Gottesbilder - Internetexerzitien 2009 (PDF - Arbeitsstelle für ...
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Ein Angebot der <strong>Arbeitsstelle</strong> <strong>für</strong> Frauenseelsorge der<br />
Deutschen Bischofskonferenz in Kooperation mit der<br />
Katholischen Glaubensinformation (kgi)<br />
Autorinnen: Karolina Kammerl, Anja Moorkamp
Erste Woche<br />
1. November<br />
Herzliche Einladung!<br />
Bewusster Anfang: Mit einem Anfangsgebet und/oder einer<br />
Übung zum Stillwerden setzen Sie einen bewussten Anfang.<br />
Schön, dass Sie da sind! Seien Sie herzlich willkommen zu den<br />
diesjährigen <strong>Internetexerzitien</strong> <strong>für</strong> Frauen. Ob Sie zum ersten<br />
Mal dabei sind, ob Sie schon in den vergangenen Jahren<br />
teilgenommen haben, ob Sie gespannt, neugierig, skeptisch…<br />
sind: Wir freuen uns über Ihr Interesse!<br />
1
Das Thema der Exerzitien lautet: „<strong>Gottesbilder</strong>“. Sie sind<br />
eingeladen, in den kommenden vier Wochen das Bild zu<br />
betrachten, das Sie selbst von Gott haben, Vertrautes,<br />
Unbekanntes, auch Störendes darin zu entdecken, es vielleicht<br />
zu verändern und zu ergänzen…<br />
In Bibel und Kirchengeschichte findet sich eine beeindruckende<br />
Vielfalt von Gottesvorstellungen. Im Laufe der persönlichen<br />
Glaubensgeschichte eines jeden Menschen kann die<br />
Vorstellung, die er oder sie sich von Gott macht, sich immer<br />
wieder verändern. Wechselnde Lebenssituationen lassen jeweils<br />
bestimmte Seiten Gottes an Bedeutung gewinnen, während<br />
andere verblassen. Und in der Tat: Der Gott, an den wir als<br />
Christinnen glauben, ist ein Gott mit vielen verschiedenen<br />
Facetten und Namen. Allein <strong>für</strong> sich, beim Schreiben in Ihr<br />
Exerzitien-Tagebuch und im Austausch mit anderen, im Chat,<br />
Forum oder mit einer „eigenen“ Begleiterin, können Sie sich<br />
während der Exerzitien auf eine spannende Spurensuche<br />
begeben - in den Schriften der Bibel, in denen Gott sich den<br />
Menschen ein ums andere Mal offenbart, und in Ihrem eigenen<br />
Leben, das von Gottes Spur geprägt ist.<br />
Was erwarten Sie <strong>für</strong> sich von den Exerzitien? Schreiben Sie<br />
Ihre Erwartungen, Hoffnungen, vielleicht auch Be<strong>für</strong>chtungen<br />
auf.<br />
2
2. November<br />
Wie ist Gott?<br />
Bewusster Anfang: Mit einem Anfangsgebet und/oder einer<br />
Übung zum Stillwerden setzen Sie einen bewussten Anfang.<br />
„Du sollst dir kein Gottesbild machen“ (Ex 20,4) heißt es in den<br />
Zehn Geboten. Eine Mahnung an die Menschen, Gott nicht nach<br />
ihren eigenen Vorstellungen darzustellen, weil die Gefahr der<br />
Verengung des Gottesbildes besteht. Damit verknüpft ist der<br />
Gedanke, wir Menschen sollten Abbildungen nicht nötig haben,<br />
da Gott auf viele andere Weisen in unserer Welt sichtbar wird.<br />
Diese Weisung wurde in der Geschichte unterschiedlich<br />
ausgelegt. Im 9. Jahrhundert etwa kam es im byzantinischen<br />
3
Reich zum so genannten Bilderstreit, einer erbittert geführten<br />
Auseinandersetzung, in deren Verlauf der größte Teil der in<br />
früheren Jahrhunderten entstandenen Ikonen zerstört wurde.<br />
Schließlich setzten sich die Be<strong>für</strong>worter bildlicher Darstellungen<br />
aber durch. Ihr entscheidendes Argument war: Gott hat sich<br />
selbst in Jesus Christus sichtbar gemacht, deshalb gilt das<br />
strikte Bilderverbot nicht mehr, das auf der Unsichtbarkeit<br />
Gottes beruhte. Im Johannesevangelium begegnet uns das<br />
Wort Jesu: „Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen“<br />
(Joh 14,9). Im Lauf der Geschichte wurde erst Jesus, dann<br />
zunehmend auch Gottvater bildlich dargestellt. Auch die dritte<br />
göttliche Person, der Heilige Geist, findet sich in der Kunst,<br />
symbolhaft dargestellt, etwa als Taube. Die Muslime, die nicht<br />
an die Menschwerdung Gottes und die Dreifaltigkeit glauben,<br />
verzichten dagegen gemäß dem Bilderverbot auf jegliche<br />
Persondarstellungen Gottes, so dass sich in Moscheen viele sehr<br />
kunstvolle Ornamente, aber keine Bilder und Statuen wie in<br />
christlichen Kirchen finden.<br />
So unterscheiden sich die Gottesvorstellungen der Religionen,<br />
aber auch innerhalb der verschiedenen<br />
Religionsgemeinschaften existieren unterschiedliche<br />
<strong>Gottesbilder</strong>. Und das Bemühen der einzelnen Menschen um<br />
Erkenntnis Gottes führt dazu, dass letztlich jede/r Gläubige ihr<br />
oder sein persönliches Gottesbild in sich trägt, und diese innere<br />
Vorstellung von Gott ist immer da – unabhängig davon, ob man<br />
malt und modelliert oder nicht. Dabei kann der Mensch sich<br />
Gott immer nur annähern. Kein Bild, das er sich macht, kann<br />
ganz und gar dem entsprechen, wie Gott wirklich ist. „Du<br />
kannst mein Angesicht nicht sehen“ (Ex 33,20) antwortet Gott<br />
Mose auf dessen Bitte, doch Gottes Herrlichkeit sehen zu<br />
dürfen.<br />
Welche Bilder/Symbole kommen Ihnen spontan in den Sinn,<br />
wenn Sie das Wort „Gott“ hören? Wenn Sie mögen, schreiben<br />
Sie sie auf, malen oder modellieren Sie sie, je nach Ihren<br />
Möglichkeiten.<br />
4
3. November<br />
Partnerschaftlich<br />
Bewusster Anfang: Mit einem Anfangsgebet und/oder einer<br />
Übung zum Stillwerden setzen Sie einen bewussten Anfang.<br />
Mose stieg zu Gott hinauf. Da rief ihm der Herr vom Berg her<br />
zu: Das sollst du dem Haus Jakob sagen und den Israeliten<br />
verkünden: Ihr habt gesehen, was ich den Ägyptern angetan<br />
habe, wie ich euch auf Adlerflügeln getragen und hierher zu mir<br />
gebracht habe. Jetzt aber, wenn ihr auf meine Stimme hört und<br />
meinen Bund haltet, werdet ihr unter allen Völkern mein<br />
besonderes Eigentum sein. Mir gehört die ganze Erde, ihr aber<br />
sollt mir als ein Reich von Priestern und als ein heiliges Volk<br />
gehören. Das sind die Worte, die du den Israeliten mitteilen<br />
sollst.<br />
Mose ging und rief die Ältesten des Volkes zusammen. Er legte<br />
ihnen alles vor, was der Herr ihm aufgetragen hatte. Das ganze<br />
Volk antwortete einstimmig und erklärte: Alles, was der Herr<br />
gesagt hat, wollen wir tun. Mose überbrachte dem Herrn die<br />
Antwort des Volkes. Der Herr sprach zu Mose: Ich werde zu dir<br />
in einer dichten Wolke kommen; das Volk soll es hören, wenn<br />
5
ich mit dir rede, damit sie auch an dich immer glauben. Da<br />
berichtete Mose dem Herrn, was das Volk gesagt hatte.<br />
(Ex 19,3-9)<br />
Gott erinnert das Volk Israel zunächst daran, wie er geholfen<br />
hat, als das Volk aus der Versklavung in Ägypten floh. Jetzt will<br />
Gott einen Bund mit dem Volk Israel schließen. Am Berg Sinai<br />
spricht er zu Mose, dem großen Propheten, der sein Volk durch<br />
die Wüste in das verheißene Land führen soll. Dann wartet Gott<br />
auf Antwort: Mose überbringt Gottes Botschaft den Ältesten des<br />
Volkes. Das gesamte Volk stimmt dem Bundesangebot zu. Hier<br />
zeigt sich: Gott nimmt sein Volk offenbar sehr ernst; er stülpt<br />
den Menschen nicht einfach etwas über, ohne sie zu fragen.<br />
Zwischen Gott und Mensch besteht, modern gesprochen, ein<br />
partnerschaftliches Verhältnis. Den Satz „Ihr aber sollt mir als<br />
ein Reich von Priestern und als ein heiliges Volk gehören“<br />
bezieht die Kirche heute auf das allgemeine Priestertum aller<br />
Gläubigen, wie es vom Zweiten Vatikanischen Konzil betont<br />
wurde: Alle getauften und gefirmten Christinnen und Christen<br />
sind zum priesterlichen Dienst an ihren Mitmenschen gerufen,<br />
auch wenn sie kein Weiheamt innehaben! Die Menschen die<br />
Liebe Gottes spüren lassen, durch Zuhören und Begleiten,<br />
tatkräftige Hilfe in Notsituationen, Pflegen, Trösten,<br />
gemeinsames Beten, Teilen von Glaubenswissen und<br />
spirituellen Erfahrungen, etwa bei Bibelgesprächen… es gibt so<br />
vielfältige Möglichkeiten zum priesterlichen Handeln!<br />
Was könnte es <strong>für</strong> Sie bedeuten, Partnerin Gottes zu sein? Wo<br />
handeln Sie in Ihrem Alltag „priesterlich“?<br />
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4. November<br />
Zärtlich<br />
Bewusster Anfang: Mit einem Anfangsgebet und/oder einer<br />
Übung zum Stillwerden setzen Sie einen bewussten Anfang.<br />
Der Herr der Heere wird auf diesem Berg <strong>für</strong> alle Völker ein<br />
Festmahl geben mit den feinsten Speisen, ein Gelage mit<br />
erlesenen Weinen, mit den besten und feinsten Speisen, mit<br />
besten, erlesenen Weinen. Er zerreißt auf diesem Berg die<br />
Hülle, die alle Nationen verhüllt, und die Decke, die alle Völker<br />
bedeckt. Er beseitigt den Tod <strong>für</strong> immer. Gott, der Herr, wischt<br />
die Tränen ab von jedem Gesicht. Auf der ganzen Erde nimmt<br />
er von seinem Volk die Schande hinweg. Ja, der Herr hat<br />
gesprochen.<br />
(Jes 25,6-8)<br />
Dieser Text aus dem Buch des Propheten Jesaja enthält eine<br />
wunderbare, auch wunderbar anschauliche Verheißung: Gott<br />
selbst wird alle Völker der Erde zu einem großen Festmahl<br />
einladen. Ort soll der Berg Zion in der heiligen Stadt Jerusalem<br />
sein. Und Gott wird noch mehr tun: Er wird <strong>für</strong> alle Zeiten den<br />
7
Tod beseitigen. Die Hülle und die Decke, von denen die Rede<br />
ist, stehen <strong>für</strong> Trauer und Leid. Tod und Trauer, Schmerzen<br />
und Kummer: Dies alles wird Gott eines Tages von den<br />
Menschen nehmen. Eine <strong>für</strong> viele heutige Menschen wohl eher<br />
unbekannte und daher überraschende Seite ist die Zärtlichkeit<br />
Gottes, die spürbar wird beim Lesen dieser Bibelstelle: Gott<br />
wendet sich dem Menschen persönlich zu und berührt jede/n<br />
einzelne/n, um die Tränen von jedem Gesicht abzuwischen.<br />
Ein Text voller Hoffnung und Vertrauen: Gott wünscht das<br />
Leben, und zwar das „Leben in Fülle“. Ein Leben ohne Leiden.<br />
Ein Leben ohne Berührungsängste. Ein Leben als „Fest <strong>für</strong> alle<br />
Sinne“, das Gott mit uns feiern möchte. Das ist mehr als nur<br />
schön klingende Poesie!<br />
Können Sie sich vorstellen, dass auch Sie von Gott zärtlich<br />
berührt werden? Entdecken Sie Spuren der Verheißung in<br />
diesem Bibeltext auch in Ihrem Leben?<br />
Versuchen Sie heute einmal, sich selbst etwas Wohltuendes zu<br />
gönnen, zum Beispiel einen Spaziergang, ein Bad, eine<br />
Massage...und stellen Sie sich dabei vor, dass Gott selber Ihnen<br />
etwas Gutes tut.<br />
8
5. November<br />
Heilend<br />
Bewusster Anfang: Mit einem Anfangsgebet und/oder einer<br />
Übung zum Stillwerden setzen Sie einen bewussten Anfang.<br />
Viele Menschen folgten Jesus und drängten sich um ihn.<br />
Darunter war eine Frau, die schon zwölf Jahre an Blutungen litt.<br />
Sie war von vielen Ärzten behandelt worden und hatte dabei<br />
