Leben aller Bürger<br />

schützen und dort eine Grenze der Freiheit ansetzen, wo andere in ihrer<br />

Existenz gefährdet sind oder an ihrer Lebensgestaltung gehindert<br />

werden. Erst wenn klar ist, dass die sozialen Institutionen diese<br />

rechtlichen Bedingungen erfüllen und „freie“ Entscheidungen<br />

gewährleisten, kann der Staat liberal „agieren“ und die<br />

Entscheidungsfreiheit der einzelnen Bürger und Bürgerinnen<br />

respektieren.<br />

456<br />

3.2. Körper oder die Angst vor dem Verlust der Kontrolle<br />

Frauen sind zuständig für Körper - dies ist einer der wenig reflektierten<br />

Grundsätze, auf denen das Funktionieren unserer Gesellschaft in weiten<br />

Teilen beruht. Es ist eine Zuständigkeit für den eigenen Körper, aber auch<br />

für die Pflege, Sorge, Ernährung und Reinerhaltung der Körper anderer.<br />

Immer noch typische „Frauenberufe“ sind Berufe, die diesem Bild<br />

entsprechen.<br />

Dieser Zuständigkeit für Körper liegt eine tiefgehende Identifikation von<br />

Frauen und Körper zugrunde. Sie verweist auf eine Spaltung der<br />

sozialen Lebenswelt, in der Geist und Körper, Öffentlichkeit<br />

und Privatheit, Verstand und Gefühl, Ordnung und Chaos,<br />

Kultur und Natur voneinander getrennt und einander gegenüber-<br />

gestellt werden. Diese Dualismen sind weder wertfrei noch ge-


schlechtsneutral, sondern zugleich hierarchisiert und sexualisiert. Kultur,<br />

