Verteidiger des Judentums
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Ricarda Haase<br />
<strong>Verteidiger</strong> <strong>des</strong> <strong>Judentums</strong><br />
Der »Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens«<br />
Der »Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens« war eine bedeutende<br />
Organisation der deutschen Juden im Kaiserreich, in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus.<br />
1893 in Berlin gegründet, 1938 verboten, zählte er im Jahr 1927 etwa 70.000<br />
Einzelmitglieder, zusammengeschlossen in Ortsgruppen und Lan<strong>des</strong>verbänden. Trotz <strong>des</strong><br />
Rangs in seiner Zeit ist der Verein bis heute ein Stiefkind der Forschung. Das mag daran liegen,<br />
dass Vertreter <strong>des</strong> Zionismus ihn von Beginn an zu diskreditieren versuchten, ihn als<br />
»Assimilantenverein« titulierten, seine Mitglieder als »deutsche Chauvinisten« beschimpften.<br />
Allerdings gibt es auch eine vorbehaltlosere Sicht auf den C.V., die sein tatsächliches<br />
Wirken ins Zentrum rückt. Danach hatte es sich der C.V. zur Aufgabe gemacht, die den Juden<br />
seit 1871 verfassungsrechtlich garantierten staatsbürgerlichen Rechte durchzusetzen und<br />
den in Deutschland herrschenden Antisemitismus auf dem Rechtsweg sowie mit Aufklärungsschriften<br />
zu bekämpfen.<br />
In<strong>des</strong> stellt sich die Frage, ob sich der Verein neben dieser Abwehrtätigkeit nicht noch<br />
einem weit höheren Anspruch verpflichtet sah. Der vorliegende Beitrag vertritt die These,<br />
dass der C.V. von Anfang an eine in die jüdische Gemeinschaft hinein gerichtete Aufgabe<br />
verfolgte. Er wollte die deutschen Juden stärker zusammenführen und dabei gerade auch<br />
»indifferente« Juden, die dazu tendierten, sich aus Karrieregründen taufen zu lassen, wieder<br />
für die jüdische Gemeinschaft gewinnen. Nach außen wollte der C.V. jüdische Interessen gegenüber<br />
dem deutschen Staat mit einer Stimme zur Geltung bringen. Vor allem strebte er die<br />
politische und gesellschaftliche Gleichbewertung der jüdischen Religion mit Protestantismus<br />
und Katholizismus an und zwar als Religion mit universaler Botschaft. Zu diesem<br />
Zweck engagierte sich der C.V. auch für die Etablierung einer jüdischen Gesamtvertretung.<br />
Als »Verband der deutschen Juden« (VdJ) war diese dann 1904 schon installiert und untermauerte<br />
ihrerseits den Anspruch auf Gleichbewertung der jüdischen Religion, besonders öffentlichkeitswirksam<br />
mit der Herausgabe <strong>des</strong> fünfbändigen Werks »Die Lehren <strong>des</strong> <strong>Judentums</strong><br />
aus den Quellen«. Der vorliegende Beitrag konzentriert sich auf das Selbstverständnis<br />
<strong>des</strong> C.V. im Kaiserreich und seine Beweggründe zur Schaffung <strong>des</strong> VdJ.<br />
DIE GRÜNDUNGSZEIT<br />
Die Verfassung <strong>des</strong> Deutschen Reiches von 1871 schrieb fest, dass das religiöse Bekenntnis<br />
die Wahrnehmung der bürgerlichen Rechte nicht einschränken durfte und auch die<br />
Bekleidung öffentlicher Ämter von diesem unabhängig sein musste. Die Gleichberechtigung<br />
wurde für Juden jedoch wenige Jahre später schon wieder in Frage gestellt. Die sogenannte<br />
»Antisemiten-Petition«, getragen von rund 250.000 Unterzeichnern, darunter zahlreiche<br />
Honoratioren, richtete sich darauf, die verfassungsrechtliche Gleichstellung von
130 Ricarda Haase<br />
Juden quasi wieder aufzuheben. Juden sollten von Regierungsämtern ausgeschlossen und<br />
ihr Anteil an Richter- und Lehrerposten beschränkt werden. Dieser Angriff auf die verfassungsrechtlichen<br />
Grundlagen <strong>des</strong> Deutschen Reichs blieb jedoch nicht unerwidert. Bekenntnisfreiheit,<br />
Gleichheit und Toleranz sowie eine liberale Gesellschaft forderte eine Gegenpetition,<br />
unterstützt von dem Althistoriker Theodor Mommsen und dem Soziologen Max<br />
Weber. Hatte die »Antisemiten-Petition« auch keine unmittelbaren rechtlichen Konsequenzen,<br />
so ermutigte die große Zahl ihrer Unterstützer doch Judenfeinde, antisemitische Parteien<br />
zu gründen. Bei den Reichstagswahlen 1890 und 1893 erzielten diese beträchtliche Wahlerfolge.<br />
Zudem schränkte die öffentliche Verwaltung, gerade auch in Preußen, die Besetzung<br />
von Ämtern mit Juden unter dem Einfluss der antisemitischen Bewegung faktisch ein.<br />
Zwölf liberale Politiker gründeten 1890 in Berlin den »Verein zur Abwehr <strong>des</strong> Antisemitismus«<br />
mit dem Ziel, dem herrschenden Antisemitismus entgegenzutreten. Schon nach<br />
einem Jahr hatte der Verein 12.000 Mitglieder, darunter vor allem liberale Protestanten, aber<br />