sehr zu leiden; ihr ganzes Vermögen hatte sie ausgegeben,<br />
aber es hatte ihr nichts genutzt, sondern ihr Zustand war immer<br />
schlimmer geworden. Sie hatte von Jesus gehört. Nun drängte<br />
sie sich in der Menge von hinten an ihn heran und berührte sein<br />
Gewand. Denn sie sagte sich: Wenn ich auch nur sein Gewand<br />
berühre, werde ich geheilt. Sofort hörte die Blutung auf, und sie<br />
spürte deutlich, dass sie von ihrem Leiden geheilt war. Im<br />
selben Augenblick fühlte Jesus, dass eine Kraft von ihm<br />
ausströmte, und er wandte sich in dem Gedränge um und<br />
fragte: Wer hat mein Gewand berührt? Seine Jünger sagten zu<br />
ihm: Du siehst doch, wie sich die Leute um dich drängen, und<br />
da fragst du: Wer hat mich berührt? Er blickte umher, um zu<br />
sehen, wer es getan hatte. Da kam die Frau, zitternd vor<br />
9
Furcht, weil sie wusste, was mit ihr geschehen war; sie fiel vor<br />
ihm nieder und sagte ihm die ganze Wahrheit. Er aber sagte zu<br />
ihr: Meine Tochter, dein Glaube hat dir geholfen. Geh in<br />
Frieden! Du sollst von deinem Leiden geheilt sein.<br />
(Mk 5,24-34)<br />
Die Erfahrung dieser Frau müssen auch heute sehr viele<br />
Menschen machen: sie leiden an gesundheitlichen<br />
Beschwerden, welche die Lebensqualität zum Teil erheblich<br />
einschränken und oft längst chronisch geworden sind. Dann<br />
laufen die Menschen von Arzt zu Arzt, niemand kann helfen, es<br />
wird nach alternativen Heilmethoden gesucht… In den<br />
Erzählungen von den Krankenheilungen Jesu zeigt sich ein<br />
heilender Gott, der die Krankheit nicht will. Jesus ist nicht das,<br />
was man sich heute landläufig unter einem Wunderheiler<br />
vorstellt, er garantiert auch keine körperliche Heilung und wirbt<br />
nicht lautstark mit Erfolg versprechenden Methoden. Dennoch<br />
ist uns von ihm der Satz überliefert „Nicht die Gesunden<br />
brauchen den Arzt, sondern die Kranken“ (Mk 2,17). Jesus hat<br />
sich offenbar selbst als Arzt bezeichnet, und die Christen und<br />
Christinnen der ersten Jahrhunderte sprachen ihn in ihren<br />
Gebeten auch so an. Weil ihnen bewusst war: Heilung an Leib<br />
und Seele ist nur von Gott zu erwarten. Dabei bedeutet solche<br />
Heilung nicht, dass alle Krankheiten völlig verschwinden. Aber<br />
die heilende Nähe Gottes zu spüren kann so viel Kraft und<br />
Geborgenheit schenken, dass Menschen sich auch im Leid<br />
aufgehoben fühlen, ihrer Angst und Verzweiflung nicht mehr<br />
hilflos ausgeliefert sind. Jesu Heilungen sind ganzheitlich; er<br />
heilt nicht nur den Körper, sondern auch Geist und Seele. Er<br />
wendet sich den aufgrund ihrer Krankheit Ausgegrenzten zu,<br />
spricht sie liebevoll an, betont „ Dein Glaube hat dir geholfen!“<br />
Der vertrauende Glaube trägt wesentlich zur Heilung bei. Und<br />
wie groß ist das Vertrauen der Frau, wenn sie sich sagt: Wenn<br />
ich auch nur sein Gewand berühre, werde ich geheilt!<br />
Heute werden Wallfahrtsorte wie Lourdes von zahlreichen<br />
Menschen aufgesucht, die sich danach sehnen, „heil“ zu sein.<br />
10
Dazu muss keine körperliche Krankheit vorliegen; auch die<br />
Lebenseinstellung oder die Gottesbeziehung können der<br />
Heilung bedürfen... Die körperlich Kranken werden längst nicht<br />
immer von ihren Beschwerden befreit. So genannte<br />
Wunderheilungen sind selten. Wohl aber erfahren sie neue<br />
Stärkung im Glauben, die sie ihr Schicksal leichter tragen lässt.<br />
Das Christentum wird von vielen als „therapeutische Religion“<br />
bezeichnet. Haben Sie bei sich selbst oder bei Menschen in<br />
Ihrem Umfeld Erfahrungen von Heilung gemacht, von denen<br />
Sie sagen können „Der Glaube hat geholfen“?<br />
Wo könnten Sie am heutigen Tag heilend <strong>für</strong> jemanden sein –<br />
durch ein Gespräch, eine Berührung, ein Geschenk...?<br />
11
6. November<br />
Verzeihend<br />
Bewusster Anfang: Mit einem Anfangsgebet und/oder einer<br />
Übung zum Stillwerden setzen Sie einen bewussten Anfang.<br />
Am frühen Morgen begab Jesus sich wieder in den Tempel.<br />
Alles Volk kam zu ihm. Er setzte sich und lehrte es. Da brachten<br />
die Schriftgelehrten und die Pharisäer eine Frau, die beim<br />
Ehebruch ertappt worden war. Sie stellten sie in die Mitte und<br />
sagten zu ihm: Meister, diese Frau wurde beim Ehebruch auf<br />
frischer Tat ertappt. Mose hat uns im Gesetz vorgeschrieben,<br />
solche Frauen zu steinigen. Nun, was sagst du? Mit dieser Frage<br />
12
wollten sie ihn auf die Probe stellen, um einen Grund zu haben,<br />
ihn zu verklagen. Jesus aber bückte sich und schrieb mit dem<br />
Finger auf die Erde. Als sie hartnäckig weiterfragten, richtete er<br />
sich auf und sagte zu ihnen: Wer von euch ohne Sünde ist,<br />
werfe als erster einen Stein auf sie. Und er bückte sich wieder<br />
und schrieb auf die Erde. Als sie seine Antwort gehört hatten,<br />
ging einer nach dem andern fort, zuerst die Ältesten. Jesus<br />
blieb allein zurück mit der Frau, die noch in der Mitte stand. Er<br />
richtete sich auf und sagte zu ihr: Frau, wo sind sie geblieben?<br />
Hat dich keiner verurteilt? Sie antwortete: Keiner, Herr. Da<br />
sagte Jesus zu ihr: Auch ich verurteile dich nicht. Geh und<br />
sündige von jetzt an nicht mehr!<br />
(Joh 8,1-11)<br />
Nach der Auffassung der Gesellschaft, in der sie lebt, hat die<br />
Frau mit dem Ehebruch eine schwere Sünde begangen. Die<br />
Pharisäer als Angehörige einer religiös-politischen Partei, die<br />
sich besonders um ein gottes<strong>für</strong>chtiges Leben nach dem<br />
jüdischen Gesetz bemühen, führen des öfteren theologische<br />
Streitgespräche mit dem Rabbi Jesus. Nun wollen sie eine<br />
Einschätzung des Falles von ihm. Jesus reagiert unerwartet; er<br />
antwortet nicht sofort… Wir erfahren nicht, was er auf den<br />
Boden schreibt. Will er darauf hinweisen, dass es immer besser<br />
ist, erst einmal in Ruhe nachzudenken, bevor man urteilt!?<br />
Unerwartet ist dann auch die Antwort, die er schließlich gibt:<br />
„Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf<br />
sie“. Bezeichnend, dass gerade die Ältesten zuerst gehen: Sie<br />
begreifen Jesus vielleicht am besten, aufgrund ihrer<br />
Lebenserfahrung, haben in ihrem langen Leben aber vermutlich<br />
auch viel Gelegenheit zum Sündigen gehabt… Im<br />
Matthäusevangelium verwendet Jesus das Gleichnis vom<br />
Balken, den wir zuerst aus unserem eigenen Auge ziehen<br />
sollten, bevor wir uns um den Splitter im Auge unseres<br />
Mitmenschen kümmern. Ein bekanntes Sprichwort drückt es so<br />
aus: Wer mit dem Finger auf andere zeigt, auf den zeigen drei<br />
Finger zurück. Wer sich selbst oft von Gott abgesondert hat<br />
13
(„Sünde“ kommt von „(ab)sondern“!), sollte andere nicht in<br />
selbstgerechter Weise verurteilen…<br />
Diese Begebenheit zeigt uns, dass Gott auch schwere Sünden<br />
verzeiht – seine Barmherzigkeit ist unendlich, im Gegensatz zur<br />
Barmherzigkeit der Menschen… Gottes Herz ist größer. Er<br />
macht immer wieder einen neuen Anfang möglich, wenn der<br />
Mensch dieses Angebot annimmt und zur Umkehr bereit ist.<br />
Zünden Sie sich heute eine Kerze an. Versuchen Sie, still zu<br />
werden und sich im Licht der Kerze Gottes heilende,<br />
verzeihende Gegenwart bewusst zu machen. Vielleicht gibt es<br />
gerade etwas, was Sie sich verzeihen lassen möchten? Oder<br />
müssten Sie jemandem etwas verzeihen? Möchten Sie<br />
verzeihen, können es aber (noch) nicht? Dann tragen Sie es vor<br />
Gott.<br />
14
7. November<br />
Wochenrückblick<br />
Bewusster Anfang: Mit einem Anfangsgebet und/oder einer<br />
Übung zum Stillwerden setzen Sie einen bewussten Anfang.<br />
Schauen Sie heute zurück auf die erste Woche. Was hat Sie<br />
beschäftigt, gefreut, geärgert, traurig gemacht...? Haben sie<br />
Neues <strong>für</strong> sich entdeckt? Gab es Schwierigkeiten? Gibt es<br />
Punkte, an denen Sie „hängen geblieben“ sind?<br />
Vor einigen Jahren nahm ich bei einem Besinnungswochenende<br />
an folgender Übung teil: Aus 60 Begriffen als mögliche<br />
Umschreibungen <strong>für</strong> „Gott“ sollten zunächst 20, dann weitere<br />
15
20, schließlich nochmals zehn gestrichen werden, und zwar in<br />
Gruppenarbeit, man musste also diskutieren und sich einigen!<br />
Selbst wenn man so eine Übung alleine macht, ist es nicht<br />
einfach, zehn Begriffe herauszufiltern. Sie sind heute<br />
eingeladen, es trotzdem zu versuchen.<br />
Herr – Herrin - Geist – Vater – Mutter – Freund – Freundin –<br />
Bruder – Schwester – Kraft – Energie – Leben – Baum – Wasser<br />
– Sturm – Wind – Sonne - Stern – Kompass – Burg – Säule –<br />
Wolke – Feuer – Licht – Ziel – Anfang und Ende – Gewissen –<br />
Schöpfer – Allmächtiger – Höhle – Quelle – Regen –<br />
Kuschelgott – Rächer – Stock – Macht – Gewalt – Herrlichkeit –<br />
Weisheit – Richter – Fragezeichen – Leere – Fülle – Kosmos –<br />
Erde – Himmel – Natur – Auge – Ohr – Hand – Schlüssel –<br />
Wurzel – Brot – Wein – Wort – Weg – Ewigkeit – Unendlichkeit<br />
– Liebe - Hoffnung<br />
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Zweite Woche<br />
8. November<br />
Gerecht<br />
Bewusster Anfang: Mit einem Anfangsgebet und/oder einer<br />
Übung zum Stillwerden setzen Sie einen bewussten Anfang.<br />
Der Herr sah, dass auf der Erde die Schlechtigkeit des<br />
Menschen zunahm und dass alles Sinnen und Trachten seines<br />
Herzens immer nur böse war. Da reute es den Herrn, auf der<br />
Erde den Menschen gemacht zu haben, und es tat seinem<br />
Herzen weh. Der Herr sagte: Ich will den Menschen, den ich<br />
erschaffen habe, vom Erdboden vertilgen, mit ihm auch das<br />
Vieh, die Kriechtiere und die Vögel des Himmels, denn es reut<br />
mich, sie gemacht zu haben. Nur Noah fand Gnade in den<br />
Augen des Herrn.<br />
Da sprach Gott zu Noah: Ich will nämlich die Flut über die Erde<br />
bringen, um alle Wesen aus Fleisch unter dem Himmel, alles,<br />
was Lebensgeist in sich hat, zu verderben. Alles auf Erden soll<br />
verenden. Mit dir aber schließe ich meinen Bund. Geh in die<br />
Arche, du, deine Söhne, deine Frau und die Frauen deiner<br />
17
Söhne! Von allem, was lebt, von allen Wesen aus Fleisch, führe<br />
je zwei in die Arche, damit sie mit dir am Leben bleiben; je ein<br />
Männchen und ein Weibchen sollen es sein. Von allen Arten der<br />
Vögel, von allen Arten des Viehs, von allen Arten der Kriechtiere<br />
auf dem Erdboden sollen je zwei zu dir kommen, damit sie am<br />
Leben bleiben. Nimm dir von allem Essbaren mit, und leg dir<br />
einen Vorrat an! Dir und ihnen soll es zur Nahrung dienen.<br />
Noah tat alles genau so, wie ihm Gott aufgetragen hatte.<br />
(Gen 6,5-8.13a.17-22)<br />
Wird uns nicht immer wieder gepredigt, unser Gott sei ein<br />