Geist, Verstand etc. werden tendenziell als höherwertig eingeschätzt als<br />

Natur, Körper, Gefühl; gleichzeitig werden die höherwertigen Kategorien<br />

eher männlich kotmotiert, die minderwertigen Kategorien eher weiblich<br />

konnotiert. Die kulturellen Bilder von Mann und Frau sind auf diesen<br />

Dualismen aufgebaut.<br />

Die Identifikation von Frau und Körper ist nicht neutral, sondern steht<br />

unter einem direkten moralischen Anspruch, der den Zusammenhang von<br />

Frauenkörper und Gebärfähigkeit bzw. Frauenkörper und Sexualität<br />

widerspiegelt. Reinheit als ursprüngliche Kategorie religiöser<br />

Lebensführung hat sich in den säkularen Lebenswelten von innen nach<br />

außen, von der Seele an die Oberflächen verlagert und wird in Fragen der<br />

Hygiene einerseits und in Fragen (weiblicher) Körperkontrolle<br />

andererseits mit quasi-religiöser Emphase im Leben von Frauen wichtig.<br />

Die strenge Kontrolle und Normierung des weiblichen Körpers, die bis vor<br />

wenigen Generationen sich auf weibliche Sexualität bzw. weibliche<br />

Keuschheit konzentrierte, richtet sich nun auf Ästhetik und Funktion des<br />

Körpers: Der weibliche Körper muss nicht mehr unbedingt keusch sein,<br />

um „gut“ zu sein; er muss vielmehr schön - und das bedeutet: jung und<br />

schlank - sein, um „gut“ zu sein. Der herrschende und historisch neue<br />

Körperkult baut damit auf einer latenten, immer wieder auch offen<br />

ausbrechenden Körperverachtung auf, die ihre Wurzeln in einer<br />

bestimmten christlichen Tradition hat.<br />

Die prinzipielle Gebärfähigkeit des weiblichen Körpers ist eine<br />

grundlegend verbindende Erfahrung von Frauen - und zwar als Frage und<br />

als Chance; es ist eine Frage, die - unabhängig davon, ob Frauen<br />

tatsächlich Kinder gebären und/oder aufziehen und welche Gründe es<br />

jeweils dafür gibt - einen deutlich anderen Stellenwert in ihrem Leben<br />

einnimmt als im Leben von Männern. Die christliche Tradition stellt hier<br />

zwei klassische weibliche Lebensentwürfe zur Verfügung, die Angaben<br />

für „richtige“ Orte des weiblichen Körpers enthalten: den Lebensentwurf<br />

der „reinen Braut Christi“ und den Lebensentwurf der christlichen Mutter.<br />

Unterschwellig wird hier die „Leistung“ der Mutterschaft als Ausgleich<br />

für das (moralische) Defizit eines sexuellen Lebens gewertet.<br />

Diese Bilder scheinen heute nicht mehr aktuell. Ähnlich aber wie die<br />

Fragen von Reinheit und Kontrolle des weiblichen Körpers in der<br />

Frömmigkeitsgeschichte nicht einfach verschwunden sind, sondern<br />

säkular überschrieben wurden, sind auch diese Bilder nicht<br />

einfach verschwunden, sondern tief in einer kollektiven Erinnerung<br />

verankert. Vor allem in den Bildern der medialen Popularkultur<br />

werden diese Motive aufgenommen. Ein hier dominierendes Ideal-<br />

457


ild von Mutterschaft ist das Bild der Frau, die genau geplant am<br />

optimalen Punkt ihrer Karriere ein gesundes Wunschkind zur Welt bringt,<br />

während ihr Körper schon unmittelbar danach keine Spuren der<br />

Mutterschaft mehr aufweist. Auf diese Weise haben traditionelle, verloren<br />

geglaubte Bilder, die Frau/Körper/Mutterschaft im Zusammenhang mit<br />

Reinheit und Kontrolle thematisieren, weiterhin Einfluss auf das Leben<br />

und Erleben von Frauen.<br />

Das Ideal und die Norm der Körperkontrolle machen einen möglichen<br />

oder aktuellen Kontrollverlust umso dramatischer. Jede Schwangerschaft<br />

ist eine Erfahrung des Kontrollverlustes. Dieser Verlust an Kontrolle wird<br />

für manche Frauen ins Unerträgliche gesteigert, wenn er sich potenziert<br />

durch eine ungewollte Schwangerschaft oder durch eine Schwangerschaft,<br />

die mit dem Risiko der Geburt eines behinderten Kindes belastet ist. In<br />

ähnlicher Weise kann sich ein unerfüllter Kinderwunsch als dramatischer<br />

Verlust der Kontrolle über den eigenen Körper und das eigene Leben<br />

darstellen. Darüber hinaus lässt das Ideal einer normierten körperlichen<br />

Ästhetik, der alle Frauenkörper unterworfen sind, potenzielle<br />

Abweichungen eines künftigen Kindes umso schwieriger erscheinen. Die<br />

Technologien pränataler Diagnostik, aber auch der In-vitro-Fertilisation<br />

und der PID „bedienen“ die Ängste des Verlustes der Kontrolle über den<br />

eigenen Körper und das eigene Leben, indem sie ein Optimum an Kontrolle<br />

anbieten - bis hin zu einer sexualitätsfreien (klinisch reinen) Form der<br />

Reproduktion.<br />

Für den bioethischen Diskurs ist es dringend nötig, den Blick auf den<br />

Frauenkörper zu reflektieren und gegebenenfalls zu revidieren. Es muss<br />

deutlich gemacht werden, an welchen Stellen die Normierungen von<br />

Reinheit und Kontrolle bestimmte Handlungen als wünschenswert, richtig<br />

oder alternativlos erscheinen lassen. Die latente oder offene<br />

Körperfeindschaft, die dem herrschenden Körperkult der westlichindustrialisierten<br />

Gesellschaften zugrunde liegt, ist auch in den<br />

reproduktionsmedizinischen und den bioethischen Diskurs verstrickt.<br />

Da diese Körperfeindschaft sich aus säkularisierten Motiven einer<br />

bestimmten Tradition innerhalb der christlichen Frömmigkeitsgeschichte<br />

speist, ist es unsere Aufgabe als Christinnen, deutlich zu machen, dass die<br />

christliche Theologie- und Frömmigkeitsgeschichte hier weitaus reicher<br />

ist. Die körpergebundene Gottesrede des Alten Testaments, die<br />

Heilszusage der Evangelien, die Körper heil macht, und die theologischsymbolische<br />

Rede von der Inkarnation sind wesentliche Momente einer<br />

religiösen Freisetzung des Körpers von Misstrauen, Normierungen und<br />

Kontrolle.<br />

458


Wenn der bioethische Diskurs darauf hin zielt, neben klaren Regelungen<br />

auch eine neue Kultur der Erfahrung anzustoßen, dann hat hier die<br />

christliche Tradition Entscheidendes beizutragen.<br />

3.3. Autonomie oder „Jede muss es selbst entscheiden“<br />

Die Phase des Kinderwunsches und der Schwangerschaft ist eine Phase<br />

der Verunsicherung, der Transformation und Herausforderung. Kinder zu<br />

haben oder keine Kinder zu haben wird nicht mehr einfach als „Schicksal“<br />

betrachtet, sondern ist das Ergebnis einer Vielzahl von Entscheidungen<br />

und daraus folgenden Handlungen. Soll der Kinderwunsch realisiert<br />

werden, bedeutet dies den Verzicht auf Verhütung bzw. unter Umständen<br />

das Aufsuchen einer Kinderwunschsprechstunde. Die Entscheidung für<br />

oder gegen Formen der assistierten Fortpflanzung kann nötig werden. Im<br />

Verlauf der assistierten Fortpflanzung werden Frauen mit verschiedensten<br />

Entscheidungssituationen konfrontiert, in Zukunft unter Umständen auch<br />

mit der Möglichkeit der Präimplantationsdiagnostik. Tritt, gewollt oder<br />

ungewollt, geplant oder ungeplant, eine Schwangerschaft ein, sind<br />

ebenfalls eine Vielzahl von Entscheidungen nötig, die die Frauen selbst,<br />

ihr soziales Umfeld und das Ungeborene betreffen. Dazu gehören<br />

insbesondere auch Entscheidungen für oder gegen bestimmte Methoden<br />

der Pränataldiagnostik und bei der Diagnose einer Fehlbildung, Krankheit<br />

oder Behinderung die Entscheidung für oder gegen einen Abbruch der<br />

Schwangerschaft.<br />

Die Phase des Kinderwunsches, seiner Verwirklichung und der<br />

Schwangerschaft sind somit von unterschiedlichsten Entscheidungsmomenten<br />

und -notwendigkeiten geprägt. In der reproduktions- und<br />

pränatalmedizinischen Debatte wird stets betont, dass Frauen ihre<br />

Entscheidung auf der Basis einer umfassenden Aufklärung frei und<br />

autonom treffen können. Der Autonomiebegriff ist ein Zentralbegriff<br />

dieser Debatte geworden. Dies entspricht der Tatsache, dass der<br />

Autonomiebegriff auch einer der zentralen Begriffe der zeitgenössischen<br />

Ethik ist. Gleichzeitig ist äußerst umstritten, was Autonomie ist, was<br />

Autonomie beinhaltet, wem sie zugeschrieben wird und welche<br />

Folgerungen aus der zugeschriebenen Autonomie zu ziehen sind.<br />

Im Rahmen der Frauenbewegung der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts<br />

