Geschlechtliche Subjektivierung – Ansätze im Anschluss an ...

Essay zum Seminar Das Subjekt und die Macht – Subjektkonstitution bei Foucault und Lorenzer
Dozentinnen: Dr. Sonja Buckel und Dipl. päd. Julia König
SoSe 2008
Verfasserin: Carmen Stefan
Geschlechtliche Subjektivierung –
Ansätze im Anschluss an Foucault und Lorenzer
Im Folgenden soll zunächst gezeigt werden, wo queer/ feministische Arbeiten an Foucault
anknüpfen, welchen Gewinn und welche Probleme sie mit sich bringen. Danach wird im Lichte
dieser Überlegungen nach möglichen Anschlusspunkten bei Lorenzer gefragt.
Ansätze im Anschluss an Foucault
Auch wenn Foucault das Thema Geschlecht weitgehend (nicht aber gänzlich) aus dem Blick
verloren hat, sind verschiedene von ihm entwickelte Gedanken zum zentralen Anknüpfungspunkt
neuerer Analysen rund um Geschlecht und Macht geworden. Antke Engel und Nina Schuster 1
zeichnen nach, wie Foucaults Arbeiten für queer/ feministische Theoriebildungen – und, davon
nicht zu trennen, für die politische Praxis – fruchtbar gemacht worden sind, was von ihm
aufgegriffen und wo über ihn hinausgegangen wird. Dem Folgenden liegt unter anderem ihre
Zusammenfassung zugrunde.
Foucault fragt aus genealogischer Perspektive, wie bestimmte (raum-zeitlich verortete) Diskurse
und damit Macht-Wissen-Komplexe aus älteren hervorgegangen sind und wie die entsprechenden
Machttechnologien funktionieren. Ihre Historizität verweist zugleich auf ihren kontingenten
Charakter. In diesem Sinne setzen queer/ feministische Ansätze Geschlecht nicht mehr einfach als
gegeben voraus, sondern fassen die starre Kategorie der Zweigeschlechtlichkeit als Gewordenes
(und Veränderbares) auf. Hier kommt auch schon Foucaults Machtanalyse ins Spiel: Macht ist
nicht repressiv, sondern produktiv, Macht als Verhältnis, das den Möglichkeitsraum von Handlung
verändert, wird nicht von oben nach unten ausgeübt, sondern kommt von überall und bildet ein
komplexes Geflecht. Was gedacht, was als Wissen anerkannt wird, worüber gesprochen und
worüber nicht gesprochen wird, sind darin zentrale Momente. Mit Blick auf
Geschlechterverhältnisse impliziert ein solch komplexes Machtverständnis, sich von der
1 Antke Engel/ Nina Schuster, Die Denaturalisierung von Geschlecht und Sexualität. Queer/ feministische
Auseinandersetzungen mit Foucault, in: Roland Anhorn/Frank Bettinger/Johannes Stehr (Hrsg.), Foucaults
Machtanalytik und Soziale Arbeit. Eine kritische Einführung und Bestandsaufnahme, VS Verlag, Wiesbaden, 2007
[im Folgenden: Engel/ Schuster]
1