guter, ein gütiger, ein barmherziger Gott? Haben wir ihn so<br />
nicht auch kennen gelernt? In der mythischen Erzählung von<br />
der Sintflut begegnet uns eine „dunkle“ Seite Gottes: Gott, der<br />
das böse Denken und Handeln der Menschen sieht, bereut,<br />
dass er Menschheit und Tierwelt erschaffen hat und beschließt,<br />
diese zu vernichten. Dies scheint im Widerspruch zur<br />
verzeihenden Liebe Gottes zu stehen. Nun kennt die Bibel<br />
durchaus auch den „Zorn Gottes“. Bestätigt dies nicht jene, die<br />
eher eine düstere, drohende Gottesvorstellung vermitteln?<br />
Denn längst nicht alle Menschen denken zuerst an Liebe und<br />
Barmherzigkeit, wenn sie das Wort „Gott“ hören. Nicht wenige<br />
lebten und leben in einer angstbesetzten Gottesbeziehung, oft<br />
schon in der Kindheit durch die religiöse Erziehung grundgelegt.<br />
Gott – ein strafender, ja rächender Gott? Diese Vorstellung ist<br />
schon allein deshalb problematisch, weil sie so leicht zu<br />
missbrauchen ist. Eltern, Erzieher und kirchliche Amtsträger<br />
haben durch die Jahrhunderte hindurch immer wieder versucht,<br />
Gott als Druckmittel einzusetzen, ihn <strong>für</strong> ihre eigenen<br />
Interessen einzuspannen und so Macht über die ihnen<br />
Anvertrauten auszuüben – von der mittelalterlichen Drohpredigt<br />
bis zum „Der liebe Gott sieht alles!“ als Mahnung an<br />
ungezogene Kinder. Manchmal wird Gott auch als „Rächer“<br />
angerufen, der menschliche Rachegelüste befriedigen soll. An<br />
den so genannten Fluchpsalmen etwa sehen wir, dass solche<br />
menschlichen Projektionen auch in biblische Texte eingeflossen<br />
sind. Der Gott, der uns auf den Seiten der Bibel entgegen<br />
18
kommt, entzieht sich jedoch menschlichem Wunschdenken, er<br />
lässt sich ebenso wenig instrumentalisieren wie in Schubladen<br />
einordnen.<br />
Die Sintfluterzählung ist wie alle Texte der Urgeschichte nicht<br />
als historischer Tatsachenbericht zu lesen. Deshalb ist es müßig<br />
zu fragen, ob Gott denn tatsächlich all diese Menschen und<br />
Tiere hat ertrinken lassen. Vielmehr will die Erzählung auf<br />
anschauliche Weise den Menschen die Folgen der Sünde vor<br />
Augen führen. Chaos und Zerstörung aller Lebensgrundlagen<br />
sind letztlich nicht Gottes Schuld; der Mensch, der sich von Gott<br />
absondert, trägt die Verantwortung. Der „rote Faden“ in der<br />
Bibel ist die Liebe Gottes. Auch in unserem heutigen Schrifttext<br />
lässt sich ein Stück dieses roten Fadens entdecken: „Und es tat<br />
seinem Herzen weh“. Der „Zorn“ Gottes zeigt sich hier vor allem<br />
als tiefer Schmerz über die Bosheit der Menschen. Gott hat sich<br />
<strong>für</strong> die Menschheit ein anderes, besseres Leben gewünscht und<br />
leidet daran, dass die Menschen selbstzerstörerisch denken,<br />
reden und handeln. Weil Gott das Wohl der Menschen will, wird<br />
er seine Schöpfung nicht völlig vernichten, sondern dem Leben<br />
ein zweite Chance geben. Nach der Flut wird Gott einen Bund<br />
mit Noah schließen und die Zusage geben, nie wieder alles<br />
Lebendige auf der Erde zu vernichten.<br />
Gott zeigt sich – nicht rächend, sondern gerecht. Nicht „lieb“,<br />
sondern liebend.<br />
Schreiben Sie Ihre Gedanken und Empfindungen in Ihr<br />
Tagebuch.<br />
19
9. November<br />
Bewahrend<br />
Bewusster Anfang: Mit einem Anfangsgebet und/oder einer<br />
Übung zum Stillwerden setzen Sie einen bewussten Anfang.<br />
Die Frage nach der Güte und gleichzeitigen Allmacht Gottes<br />
haben die Menschen sich zu allen Zeiten gestellt. Von den<br />
griechischen Philosophen der Antike bis zum gläubig-zweifelnd<br />
fragenden Menschen des 21. Jahrhunderts. Angesichts des<br />
schrecklichen Leides in der Welt drängt sie sich förmlich auf:<br />
Wenn Gott doch gut und allmächtig ist – warum lässt er das<br />
vielfache Grauen zu? Warum unternimmt er nichts gegen das<br />
Leid? Für viele kann die (logische?) Antwort nur lauten:<br />
Entweder will Gott gar nicht das Leid beseitigen – dann ist er<br />
grausam und nicht gut. Oder aber er kann es nicht – dann ist er<br />
schwach und nicht allmächtig. In beiden Fällen kann, ja muss<br />
man im Grunde sagen: Gott ist überhaupt nicht Gott! Denn er<br />
ist ja auch nicht besser oder stärker als wir Menschen... Und<br />
nicht wenige, die zu diesem Schluss gekommen sind, wenden<br />
sich daraufhin von Gott ab, denn was soll er ihnen nützen?<br />
20
Wenn man sich in der Bibel auf die Suche nach den Begriffen<br />
„Allmacht“ bzw. „allmächtiger Gott“ begibt, macht man eine<br />
überraschende Entdeckung: Ursprünglich findet sich diese<br />
Eigenschaft Gottes in den biblischen Schriften nicht. Das<br />
hebräische „El shaddai“ des alttestamentlichen Urtextes wird im<br />
Griechischen, also der Sprache des Neuen Testaments, mit<br />
„pantokrator“ wiedergegeben, was so viel bedeutet wie<br />
„Allerhalter“ - der, der „alles erhält“. Und in der Tat: So sehr<br />
das Volk Israel auf Gottes Macht vertraute, so wenig passte der<br />
Begriff „allmächtig“ in sein Gottesbild. An einen Gott, der immer<br />
und überall im menschlichen Leben die Fäden zieht, der diese<br />
seine Macht aber oft auch in der Weise eines Tyrannen ausübt,<br />
glaubten eher die Völker in Israels Umgebung. Für Israel und<br />
somit auch <strong>für</strong> Jesus war Gott eher der „pantokrator“, der auch<br />
in griechischen Glaubensbekenntnissen der frühen Christenheit<br />
auftaucht. Dass die Rede vom „allmächtigen“ Gott in unserer<br />
Tradition so fest verankert ist, dass wir auch heute von der<br />
„Allmacht und Güte“ Gottes singen, geht auf die lateinische<br />
Übersetzung von „pantokrator“ mit „omnipotens“ zurück – im<br />
Deutschen wiederum mit „allmächtig“ zu übersetzen. So kann<br />
eine Übertragung in andere Sprachen den Sinn des<br />
Ursprungswortes verändern und zu Missverständnissen führen –<br />
in Bezug auf die Gottesbeziehung fatal.<br />
Die Konsequenz aus dem eben Gesagten: wir sollten unsere<br />
gängigen Vorstellungen von der „Allmacht“ Gottes überdenken<br />
und den Begriff neu füllen. Wenn wir Gott „allmächtig“ nennen,<br />
denken wir dann nicht mehr an eine alles beherrschende Über-<br />
Macht (die ja auch bedrohlich wirken kann!), sondern eine<br />
Macht, die dem Menschen Freiheit lässt und sich selbst auch<br />
zurücknehmen kann, ohne den Menschen jemals fallen zu<br />
lassen. Eine „Macht der Liebe“, die trägt und hält, schützt und<br />
tröstet, lenkt und stützt, ähnlich wie in einer menschlichen<br />
Liebesbeziehung, aber umfassend und unendlich. So<br />
verstanden, weckt das Wort „Allmacht“ keine falschen<br />
Erwartungen auf ein ständiges, unmittelbares Eingreifen Gottes.<br />
Im Vertrauen auf diese „Macht der Liebe“ können wir zum<br />
21
Beispiel folgende Verse aus Psalm 36 beten, wozu ich Sie heute<br />
einladen möchte:<br />
Herr, deine Güte reicht, so weit der Himmel ist,<br />
deine Treue, so weit die Wolken ziehen.<br />
Deine Gerechtigkeit steht wie die Berge Gottes,<br />
deine Urteile sind tief wie das Meer.<br />
Herr, du hilfst Menschen und Tieren.<br />
Gott, wie köstlich ist deine Huld!<br />
Die Menschen bergen sich im Schatten deiner Flügel,<br />
sie laben sich am Reichtum deines Hauses;<br />
du tränkst sie mit dem Strom deiner Wonnen.<br />
Denn bei dir ist die Quelle des Lebens,<br />
in deinem Licht schauen wir das Licht.<br />
22
10. November<br />
Fordernd<br />
Bewusster Anfang: Mit einem Anfangsgebet und/oder einer<br />
Übung zum Stillwerden setzen Sie einen bewussten Anfang.<br />
Jeder, der seinem Bruder auch nur zürnt, soll dem Gericht<br />
verfallen sein. (Mt 5,22a)<br />
Wer eine Frau auch nur lüstern ansieht, hat in seinem Herzen<br />
schon Ehebruch mit ihr begangen. (Mt 5,28)<br />
Schwört überhaupt nicht! (Mt 5,34)<br />
Liebt eure Feinde und betet <strong>für</strong> die, die euch verfolgen. (Mt<br />
5,44)<br />
Diese Zitate stammen aus der so genannten Bergpredigt, eine<br />
Zusammenstellung von Jesusworten, die wir im<br />
Matthäusevangelium finden. Die Bergpredigt zählt zu den<br />
bekanntesten und wohl herausforderndsten Texten des<br />
Christentums überhaupt.<br />
Wir erkennen hier, dass der Gott Jesu nicht nur wunderbare<br />
Tröstungen und Verheißungen von Glück und Heil <strong>für</strong> uns<br />
bereithält, sondern auch Forderungen an uns stellt.<br />
23
Forderungen, die oft unbequem erscheinen mögen, gar als<br />
Überforderung. In der Tat: Jesu Forderungen sind „Über-<br />
Forderungen“ in dem Sinne, dass sie über die bekannten<br />
Gebote der Tora (der fünf Bücher Mose) noch hinausgehen,<br />
indem sie diese bekräftigen und gleichzeitig verschärfen! Nicht<br />
nur Mord, auch üble Nachrede richtet Unheil an und gehört<br />
bestraft. Ehebruch kann bereits in der bloßen Phantasie<br />
begangen werden und die Beziehung vergiften. Nicht nur<br />
Meineid, sondern jeglicher Eid ist als Zeichen des Misstrauens<br />
unter den Menschen abzulehnen. Nicht nur die Menschen, die<br />
uns nahe stehen, sollen wir lieben und ins Gebet einschließen,<br />
sondern auch unsere Feinde. Ein Jugendlicher meinte einmal zu<br />
diesem Thema, Jesus sei eben „kein weich gespülter Typ“.<br />
Gott verlangt sicher nichts Unerfüllbares von uns. Die sittlichen<br />
Vorgaben sollen dem Wohl, dem guten und friedvollen<br />
Zusammenleben aller Menschen dienen. Dennoch: ein Gott, der<br />
auch von uns etwas fordert, ist womöglich nicht so beliebt wie<br />
einer, von dem ausschließlich wir etwas (ein)fordern können...<br />
Wichtig scheint mir in diesem Zusammenhang: Jesus fordert<br />
seine Zuhörer und Zuhörerinnen – und damit auch uns – an<br />
keiner Stelle zum „Gehorsam“ auf, vielmehr zum Hören. „Wer<br />
Ohren hat zu hören, der höre!“ (Mk 4,9). Gemeint ist: Wir<br />
sollen keinesfalls blind gehorchen, sondern hinhören auf das,<br />
was Gott uns mitteilt, uns in seine Worte hineinhören, sie in uns<br />
aufnehmen, sie „meditieren“, damit uns ihr tieferer Sinn immer<br />
klarer wird.<br />
Die Mönche und Nonnen früherer Jahrhunderte pflegten<br />
einzelne Wörter und Sätze der Heiligen Schrift gleichsam<br />
„wiederzukäuen“, indem sie sie laut vor sich hin sprachen oder<br />
murmelten und sie oft wiederholten. So senkten die Worte sich<br />
langsam in sie hinein; ihre Bedeutung konnte sich den<br />
Lesenden nach und nach erschließen. Diese Art des<br />
Verinnerlichens kann auch <strong>für</strong> uns heute eine Anregung <strong>für</strong> das<br />
Bibellesen sein – gerade wenn wir viel beschäftigt sind, können<br />
24
wir einen einzelnen Bibelvers so <strong>für</strong> den Tag mitnehmen und in<br />
stillen Momenten zwischendurch darüber nachdenken.<br />
25
11. November<br />
Väterlich-mütterlich<br />
Bewusster Anfang: Mit einem Anfangsgebet und/oder einer<br />