wurde die Forderung nach reproduktiver Autonomie und Freiheit<br />

zu einem der zentralen Postulate: alle Aspekte der Fortpflanzung<br />

und des Kinderwunsches sollten ohne das Zugriffsrecht<br />

des Mannes, des Staates oder anderer Institutionen von<br />

459


Frauen selbst entschieden und bestimmt werden können. Die reproduktive<br />

Autonomie wurde als negatives Abwehrrecht formuliert, das den Schutz<br />

der Frauen vor Zugriffen von außen auf ihre reproduktiven<br />

Entscheidungen beinhaltet und ihr z. B. die Entscheidung überlässt, ob sie<br />

eine Schwangerschaft fortführen oder abbrechen will. Im Kontext der<br />

Fortpflanzungsmedizin ist diese Forderung der reproduktiven Autonomie<br />

indirekt übernommen worden.<br />

Im Zusammenhang mit der In-vitro-Fertilisation, der Pränataldiagnostik<br />

und der Präimplantationsdiagnostik ist häufig die Rede von der<br />

Selbstbestimmung der Frauen, ihrer freien Wahl, diese Techniken in<br />

Anspruch zu nehmen und dann bei entsprechenden Ergebnissen selbst zu<br />

entscheiden. Hintergrund dieser Vorstellung ist das Konzept, dass eine<br />

Frau nach entsprechender professioneller Beratung die verschiedenen<br />

Techniken abwägt und dann für sich bzw. mit ihrem Partner aufgrund<br />

einer Güterabwägung entscheidet, welche Techniken sie anwenden will<br />

und was aus einer etwaigen Diagnose (z. B. einer Behinderung des<br />

Kindes) für sie folgt. Zwar wird die Pflicht einer umfassenden Aufklärung<br />

durch die Professionellen betont, gleichzeitig werden jedoch alle Entscheidungen<br />

und der Umgang mit dieser Situation an die einzelne Frau<br />

delegiert und ihrer Verantwortung überlassen. Es wird als Gewinn der<br />

modernen Medizin und Bioethik herausgestellt, dass der traditionelle<br />

Paternalismus überwunden wurde und die Patientin nun die volle<br />

Entscheidungsfreiheit auf der Basis einer ausführlichen Aufklärung im<br />

Kontext reproduktions- und pränatalmedizinischer Techniken hat und ihre<br />

Autonomie damit wesentlich gestärkt und realisiert wurde.<br />

Autonomie, wie sie in diesem Kontext verstanden und in diesen<br />

Handlungsfeldern eingesetzt wird, gilt als Grundlage des Informed<br />

Consent. Eine „autonome Patientin“ wurde möglichst weitreichend und<br />

möglichst sachlich über alle diagnostischen und therapeutischen Eingriffe<br />

informiert und kann dann „autonom“ entscheiden, welche Verfahren sie<br />

für sich in Anspruch nimmt und welche Konsequenzen sie aus den<br />

Ergebnissen zieht. Eine solche Form der Autonomie wird von<br />

Professionellen hergestellt und von außen zugeschrieben. Diese<br />

Zuschreibung der Autonomie hat jedoch starke fiktive und heteronome<br />

Anteile. Sie dient damit vor allem einer moralischen und rechtlichen<br />

Entlastung des Systems und degeneriert zur ausschließlich formalen<br />

Bedingung des Informed Consent.<br />

Das medizinische System und die Gesellschaft delegieren die Aufgabe<br />

des Umgangs mit den verschiedenen Techniken in der<br />

460


Phase des Kinderwunsches und der Schwangerschaft an die betroffenen<br />

Frauen und bezeichnen die neuen Möglichkeiten als Autonomiegewinn.<br />

Diese Rhetorik der Autonomie verdeckt die Tatsache, dass die<br />

„autonomen“ Entscheidungen von Frauen durch asymmetrische<br />

Informations- und Machtverhältnisse geprägt sind und von<br />

gesellschaftlichen Wertungen abhängen (z. B. der Bewertung von<br />

Behinderung, Elternschaft eines behinderten Kindes, sozialen<br />

Rahmenbedingungen). Die Rhetorik der Autonomie pervertiert das<br />

Autonomieprinzip; Autonomie wird instrumentalisiert.<br />

Dieser Instrumentalisierung der Autonomie zur moralischen Entlastung<br />

des Systems und seiner Akteure liegt die Problematik eines<br />

liberalistischen Verständnisses von Autonomie und des damit<br />

verbundenen Subjektbegriffes zugrunde. Autonomie gilt hier als<br />

losgelöste, unabhängige Entscheidungsdimension, ohne Einbeziehung von<br />

Lebenssituation, biografischen Erfahrungen, sozialem Umfeld,<br />

gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und medizinischem Kontext.<br />

Vor allem die feministische Bioethik kritisiert dieses liberalistische<br />

Autonomieverständnis, das viele bioethische Theorien und die<br />

medizinische Praxis prägt: Das moralische Subjekt wird unabhängig von<br />

seinen sozialen Beziehungen, seiner Biografie, den Machtverhältnissen<br />

und Rahmenbedingungen gesehen, die ihn/sie und ihre Handlungen<br />

prägen. Dieser Subjektbegriff vernachlässigt die (Macht-)Asymmetrien, in<br />

denen die Klientinnen stehen, ihre individuelle Geschichte und Erfahrung,<br />

ihre individuellen Lebensbezüge und Werthorizonte. Gegenüber diesen<br />

Engführungen eines liberalistischen Autonomieverständnisses bildet die<br />

Idee einer relationalen Autonomie ein klares Gegenkonzept. Relationale<br />

Autonomie nimmt zur Kenntnis, dass das menschliche Individuum<br />

eingebunden ist in vielerlei Beziehungen, Bezüge und soziale Interaktionen,<br />