auch zahlreiche Juden. Eine Parallelorganisation unter der Leitung von Arthur von Suttner<br />
entstand 1891 in Wien. In ihr engagierte sich auch <strong>des</strong>sen Ehefrau, Bertha von Suttner, die<br />
spätere Friedensnobelpreisträgerin. Sie verfasste zahlreiche Artikel und Manifeste, was ihr<br />
bei den Antisemiten bald den Beinamen »Judenbertha« einbrachte. Die jüdischen Mitglieder<br />
beider Vereine hielten sich im Hintergrund. Möglicherweise waren sie selbst davon überzeugt,<br />
es sei besser, nicht öffentlich für die eigene Sache zu kämpfen, aber es entsprach in<br />
jedem Fall zumeist dem Interesse der nichtjüdischen Mitglieder. Die Abwehrvereine verstanden<br />
sich, wie Baron Suttner selbst gegenüber der zionistischen Zeitschrift »Die Welt«<br />
1897 erklärte, keinesfalls als »Kampf- und Schutzverein für das Judenthum«, sie wollten<br />
vielmehr als »Vereinigung von Menschen (gelten), die gegen jeden Angriff auf das Menschenrecht<br />
auftreten«. Ihr Ziel war eine von der Religion losgelöste ethische Kultur, wie sie<br />
seit den 1860er Jahren von Amerika kommend auch in Deutschland zunehmend Fuß fasste;<br />
Juden sollten, so Suttner, als Mitstreiter in diesen Kampf eintreten. Ohne schulischen Religionsunterricht,<br />
ausschließlich durch konfessionsneutrale Moralerziehung wollte diese Bewegung<br />
eine ethische Kultur fördern und zum moralischen Fortschritt beitragen. Seit 1893,<br />
dem Gründungsjahr <strong>des</strong> C.V., gab diese Bewegung unter dem Titel »Ethische Kultur« eine<br />
eigene Zeitschrift heraus, für die auch Bertha von Suttner Artikel verfasste. Suttners Ziel<br />
war, wie sie 1897 unmissverständlich in der »Welt« kundtat, »dass alle vernünftigen Menschen<br />
sich dem höheren Typus ›Europäer‹, ›Culturmensch‹ assimilieren, der jetzt im Werden<br />
begriffen ist und der über die nationalen, religiösen, socialen Eigendünkeleien und Fanatismen<br />
hinaus geht«. Zwar fühlte sich die Mehrheit der Mitglieder in den Abwehrvereinen<br />
wohl nicht dieser ethischen Bewegung zugehörig, aber als Protestanten verstanden sie sich<br />
ebenso wenig als <strong>Verteidiger</strong> <strong>des</strong> <strong>Judentums</strong>, sondern gleichfalls ausschließlich als <strong>Verteidiger</strong><br />
der Menschenrechte. Wie wenig auch sie im Einzelfall vom Judentum hielten, verraten<br />
Äußerungen wie die, dass Juden doch selbst einen Beitrag zu ihrer Gleichberechtigung leisten<br />
sollten, indem sie ihre »Eigenart« ablegen oder sich taufen lassen.<br />
Im Jahr 1893 fand dann die öffentliche Zurückhaltung der deutschen Juden im Abwehrkampf<br />
gegen den Antisemitismus mit der Gründung <strong>des</strong> C.V. ein Ende. Ihr gingen zwei in<br />
Berlin erschienene Streitschriften voraus. Die erste, anonyme Schrift trug den Titel »Schutzjude<br />
oder Staatsbürger«. Als Verfasser wurde bald der Übersetzer und spätere Begründer <strong>des</strong><br />
Berliner Schillertheaters Raphael Löwenfeld identifiziert. Die zweite Schrift, erschienen im<br />
Kommissionsverlag der Centralbuchhandlung S. Fischer unter dem Namen »F. Simon«, trug<br />
den Titel »›Wehrt Euch!!‹ Ein Mahnwort an die Juden«. Löwenfeld, der wie die Suttners der<br />
ethischen Bewegung angehörte, forderte vehement, die modernen Juden sollten sich selbst
<strong>Verteidiger</strong> <strong>des</strong> <strong>Judentums</strong><br />
verteidigen und sich öffentlich von der jüdischen Orthodoxie lossagen. Diese habe, wenn sie<br />
Bittgesuche an den Monarchen stelle und um Schutz vor den Antisemiten flehe, statt selbst<br />
um ihr Recht zu kämpfen, ihre neue Rolle im Staat offensichtlich noch nicht verstanden. Die<br />
modernen Juden seien aufgefordert, sich endlich eine Repräsentanz schaffen, die dem Verständnis<br />
der großen Mehrzahl der jüdischen Deutsche entspreche, eine Repräsentanz, die<br />
nicht religiöse Fragen thematisiere, sondern das Verhältnis zum Staat und zu den Mitbürgern.<br />
»Wir müssen unsern Feinden beweisen, dass die Mehrheit der Juden Deutschlands national<br />
denkt, und dass sie an Vaterlandsliebe nicht zurücksteht hinter ihren protestantischen<br />
und katholischen Mitbürgern.« Löwenfeld ließ seine Schrift mit sechs Leitsätzen enden; hinter<br />
fünf von ihnen versammelte sich der C.V.: »1. Wir sind nicht deutsche Juden, sondern<br />
deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens, 2. Wir brauchen und fordern als Staatsbürger keinen<br />
anderen Schutz als den der verfassungsgemäßen Rechte, 3. Wir gehören als Juden keiner<br />
politischen Partei an. Die politische Anschauung ist, wie die religiöse, die Sache <strong>des</strong> Einzelnen,<br />