Übung zum Stillwerden setzen Sie einen bewussten Anfang.<br />
Viele Frauen (aber nicht nur Frauen!) haben Schwierigkeiten<br />
mit der Anrede Gottes als „Vater“ und generell mit einem<br />
einseitig männlich geprägten Gottesbild. Jesu Anrede mit dem<br />
aramäischen „abba“ wird manchmal mit „Väterchen“<br />
wiedergegeben, und tatsächlich ist es eine sehr zärtlichvertraute<br />
Anrede. Das Vaterbild Jesu ist nicht das eines (allzu)<br />
menschlichen Vaters! Enge Grenzen von Strenge, Autorität,<br />
26
Unnahbarkeit, Abwesenheit, bei nicht wenigen Menschen<br />
belastende Erfahrungen in der Beziehung zum eigenen Vater,<br />
werden hier gesprengt. Die Anrede Gottes als „Vater“ schließt<br />
die traditionell als „mütterlich“ geltenden Eigenschaften mit ein:<br />
Zärtlichkeit, Verständnis, Fürsorge, Nähe, Wärme... Starre<br />
Schablonen von „männlich-väterlich“ und „weiblich-mütterlich“<br />
gibt es bei Gott nicht!<br />
Im Großen Glaubensbekenntnis, formuliert im Jahr 325, sagen<br />
wir von Jesus Christus, er sei „aus dem Vater geboren vor aller<br />
Zeit“. Von welchem Vater würde man sonst sagen, er habe<br />
„geboren“?<br />
Bereits der Verfasser des ersten Johannesbriefes formuliert:<br />
„Jeder, der glaubt, dass Jesus der Christus ist, ist aus Gott<br />
geboren, und jeder, der den Vater liebt, liebt auch den, der aus<br />
ihm geboren wurde“ (1 Joh 5,1). Leider verschleiern manche<br />
Bibelübersetzungen hier den weiblich-mütterlichen Akzent,<br />
indem sie das griechische Verb „gennasthai“ mit „gezeugt“ oder<br />
„stammt“ wiedergeben.<br />
Beim Propheten Jesaja lesen wir: „Herr, himmlischer Vater, du<br />
tröstest uns, wie eine Mutter ihren Sohn tröstet“ (Jes 66,13).<br />
Die hebräische Bibel verwendet einen weiblichen Begriff <strong>für</strong> den<br />
Geist Gottes: ruach, vielleicht am besten mit „Geistkraft“ zu<br />
übersetzen.<br />
Im 11. Jahrhundert betete Anselm Erzbischof von Canterbury:<br />
“Du Jesus, guter Meister, bist nicht auch du Mutter? Oder ist<br />
nicht Mutter, wer wie die Henne ihre Küchlein unter ihre Flügel<br />
sammelt?... Darum bist du, Meister und Gott, noch mehr<br />
Mutter.“<br />
Papst Johannes Paul I. sagte in einer Ansprache am 10.<br />
September 1978:<br />
„Wir sind das Ziel der unvergänglichen Liebe Gottes; das wissen<br />
wir. Er hat immer seine Augen über uns, auch wenn es uns<br />
Nacht scheint. Er ist unser Vater, noch mehr: er ist uns auch<br />
Mutter.“<br />
Diese wenigen Beispiele mögen zeigen: In Gott auch weiblichmütterliche<br />
Züge zu sehen und ihn z.B. als „Mutter“ anzureden,<br />
27
ist keine Erfindung moderner feministischer Theologinnen! Es<br />
entspricht dem biblischen Gottesbild – und durchaus auch dem<br />
Denken und Empfinden von so manchem Mann in der<br />
Kirchengeschichte.<br />
Aber wie wir Gott nun auch ansprechen: entscheidend ist die<br />
Innigkeit und Lebendigkeit unserer Gottesbeziehung! Fehlt<br />
beides, bleibt jede Anrede, ob Vater oder Mutter, blutleer.<br />
„Mutter unser, die du bist im Himmel“, „Schwester Geist“,<br />
„Herrin und Göttin“ - können, wollen Sie Gott so anreden?<br />
Stellen Sie sich Gott eher männlich, eher weiblich oder<br />
ganzheitlich vor? Wie sprechen sie Gott meistens an – als Vater,<br />
Mutter oder mit einem ganz anderen Namen?<br />
28
12. November<br />
Nah bei uns<br />
Bewusster Anfang: Mit einem Anfangsgebet und/oder einer<br />
Übung zum Stillwerden setzen Sie einen bewussten Anfang.<br />
Gott wird von vielen Menschen oftmals als fern, ja abwesend<br />
empfunden - „der in den Himmeln thront“, wie es in einem<br />
geistlichen Lied ausgedrückt ist. So manchem Zeitgenossen<br />
genügt diese Gottesvorstellung durchaus. Sie können sich Gott<br />
wohl als „irgendeine“ höhere Macht vorstellen, die „irgendwo“<br />
über uns schwebt, aber mit unserem Leben nicht viel zu tun<br />
hat. Eine persönliche Beziehung zu diesem Gott haben sie nicht,<br />
29
wollen es vielleicht auch nicht. Nähe kann ja auch etwas<br />
Bedrohliches haben. Andere gläubige Menschen leiden aber<br />
daran, dass sie von Gottes Nähe nichts oder nichts mehr<br />
spüren. Sie sehnen sich nach Geborgenheit, möchten diese<br />
innere Distanz gern überwinden, aber wissen nicht wie. Sie<br />
haben nicht das Gefühl, dass Gott in ihrem Alltag bei ihnen ist<br />
und ihnen tatsächlich zuhört, wenn sie beten. Viele beten<br />
deshalb nicht mehr.<br />
Dabei zeigt Gott sich in der Bibel stets als der, der da ist, der<br />
jeden Weg mitgeht, der eingreift und hilft, der jederzeit<br />
ansprechbar ist…In dem genannten Kirchenlied „Singet Lob<br />
unserm Gott“ heißt es in der ersten Strophe weiter: „...der die<br />
Welt schuf und hält, in unsrer Mitte wohnt.“ Gott beschränkt<br />
sich nicht darauf, hoch oben im Himmel zu thronen. In Jesus<br />
zeigt sich auf neue, eindringliche Weise: Gott erscheint als<br />
hilfloses Kind, als Freund, Lehrer und Begleiter, als Leidender<br />
am Kreuz… Gott teilt unser ganzes Leben mit uns, ja, er ist der<br />
buchstäblich „heruntergekommene“ Gott, der sogar alles Leiden<br />
mit uns trägt und aushält. Wie er im Buch Jesaja von sich sagt:<br />
„Als Heiliger wohne ich in der Höhe, aber ich bin auch bei den<br />
Zerschlagenen und Bedrückten“ (Jes 57,15). Indem Gott sich<br />
da<strong>für</strong> nicht zu schade ist, sprengt er gängige Vorstellungen von<br />
einem fernen, unbewegten Gott „im Himmel“. Ein Stück Himmel<br />
hat er auf die Erde gebracht.<br />
„Ich bin bei euch alle Tage bis ans Ende der Welt“, so lautet der<br />
letzte Satz des Matthäusevangeliums. Versuchen Sie diese<br />
Zusage Jesu in sich aufzunehmen und heute den ganzen Tag in<br />
dem Bewusstsein zu verbringen, dass Sie bei allem, was Sie<br />
tun, bei allem, was Ihnen begegnet, nicht allein sind, sondern<br />
einen inneren Begleiter haben.<br />
30
13. November<br />
Leben spendend<br />
Bewusster Anfang: Mit einem Anfangsgebet und/oder einer<br />
Übung zum Stillwerden setzen Sie einen bewussten Anfang.<br />
In einem Büchlein fand ich folgende Geschichte: Ein<br />
französischer Gelehrter durchquert mit einigen arabischen<br />
Forschern die Wüste. Beim Sonnenuntergang breiten die Araber<br />
Teppiche auf dem Boden aus und beten. „Was machen Sie da?“<br />
fragt der Gelehrte einen von ihnen. „Ich bete.“ „Zu wem?“ „Zu<br />
Allah.“ „Haben Sie ihn denn jemals gesehen, betastet, gefühlt?“<br />
„Nein“, schüttelt der Forscher den Kopf. „Wie können Sie dann<br />
nur an ihn glauben?“<br />
31
Am nächsten Morgen, als der Franzose aus dem Zelt kriecht,<br />
meint er zu einem der Araber: „Hier ist heute Nacht ein Kamel<br />
gewesen!“ „Woher wollen Sie das wissen? Haben Sie es<br />
gesehen, betastet, gefühlt?“ „Nein, aber man sieht doch rings<br />
um das Zelt die Fußspuren!“ Der Araber weist zum Horizont, wo<br />
die Sonne aufgeht in all ihrer Pracht: „Da, sehen Sie: die<br />
Fußspur Gottes!“<br />
Fußspuren Gottes in der Welt. Da sind erst einmal unsere<br />
Mitmenschen. Nach dem Wort Jesu „Was ihr dem Geringsten<br />
meiner Brüder, der Geringsten meiner Schwestern getan habt,<br />
das habt ihr mir getan“ (Mt 25,40) glauben wie an einen Gott,<br />
den wir im Mitmenschen finden.<br />
Darüber hinaus zeigt sich Gott aber in seiner gesamten<br />
Schöpfung, in Tieren, Pflanzen, Landschaften und Gestirnen,<br />
eben auch in einem wunderbaren Sonnenaufgang… Hier zeigt<br />
sich ein weites, kein enges, beschränktes Gottesbild! Gott<br />
kommt uns ganz nahe in seinen Geschöpfen – ohne dass diese,<br />
wie in manchen anderen Religionen, selbst als Gottheiten<br />
verehrt werden. Im ersten biblischen Schöpfungsmythos heißt<br />
es schlicht: „Gott sah alles an, was er gemacht hatte: Es war<br />
sehr gut“ (Gen 1,31). Von ihrem Ursprung her ist die Schöpfung<br />
ganz und vollkommen gut – und es tut gut, sich daran hin und<br />
wieder zu erinnern. Wenn ich die Schönheit und Großartigkeit<br />
der Natur erleben darf, läuft mir das Herz oft über, und dieses<br />
Gefühl wird ganz von selbst zum Gebet.<br />
Ein schöner Gedanke: Jedes Geschöpf ist ein Liebesbrief Gottes!<br />
Formulieren Sie heute einmal Ihr eigenes Lob- und Dankgebet<br />
– einen Liebesbrief an Gott.<br />
32
14. November<br />
Wochenrückblick<br />
Bewusster Anfang: Mit einem Anfangsgebet und/oder einer<br />
Übung zum Stillwerden setzen Sie einen bewussten Anfang.<br />
Hat sich zur „Halbzeit“ der Exerzitien schon etwas in Ihrer<br />
eigenen Gottesvorstellung verändert? Sind neue Farben und<br />
Symbole hinzugekommen, haben Sie etwas übermalt oder ganz<br />
ausradiert? Ist Ihr Bild von Gott bunter geworden, beginnt hier<br />
und da etwas zu verblassen? Wo sind noch weiße Stellen?<br />
Notieren Sie Ihre Gedanken oder stellen Sie sie in einem<br />
„richtigen“ Bild dar.<br />
Für Gott haben die Menschen so viele Symbole und Namen. Mit<br />
einem Namen stellt er sich selbst vor: „Ich-bin-da“ (Ex 3,14).<br />
„Gottesvorstellung“ heißt hier: Gott stellt sich vor! Der Gott, der<br />
da ist, den wir mit Namen anreden können: Welchen Namen<br />
haben Sie jetzt, nach der zweiten Woche, in diesem Moment,<br />
<strong>für</strong> ihn?<br />
33
15. November<br />
Weg<br />
Bewusster Anfang:<br />
Mit einem Anfangsgebet und/oder einer Übung zum Stillwerden<br />
setzen Sie einen bewussten Anfang.<br />
In der dritten Exerzitienwoche lade ich Sie ein, sich mit Bildern<br />
auseinander zu setzen, die Jesus im Johannesevangelium in<br />
den so genannten „Ich-bin-Worten“ von sich selbst aussagt. Er<br />
wählt unmittelbar zugängliche Bilder und Erfahrungen, die<br />
jedem Menschen vertraut sind. Dennoch kann über Gott nicht<br />
einfach wie über einen Gegenstand der irdischen Welt<br />
gesprochen werden. Jesu Rede bleibt deshalb oft geheimnisvoll,<br />
weil Gott und das Leben ein Geheimnis sind und bleiben. Aber<br />
die Gegenstände und alltäglichen Erfahrungen können zu<br />
Momenten der Gottesbegegnung werden, wenn wir uns auf ihre<br />
Schlichtheit einlassen.<br />
Euer Herz lasse sich nicht verwirren. Glaubt an Gott, und glaubt<br />
an mich! /.../ Wenn ich gegangen bin und einen Platz <strong>für</strong> euch<br />
vorbereitet habe, komme ich wieder und werde euch zu mir<br />
34
holen, damit auch ihr dort seid, wo ich bin. Und wohin ich gehe<br />
- den Weg dorthin kennt ihr. Thomas sagte zu ihm: Herr, wir<br />
wissen nicht, wohin die gehst. Wie sollen wir dann den Weg<br />
kennen? Jesus sagte zu ihm: Ich bin der Weg und die Wahrheit<br />
und das Leben; niemand kommt zum Vater außer durch mich.<br />
Wenn ihr mich erkannt habt, werdet ihr auch meinen Vater<br />
erkennen. Schon jetzt kennt ihr ihn und habt ihn gesehen.<br />
Philippus sagte zu ihm: Herr, zeig uns den Vater; das genügt<br />
uns. Jesus antwortete ihm: Schon so lange bin ich bei euch,<br />