die seine moralische Entscheidungen formen, prägen und<br />

beeinflussen. Dieses Beziehungsgefüge gefährdet oder schmälert den<br />

Subjektstatus nicht, sondern ist dessen wesentlicher Kern. Frauen werden<br />

als Personen, als je eingebettetes und kontextuelles Selbst<br />

wahrgenommen, das in seiner Kontextualität, in seinen Bindungen und<br />

seinen Verstrickungen lebt und Entscheidungen trifft.<br />

Das Konzept einer relationalen, prozeduralen Autonomie<br />

im Kontext des bioethischen Diskurses berücksichtigt,<br />

dass der Umgang von Frauen mit diesen Techniken von ihren Kontexten<br />

und Beziehungen abhängt und auch immer durch diese geprägt sein<br />

wird. Ihre Entscheidungen werden durch ihr Verhältnis zu sich<br />

selbst, zu ihrem Körper, ihrer Biografie, ihren persönlichen Bezie-<br />

461


hungen, ihren Erfahrungen sowie durch die Einwirkung gesellschaftlicher<br />

Bilder und Normen und die Einwirkung der medizinischen<br />

Akteure und Techniken geprägt.<br />

Um Autonomie im relationalen Sinn verwirklichen zu können, müssen<br />

Freiräume geschaffen werden, in denen es Frauen möglich wird, die<br />

Motive und Intuitionen für ihre Entscheidungen im Rahmen der In-vitro-<br />

Fertilisation und der Pränataldiagnostik zu reflektieren. Gleichzeitig wird<br />

in dieser Reflexion nicht nur auf die Bedingungen und Beziehungen<br />

hingewiesen, in denen die betroffenen Frauen stehen, sondern auch auf die<br />

Verantwortlichkeiten, die sich daraus ergeben - gegenüber dem Partner,<br />

den Kindern, dem zukünftigen Kind etc. Relationale Autonomie ist damit<br />

in der Lage, auch die Rechte der Anderen in die eigene Freiheitsentscheidung<br />

zu integrieren.<br />

Es ist deshalb von großer Bedeutung, dass Frauen die Möglichkeit haben<br />

und bekommen, sich in der Phase des Kinderwunsches und der<br />

Schwangerschaft mit sich und ihrer Situation und mit dem Ungeborenen<br />

auseinandersetzen zu können. Die Realisierung ihrer Autonomie braucht<br />

strukturelle, personale, professionelle und soziale Voraussetzungen, wie<br />

ausreichend Zeit und Raum, Beratung, vielfältige Information und Freiheit<br />

von Entscheidungsdruck, die auf verschiedenen Ebenen und durch<br />

verschiedene Akteure umgesetzt werden müssen.<br />

462<br />

3.4. Behinderung oder der Glaube an Perfektion<br />

Wie eine Gesellschaft Behinderung bewertet und Menschen mit<br />

Behinderung begegnet, wirkt sich auf das Wahrnehmen, Handeln und<br />

Entscheiden von Frauen aus. Die Mehrzahl der Schwangeren macht von<br />

der Möglichkeit des Schwangerschaftsabbruchs Gebrauch, wenn eine<br />

Pränataldiagnostik am Embryo einen Befund wie etwa Down-Syndrom,<br />

Turner-Syndrom, Offener Rücken (Spina Bifida), Kiefer-Gaumen-Spalte<br />

oder andere Beeinträchtigungen ergeben hat. Es scheint häufig nicht<br />

möglich oder erlaubt, ein behindertes Kind zu gebären.<br />

Eine solche Haltung hat klare individuelle und soziale Gründe: Ein<br />

Kind mit einer Behinderung groß zu ziehen verbinden<br />

viele Frauen mit der Vorstellung, ihre bisherigen Alltags- sowie<br />

Freizeitgewohnheiten und Berufspläne aufgeben oder stark verändern<br />

zu müssen. Offenbar kommt die bewusste Entscheidung einer<br />

Schwangeren für ein Kind mit einer Behinderung der Entscheidung für<br />

einen völlig neuen Lebensplan gleich. Da ein behindertes<br />

Kind für die meisten Mütter, nicht jedoch für die Väter bedeutet,


den Beruf aufzugeben, ist mit der Entscheidung für ein behindertes Kind<br />

die Wahl einer traditionellen Frauenbiografie verbunden. Aufgrund der<br />

neuen und besonderen Herausforderungen zerbrechen Familien, in denen<br />

ein Kind mit einer Behinderung lebt, häufiger als andere Familien. Frauen,<br />

die sich für ein Kind mit einer Behinderung entscheiden, setzen sich damit<br />

auch dem Risiko schlechter Alterssicherung und der Möglichkeit, das<br />

Kind als Alleinerziehende versorgen zu müssen, aus. Insofern potenzieren<br />

sich für Frauen in diesem Fall die Erziehungs- und Betreuungsbelastungen<br />

und die finanziellen Risiken.<br />

Hinzu treten Schwierigkeiten, die sich durch die Zugehörigkeit zu einer<br />

weiteren gesellschaftlich diskriminierten Gruppe ergeben: Durch ein Kind<br />

mit einer Behinderung wird eine Frau, die bisher zur<br />

„Normalbevölkerung“ zählte, plötzlich sichtbar und unausweichlich<br />

stigmatisiert und wechselt damit in eine gesellschaftliche Randgruppe<br />

über. Das geänderte Fremdbild bringt es mit sich, dass plötzlich<br />

Ausgrenzung, Abwehr und Isolation im Verwandten-, Freundes- und<br />

Kollegenkreis und in der Öffentlichkeit zum Alltag gehören. Neue<br />

Verhaltens- und Kommunikationsweisen und große Selbstsicherheit sind<br />

erforderlich, um als Mutter, Vater oder Geschwister, die alle „mitbehindert“<br />