4. Wir stehen fest auf dem Boden der deutschen Nationalität. Wir haben mit den<br />
Juden andrer Länder keine andere Gemeinschaft, als die Katholiken und Protestanten<br />
Deutschlands mit den Katholiken und Protestanten anderer Länder, 5. Wir haben keine andere<br />
Moral, als unsere andersgläubigen Mitbürger.« Löwenfelds Angriff auf die Orthodoxie<br />
folgte der C.V. genauso wenig wie der von ihm geforderten demonstrativen Vaterlandsliebe.<br />
Für die Programmatik <strong>des</strong> C.V. war die Schrift von F. Simon von min<strong>des</strong>tens ebenso großer<br />
Bedeutung. Vorangestellt war ihr ein offener Brief Bertha von Suttners, in dem sie von<br />
einem »antisemitischen Krieg« sprach, den es abzuwehren gelte, <strong>des</strong>sen »Schläge« nicht<br />
länger »unparirt« bleiben dürften. F. Simon selbst appellierte an das Ehrgefühl der Juden. Sie<br />
sollten sich mit der jüdischen Geschichte vertraut machen und sich so selbst »mit geistiger<br />
Wehr und Rüstung« ausstatten. »Nothwehr« sei jetzt »eine politische und sittliche Nothwendigkeit«,<br />
eine Notwendigkeit, »der sich kein Ehrenmann entziehen« dürfe. »Vornehmes<br />
Ignorieren«, wie es bisher praktiziert worden sei, sei dagegen »eine unverzeihliche Schwäche«,<br />
die die Antisemiten nur wieder für sich auszunützen wüssten. »Nicht zur Angeberei<br />
will ich anreizen, sondern nur auf eine Pflicht gegen sich selbst und das Gemeinwesen hinweisen,<br />
wenn ich jedem Juden den eindringlichen Rath gebe, unbedingt den Rechtsweg zu<br />
beschreiten, wenn antisemitische Verleumdung sich an seine Fersen heftet.« Im Gegensatz<br />
zu Löwenfeld findet der Autor auch anerkennende Worte über jüdische Lehren wie die<br />
Nächstenliebe oder die Fürsorge Moses’ für die »Armen und Enterbten«. Zuletzt fordert er<br />
noch, die Juden sollten von ihren Feinden in Sachen Propaganda lernen. Sie sollten sich in<br />
Vereinen zusammenschließen und gemeinsam die Angriffe durch Wort und Schrift zurückweisen.<br />
F. Simon endet mit der Feststellung: »Wir wollen Deutsche sein und Juden bleiben,<br />
<strong>des</strong> neuen Reiches treue Bürger, <strong>des</strong> alten Gottes ehrfürchtige Bekenner.« Der kämpferische<br />
Tonfall dieser Schrift sowie die starke Betonung <strong>des</strong> Ehrgefühls finden sich auch in zahlreichen<br />
Veröffentlichungen und Vorträgen <strong>des</strong> Centralvereins. Die Festschrift <strong>des</strong> Vereins zum<br />
25-jährigen Jubiläum 1918 etwa trägt den Titel: »Ein Vierteljahrhundert im Kampf um das<br />
Recht und die Zukunft der deutschen Juden«. In ihr wird »die Behauptung <strong>des</strong> Rechts« als<br />
»sittliche Pflicht« bezeichnet.<br />
Als wichtige Quelle für den »kämpferischen Ton« zahlreicher Verlautbarungen der Abwehrvereine<br />
und <strong>des</strong> C.V. muss ein Rechtskonzept gelten, das in dieser Zeit für Furore sorgte.<br />
»Der Kampf ums Recht« (1872) ist der Titel der populärsten Rechtsschrift aller Zeiten.<br />
Sie erzielte zahlreiche Auflagen und wurde in über zwanzig Sprachen übersetzt. 1925 erschien<br />
sie auch im C.V.-eigenen Philo-Verlag. Ihr Autor ist der heute fast vergessene, damals<br />
aber über die Lan<strong>des</strong>grenzen hinaus berühmte und geschätzte Göttinger Jurist und Rechts-<br />
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132 Ricarda Haase<br />
philosoph Rudolf von Jhering (1818-1892). Doch weshalb war Jherings Konzept gerade für<br />
den C.V. so bedeutsam? Jhering vertrat die Auffassung, das Recht sei von den geschichtlichen<br />
Bedingungen der Völker und Zeiten abhängig. Der in dieser Aussage implizierten Relativität<br />
<strong>des</strong> positiven Rechts setzte er jedoch klare Grenzen, indem er unverrückbare Gerechtigkeitsprinzipien<br />
wie die Menschenwürde ansetzte, die er ihrerseits theistisch<br />
verankerte. Der »Zweck <strong>des</strong> Rechtes« ist nach Jhering, sich der Gerechtigkeit anzunähern.<br />
Dies ist dem Menschen möglich, weil er über ein »Rechtsgefühl«, einen Sinn für Gerechtigkeit<br />
verfügt, den Jehring auch als »Vernunft« bezeichnet. »Die vollen Ideen <strong>des</strong> Rechts«<br />
brechen sich, so Jhering, nicht aus sich heraus Bahn, sie entspringen vielmehr Überzeugungen,<br />
die auf dem Weg ihrer Überführung in Gesetze einen Kampf gegen historische Interessen<br />
zu kämpfen haben.<br />
Für Jhering ist »Ehre« sein – zeitgebundener – Begriff für Menschenwürde, »der rechtliche<br />
oder staatliche Wert der Person«. Auf sie hat der Mensch ein Anrecht. Zugleich ist jeder<br />
Mensch aber auch dazu verpflichtet, seine Menschenwürde gegenüber dem Staat zu verteidigen.<br />