und du hast mich nicht erkannt, Philippus? Wer mich gesehen<br />
hat, hat den Vater gesehen. (Joh 14,1.3-9)<br />
Den richtigen Weg zu wissen ist notwendige Voraussetzung, um<br />
ans Ziel zu gelangen. Navigationsgeräte erleichtern heutzutage<br />
z.B. das Autofahren ungemein, aber auch nur, wenn ich die<br />
Technik und das Vokabular beherrsche. Thomas und Philippus<br />
machen deutlich, dass selbst die Jünger, die unmittelbaren<br />
Umgang mit Jesus hatten, sein Vokabular nicht wirklich<br />
begreifen und den richtigen Weg noch nicht gefunden haben.<br />
Wie sie sind wir auf der Suche nach unserem Weg im Alltag und<br />
im Leben. Manche Wege sind wir schon gegangen, manche<br />
Entscheidungen an Abzweigungen wurden schon getroffen,<br />
manches schon erlebt. Gehen Sie – in Gedanken oder schriftlich<br />
- ein paar Schritte auf Ihrem Weg zurück anhand einiger<br />
Stationen:<br />
Steine gibt es auf jedem Weg – Hindernisse, die mir in den<br />
Weg gelegt werden, Stolpersteine, die mich aus dem Tritt<br />
bringen. Manchmal ist es ganz gut, aus dem gewohnten Trott<br />
geworfen zu werden und zum Nachdenken gezwungen zu sein.<br />
Auf einer Spruchkarte finde ich den Satz: „Auch aus Steinen,<br />
die einem in den Weg gelegt werden, kann man Schönes<br />
bauen.“<br />
Der Weg führt vorbei an Rosen, dem Zeichen <strong>für</strong> die Liebe.<br />
Seit meiner Geburt begleiten mich Menschen mit ihrer<br />
Zuneigung, lassen mich spüren, durch kleine und große Gesten,<br />
dass sie es gut mit mir meinen.<br />
35
Manche Scherben finden sich auf dem Weg. Sie stehen <strong>für</strong><br />
alles, was zerbrochen ist an Beziehung, Glück, Hoffnung,<br />
Bildern von Gott. Sie stehen <strong>für</strong> Enttäuschungen, <strong>für</strong><br />
Missverständnisse. Wenn etwas Altes zerbricht, kann etwas<br />
Neues entstehen, wenn ich ent-täuscht werde, kann ich eine<br />
Täuschung aufgeben und zur Wahrheit durchstoßen. Scherben<br />
muss ich loslassen können, sonst füge ich mir immer wieder<br />
selbst Wunden zu.<br />
Wir sind oft am Rennen und Hetzen. Wichtig ist es, die<br />
Ruheplätze am Weg zu entdecken, wo ich einfach sein darf, mit<br />
allen Sinnen wahrnehme und genieße. Da<strong>für</strong> hat Gott uns mit<br />
Augen, Ohren, Nase, Mund und Tastsinn ausgestattet und er<br />
hat uns Menschen die Parkbank erfinden lassen.<br />
Mein Lebensweg liegt manchmal klar vor mir. Meist aber ist er<br />
wie mit einem Schleier bedeckt und die Sicht genügt nur <strong>für</strong><br />
den nächsten Schritt. Aber ich darf mich führen lassen von dem<br />
Wort Jesu: „Ich bin der Weg.“ Jesus hat nicht gesagt: „Ich bin<br />
das Ziel“, auch nicht, „ich bin der richtige Weg“, aber: „Ich bin<br />
der Weg“. Im Aufbruch, im Gehen erfahren wir: Wenn immer<br />
ich auf dem (Lebens-)Weg bin, ist Gott bei mir: auf den<br />
Irrwegen und Umwegen, den Anstiegen und Abstiegen, den<br />
ebenen Wegen und den steinigen Pfaden ist er der Weg.<br />
Eigentlich können wir ihn nie verlieren, wenn wir in Be-weg-ung<br />
bleiben.<br />
Auf dem Bild finden Sie noch weitere Symbole <strong>für</strong><br />
Lebenssituationen. Vielleicht werden an den einzelnen Stationen<br />
Erinnerungen in Ihnen wach. Bedenken Sie dazu den<br />
altjüdischen Weisheitsspruch: Der Mensch wird des Weges<br />
geführt, den er wählt.<br />
36
16. November<br />
Tür<br />
Bewusster Anfang:<br />
Mit einem Anfangsgebet und/oder einer Übung zum Stillwerden<br />
setzen Sie einen bewussten Anfang.<br />
Weiter sagte Jesus zu ihnen: Ich bin die Tür; wer durch mich<br />
hineingeht, wird gerettet werden; er wird ein- und ausgehen<br />
und Weide finden. Der Dieb kommt nur, um zu stehlen, zu<br />
schlachten und zu vernichten; ich bin gekommen, damit sie das<br />
Leben haben und es in Fülle haben. (Joh 10,7a.9-10)<br />
37
Mein Weg führt mich jeden Tag vor viele Türen. Türen<br />
bedeuten ein davor oder dahinter, ein hüben oder ein drüben,<br />
ein Stehen bleiben oder Weitergehen, ein „soll ich nicht“ oder<br />
„soll ich doch“ und dazwischen eine Schwelle, die es zu<br />
überschreiten gilt – oder auch nicht. Eine Tür ist eine Einladung<br />
zum Durchgehen, zum Entdecken, zum Eintreten. Sie ist aber<br />
auch Wagnis und Ungewissheit, weil ich nicht immer weiß, was<br />
mich hinter der Tür erwartet. Vor allem in geschlossenem<br />
Zustand grenzt die Tür die Bereiche drinnen und draußen klar<br />
ab und damit auch die Menschen in diejenigen die draußen vor<br />
der Tür stehen in der Unbehaustheit und in diejenigen, die<br />
drinnen sind in der Geborgenheit.<br />
Es gibt Menschen, von denen wir sagen: Sie „mauern“: Sie<br />
erlauben uns keinen Blick in ihr Inneres, sie schließen sich nach<br />
außen hin ab, sie ermöglichen keinen Zugang zu ihnen. Jesus<br />
bezeichnet sich selbst als Tür. Er lädt ein und weist nicht ab, er<br />
geht Beziehungen ein gerade zu den Außenseitern, denen der<br />
Zugang zur damaligen Gesellschaft verweigert wurde. Bei Jesus<br />
gibt es keine „geschlossene Gesellschaft“, da bei ihm jede und<br />
jeder nach Belieben ein und ausgehen kann und alle<br />
willkommen sind. Mit seinen Selbstaussagen, über die wir diese<br />
Woche nachsinnen, ermöglicht Jesus, dass wir uns ein Bild von<br />
ihm machen können. Die Tür zu seinem Inneren, zu seinem<br />
Wesen öffnet er damit weit.<br />
Türen rufen uns zur Entscheidung: Durch welche Tür gehe ich?<br />
Es gibt Türen, die verheißen Ansehen, Macht, Geld, Leben. Wie<br />
weiß ich, dass ich die richtige Wahl treffe? Jesus sagt: „Der<br />
Dieb kommt, um zu stehlen, zu schlachten, zu vernichten.“<br />
Wenn ich die Erfahrung mache, dass mir Leben und<br />
Lebendigkeit gestohlen werden, meine Lebensqualität<br />
vernichtet wird, dann sind Diebe am Werk. Durch die Tür<br />
einzutreten, die Jesus heißt, bedarf es nur eines mutigen<br />
Schrittes, ist aber kein Wagnis. Denn dahinter finde ich gute<br />
Weide, ein biblisches Bild <strong>für</strong> die Fürsorge Gottes gegenüber<br />
38
seinem Volk. „Denn so spricht der Herr: Jetzt will ich meine<br />
Schafe selber suchen und mich selber um sie kümmern. Ich<br />
führe sie aus den Völkern heraus, ich hole sie aus den Ländern<br />
zusammen und bringe sie in ihr Land. Ich führe sie in den<br />
Bergen Israels auf die Weide, in den Tälern und an allen<br />
bewohnten Orten des Landes.“ (Ez 11.13) Jesus nennt es Leben<br />
in Fülle. Die richtige Entscheidung bringt Leben und<br />
Lebendigkeit hervor und nimmt sie nicht.<br />
Wie sehen „Diebe“ aus, die versuchen, Ihnen etwas von Ihrem<br />
Leben zu stehlen?<br />
Stellen Sie sich <strong>für</strong> einige Minuten vor eine halboffene Tür.<br />
Nehmen Sie sich bewusst wahr an diesem Standort.<br />
Überschreiten Sie die Schwelle und bleiben Sie auf der anderen<br />
Seite der Tür nochmals stehen.<br />
Jesus sagt: Ich bin die Tür? Welche Gedanken und Gefühle<br />
steigen in Ihnen auf?<br />
39
17. November<br />
Hirt<br />
Bewusster Anfang:<br />
Mit einem Anfangsgebet und/oder einer Übung zum Stillwerden<br />
setzen Sie einen bewussten Anfang.<br />
Ich bin der gute Hirt. Der gute Hirt gibt sein Leben hin <strong>für</strong> die<br />
Schafe. Der bezahlte Knecht aber, der nicht Hirt ist und dem die<br />
Schafe nicht gehören, lässt die Schafe im Stich und flieht, wenn<br />
er den Wolf kommen sieht; und der Wolf reißt sie und jagt sie<br />
auseinander. Er flieht, weil er nur ein bezahlter Knecht ist und<br />
ihm an den Schafen nichts liegt. Ich bin der gute Hirt; ich<br />
kenne die Meinen, und die Meinen kennen mich, wie mich der<br />
Vater kennt und ich den Vater kenne; und ich gebe mein Leben<br />
hin <strong>für</strong> die Schafe. (Joh 10,11-15)<br />
Eng verbunden mit dem Bild der Tür von gestern ist im<br />
biblischen Text die Identifizierung Jesu mit dem guten Hirten.<br />
Kontrastierend dazu wird der bezahlte Knecht geschildert, dem<br />
nichts an den Schafen liegt, weil er keine Beziehung zu ihnen<br />
hat. Jesus „kennt“ seine Schafe. Das meint mehr als ein bloßes<br />
Wissen über sie. Kennen drückt in der Bibel immer eine<br />
40
personale Verbundenheit aus, ein umeinander wissen, vertraut<br />
sein miteinander. Denn Jesus kann auch sagen: „ich kenne die<br />
Meinen, und die Meinen kennen mich“.<br />
Das Bild des Hirten läuft leicht in Gefahr, in den Kitsch<br />
abzugleiten. In meiner Kindheit hing im Kinderschlafzimmer<br />
eines dieser gefühlvollen Bilder, die Jesus als guten Hirten<br />
zeigen, umringt von seinen Schafen, mit einem Lamm auf dem<br />
Arm, das sich vertrauensvoll an ihn schmiegt. Von der<br />
mühsamen Realität eines Hirtenlebens, wie sie der Prophet<br />
Ezechiel im Blick auf den göttlichen Hirten beschreibt, ist darauf<br />
nichts zu entdecken: „Ich werde meine Schafe auf die Weide<br />
führen, ich werde sie ruhen lassen - Spruch Gottes, des Herrn.<br />
Die verloren gegangenen Tiere will ich suchen, die vertriebenen<br />
zurückbringen, die verletzten verbinden, die schwachen<br />
kräftigen, die fetten und starken behüten. Ich will ihr Hirt sein<br />
und <strong>für</strong> sie sorgen, wie es recht ist.“ (Ez 34,15-16) Trotzdem<br />
habe ich als Kind dieses Bild geliebt. Als Jugendliche begehrte<br />
ich dagegen auf, weil ich kein „dummes“ Schaf sein wollte, das<br />
treudoof seinem Hirten nachrennt und nur ängstlich „mäh“<br />
macht, wenn der Wolf kommt. Heute kann ich mich mit dem<br />
Schaf-Sein eher anfreunden, da Schafe nicht so dumm sind, wie<br />
es die Redewendung vermuten lässt.<br />
Als ich dieses Jahr zu einer Priesterweihe eingeladen war,<br />
bekamen die zwei Neupriester jeweils ein Schaf als Handpuppe<br />
überreicht, verpackt in ein Zwiegespräch der beiden Tiere. Lotti<br />
und Riecke waren auf der Suche nach einem guten Hirten und<br />
formulierten ihre Vorstellungen davon.<br />
Welche Vorstellung haben Sie von einem guten Hirten? Welche<br />
Erwartung ist damit verbunden, wenn Sie das Bild auf Gott als<br />
Hirten übertragen?<br />
Der Psalm 23 kann Sie dabei inspirieren:<br />
„Der Herr ist mein Hirte, nichts wird mir fehlen.<br />
41
Er lässt mich lagern auf grünen Auen und führt mich zum<br />
Ruheplatz am Wasser.<br />
Er stillt mein Verlangen; er leitet mich auf rechten Pfaden, treu<br />
seinem Namen.<br />
Muss ich auch wandern in finsterer Schlucht, ich <strong>für</strong>chte kein<br />
Unheil;<br />
denn du bist bei mir, dein Stock und dein Stab geben mir<br />
Zuversicht.“<br />
42
18. November<br />
Licht<br />
Bewusster Anfang:<br />
Mit einem Anfangsgebet und/oder einer Übung zum Stillwerden<br />
setzen Sie einen bewussten Anfang.<br />
Als Jesus ein andermal zu ihnen redete, sagte er: Ich bin das<br />
Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, wird nicht in der Finsternis<br />
umhergehen, sondern wird das Licht des Lebens haben. (Joh<br />