sind, Akzeptanz in der Gesellschaft zu erreichen. Offenbar<br />

bedarf es besonderer Flexibilität, Opferbereitschaft, Tatkraft und<br />

Zivilcourage, um mit einem behinderten Kind zu leben.<br />

Angesichts von Wahlmöglichkeiten in Bezug auf Behinderung spielen<br />

Vorstellungen vom gelingenden Leben eine wichtige Rolle. Das<br />

Phänomen Behinderung lässt zwei unterschiedliche Auffassungen vom<br />

Menschsein und vom gelingenden Leben deutlich werden, die auf unser<br />

Handeln und Entscheiden Einfluss nehmen: gelingendes Leben als<br />

möglichst leidfreies Leben und gelingendes Leben als kreativer Umgang<br />

mit den eigenen Möglichkeiten und Grenzen.<br />

Behinderung wird in unserer Gesellschaft oft mit einem Zustand<br />

des Defizits und des Leidens gleichgesetzt. „Trotz<br />

Behinderung“ Zufriedenheit und Sinn im Leben zu<br />

finden, scheint, so die weit verbreitete Annahme, eher die Ausnahme<br />

als die Regel und zudem ein ganz besonderer Glücksfall<br />

zu sein. Denn ein perfekter Körper, eine intakte Psyche und eine<br />

zumindest durchschnittliche Auffassungsgabe gelten als individuelle<br />

Voraussetzungen für ein gelingendes Leben. Nur bei Abwesenheit von<br />

Krankheit und Behinderung lassen sich Glück und Zufriedenheit erfahren,<br />

so die vorherrschende Auffassung. Dieser Auffassung<br />

verleihen gesunde Bürger/-innen etwa dadurch Ausdruck, dass sie<br />

463


z. B. in einer Umfrage angeben, nach einer unfallbedingten Beinamputation<br />

nicht mehr weiter leben zu wollen. Im Zuge eines fatalistischen<br />

Alles-oder-Nichts-Denkens wird alles Menschen- (oder<br />

technisch) Mögliche getan, um Risiken zu kontrollieren und eigene<br />

Unvollkommenheiten zu beseitigen.<br />

Dem steht die Realität des Lebens mit Schicksalsschlägen und Risiken<br />

für Leib und Seele gegenüber: Die Mehrzahl der Behinderungen sind<br />

„erworben“ - durch Unfall, Krankheit oder Alter; wir sind täglich der<br />

Möglichkeit zu erkranken oder gar zu sterben ausgesetzt. Doch imperfekt<br />

und auf die Hilfe anderer angewiesen zu sein, gilt nicht als<br />

anthropologische Grundkomponente, sondern stellt gewissermaßen eine<br />

Notsituation dar, die einem grundsätzlichen Scheitern des<br />

Selbstverständnisses und der Lebensziele gleichkommt und in die, so die<br />

Hoffnung, nur andere geraten.<br />

Die Auffassung, dass eigene Unzulänglichkeiten und widerfahrenes Leid<br />

integraler Bestandteil des Lebens sind, und dass Lebenskunst darin<br />

besteht, mit diesen Bedingtheiten und Grenzen akzeptierend und<br />

gestaltend umzugehen, ist in unserer Gesellschaft weniger präsent. Eher<br />

am Rande wird sie von Menschen eingebracht, die existenzielle Krisen<br />

oder umfassende Veränderungen durchlebt haben. So betont auch die<br />

Behindertenbewegung eine abweichende Vorstellung von Lebensführung<br />

und Perfektion: Perfektion wird nicht als Abwesenheit von Fehlern,<br />

körperlichen, geistigen oder psychischen Schwächen verstanden, sondern<br />

als Fähigkeit, das Beste aus den eigenen Möglichkeiten zu machen. Dies<br />

lässt sich noch steigern, indem man das Unvollkommene gar als das<br />

individuell Einzigartige, Unverwechselbare ansieht. So schnitt der<br />

Regisseur Martin Scorsese einmal aus einer Filmszene ein Bild mit dem<br />

Kommentar heraus: „Jetzt weiß ich, dass sie nicht perfekt ist und ihre<br />

Seele sich entfalten kann.“<br />

Dass gelingendes Leben darin bestehen kann, sich einem nicht<br />

veränderbaren Schicksalsschlag zu stellen und darum zu ringen, das Beste<br />

aus dieser Situation zu machen, muss nicht Menschen vorbehalten bleiben,<br />

die eine Lebenskrise durchmachen oder eine Behinderung „erwerben“.<br />

Vielmehr kann sich auch eine Gesellschaft um eine Kultur der<br />

Lebensklugheit bemühen, um zu erkennen, was sich ändern lässt und um<br />

die Annahme dessen zu ringen, was sich nicht ändern lässt oder was man<br />

bewusst lassen will, weil der Preis der Veränderung zu hoch wäre.<br />

Zumindest muss der Mythos, dass alles Leid im Leben eines Menschen<br />

vermeidbar ist, hinterfragt und Raum für existenzielle Reflexionen<br />

geschaffen werden.<br />

Das Phänomen Behinderung provoziert grundlegende Fragen nach<br />

Anerkennung, Angewiesensein und Solidarität. Ein großer<br />

464


Teil des Leidens wird offenbar darin gesehen wird, abstoßend zu wirken,<br />

anderen möglicherweise zur Last zu fallen und zudem noch von ihnen<br />

abhängig zu sein - so der Tenor zahlreicher Umfragen. Vorherrschendes<br />

Lebensziel ist es, unabhängig und selbstbestimmt durchs Leben zu gehen<br />

und als attraktiver und leistungsstarker Tauschpartner Angebote machen<br />

zu können, die eine Gegenleistung rechtfertigen. Infolgedessen wird<br />

Gerechtigkeit zunehmend weniger im Sinne einer solidarischausgleichenden<br />

Gerechtigkeit verstanden als vielmehr im Sinne von<br />

Tauschgerechtigkeit. Das Selbstverständnis, als Mensch nur in einem<br />