Wird verletzte Ehre nicht vor Gericht eingeklagt, entstehe die Gefahr, dass der sie garantierende<br />
Rechtssatz früher oder später wieder verloren gehe. Jhering argumentiert: »Das<br />
Preisgeben eines verletzten Rechtes ist ein Akt der Feigheit, der der Person zur Unehre und<br />
dem Gemeinwesen zum größten Schaden gereicht, der Kampf für das Recht ist ein Akt ethischer<br />
Selbsterhaltung, eine Pflicht gegen sich selbst und die Gemeinschaft.« Winfried Speitkamp<br />
hat in seiner »Geschichte der Ehre« (2010) darauf verwiesen, dass im Deutschen<br />
Reich rund 60.000 Beleidigungsklagen vor den Gerichten verhandelt wurden. Dies dürfte<br />
nicht zuletzt auch auf ein Missverständnis von Jherings Ausführungen zurückzuführen sein.<br />
Für den C.V. stellte Jehrings Konzept allerdings eine wichtige Grundlage seiner Aktivitäten<br />
dar. Juden, die ihre verletzte Ehre vor Gericht einklagten, konnten sich im Sinne Jherings als<br />
<strong>Verteidiger</strong> <strong>des</strong> Vaterlan<strong>des</strong>, als <strong>Verteidiger</strong> seines Status’ als Rechtsstaat begreifen.<br />
DIE ARBEIT DES CENTRALVEREINS<br />
Die Juristen Eugen Fuchs (1856-1923) und Maximilian Horwitz (1855-1917) führten den<br />
C.V. zusammen über zwanzig Jahre. Für die Programmatik <strong>des</strong> Vereins zeichnete vor allem<br />
Fuchs verantwortlich, Horwitz war als erster Vorsitzender für die Organisation und die Mitgliederwerbung<br />
zuständig. Zu Beginn wurde der C.V. von den deutschen Juden mit deutlicher<br />
Zurückhaltung aufgenommen. Orthodoxen missfiel, dass die Führer <strong>des</strong> C.V. in religiöser<br />
Hinsicht eher liberal oder wie Raphael Löwenfeld sogar nur einer neutralen Ethik<br />
verpflichtet, also »indifferent« waren. Andere fürchteten, der Verein trage zu einer »unschicklichen<br />
Absonderung« bei, die dem Vorwurf der Antisemiten zuarbeite, Juden bildeten<br />
»ein Volk im Volk«. Der aufkommende Zionismus wiederum wollte die Juden tatsächlich als<br />
Nation verstanden wissen, strebte <strong>des</strong>halb auch einen eigenen Staat an. Doch trotz der vielfältigen<br />
Gegnerschaft gewann der Verein vor allem bei Bildungsbürgern und der Mittelschicht<br />
schnell Zuspruch. Das selbst gesetzte Ziel, alle deutschen Juden zu vereinen, konnte<br />
er freilich nie verwirklichen.<br />
In der Programmatik <strong>des</strong> C.V. spiegelt sich deutlich das Rechtskonzept Jehrings: »Die Behauptung<br />
<strong>des</strong> Rechts ist eine Pflicht unserer moralischen Selbsterhaltung, eine Pflicht gegen<br />
die Glaubensgemeinschaft. Der Kampf ist sittliche Pflicht für die Minderheit, deren Recht<br />
verkümmert wird. Den Kampf um unser Recht sollen wir führen, nicht bloß um unserer Kinder,<br />
unserer Ehre, unserer Glaubensgemeinschaft wegen, sondern auch um <strong>des</strong> Vaterlan<strong>des</strong>
<strong>Verteidiger</strong> <strong>des</strong> <strong>Judentums</strong><br />
und der Gerechtigkeit wegen, weil der Kampf fürs Recht und ums Recht sittliche Pflicht ist,<br />
und die Verwirklichung <strong>des</strong> Rechts und der Gerechtigkeit im Interesse <strong>des</strong> Staates liegt. Es<br />
wäre sinnlos, den gegenwärtigen Zustand der Rechtsverkümmerung zu verteidigen, um Reibungsflächen<br />
zu ersparen«. Das spezifische Selbstverständnis <strong>des</strong> C.V. macht aber aus, dass<br />
sich sein »Kampf ums Recht der Juden« nicht auf die Einzelperson bezieht, sondern vielmehr<br />
als Kampf um das Recht <strong>des</strong> <strong>Judentums</strong> in Gesellschaft und Staat ausgelegt ist. Nur<br />
wenn Recht und Interesse <strong>des</strong> <strong>Judentums</strong> selbst in Frage standen, wollte der C.V. rechtlich<br />
für den einzelnen Juden eintreten. Er nahm sich <strong>des</strong>halb nur Angriffen gegen die Religion<br />
und Beleidigungen der jüdischen Religionsgemeinschaft, ihrer Einrichtungen und Gebräuche<br />
an. Er verteidigte, anders gesagt, die Ehre der jüdischen Religion und focht damit letztlich<br />
um ihre Existenzberechtigung: »Der Vorstand hielt es für seine Pflicht, seine Stimme in<br />
allen Fällen zu erheben, in welchen (…) das Kol-Nidrei-Gebet als Beschönigung <strong>des</strong> Meineids,<br />
der Talmud als Quelle aller Verbrechen bezeichnet, die staatlich anerkannte jüdische<br />
Religionsgemeinschaft zu einer ›international verschworenen Betrügergesellschaft‹ gestempelt,<br />
die mittelalterlichen Ritualmord-Märchen als verbriefte Tatsache hingestellt werden!«<br />
Ein Vorbild für solche Prozesse gegen Religionsbeleidigung stellte der sogenannte Fenner-<br />
Prozess <strong>des</strong> Jahres 1888 dar. In diesem damals vielbeachteten Marburger Antisemitismus-<br />