8,12)<br />
Jesus wird von Anfang an als das „aufstrahlende Licht aus der<br />
Höhe“ (Lk 1,78) erwartet und vom greisen Propheten Simeon<br />
mit folgenden Worte bei seiner Beschneidung im Tempel<br />
empfangen: „Nun lässt du, Herr, deinen Knecht, wie du gesagt<br />
hast, in Frieden scheiden. Denn meine Augen haben das Heil<br />
gesehen, das du vor allen Völkern bereitet hast, ein Licht, das<br />
die Heiden erleuchtet, und Herrlichkeit <strong>für</strong> dein Volk Israel.“ (Lk<br />
2,29-32)<br />
43
Licht brauchen wir zum Wohlbefinden. Ohne die Sonne, dem<br />
großen Licht, wäre ein Leben auf unserem Planeten nicht<br />
möglich. Beteten die Menschen im Altertum die Gestirne und<br />
vor allem die Sonne als Götter an, dann war es <strong>für</strong> die frühen<br />
Christen nur logisch, nun Jesus Christus als die wahre Sonne zu<br />
verehren, und sein Geburtsfest auf das Fest der Sonnenwende<br />
am 25. Dezember zu legen.<br />
Wo Licht leuchtet, bekommt alles eine klare, helle Gestalt.<br />
Davon zeugt unsere Sprache, wenn wir den Begriff Orientierung<br />
benutzen: Die Sonne geht im Osten, im Orient auf und<br />
ermöglicht uns Durchblick und Klarsicht. Wir sprechen auch von<br />
Erleuchtung, wenn uns sprichwörtlich ein Licht aufgegangen ist.<br />
Jesus will <strong>für</strong> uns Orientierungspunkt und Lichtquelle sein, aber<br />
nicht nur <strong>für</strong> mich, <strong>für</strong> mein Leben, sondern <strong>für</strong> alle Menschen,<br />
<strong>für</strong> die Welt. Darum ist er in die Welt gekommen, „um allen zu<br />
leuchten, die in Finsternis sitzen und im Schatten des Todes,<br />
und unsre Schritte zu lenken auf den Weg des Friedens“ (Lk<br />
1,79) Vielleicht zünden wir deshalb eine Kerze an, wenn wir um<br />
einen Menschen trauern oder wenn wir Gott um etwas bitten,<br />
weil wir auf Jesus, das Licht der Welt vertrauen wollen.<br />
Welche „Lichtbilder“ fallen Ihnen beim Nachdenken ein?<br />
Erinnerungen wach zu rufen z.B. an Sonnenuntergang und<br />
Lagerfeuer, Osterkerze und Vollmondnacht kann helfen, die<br />
dunklere Jahreszeit ein wenig heller zu machen und das Symbol<br />
Licht in seiner Vielfalt zu entdecken. Viele Menschen halten<br />
lange Dunkelheit nicht gut aus und beginnen schon jetzt im<br />
November, ihre Gärten und Häuser mit Lichterketten zu<br />
erhellen. Es ist schade, dass die Symbolik des wachsenden<br />
Lichtes auf dem Adventskranz und der Fülle am Christbaum zur<br />
Ankunft Jesu, dem Licht der Welt, dadurch verloren geht.<br />
Überlegen Sie, auf welche Weise Sie die nahende Adventszeit<br />
bewusst als Warten auf das Licht gestalten können.<br />
44
19. November<br />
Brot<br />
Bewusster Anfang:<br />
Mit einem Anfangsgebet und/oder einer Übung zum Stillwerden<br />
setzen Sie einen bewussten Anfang.<br />
Amen, amen, ich sage euch: Wer glaubt, hat das ewige Leben.<br />
Ich bin das Brot des Lebens. Eure Väter haben in der Wüste<br />
das Manna gegessen und sind gestorben. So aber ist es mit<br />
dem Brot, das vom Himmel herabkommt: Wenn jemand davon<br />
isst, wird er nicht sterben. Ich bin das lebendige Brot, das vom<br />
Himmel herabgekommen ist. Wer von diesem Brot isst, wird in<br />
Ewigkeit leben. (Joh 6,47-51)<br />
Heute ist der Festtag der heiligen Elisabeth von Thüringen. Am<br />
bekanntesten aus ihrem Leben ist die Legende vom<br />
Brotwunder: Sie will verbotenerweise Brot zu den Armen<br />
bringen. Als sie entdeckt wird, hat sich das Brot in ihrem Korb<br />
in Rosen verwandelt. Diese Verwandlung bringt auch zum<br />
45
Ausdruck, dass Menschen mehr brauchen als Brot, die Nahrung<br />
<strong>für</strong> den Leib. Sie leben auch von dem, was die Rose<br />
versinnbildlicht: Zuneigung, menschliche Wärme, Schönheit,<br />
Natur, schöpferisches Tun..., von all dem, was dem Leben<br />
Glanz verleiht. Elisabeth versuchte auch das den Menschen zu<br />
geben.<br />
Wir benötigen materielle Güter, um unser Leben zu sichern.<br />
Jesus gibt uns aber den Hinweis auf das Manna, das das Volk<br />
Israel beim Durchzug durch die Wüste aß. Die Israeliten durften<br />
jeden Tag nur soviel davon sammeln, wie sie an einem Tag<br />
essen konnten. Was sie darüber hinaus zu horteten versuchten,<br />
verdarb. Gott warnt damit vor Gier und Habsucht. In die gleiche<br />
Richtung zielt im „Vater unser“ die Brotbitte. Beim Evangelisten<br />
Matthäus steht: „Gib uns heute das Brot, das wir brauchen“ (Mt<br />
6,11) Jesus lehrt uns, um all das zu bitten, was wir <strong>für</strong> einen<br />
Tag brauchen: Nahrung, Beziehung, Kleidung, Heimat,<br />
Ansehen, ...– eben Brot und Rosen.<br />
Das Wort vom Brot des Lebens steht im Kontext einer<br />
Brotvermehrungsgeschichte. Die Menschen suchen Jesus, weil<br />
sie einmal satt geworden sind und wieder etwas zu essen<br />
haben möchten. Doch Jesus verweist sie auf sich als das Brot,<br />
das den Hunger <strong>für</strong> immer stillen kann. Er spricht damit nicht<br />
vom leiblichen Hunger. Wenn der Magen ge-füllt ist , dann<br />
muss das nicht automatisch bedeuten, dass unser Leben auch<br />
er-füllt ist. In der Bergpredigt spricht Jesus z.B. von Menschen,<br />
die nach der Gerechtigkeit hungern und dürsten (Mt 5,6). Unser<br />
Lebenshunger zielt auf mehr als das rein Materielle. Eine<br />
Sehnsucht liegt in uns. Sie kann verborgen und vergraben sein,<br />
aber sie ist da. Ich muss ihr nur Raum lassen. Dann führt sie<br />
mich zu dem, was ich wirklich zum Leben brauche. Jesus bietet<br />
sich an als das Brot, das unsere Seele nährt und unsere<br />
Sehnsucht nach vollem Leben stillt. Es ist meine Entscheidung,<br />
welches Brot ich esse.<br />
46
Vielleicht haben Sie Lust, eine Brotbackmischung zu kaufen und<br />
zu Hause Brot zu backen. Beim Kneten können Sie darüber<br />
nachsinnen, was Ihr Leben, ihr körperliches und geistiggeistliches,<br />
wirklich nährt. Oder sie essen bewusst ein Stück<br />
Brot und spüren dabei Ihrer Sehnsucht nach.<br />
47
20. November<br />
Weinstock<br />
Bewusster Anfang:<br />
Mit einem Anfangsgebet und/oder einer Übung zum Stillwerden<br />
setzen Sie einen bewussten Anfang.<br />
Ich bin der wahre Weinstock, und mein Vater ist der Winzer.<br />
Jede Rebe an mir, die keine Frucht bringt, schneidet er ab, und<br />
jede Rebe, die Frucht bringt, reinigt er, damit sie mehr Frucht<br />
bringt. Ihr seid schon rein durch das Wort, das ich zu euch<br />
gesagt habe. Bleibt in mir, dann bleibe ich in euch. Wie die<br />
Rebe aus sich keine Frucht bringen kann, sondern nur, wenn<br />
sie am Weinstock bleibt, so könnt auch ihr keine Frucht<br />
bringen, wenn ihr nicht in mir bleibt. Ich bin der Weinstock, ihr<br />
seid die Reben. Wer in mir bleibt und in wem ich bleibe, der<br />
48
ingt reiche Frucht; denn getrennt von mir könnt ihr nichts<br />
vollbringen. (Joh 15,1-5)<br />
Bei einem realen Weinstock akzeptieren wir die<br />
Pflegemaßnahmen eines Winzers. Wenn er die unfruchtbaren<br />
Reben und unnötig Wucherndes wegschneidet, die<br />
fruchtbringenden Reben reinigt und auf Fruchtsteigerung<br />
bedacht ist, dann haben wir Aussicht auf einen guten Tropfen.<br />
Setzen wir uns an die Stelle der Reben, so wie es das Bildwort<br />
Jesu nahe legt, dann kann sich Widerstand regen. Der Verdacht<br />
mag aufkeimen, dass wir als Reben auf ein<br />
Leistungschristentum, auf ein genormtes Leben in unbedingter<br />
Abhängigkeit von Gott getrimmt werden sollen.<br />
Dieses vielleicht vorhandene Unbehagen möchte ich nicht schön<br />
reden. Eine Entscheidung ruft meistens Unbehagen hervor. Und<br />
es geht um eine weitreichende Entscheidung in dieser<br />
Bibelstelle. Nämlich: Von wem mache ich mich abhängig? Ein<br />
nächstes Reizwort.<br />
Schließlich streben wir doch alle ein eigenbestimmtes, unabhängiges<br />
Leben an. Doch wenn ich mein Leben genau<br />
anschaue, sehe ich schnell ein, dass ich sehr wohl abhängig<br />
bin:<br />
Ich bin abhängig von meinem eigenen Selbstwertgefühl. Sehe<br />
ich mich selbst nur als Versagerin, weil es mir beispielsweise<br />
nicht gelingt, mit dem Rauchen aufzuhören oder auch mal<br />
„Nein“ zu sagen, dann werde ich wegen meiner eigenen<br />
Unsicherheit und Unzufriedenheit keine angenehme<br />
Zeitgenossin sein.<br />
Ich bin abhängig von der Wertschätzung anderer Menschen.<br />
Wenn mich jemand nach einem Streit nicht mehr anschaut,<br />
halte ich diesen Zustand nicht lange aus und suche mein<br />
Ansehen wieder herzustellen.<br />
Ich bin abhängig vom Erfolg meines Tuns. Würde ich nur<br />
Misserfolge erzielen, egal ob es beim Kuchenbacken oder beim<br />
49
Schreiben dieser Texte <strong>für</strong> die <strong>Internetexerzitien</strong> wäre, dann<br />
würde ich mir bald nichts mehr zutrauen.<br />
Was passiert, wenn ich mich abhängig mache von Gott? Wenn<br />
ich wie eine Rebe am Weinstock Jesus bleibe, meine Kraft und<br />
Energie, meine Liebe, mein Selbstbewusstsein aus Gott ziehe?<br />
Jesus sagt ganz klar: Ein christliches Leben ist nur in der<br />
Verbundenheit mit ihm möglich. Das Bleiben, oder anders<br />
gesagt die Treue zu ihm ist das Kennzeichen des Christseins.<br />
Das Bildwort vom Weinstock ist ein Entscheidungsruf: Will ich<br />
mit Jesus in Verbindung bleiben oder nicht? Auch die Jünger<br />
standen immer wieder vor dieser Entscheidung, und manche<br />
haben Jesus verlassen. Die klare Antwort des Petrus auf Jesu<br />
Anfrage „Wollt auch ihr gehen“ lautete: „Herr, wohin sollten wir<br />
gehen. Du hast Worte des ewigen Lebens“. (Joh 6,66-67)<br />
An welche Werte, Überzeugungen, Menschen fühlen Sie sich<br />
gebunden?<br />
Wovon sind Sie abhängig? Woran hängt Ihr Herz?<br />
Empfinden Sie das als Zwang oder als Halt?<br />
Jesus will mit den Menschen eine Verbindung eingehen und in<br />
Verbindung bleiben. Ist Ihnen das zu verbindlich?<br />
50
21. November<br />
Leben<br />
Bewusster Anfang:<br />
Mit einem Anfangsgebet und/oder einer Übung zum Stillwerden<br />
setzen Sie einen bewussten Anfang.<br />
Jesus erwiderte Martha: Ich bin die Auferstehung und das<br />
Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt,<br />
und jeder, der lebt und an mich glaubt, wird auf ewig nicht<br />
sterben. (Joh 11,25-26)<br />
51
Die dritte Exerzitienwoche geht zu Ende. Sieben Begriffe aus<br />
dem Johannesevangelium haben uns durch die Woche geleitet.<br />
Sieben ist biblisch gesprochen die Zahl der Fülle und der<br />
Vollkommenheit. Damit wird in den „Ich-bin-Worten“ das<br />
Wesen Jesu vollkommen und umfassend ausgesagt. Seine<br />
Selbstvorstellung ist dabei stets mit dem Ruf zur Entscheidung<br />
verbunden, sich auf Jesus einzulassen und damit das Leben in<br />
Fülle zu gewinnen. Das zieht sich wie ein roter Faden durch alle<br />
Bildworte, insbesondere beim heutigen Bibeltext: Jesus ist das<br />