Beziehungsnetz leben zu können und immer wieder im Lebensverlauf<br />

fehlbar und schwach zu sein, muss vielleicht neu kultiviert werden. Denn<br />

derzeit bezieht sich die Bereitschaft, sich von anderen ohne eine<br />

Gegenleistung helfen zu lassen, hauptsächlich auf sozialstaatliche<br />

Leistungen. Frauen mit einem behinderten Kind können demnach zwar<br />

mit öffentlichen Mitteln rechnen, nicht jedoch mit anhaltender unbezahlter<br />

Unterstützung aus ihrem näheren Umfeld.<br />

Selten hatten Menschen in der Geschichte und international gesehen so<br />

viel Freizeit und selten wandten sie prozentual gesehen so wenig<br />

Arbeitszeit für die Sicherung ihrer Grundbedürfnisse auf. Andererseits<br />

sind jedoch die Ansprüche an Effizienz im Arbeitsprozess enorm<br />

gestiegen. Hinzu treten vielfach hohe Selbstansprüche an die Freizeit, die<br />

durch viele Aktivitäten und Termine strukturiert ist. Nichtstun, zielloses<br />

Verweilen oder Schauen sind eher ungewöhnlich. In den zeitlich extrem<br />

knapp bemessenen Arbeitsabläufen und vielfach eng verplanten<br />

Freizeitmustern gibt es wenig „Freiheitsgrade“ und somit kaum Raum für<br />

„unvorhergesehene“ Ereignisse. Menschen mit einer Behinderung bringen<br />

die üblichen „Programme“ zum Stocken - etwa, weil sie sich aufgrund<br />

einer körperlichen Behinderung langsamer bewegen, weil sie aufgrund<br />

einer geistigen Behinderung einen Vorgang nicht sofort verstehen oder<br />

weil sie aufgrund einer psychischen Behinderung eine völlig<br />

überraschende Reaktion zeigen. Es ist die Frage, ob das gesellschaftliche<br />

Ungehaltensein und die Abwehr angesichts solcher Störungen nicht<br />

vielleicht Ausdruck von Selbst- und Fremdüberforderung ist und zum<br />

Überdenken der Abläufe und Lebensgestaltung anregen sollte.<br />

Abgesehen von politischen Weichenstellungen und Maßnahmen wiegen<br />

für die Betroffenen und ihre Angehörigen die Einschränkungen und<br />

Vorbehalte im engeren sozialen Umfeld besonders schwer. Offenbar<br />

haben 50 Jahre sozialstaatlicher institutioneller Hilfen nicht dazu geführt,<br />

im Alltag und im Beruf auf eine gute Weise mit Menschen mit einer<br />

Behinderung zusammen zu leben.<br />

465


Noch immer werden „Behinderte“ und „Nicht-Behinderte“ durch einen<br />

Abgrund von Unwissenheit getrennt. Wenig wissen wir über Menschen<br />

mit Behinderung - über die mit ihrer Behinderung verbundenen<br />

körperlichen oder psychischen Symptome und Beschwerden, darüber, wie<br />

sie ihren Alltag verbringen, mit welchen Institutionen sie zu tun haben,<br />

was ihnen Schwierigkeiten bereitet oder was sie im Vergleich zu Nicht-<br />

Behinderten besonders gut können. Alle Menschen sind in Teilbereichen<br />

ihres Lebens „behindert“. Diese (Selbst-)Erkenntnis könnte zu einer<br />

notwendigen Nachbesserung unsere Kenntnisse und sozialen<br />

Kompetenzen führen, so dass Anerkennung und Solidarität - nicht<br />

Ausschluss und Selektion - gesellschaftlichen Raum bekommen.<br />

466<br />

4. Konsequenzen für Praxis und Diskurs<br />

Die Übereignung einer Schwangerschaft an medizinische Institutionen<br />

ist gesellschaftlich üblich geworden; damit haben institutionelle Vorgaben<br />

und Praktiken Schrittmacherfunktion. Das Ausmaß der an eine<br />

Schwangerschaft gekoppelten Vorsorge-, Früherkennungs- und<br />

Kontrollmaßnahmen hat sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten stark<br />

erhöht. Dabei hat sich der Schwerpunkt der medizinischen Maßnahmen<br />

verlagert: weg vom Schutz des Lebens und der Gesundheit des Kindes hin<br />

zur beständigen Überprüfung seiner Qualität. Für die schwangeren Frauen<br />

hat sich damit der Raum für persönliche Erfahrungen, die sich auf den<br />

eigenen Leib und die sich verändernde Existenz beziehen, verengt.<br />

Gleichzeitig strukturieren medizinisch-technische Beobachtungen und<br />

Deutungen den Prozess der Schwangerschaft engmaschig und vermitteln<br />

einen versachlichten Umgang mit dem Embryo bzw. Fötus. Diese<br />

Engführung von Schwangerschaft hat sich aus vielfältigen Faktoren, u. a.<br />

berufsständischen und forschungsbezogenen Zielsetzungen „ergeben“,<br />

doch schließt dies nicht aus, bestehende gesellschaftliche Praktiken auf der<br />

Basis kritischer Analysen und sozialethischer Reflexionen zu ändern.<br />

Durch einen erweiterten, integrierenden Blick auf die Situation legen<br />

sich in Bezug auf die Schwangerschaft von Frauen und die darauf<br />

gerichteten Diagnose- und Reproduktionstechniken Pränataldiagnostik, Invitro-Fertilisation<br />

und Präimplantationsdiagnostik folgende<br />

Schlussfolgerungen nahe:<br />

Ein Gesamtpaket von „Früherkennungsuntersuchungen“, das sich aus<br />

professionellen bzw. gesellschaftlichen Automatismen ergibt


und beständig erweitert, ist nicht zu verantworten. Vielmehr sollte jede<br />

einzelne medizinische Diagnose- oder Schutzmaßnahme sowohl auf ihre<br />

medizinisch-fachliche Validität und Effektivität als auch auf ihre ethische<br />