Prozess hatte der jüdische Philosoph Hermann Cohen, selbst Mitglied <strong>des</strong> Abwehrvereins,<br />
ein Gutachten über die Moral <strong>des</strong> Talmuds erstellt. Er nutzte dieses, um den universellen<br />
Charakter <strong>des</strong> <strong>Judentums</strong> zu verdeutlichen. Auch der Talmud sei, so Cohen, einer universalen<br />
Ethik verpflichtet, was sich daran erweise, dass der dort geprägte Begriff <strong>des</strong> »Noachiden«<br />
die Vorstellung von der Gleichheit der Menschen gesichert habe.<br />
Bereits im Jahr 1895 konnte Eugen Fuchs befriedigt erste Erfolge der Vereinsarbeit vermelden:<br />
Der Gedanke, dass, »wer angegriffen wird, sich wehren« musste, war »allmählich<br />
Gemeingut der deutschen Juden« geworden. Zudem erwarben die Mitglieder in der Abwehrarbeit<br />
vertiefte Kenntnisse <strong>des</strong> <strong>Judentums</strong> und begannen damit, ihre Religion und Tradition<br />
wieder zu schätzen. Das neu gewonnene Selbstbewusstsein wiederum band die Juden<br />
enger zusammen und führte dazu, dass die Taufe wieder »als Ehrlosigkeit« galt. Dem C.V.<br />
gelang es auch zunehmend, sich als »neutraler Boden, Sammelbecken für Orthodoxe und Liberale<br />
und Reformjuden« zu etablieren. Extreme wie der politische Zionismus wurden nicht<br />
geduldet, vielmehr wollte man sich auf »mittlerer Linie« vereinigen. Typisch für das Selbstverständnis<br />
<strong>des</strong> C.V. ist die Haltung von Eugen Fuchs (1913): »Das Wort Assimilantentum<br />
ist ein Schlagwort geworden, das wir klären müssen. Wenn Assimilantentum heisst, die Eierschale<br />
<strong>des</strong> Ghetto abwerfen, brechen mit dem, was abgelebt und abgestorben ist, brechen<br />
mit Kaftan und Stirnlocke, so wird niemand gegen ein solches Assimilantentum etwas einzuwenden<br />
haben. Wenn Assimilantentum aber heißt, mit geheiligtem Brauch <strong>des</strong> Vaterhauses<br />
brechen, die Erscheinungen jüdischen Geistes und jüdischen Herzens, jüdischen Gemüts<br />
und jüdischen Familiensinns aufgeben, wenn es heißt, das eine preisgeben und das andere<br />
annehmen, nicht weil es das Bessere, sondern weil es das Andere ist, so wird jeder dieses Assimilantentum<br />
bis in den Grund seiner Seele verabscheuen. Wir wollen auf deutschem<br />
Boden an deutscher Kultur mitarbeiten und treu bleiben an dem, was wir aus jüdischem<br />
Hause, aus jahrhundertelanger, jahrtausendelanger jüdischer Geschichte als berechtigte Eigenart<br />
unseres Stammes mitbekommen haben.«<br />
Die von Fuchs hier angesprochene Absicht, als deutsche Juden an der deutschen Kultur<br />
mitzuwirken, stieß allerdings gerade bei gebildeten Deutschen immer wieder auf Vorbehalte.<br />
Für sie blieben die Juden, zumin<strong>des</strong>t solange sie nicht getauft waren, Fremde. Der C.V.<br />
nannte dieses Phänomen »wissenschaftlicher Antisemitismus«. Bekanntester Protagonist<br />
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134 Ricarda Haase<br />
dieser Haltung war der Historiker Heinrich von Treitschke. 1779 und 1780 hatte er sich in<br />
den angesehenen »Preußischen Jahrbüchern« abfällig über das Judentum geäußert. Treitschke<br />
bekundete, jede Nation bedürfe ihrer eigenen Kultur und dabei spiele die Religion eine<br />
gewichtige Rolle. Sei auch das Deutsche Reich in Katholiken und Protestanten getrennt, so<br />
verbinde sie doch das Christentum. Das Judentum aber sei »die Nationalreligion eines uns<br />
ursprünglich fremden Stammes« und lasse sich nicht mit der christlich geprägten Kultur<br />
»verschmelzen«.<br />
Hermann Cohen (1842-1918) reagierte auf diese Ausgrenzung mit der Schrift »Ein Bekenntnis<br />
zur Judenfrage« (1880). Das Verständnis vom Judentum, das er darin bekundet,<br />
hatte großen Einfluss auf das Selbstverständnis <strong>des</strong> C.V. Cohen betrachtet die Juden nicht als<br />
Nation, schon gar nicht als Rasse, aber er sieht sie als Nationalität oder »Stamm«. Verstünden<br />
sich die Juden als Volk, so nur <strong>des</strong>halb, weil sie eine religiöse und kulturelle Einheit mit<br />
einem anthropologischen Kern bildeten. Den Rassebegriff lehnt Cohen schon <strong>des</strong>halb ab,<br />
weil immer wieder Menschen zum Judentum übergetreten waren und gleichzeitig Juden das<br />
Volk, wenn auch meist auf Druck, verlassen hatten. Dennoch sei der Bund Gottes mit dem<br />
Volk Israels geschlossen worden, wodurch sich das Judentum von anderen Religionsgemeinschaften<br />
unterscheide. Doch trotz dieser Gebundenheit habe sich das Judentum von der<br />
Religion eines Volkes hin zu einer Religion mit einer universalen Botschaft entwickelt.<br />