Leben. Er ist gesandt, durch sein Wort und seine Taten deutlich<br />
zu machen: Er will das Leben <strong>für</strong> die Menschen. Wer an ihn<br />
glaubt, mit ihm verbunden bleibt, sich ihm anvertraut, sein Brot<br />
isst, sich von ihm und seiner Botschaft den Weg weisen lässt<br />
und in seinem Licht wandert, der gewinnt Leben und<br />
Lebendigkeit. „Dies ist das ewige Leben: dich den einzigen und<br />
wahren Gott zu erkennen und Jesus Christus, den du gesandt<br />
hast. (Joh 17,3)“<br />
Schauen Sie zurück auf die vergangene Woche:<br />
Mit welchem Wort konnten Sie weniger oder gar nichts<br />
anfangen?<br />
Welches der Bildworte hat Sie am meisten angesprochen?<br />
Was ist <strong>für</strong> Sie Leben?<br />
In welchem Bildwort finden Sie Ihre Vorstellung davon wieder?<br />
52
22. November<br />
Gott begegnet im Alltag<br />
Bewusster Anfang:<br />
Mit einem Anfangsgebet und/oder einer Übung zum Stillwerden<br />
setzen Sie einen bewussten Anfang.<br />
Mose weidete die Schafe und Ziegen seines Schwiegervaters<br />
Jitro, des Priesters von Midian. Eines Tages trieb er das Vieh<br />
über die Steppe hinaus und kam zum Gottesberg Horeb. Dort<br />
erschien ihm der Engel des Herrn in einer Flamme, die aus<br />
einem Dornbusch emporschlug. Er schaute hin: Da brannte der<br />
Dornbusch und verbrannte doch nicht. Mose sagte: Ich will<br />
dorthin gehen und mir die außergewöhnliche Erscheinung<br />
ansehen. Warum verbrennt denn der Dornbusch nicht? Als der<br />
Herr sah, dass Mose näher kam, um sich das anzusehen, rief<br />
Gott ihm aus dem Dornbusch zu: Mose, Mose! Er antwortete:<br />
53
Hier bin ich. Der Herr sagte: Komm nicht näher heran! Leg<br />
deine Schuhe ab; denn der Ort, wo du stehst, ist heiliger<br />
Boden. Dann fuhr er fort: Ich bin der Gott deines Vaters, der<br />
Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs. Da<br />
verhüllte Mose sein Gesicht; denn er <strong>für</strong>chtete sich, Gott<br />
anzuschauen. (Ex 3,1-6)<br />
Mose lebt mit seiner Familie bei seinem Schwiegervater und<br />
arbeitet <strong>für</strong> ihn als Viehhirte. Er hatte sich diesen Beruf nicht<br />
wirklich ausgesucht, sondern es hat sich halt den Umständen<br />
entsprechend so ergeben. (Ex 2,11-22). Vielleicht ist es eine<br />
angenehme Abwechslung <strong>für</strong> ihn, als seine Neugier von einem<br />
brennenden Dornbusch erregt wird, der nicht verbrennt.<br />
Vielleicht hat er in den vielen einsamen Stunden in der Steppe<br />
über sein Leben nachgedacht und ist besonders sensibel <strong>für</strong><br />
das, was auf ihn zukommt. Die Bibel gibt uns darauf keine<br />
Antwort. Sie zeigt Mose nur als einen, der dem Phänomen auf<br />
den Grund gehen will. Dass so ein dürrer Dornstrauch brennt,<br />
ist in der kargen und heißen Gegend nichts Ungewöhnliches,<br />
und Mose könnte einfach seiner Wege gehen, aber irgendwie<br />
fühlt er sich angezogen davon und erkennt das<br />
Außergewöhnliche im Gewohnten / Gewöhnlichen. Und<br />
plötzlich, mitten in seinem, während seiner ermüdenden Arbeit<br />
wird Mose mit Gott konfrontiert.<br />
Dass Gott zu einem Menschen spricht, das erwarten wir wohl<br />
eher während des Gebetes, der Meditation, des Gottesdienstes<br />
oder in einem stillen Moment in der Natur. Einfach so während<br />
der alltäglichen Arbeit – das kommt uns unwahrscheinlich vor.<br />
Bei der Begegnung Mariens mit dem Engel, der sogenannten<br />
Verkündigung, wird Maria meist dargestellt auf einem<br />
Gebetsschemel kniend oder in ein frommes Buch vertieft. Die<br />
Malerin Beate Heinen fällt mit ihrer Sicht der<br />
Verkündigungsszene total aus dem Rahmen. Dort kniet Maria<br />
auf dem Fußboden neben ihrem Putzkübel, während durch das<br />
54
Fenster der Blick auf eine Taube, das Symbol des Heiligen<br />
Geistes, fällt.<br />
Die Bibel schweigt auch hier über die genaueren Umstände,<br />
aber mir gefällt diese Darstellung. Denn Gott tritt nicht nur in<br />
unser Leben, wenn wir uns bewusst Zeit <strong>für</strong> ihn nehmen und zu<br />
ihm beten. Er kann uns unvermutet in unserem Alltag<br />
begegnen, bei ganz gewöhnlichen Tätigkeiten und in scheinbar<br />
banalen Ereignissen, so wie es Mose erlebt hat. Es braucht<br />
allerdings unsere Aufmerksamkeit, um die zarten Spuren Gottes<br />
zu entdecken und die Bereitschaft, zu schauen, wer oder was<br />
dahinter steckt.<br />
Gehen Sie in Gedanken durch die vergangen drei<br />
Exerzitienwochen: Wo haben Sie Spuren Gottes in Ihrem Leben<br />
entdeckt? Welche Ereignisse, Begebenheiten können Sie – bei<br />
genauem Hinschauen – als Begegnung mit Gott deuten?<br />
55
23. November<br />
Gott sieht<br />
Bewusster Anfang:<br />
Mit einem Anfangsgebet und/oder einer Übung zum Stillwerden<br />
setzen Sie einen bewussten Anfang.<br />
Der Herr sprach: Ich habe das Elend meines Volkes in Ägypten<br />
gesehen, und ihre laute Klage über ihre Antreiber habe ich<br />
gehört. Ich kenne ihr Leid. Ich bin herabgestiegen, um sie der<br />
Hand der Ägypter zu entreißen und aus jenem Land<br />
hinaufzuführen in ein schönes, weites Land, in ein Land, in dem<br />
Milch und Honig fließen, in das Gebiet der Kanaaniter, Hetiter,<br />
Amoriter, Perisiter, Hiwiter und Jebusiter. Jetzt ist die laute<br />
Klage der Israeliten zu mir gedrungen, und ich habe auch<br />
gesehen, wie die Ägypter sie unterdrücken. (Ex 3,7-8)<br />
Israeliten kamen während einer Hungersnot nach Ägypten und<br />
siedelten sich dort an. Als sie zahlenmäßig immer größer<br />
wurden, ließ der Pharao sie als Sklaven harte Fronarbeit leisten.<br />
Um das Volk zu dezimieren, sollten die Hebammen die<br />
männlichen Nachkommen bei der Geburt in den Nil werfen.<br />
Mose selbst wurde nur durch eine List von der Tochter des<br />
Pharaos vor dieser Verordnung gerettet. Gott weiß, wie sehr<br />
sein Volk in Ägypten leidet. „Ich habe das Elend meines Volkes<br />
gesehen.“ Er sieht die Not und hört die Klage.<br />
56
Eine andere Erzählung im Buch Genesis berichtet davon, wie<br />
Gott von der ägyptischen Magd Hagar den Namen „El-Roi –<br />
Gott, der nach mir schaut“ bekommt (Gen 16,13). Sie war trotz<br />
ihrer Schwangerschaft auf der Flucht vor ihrer Herrin Sara in die<br />
Wüste geflohen. Gott gab ihr in Gestalt eines Engels neue<br />
Hoffnung durch eine Verheißung <strong>für</strong> den Sohn, den sie gebären<br />
sollte. Die Erfahrung, dass Gott ihre Not gesehen hatte und<br />
linderte, veranlasste Hagar, diesen Gott so zu benennen. „Gott,<br />
der nach mir schaut“ ist der erste Gottesname, der uns im Alten<br />
Testament begegnet, und sagt einen grundlegenden<br />
Wesenszug Gottes aus.<br />
Wenn es uns schlecht geht, wenn wir krank sind, dann tut es<br />
uns gut, wenn jemand nach uns schaut, Hilfe anbietet.<br />
„Geteiltes Leid ist halbes Leid“ sagt das Sprichwort. Und<br />
tatsächlich fühlen wir uns oft schon getröstet, wenn jemand<br />
uns ansieht und spürt, wie es uns wirklich geht. Gott weiß um<br />
uns, er nimmt uns in seinen Blick.<br />
Aber mit Gottes Blick auf uns haben vielleicht gerade ältere<br />
Menschen keine guten Erfahrungen gemacht. Lange wurde mit<br />
dem Spruch: „Ein Auge ist, das alles sieht, selbst was in dunkler<br />
Nacht geschieht“ die Angst vor einem Buchhalter-Gott geschürt,<br />
der uns Tag und Nacht beobachtet und notiert, wo wir<br />
gesündigt haben. Gott ist keiner, der in unserem Leben<br />
herumschnüffelt. Sein Blick ist gütig und verstehend. Sein Auge<br />
schaut mit Liebe auf jede von uns – ein Gott, der nach mir<br />
schaut.<br />
Schließen Sie die Augen und stellen Sie sich vor, Gott sieht Sie<br />
liebevoll an. Nehmen Sie seinen Blick wahr, erwidern Sie ihn.<br />
Sagen Sie Gott, was Ihnen sein Blick bedeutet!<br />
Versuchen Sie heute, die Menschen, die Ihnen begegnen, mit<br />
einem liebevollen Blick wahrzunehmen und vielleicht zu<br />
57
entdecken, wo jemand Sie braucht, um nach ihr/ ihm zu<br />
schauen.<br />
58
24. November<br />
Gott ruft<br />
Bewusster Anfang:<br />
Mit einem Anfangsgebet und/oder einer Übung zum Stillwerden<br />
setzen Sie einen bewussten Anfang.<br />
Und jetzt geh! Ich sende dich zum Pharao. Führe mein Volk, die<br />
Israeliten, aus Ägypten heraus! Mose antwortete Gott: Wer bin<br />
ich, dass ich zum Pharao gehen und die Israeliten aus Ägypten<br />
herausführen könnte? Gott aber sagte: Ich bin mit dir; ich habe<br />
dich gesandt. (Ex 3,10-12)<br />
Mose bekommt einen Auftrag von Gott: Er beruft ihn zum<br />
Führer der Israeliten, um mit ihnen in das verheißene Land zu<br />
ziehen. In der Bibel finden wir viele Berufungsgeschichten. Sie<br />
berichten davon, dass Gott Menschen eine besondere Aufgabe<br />
59
überträgt. In Notzeiten, wenn sich Missstände breit machen,<br />
beruft Gott Prophetinnen und Propheten und gibt ihnen die<br />
Vollmacht, in seinem Namen zu handeln und zu sprechen. Nun<br />
erhält Mose den Ruf zum Propheten.<br />
Gott ist ein hartnäckiger Rufer. Vom zukünftigen Propheten<br />
Samuel wird berichtet, dass Gott in dreimal ruft, bis Samuels<br />
Lehrer begriffen hatte, dass Gott im Spiel ist. (1 Sam 3).<br />
Samuel, Mose hören hin, lauschen der leisen Stimme, die sich<br />
in ihnen bemerkbar macht. Gottes Ruf ist kein Ton, den jemand<br />
Nebenstehender hören würde. Aber dennoch ist er so deutlich,<br />
dass verständlich wird, was Gott will.<br />
In unserer Sprache besteht ein Zusammenhang zwischen<br />
Berufung und Beruf. Manche haben das besondere Glück, dass<br />
sie ihren Beruf wirklich als Berufung empfinden. Sie sind genau<br />
an der richtigen Stelle, an der sie ihre Fähigkeiten optimal<br />
einsetzen und ihre Interessen verwirklichen können. Das muss<br />
nicht nur die Berufung zur Ordensschwester oder zur<br />
Pastoralreferentin sein. Auch zur Ärztin oder zur<br />
Krankenschwester, zur Mutter oder zur Wissenschaftlerin<br />
können Frauen berufen sein. Ob wir es innere Stimme,<br />
Bauchgefühl oder Seele nennen: Wir können spüren, ob eine<br />
Tätigkeit <strong>für</strong> uns wirklich Berufung ist. Und die Menschen,<br />
spüren es auch, ob jemand seinen Beruf mit innerer<br />
Überzeugung ausübt oder als notwendigen Broterwerb.<br />
Wie oder wodurch spricht Gott zu Ihnen?<br />
Wozu fühlen Sie sich von ihm berufen?<br />
60
25. November<br />
Gott akzeptiert unsere Widerstände<br />
Bewusster Anfang:<br />
Mit einem Anfangsgebet und/oder einer Übung zum Stillwerden<br />
setzen Sie einen bewussten Anfang.<br />
Mose antwortete: Was aber, wenn sie mir nicht glauben und<br />
nicht auf mich hören, sondern sagen: Jahwe ist dir nicht<br />
erschienen (Ex 4,1)<br />
Doch Mose sagte zum Herrn: Aber bitte, Herr, ich bin keiner,<br />
der gut reden kann, weder gestern noch vorgestern, noch<br />
seitdem du mit deinem Knecht sprichst. Mein Mund und meine<br />