Rechtfertigung hin überprüft werden. Das generelle Ziel sollte darin<br />

bestehen, den Prozess der Schwangerschaft nicht mit Vorsichts- und<br />

Kontrollmaßnahmen zu überladen, sondern den Weg der geringsten<br />

Eingriffstiefe in Körper und Erleben der Schwangeren zu wählen.<br />

Kriterien für die Auswahl medizinischer Früherkennungsmaßnahmen<br />

sollten das gesundheitliche Wohl des konkreten Embryos/Fötus und der<br />

Schwangeren sein. Insbesondere an Früherkennungsmaßnahmen, denen<br />

keine therapeutischen Maßnahmen folgen, wären hohe Ansprüche an die<br />

rechtfertigenden Gründe zu stellen.<br />

Speziell die Pränataldiagnostik hat sich zu einer weit verbreiteten<br />

„Früherkennungsmaßnahme“ entwickelt, ohne dass eine gesellschaftliche<br />

Diskussion über Kriterien für ihre Zulassung und Ausweitung<br />

stattgefunden hätte. So lässt sich nachträglich lediglich erinnernd<br />

rekonstruieren, dass die Einführung der Pränataldiagnostik damals mit<br />

dem Verweis auf Frauen gerechtfertigt wurde, die bereits Mütter von<br />

Kindern mit einer Behinderung sind. In diesen speziellen Fällen sollte<br />

Sicherheit gegeben und ein Abbruch aus Angst vor einem zweiten Kind<br />

mit Behinderung vermieden werden. Diese „Indikation“ erweiterte sich im<br />

Laufe der Jahre, indem Behinderungen im verwandtschaftlichen Umfeld,<br />

ein Alter von 35, bald darauf bereits ein Alter von 30 Jahren oder vorausgegangene<br />