Cohen sieht diese im prophetisch-messianischen Judentum, das den reinen Monotheismus<br />
verkündet hatte, der wiederum eng verknüpft sei mit dem Messianismus, den wiederum<br />
Cohen als die Herrschaft von Frieden und Gerechtigkeit in der Welt charakterisiert. Da die<br />
deutsche Aufklärung, vertreten durch Lessing, Kant, Herder, Schiller und Goethe, das »deutsche<br />
Volk« zur »Nation <strong>des</strong> Weltbürgertums« gemacht hätten und Kant die regulative Idee<br />
<strong>des</strong> »Ewigen Friedens« postuliert habe, wurde es den Juden als Vertreter <strong>des</strong> prophetischmessianischen<br />
<strong>Judentums</strong> möglich, sich mit der deutschen Kultur zu identifizieren und an<br />
ihr mitzuarbeiten. Beide Weltanschauungen, die christliche und die jüdische, seien, so<br />
Cohen, gleichermaßen in der Lage einen Beitrag zu einer Vernunftreligion der Zukunft zu<br />
leisten.<br />
Trotz Cohens eindeutigem und öffentlichkeitswirksamem Statement tauchte in Äußerungen<br />
führender deutscher Akademiker immer wieder die Aufforderung an die deutschen<br />
Juden auf, sich endlich vollständig zu »assimilieren«, »rückhaltlos, restlos aufzugehen«,<br />
womit, wie der C.V. erkannt hatte, nichts anderes gemeint war, als dass die Juden endlich<br />
zum Christentum konvertieren sollten. Noch 1918 setzt sich Fuchs in einem Aufsatz, veröffentlicht<br />
in der C.V.-Zeitung »Im deutschen Reich«, gegen dieses Ansinnen zur Wehr. Den<br />
Vorwurf, die Sympathie der deutschen Juden für Alfred Dreyfus während der Dreyfus-Affäre<br />
sei wohl nicht nur rein menschlich gewesen, kontert Fuchs mit dem Hinweis, es könne<br />
ja wohl nicht verboten sein, sich als Juden auch über Lan<strong>des</strong>grenzen hinweg verbunden zu<br />
fühlen. Auch das Zusammengehörigkeitsgefühl der Katholiken habe nicht verhindert, dass<br />
diese in ihrer Umwelt aufgingen. Selbstbewusst schreibt Fuchs: »Wir deutschen Juden<br />
haben gerade soviel Veranlassung, uns mit unseren christlichen Mitbürgern zu assimilieren,<br />
wie diese mit uns. Wir wollen beide aufgehen in einen immer höheren Menschentypus.« Von<br />
den Deutschen ausgeschlossen zu werden, hätten wohl eher die Antisemiten verdient als die<br />
von diesen angefeindeten Juden. Sie zur Taufe zwingen zu wollen, nennt Fuchs ebenfalls in<br />
Rückwendung <strong>des</strong> Arguments »eine Versündigung an der Universalität deutschen Geistes<br />
und am Christentum«. Wie vor ihm schon Cohen macht er so klar, dass er unter deutschem<br />
Geist und deutscher Kultur eine Weltanschauung versteht, die von jedwedem nationalen<br />
Chauvinismus deutlich unterschieden ist. Die kleine Zahl deutschnational gesinnter Juden
<strong>Verteidiger</strong> <strong>des</strong> <strong>Judentums</strong><br />
trennte sich <strong>des</strong>halb auch enttäuscht vom C.V. und schloss sich 1921 im »Verband nationaldeutscher<br />
Juden« zusammen.<br />
Eugen Fuchs hielt in seinem viel beachteten Aufsatz »Glaube und Heimat« (1917) das damals<br />
wohl von der Mehrzahl der deutschen Juden geteilte Verständnis <strong>des</strong> <strong>Judentums</strong> in Abgrenzung<br />
vom erstarkenden Zionismus fest: Die »Ewigkeitswerte <strong>des</strong> <strong>Judentums</strong> (liegen)<br />
nicht in Nation, sondern in Religion, Ethik, seinem Ideenkomplex: dem Monotheismus, der<br />
sich bei ihm in reinster, abstraktester Form zeigt, dem Messianismus, der noch nicht erfüllt<br />
ist, sondern ein dauern<strong>des</strong> Ideal bleibt, dem wir zustreben, dem Optimismus, der das Leben<br />
bejaht, der Gottesebenbildlichkeit <strong>des</strong> Menschen, der eine reine Seele empfangen hat und<br />
ohne eine Mittlerschaft sich mit Gott versöhnt und göttlicher Gnade teilhaftig wird, der Mission<br />
zur Selbstheiligung, d. h. zur Nächstenliebe und Gerechtigkeit und zur Verbreitung von<br />
Religion und Sittlichkeit unter den Menschen. Dieser Beruf ist zwar an ein Volk ergangen;<br />
aber als Staat ist Juda untergegangen und als Volk in alle Winde zerstreut, so dass ein jüdisches<br />
Nationalbewusstsein bei der großen Masse der Westjuden ganz und gar selbst bei<br />
denen erloschen war, die gute Jude sein wollten und zu sein glaubten.« Wurde das Judentum,<br />
wie dies den politischen Zionisten vorschwebte, auf einen »körperlichen Nations- und<br />
Staatsbegriff« reduziert, konnten Fuchs und seine Mitstreiter darin nur eine Herabsetzung<br />
<strong>des</strong> <strong>Judentums</strong> erkennen; sie fürchteten wohl, dass auf diese Weise die Religion verloren<br />
gehen und am Ende der Entwicklung ein jüdischer Atheismus stehen würde.<br />
DER VERBAND DER DEUTSCHEN JUDEN<br />