Zunge sind nämlich schwerfällig. (Ex 4,10)<br />
Doch Mose antwortete: Aber bitte, Herr, schick doch einen<br />
andern! (Ex 4,13)<br />
61
Statt ehr<strong>für</strong>chtig Gottes Auftrag anzunehmen, reagiert Mose<br />
verständlich, wenn er die große Aufgabe von sich abzuwenden<br />
versucht. Er findet Ausflüchte, er fühlt sich seiner Berufung<br />
nicht gewachsen. Und Gott nimmt Mose ernst. Er würgt ihn<br />
nicht einfach ab, sondern hört sich dessen Bedenken und<br />
Vorbehalte an.<br />
Als erstes Argument gegen seine Eignung führt Mose an, nicht<br />
glaubwürdig zu sein. Voll Selbstzweifel ist er nicht fähig, sich<br />
seiner Aufgabe zu stellen. Dann bringt er als zweiten Grund<br />
seine Sprachbehinderung vor. Er geht von der Vorstellung aus,<br />
jemand müsse perfekt und ohne Fehler sein, damit Gott ihn<br />
einer Berufung <strong>für</strong> würdig hält. Letztlich ist ihm seine Sendung<br />
eine Nummer zu groß, wenn er bittet, Gott möge sich jemand<br />
anderen suchen. Mangel an Vertrauen in sich selbst und die<br />
eigenen Fähigkeiten, Angst vor einer großen Aufgabe und<br />
Misstrauen gegenüber diesem Gott erfüllen Mose. Dazu passt<br />
das Bild des Dornstrauches. Es steht <strong>für</strong> Nutzlosigkeit,<br />
Unfruchtbarkeit, Widerständigkeit. Gott hat sich gerade so ein<br />
Gestrüpp ausgesucht, um darin Mose zu begegnen. Gott<br />
brachte den Dornstrauch zum Leuchten, ohne ihn zu<br />
verbrennen.<br />
Zur Adventszeit gehört das Lied „Maria durch ein Dornwald<br />
ging, der hat in sieb’n Jahr kein Laub getragen“. Als die<br />
schwangere Maria den unfreundlichen Ort durchschreitet, lässt<br />
die Gegenwart Gottes die Dornen Rosen tragen.<br />
Gott nimmt unsere Widerstände, unsere Ängste ernst, aber er<br />
will sie auch verwandeln, so wie sich die Dornen auf dem Bild<br />
schon durch die grüne Blättchen verändern.<br />
Stellen Sie sich vor, Sie wären ein Dornstrauch: Wie sehen Sie<br />
aus? Haben Sie Dornen, Blätter, Rosen?<br />
Kennen Sie Ihre Stacheln, die Sie Gott gegenüber ausfahren?<br />
Wohin möchten Sie Ihre Dornen verwandeln? Bitten Sie Gott<br />
darum!<br />
62
26. November<br />
Gott gibt sein Wort<br />
Bewusster Anfang:<br />
Mit einem Anfangsgebet und/oder einer Übung zum Stillwerden<br />
setzen Sie einen bewussten Anfang.<br />
Mose antwortete: Was aber, wenn sie mir nicht glauben und<br />
nicht auf mich hören, sondern sagen: Jahwe ist dir nicht<br />
erschienen? Der Herr entgegnete ihm: Was hast du da in der<br />
Hand? Er antwortete: Einen Stab. Da sagte der Herr: Wirf ihn<br />
auf die Erde! Mose warf ihn auf die Erde. Da wurde der Stab zu<br />
einer Schlange, und Mose wich vor ihr zurück. Der Herr aber<br />
sprach zu Mose: Streck deine Hand aus, und fasse sie am<br />
Schwanz! Er streckte seine Hand aus und packte sie. Da wurde<br />
sie in seiner Hand wieder zu einem Stab. Doch Mose sagte zum<br />
Herrn: Aber bitte, Herr, ich bin keiner, der gut reden kann,<br />
weder gestern noch vorgestern, noch seitdem du mit deinem<br />
Knecht sprichst. Mein Mund und meine Zunge sind nämlich<br />
schwerfällig. Der Herr entgegnete ihm: Wer hat dem Menschen<br />
den Mund gegeben, und wer macht taub oder stumm, sehend<br />
oder blind? Doch wohl ich, der Herr! Geh also! Ich bin mit<br />
63
deinem Mund und weise dich an, was du reden sollst. Doch<br />
Mose antwortete: Aber bitte, Herr, schick doch einen andern!<br />
Da entbrannte der Zorn des Herrn über Mose, und er sprach:<br />
Hast du nicht noch einen Bruder, den Leviten Aaron? Ich weiß,<br />
er kann reden; außerdem bricht er gerade auf und wird dir<br />
begegnen. Wenn er dich sieht, wird er sich von Herzen freuen.<br />
Sprich mit ihm, und leg ihm die Worte in den Mund! Ich aber<br />
werde mit deinem und seinem Mund sein, ich werde euch<br />
anweisen, was ihr tun sollt, und er wird <strong>für</strong> dich zum Volk<br />
reden. Er wird <strong>für</strong> dich der Mund sein, und du wirst <strong>für</strong> ihn Gott<br />
sein. Diesen Stab nimm in deine Hand! Mit ihm wirst du die<br />
Zeichen vollbringen. (Ex 4,1-4.10-17)<br />
Gott wird hier mit sehr menschlichen Zügen dargestellt. Das<br />
Geplänkel zwischen ihm und Mose geht hin und her. Immer<br />
wieder hat Mose etwas einzuwenden, um seinen Auftrag doch<br />
noch los zu werden. Gott lässt nicht locker. Schließlich reißt ihm<br />
doch der Geduldsfaden, als Mose gänzlich im Selbstzweifel<br />
versinkt, und er antwortet dem Mose ein letztes Mal und<br />
wiederholt seinen Auftrag.<br />
Dass dabei nicht das Bild eines despotischen Herrschers<br />
entsteht, der einfach über Menschen bestimmt, liegt daran,<br />
dass er Moses Widerspruch nicht nur ernst nimmt und darauf<br />
reagiert, wie wir gestern gesehen haben. Vielmehr bietet er ihm<br />
jedes Mal ein Zeichen an, an dem er erkennen kann, dass Gott<br />
auf seiner Seite steht und ihn bei seinem Tun unterstützen<br />
wird. Die Geschichte mit dem Hirtenstab zeigt aber auch, dass<br />
Mose selbst Hand anlegen muss. Der Hirtenstab ist ein<br />
Multifunktionswerkzeug: Schafe mit dem Haken heranholen,<br />
Tiere einer Herde trennen oder zusammenhalten, sich gegen<br />
Mensch und Tier verteidigen, unbekanntes Gelände erkunden,<br />
eine Stütze. Dieses sinnvolle Instrument wird zu einer Schlange,<br />
als es zu Boden geworfen wird. Beim Zupacken wird es wieder<br />
zum Stab.<br />
Eine Deutung dieses Zeichens ist <strong>für</strong> mich einleuchtend: Wenn<br />
ich meine Möglichkeiten und Fähigkeiten, versinnbildlicht im<br />
64
Stab, nicht achte und wegwerfe, dann haben sie keinen Nutzen.<br />
Tu ich in meiner Angst so, als hielte ich das, was ich in der<br />
Hand habe, <strong>für</strong> wertlos, dann wird das, worauf ich mich<br />
eigentlich stützen könnte, zur Bedrohung, weil ich vor mir selbst<br />
flüchte. Ich muss lernen, mich zu akzeptieren, mit meinen<br />
Befähigungen und meinen Begrenzungen, mit meiner Angst<br />
und meinem Vertrauen, mit meinem Zweifel und meinem<br />
Glauben an mich und an Gott. Wer in die Hand nimmt, was ihr<br />
Angst macht, die wird erfahren, was wirklich an Möglichkeiten<br />
in ihr steckt. Denn Gott gibt uns sein Wort. Dem Mose<br />
verspricht er, ihm das richtige Wort in den Mund zu legen. Uns<br />
ist sein Wort in den Schriften der Bibel gegeben, aus dem wir<br />
Hoffnung, Trost und Kraft ziehen können. Gott lässt uns nicht<br />
allein. Wenn er uns sendet, dann nicht ohne seine<br />
Unterstützung durch sein Wort.<br />
Für welche Aufgabe bitten Sie um Gottes Unterstützung und<br />
Stärkung?<br />
Nehmen Sie sich heute ein wenig Zeit, um in der Bibel zu<br />
blättern. Welches Wort Gottes ist Ihnen eine Stütze?<br />
65
27. November<br />
Gott offenbart sich<br />
Bewusster Anfang:<br />
Mit einem Anfangsgebet und/oder einer Übung zum Stillwerden<br />
setzen Sie einen bewussten Anfang.<br />
Da sagte Mose zu Gott: Gut, ich werde also zu den Israeliten<br />
kommen und ihnen sagen: Der Gott eurer Väter hat mich zu<br />
euch gesandt. Da werden sie mich fragen: Wie heißt er? Was<br />
soll ich ihnen darauf sagen? Da antwortete Gott dem Mose: Ich<br />
bin der "Ich-bin-da". Und er fuhr fort: So sollst du zu den<br />
Israeliten sagen: Der "Ich-bin-da" hat mich zu euch gesandt.<br />
Weiter sprach Gott zu Mose: So sag zu den Israeliten: Jahwe,<br />
der Gott eurer Väter, der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und<br />
der Gott Jakobs, hat mich zu euch gesandt. Das ist mein Name<br />
<strong>für</strong> immer, und so wird man mich nennen in allen<br />
Generationen. (Ex 3,13-15)<br />
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Bei den Nomadenvölkern mit ihrem Mehrgenerationenhaushalt<br />
ist der Älteste das Oberhaupt, dessen Rechte und Pflichten<br />
dann auf den ältesten Sohn übergehen und so fort. Die<br />
Stammesgeschichte hatte große Bedeutung. In diesem Umfeld<br />
wurde Gott als ‚Gott der Väter’ bezeichnet, da von ihnen der<br />
Glaube weitergegeben wurde an die nächsten Generationen.<br />
Und so stellt sich Gott dem Mose zunächst vor als Gott der<br />
Väter Abraham, Isaak und Jakob, der Urväter des Glaubens.<br />
Damit verbinden sich viele Geschichten über Gott, die Mose<br />
sehr wohl kennt aus seiner Familie. Aber Mose fragt nach, er<br />
will den Namen Gottes kennen. Der Name sagt etwas über<br />
seinen Träger aus. Wenn ich von jemanden den Namen kenne,<br />
dann wird er greifbarer, begreifbarer. Gott entspricht dem<br />
Wunsch des Mose und offenbart seinen Namen und damit sein<br />
eigentliches Wesen: „Ich-bin-da.“ Bisher wusste Mose eher<br />
theoretisch von Gott, jetzt hat er ihn erfahren im brennenden<br />
Dornstrauch: als Licht, als Wärme, als Energie. Gott wird <strong>für</strong> ihn<br />
sinnlich spürbar und erlebbar und so kann er dem Namen<br />
Gottes trauen: Ich bin da!<br />
In jeder Situation, an jedem Ort, im Leid und in der Freude, in<br />
der Sorge und in der Ausgelassenheit, im Mangel und in der<br />
Fülle sagt Gott zu jeder von uns: Ich bin da!<br />
Betrachten Sie das Tuch auf dem Bild, lassen Sie die Farben auf<br />
sich wirken.<br />
Lassen Sie die Zusage Gottes, seinen Namen in sich einsickern:<br />
Ich bin da!<br />
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28. November<br />
Abschluss<br />
Bewusster Anfang:<br />
Mit einem Anfangsgebet und/oder einer Übung zum Stillwerden<br />
setzen Sie einen bewussten Anfang.<br />
Das obige Bild von Ruth Lynen heißt „Lebenstanz“. Für mich<br />
passt dazu ein Vergleich der französische Mystikerin Madeleine<br />
Delbrel: Das Leben ist ein Tanz, das in den Armen Gottes<br />
getanzt sein will. Mit der Facette Gott als Tänzer möchte ich die<br />
Impulse der diesjährigen <strong>Internetexerzitien</strong> abschließen.<br />
Am Ende dieser vier Wochen ist es sinnvoll, noch einmal alle<br />
Stationen durchzugehen und anzuschauen. Es geht darum, zu<br />
sehen und noch einmal in Erinnerung zu rufen, was ich <strong>für</strong> mich<br />
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entdeckt, erkannt und getan habe. Wenn Sie ein Tagebuch<br />
geführt haben, blättern Sie doch zurück und lesen noch einmal<br />
nach.<br />
Wie sehen Sie sich nach diesen vier Wochen?<br />
Welche Aspekte sind zu Ihrem persönlichen Gottesbild<br />
dazugekommen, welche haben sich verändert?<br />
Wo haben sich Ihre Erwartungen an die Exerzitien erfüllt, wo<br />
nicht?<br />
Gibt es einen Gedanken, der Ihnen so wichtig geworden ist,<br />
dass er Sie noch eine Weile, zumindest aber in den kommenden<br />
Adventstagen begleiten wird? Halten Sie diesen Aspekt zum<br />
Abschluss in einer besonderen Farbe und Schrift in Ihrem<br />
(Internet-)Tagebuch oder auf einem Blatt Papier fest und<br />
beschließen Sie mit ihm diese Exerzitien im Alltag.<br />
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