Fehlgeburten zu Risikofaktoren wurden.<br />

Zum einen gilt es daher, das Ausmaß der bestehenden medizinischen<br />

Praxis zurückzunehmen. Zum anderen ist eine Diagnostik bei<br />

Ungeborenen, der keine therapeutischen Optionen, sondern lediglich die<br />

Option auf einen Schwangerschaftsabbruch folgen, einzubetten in ein<br />

Rahmenwerk der Beratung und Begleitung. Dies heißt zuallererst, dass vor<br />

jeder Pränataldiagnostik - und nicht erst im Nachhinein, wenn sich ein<br />

„schwerwiegender“ Befund ergeben hat - eine Information und Beratung<br />

durchzuführen ist; nur so kann die schwangere Frau in die Lage versetzt<br />

werden, sich mit dem Wissen um Risiken und mögliche Konsequenzen für<br />

oder gegen eine Pränataldiagnostik zu entscheiden. Eine solche Beratung<br />

müsste neben medizinischen Fakten unbedingt auch psychologische und<br />

seelsorgerliche sowie sozialarbeiterische Problembereiche abdecken. Denn<br />

es muss verhindert werden, dass schwangere Frauen lebensprägende<br />

Entscheidungen - für oder gegen einen Schwangerschaftsabbruch -, unter<br />

Zeitdruck und mit einem Informations- und Reflexionsdefizit treffen<br />

müssen.<br />

467


Durch die Technik der In-vitro-Fertilisation, teilweise verbunden mit<br />

ICSI, können unfruchtbare Paare leibliche Kinder bekommen. Allerdings<br />

ist die Inanspruchnahme medizinischer Assistenz bei der Fortpflanzung<br />

bei mehr als zwei Dritteln der Paare nicht erfolgreich - bei gleichzeitig<br />

großen psychischen Belastungen für die Paarbeziehung und das Verhältnis<br />

zur eigenen Körperlichkeit und Sexualität. Viele dieser Paare trennen sich<br />

im Anschluss an eine gescheiterte Unfruchtbarkeitsbehandlung. Insofern<br />

sollte auch hier eine prozessbegleitende Aufklärung und Betreuung<br />

stattfinden, welche die mit einer Unfruchtbarkeitsbehandlung<br />

einhergehenden körperlichen und organisatorischen Belastungen sowie<br />

psychischen und existenziellen Risiken ernst nimmt, und die nicht<br />

unmittelbar nach den gescheiterten IVF-Zyklen abbricht.<br />

Besonders das durchschnittlich höhere Gebäralter geht mit einer<br />

reduzierten Fruchtbarkeit einher. Insofern sind Nachfrage und<br />

Inanspruchnahme medizinischer Techniken Ausdruck derjenigen<br />

Hindernisse, die sich Frauen in unserer Gesellschaft in den Weg stellen,<br />

wenn sie sich sowohl familiär als auch beruflich etablieren wollen. Dieser<br />

Tatbestand verweist auf die Notwendigkeit, weitere und vor allem<br />

wirksame sozial- und arbeitspolitische Fördermaßnahmen einzuführen, die<br />

es Frauen erleichtern, auch während der Ausbildungs- und<br />

Berufseinstiegsphase mit Kindern zu leben. Die Möglichkeit der<br />

Einrichtung von Ganztageskindergärten, Halbtagsstellen, die gleichwohl<br />

nicht jeden Berufsaufstieg von vornherein unmöglich machen, und vor<br />

allem eine stärkere Ausrichtung der Berufskarrieren von Männern an<br />

familiären Pflichten sind längst noch nicht ausgeschöpft.<br />

Präimplantationsdiagnostik stellt eine Form der Selektion unter<br />

Embryonen dar und damit eine Nicht-Gleichbehandlung der<br />

einpflanzbaren Embryonen und letztlich eine Diskriminierung aufgrund<br />

eines bestimmten Merkmals. Die Zulassung dieser diagnostischen<br />

Methode, die sich im Unterschied zum Schwangerschaftskonflikt nicht<br />

zwischen Mutter und Ungeborenem abspielt, sondern von Urteilen und<br />

Praxis der Forscher/-innen abhängt und mit vielfältigen Fremdinteressen<br />

verknüpft sein kann, ist entschieden abzulehnen. Nach der christlichen<br />

Überlieferung ist jeder Mensch vor Gott unauswechselbar und besitzt<br />

Würde. Diese Würde, die auch durch die Verfassung der Bundesrepublik<br />

geschützt wird, darf nicht missachtet werden, indem in einem sehr frühen<br />

Stadium potenziell sich für die Einpflanzung eignende Embryonen<br />

nach gesellschaftlich oder von den Eltern gewünschten<br />

Eigenschaften bevorzugt werden. Der gesellschaftliche Diskurs über<br />

468


eine Zulässigkeit der PID muss durch Erfahrungen und Positionen<br />

angereichert werden, die die Prophetiefähigkeiten der Menschen, die mit<br />

einer Behinderung oder Einschränkung leben, zum Tragen kommen<br />

lassen. Dazu ist es erforderlich, den Betroffenen selbst, ihren<br />

Familienangehörigen und den entsprechenden Verbänden politische und<br />

gesellschaftliche Artikulation und Partizipation zu ermöglichen.<br />

Verlässt man die Perspektive westlicher Industrienationen, zeigen sich<br />

die neuen Reproduktionstechniken noch in einem anderen Licht. Die<br />

assistierte Fortpflanzung kann in internationaler Hinsicht nicht als<br />

vordringliches Ziel der Gesundheitsversorgung betrachtet werden.<br />

Insofern müssen Debatte und Praxis der künstlichen Befruchtung und<br />

vorgeburtlichen Diagnostik in ein Verhältnis zum Anliegen einer<br />

weltweiten sozialen Gerechtigkeit gesetzt werden. Auch wenn sich diese<br />

Problematik nicht lösen lässt und es zynisch wäre, mit dem Verweis auf<br />

globale Gerechtigkeitsfragen Probleme, die speziell Frauen betreffen, zu<br />

bagatellisieren oder moralisch zu entwerten, kann eine übergeordnete<br />

Gerechtigkeitsperspektive immer wieder als Korrektiv individueller oder<br />

partikularer Problembeschreibungen und Lösungswege dienen.<br />

5. Visionen des guten Lebens<br />

Unsere Überlegungen wollen auf programmatische Weise das Gespräch<br />

eröffnen. Für den Raum unserer, der katholischen Kirche geht es darum,<br />

die Erfahrungsdimensionen von Schwangerschaft und Kinderlosigkeit als<br />

Erfahrungen in ihrer Tragweite und Prägekraft ernst zu nehmen. Gerade<br />

wenn die christliche Gemeinschaft die im wörtlichen Sinne Un-<br />

Bedingtheit menschlichen Lebens bejaht, dürfen diese Erfahrungen nicht<br />

von vornherein durch vorgefertigte „richtige Antworten“, zum Schweigen<br />

gebracht werden. Eine solche Haltung wird weder den Lebenskrisen<br />

betroffener Frauen und Männer, noch der Kraft unserer eigenen<br />

Überzeugung gerecht.<br />

Für den Raum der weitgehend säkularen Gesellschaft geht es darum,<br />

diese Un-Bedingtheit menschlichen Lebens als Störfaktor in einem immer<br />

reibungsloseren Ablauf der medizinischen Übereignung von<br />

Kinderwunsch, Schwangerschaft und Geburt aufrecht zu erhalten. Ein<br />

solcher reibungsloser Ablauf ist auf den verallgemeinernden<br />

medizinischen Blick auf Erfahrungen und auf ein fragwürdiges Konzept<br />

von Autonomie gebaut. Die Konsequenzen sind nicht nur die weitgehende<br />

Missachtung individueller Schick<br />

469


sale, sondern letztendlich die zunehmende Gnadenlosigkeit der<br />

Gesellschaft.<br />

Als Christinnen verstehen wir es als unsere Aufgabe, mit anderen Frauen<br />

Visionen des guten Lebens zu thematisieren und aufrecht zu erhalten:<br />

- Visionen eines guten Lebens, in dem der Verlust der Kontrolle, wie ihn<br />

jede Schwangerschaft - und gleichermaßen jeder ersehnte und nicht<br />

zustande kommende Schwangerschaft - bedeutet, nicht nur negativ<br />

aufgenommen und möglichst durch neue Formen der Kontrolle<br />

aufgehoben wird, sondern als ein Durchgang zu neuem Selbstgewinn<br />

erfahren werden kann;<br />

- Visionen eines guten Lebens, in dem die Abweichung von Normen nicht<br />

zu einem unüberwindlich erscheinenden Hindernis menschlicher<br />

Selbstentfaltung wird, sondern die Annahme von Vielfalt und<br />

Vielgestaltigkeit zu neuen Erfahrungen von Gemeinschaft und vielleicht<br />

auch zu neuen Erfahrungen von Glück führen können;<br />

- Visionen eines guten Lebens, in dem existenzielle Erfahrungen nicht<br />

medizinisch neutralisiert und dabei entwertet werden, sondern in dem der<br />

Eigenwert existentieller Erfahrungen von Körperlichkeit, Sexualität und<br />

Fruchtbarkeit von Frauen und Männern ernst genommen und in den<br />

Angeboten medizinischer Hilfe unterstützt wird;<br />

- Visionen eines guten Lebens, in dem die Berufung auf Autonomie nicht<br />

zur Lückenbüßerin fehlender Unterstützung einerseits und fehlender<br />

moralischer Konzeptionen andererseits wird, sondern Autonomie als<br />

bewusstes Leben in Beziehung und als Gestalt eines entschiedenen<br />

solidarischen Miteinanders lebbar wird;<br />

- Visionen eines guten Lebens, in dem Menschen willkommen sind.<br />

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