Die Führung <strong>des</strong> C.V. wollte schon bald nach der Gründung <strong>des</strong> Vereins eine über diesen<br />
hinaus gehende organisatorische Form schaffen, die ihrem Verständnis vom Judentum entsprach,<br />
um so mit einer Stimme der deutschen Gesellschaft und dem Staat gegenüber treten<br />
zu können. Da keine Chance bestand, dass der Staat eine Gesamtorganisation der Juden unterstützen<br />
würde, sollte dies autonom geschehen. Schon 1898 forderte Fuchs zur Sammlung<br />
aller Kräfte mit dem Ziel auf, gegenüber den anderen Kirchen und dem Staat bestehen zu<br />
können. Fuchs sprach von der notwendigen Verwandlung der »unsichtbaren Kirche« in eine<br />
»sichtbare Kirche«, um so die jüdische Religionsgemeinschaft mit den beiden christlichen<br />
Kirchen gleichzustellen. Die vom C.V. anvisierte Gesamtorganisation sollte vor allem von<br />
den jüdischen Gemeinden getragen werden, sich aber nicht in innere Kultus- und Gemeindeangelegenheiten<br />
einmischen. Die religiöse Freiheit durfte nicht angetastet werden. Eine<br />
Hauptaufgabe der neuen Organisation sollte es zunächst sein, auf die Sicherstellung eines<br />
obligatorischen jüdischen Religionsunterrichts neben dem katholischen und protestantischen<br />
hinzuwirken. Eigene Schulen lehnte der C.V. allerdings ab, man wollte schließlich<br />
keine Separierung begünstigen. Auch erhofften sich die Initiatoren von dem neuen Verband<br />
eine weitere Stärkung <strong>des</strong> jüdischen Bewusstseins. Ein äußerliches Vorbild für die geplante<br />
Organisation sieht Eugen Fuchs unter anderem in dem 1886 gegründeten »Evangelischen<br />
Bund«. Mit seiner Hilfe wollte sich der Protestantismus ebenso gegenüber dem damals erstarkenden<br />
Katholizismus behaupten, wie dem herrschenden »Indifferentismus und Materialismus<br />
der Zeit« entgegenwirken; dazu bemühte er sich um die Weckung einer »evangelischen<br />
Solidarität« und die Stärkung <strong>des</strong> »evangelischen Bewusstseins« in den Gemeinden.<br />
Dem engeren fünfköpfigen Ausschuss, der die Vorarbeiten zur Gründung <strong>des</strong> jüdischen Verban<strong>des</strong><br />
unternahm, gehörten sowohl Horwitz als auch Fuchs an. Schon bald nach der Gründung<br />
<strong>des</strong> »Verban<strong>des</strong> der deutschen Juden« stand Maximilian Horwitz auch dieser Organi-<br />
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sation vor. Der C.V. und der Verband der deutschen Juden, der seine Arbeit im Stillen verrichtete,<br />
arbeiteten am Erreichen derselben Ziele.<br />
Wenn dem VdJ auch keine lange Lebenszeit vergönnt war – er hat sich bereits 1920 wieder<br />
aufgelöst –, so hat er sich mit der Herausgabe der »Lehren <strong>des</strong> <strong>Judentums</strong> nach den Quellen«<br />
doch bleibende Verdienste erworben. Beteiligt waren an diesem umfangreichen Unternehmen,<br />
das seit 1920 sukzessive erschien, Größen wie die führende Persönlichkeit <strong>des</strong><br />
deutschen liberalen <strong>Judentums</strong>, Rabbiner Leo Baeck, der Philosoph Julius Guttmann und<br />
der Historiker Ismar Elbogen. Das Werk thematisiert in fünf Teilen »Die Grundlagen der jüdischen<br />
Ethik«, »Die sittlichen Pflichten <strong>des</strong> Einzelnen«, »Die sittlichen Pflichten der Gemeinschaft«,<br />
»Die Lehre von Gott« und »Judentum und Umwelt«. Die Zeremonialgesetze<br />
<strong>des</strong> <strong>Judentums</strong> werden in dieser Schrift nicht behandelt. Im Vorwort äußert sich Rabbiner<br />
Simon Bernfeld zur Intention <strong>des</strong> Unternehmens: »Der Arbeit ist das Ziel gesteckt, den ethischen<br />
und religiösen Gehalt <strong>des</strong> <strong>Judentums</strong> in der durch die Quellen verbürgten Wahrheit<br />
darzulegen. Möge sie dazu beitragen, Vorurteile zu beseitigen und in weiten Kreisen eine gerechte<br />
Würdigung <strong>des</strong> <strong>Judentums</strong> herbeizuführen. Mögen die Lehren <strong>des</strong> <strong>Judentums</strong>, die<br />
nicht Israel allein verkündet wurden, von Allen beherzigt und im Leben verwirklicht werden.«<br />
Die »Lehren <strong>des</strong> <strong>Judentums</strong>« hatten sich also keinesfalls nur an Juden gewandt, sie waren<br />
aber auch nicht nur apologetischer Natur. Liest man die Vorworte zu den einzelnen Kapiteln<br />
und betrachtet die ausgewählten Quellen, so drängt sich der Schluss auf, dass die »Lehren«<br />
wohl auf den weiten Abstand der herrschenden Zustände in der Welt vom Idealzustand <strong>des</strong><br />
messianischen Zeitalters hinweisen wollten, ein Abstand, der nicht zuletzt am Umgang mit<br />
den Juden ermessen werden konnte. Auf den Weg zu Frieden und Gerechtigkeit dieses Zeitalters<br />
konnte aber gerade die jüdische Ethik leiten. So betont der Rabbiner Samson Hochfeld,<br />
der Gedanke der Gleichheit aller Menschen werde im Judentum durch die Vorstellung<br />
einer jedem Menschen angeborenen sittlichen Anlage gesichert und weist damit indirekt zugleich<br />
auf die ausgrenzende Komponente der Erbsündenlehre hin. Auch kenne das Judentum<br />
den Gedanken der Missionierung nicht, da es davon ausgehe, dass die ethischen Forderungen<br />
Gottes an den Menschen »auch außerhalb seiner Kreise« erfüllt werden könnten.<br />
Damit kritisiert er das usurpatorische Element <strong>des</strong> Christentums. Im Kapitel »Gerechtigkeit«<br />
verweist der Seminar- und Schuldirektor Michael Holzmann auf die große Bedeutung<br />
der Gerechtigkeit im Judentum. Diese werde in der Bibel und im nachbiblischen Schrifttum<br />
»überall und von und gegenüber jedwedem gefordert«, »Gerechtigkeit im Gericht, Gerechtigkeit<br />
in Handel und Wandel, (…) Gerechtigkeit von und gegen Juden und Nichtjuden, Gerechtigkeit<br />
hinsichtlich der Person und hinsichtlich <strong>des</strong> Besitzes«. Holzmann kritisiert damit<br />
die herrschende Ungleichbehandlung von Minderheiten, speziell der Juden. An anderer Stelle<br />
der »Lehren« steht der Handlungscharakter <strong>des</strong> <strong>Judentums</strong> im Zentrum. Für Juden genüge<br />
es nicht, wie im christlichen Verständnis verbreitet, sich »gesinnungsethisch« auszuweisen,<br />
wenn sich die Gesinnung nicht im Leben, im Handeln niederschlage. Die »Lehren <strong>des</strong><br />
<strong>Judentums</strong>« dokumentierten so vielfältig, dass das Judentum nicht eine abgelebte »Vorstufe«<br />
<strong>des</strong> Christentums darstelle, wie es das gängige Vorurteil behauptete. Vielmehr konnte es<br />
einen wichtigen Beitrag zur deutschen Kultur und darüber hinaus auch zur Weltkultur leisten,<br />
dem Judentum kam eine bleibende universale Aufgabe zu.<br />
Wie sehr diesem hohen Anspruch, der aus den »Lehren <strong>des</strong> <strong>Judentums</strong>« spricht, auch der<br />
C.V. verpflichtet war, soll zum Schluss noch einmal verdeutlicht werden. Eugen Fuchs hatte<br />
nach dem Tod von Horwitz für zwei Jahre den Ersten Vorsitz <strong>des</strong> Vereins inne. Seinen programmatischen<br />
Aufsatz »Was nun?« (1919) beendete Fuchs mit den auf die Zukunft ge-
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richtet optimistischen Worten: »Völkische und konfessionelle Absperrung ist nicht das<br />
Menschheitsideal. Nation und Konfession sind nur Durchgangsstufen zum höheren Menschentum.<br />
Ich glaube an den messianischen Beruf <strong>des</strong> <strong>Judentums</strong>, die Völker zu einer friedfertigen,<br />
freien und gerechten Menschheit zu vereinigen.«<br />
Literatur<br />
Barkai, Avraham: »Wehr Dich!« Der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen<br />
Glaubens (C.V.) 1893-1938. München: Beck 2002.<br />
Fuchs, Eugen: Um Deutschtum und Judentum. Gesammelte Reden und Aufsätze. Frankfurt/M.:<br />
Kauffmann 1919.<br />
Ihering, Rudolf von: Der Kampf ums Recht. Unveränd. Nachdr. der 4. Aufl. Wien 1874.<br />
Darmstadt: Wiss. Buchges. 1963.<br />
Die Lehren <strong>des</strong> <strong>Judentums</strong> nach den Quellen. Hrsg. vom Verband der Deutschen Juden.<br />
Neu hrsg. von Walter Homolka. Bd 1-3. München: Knesebeck 1999.<br />
Entschuldigung: Am Gedenktag für die Opfer <strong>des</strong> Nationalsozialismus hat sich Norwegen<br />
erstmals für die Inhaftierung und Deportation von Juden entschuldigt. Insgesamt<br />
772 Juden waren nach Deutschland verschifft worden, nur 32 von ihnen überlebten. Premierminister<br />
Jens Stoltenberg sagte in seiner Ansprache: »Die Morde sind unzweifelhaft<br />
von Nazis ausgeführt worden. Doch es waren Norweger, die die Verhaftungen durchführten.<br />
Es waren Norweger, die die Lastwagen steuerten. Und es passierte in Norwegen.<br />
… Heute halte ich es für angemessen, unsere aufrichtige Entschuldigung dafür auszusprechen,<br />
dass dies auf norwegischem Boden geschehen konnte.«<br />
Norwegen war von 1940 bis 1945 von den Nationalsozialisten besetzt. Die 2.100<br />
Juden <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong> wurden gezwungen, sich registrieren zu lassen. Viele flohen ins neutrale<br />
Schweden, rund ein Drittel wurde deportiert und ermordet. 1998 erkannte die norwegische<br />
Regierung die moralische Verantwortung für die Verfolgung von Juden an und<br />
zahlte als Ausgleich für geraubte jüdische Vermögen 60 Millionen Dollar an jüdische Organisationen.<br />
Zu einer expliziten Entschuldigung kam es damals jedoch nicht.