Vorstellung, die manchen frühen feministischen Ansätzen zugrundeliegt, zu lösen, es gäbe einerseits
Herrscher („die“ Männer), andererseits bloß passiv Beherrschte („die“ Frauen).
Geschlechterhierarchie ist nach wie vor Forschungsgegenstand, wird aber im Rahmen queer/
feministischer Theorien eher in Zusammenhang mit Normativität untersucht.
Dass geschlechtliche Differenz binär gedacht und benannt wird, hat Folgen, entfaltet Macht. Binäre
Kategorien und ihre Definition (das machen Engel/ Schuster im zugrundeliegenden Text nicht
explizit) spielen auch nach Foucault eine zentrale Rolle für Machtausübung mittels Normalisierung,
er hat dabei vor allem als Gegensätze gedachte Kategorien im Blick: psychische Gesundheit –
Wahnsinn, körperliche Gesundheit – Krankheit, rechtskonformes Verhalten – Kriminalität. 2 Doch
weisen Engel/ Schuster auf eine eher unbekannte Publikation hin, in der sogar die
Zweigeschlechtlichkeit problematisiert wird: Foucault hat die Lebenserinnerungen des
intersexuellen 3 Menschen Herculine Barbin herausgegeben und als Einführung den Text „Das
wahre Geschlecht“ verfasst. Herculine wuchs im Frankreich des 19. Jahrhunderts zunächst
unbehelligt auf, wurde dann aber den üblichen medizinischen, psychologischen und juridischen
Drangsalierungen ausgesetzt, zum Mann erklärt und begang schließlich Suizid. Foucault sieht nun
Ende des 19. Jahrhunderts die Idee des „wahren Geschlechts“ entstehen, die er als Macht-Wissen-
Komplex deutet. Damit behandelt er, wenn auch sehr knapp, das zentrale Thema der späteren Queer
Theory: Vereindeutigung von Geschlecht als sozialer Prozess, der sich auch in institutionellen
Arrangements verdichtet, von dort aus organisiert und verfestigt wird, dessen Ergebnis als immer
schon gegeben und selbstverstädlich gedacht wird. Tatsächlich muss er aus queerer Perspektive
immer wieder neu hergestellt werden, und zwar durch die Subjekte selbst. Er vollzieht sich auf
subtilste Weise, so dass sein Machtcharakter verschleiert wird, durchdringt den Körper und seine
Bewegungen bis in kleinste Details hinein. Deutlich tritt hervor, dass hier an Foucaults
Überlegungen zu Macht, zu den „Technologien des Selbst“ sowie zur Thematik des individuellen
Körpers angeknüpft wird. Die bekanntesten Arbeiten zu Vergeschlechtlichung und Vereindeutigung
sind die von Judith Butler. Aus dieser Perspektive erscheint auch die traditionelle feministische
Unterscheidung zwischen „sex“ und „gender“ nicht mehr sinnvoll.
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist jedoch in den bisherigen Ausführungen ausgeklammert geblieben:
2 Vgl. zu der Problematik binärer Gegensätze bei Foucault z. B. Hutton, der seinerseits Geschlecht nicht thematisiert,
in: Patrick H. Hutton, Foucault, Freud und die Technologien des Selbst, in: Martin, Gutman, Hutton (Hrsg.),
Technologien des Selbst, Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 1993, S. 149
3 Ich verwende den Begriff der Intersexualität trotz der Problematik, dass das „inter“ („zwischen“) der binären
Denkweise verhaftet bleibt, weil er meines Wissens nach in gegenwärtigen emanzipativen Kontexten üblich und
auch über diese hinaus relativ bekannt ist.
2

In queer/ feministischen Auseinandersetzungen wird Geschlecht immer in seinem Zusammenhang
mit Sexualität untersucht. Dabei ist Foucaults Werk „Sexualität und Wahrheit“ ein wichtiger
Bezugspunkt. Dort „diagnostiziert er bezüglich der Moderne [...] einen Zusammenhang zwischen
der Herausbildung des modernen Subjekts und einem Sexualitätsdispositiv“ 4 , vermittels dessen
Macht nicht mit den Mitteln von Repression und Tabu, sondern gerade über das Sprechen über Sex,
das als befreiend empfunden wird, funktioniert, so dass zum einen der Wunsch entsteht, „die
Wahrheit“ über sich selbst herauszufinden, zum anderen Vorstellungen von Normalität sich
herausbilden. Subjektivierung, Macht, Wissen und Normativität sind auch hier miteinander
verstrickt, und gerade das macht das Werk für die queer studies interessant. Wie das alles mit
Geschlecht zusammenhängt, hat Foucault jedoch nur implizit behandelt und ist erst im Anschluss an
ihn ins Forschungszentrum grückt. 5 Vor allem dass die Norm der Heterosexualität die rigide
Zweigeschlechtlichkeit als Bedingung erfordert, ist Ausgangspunkt vieler Untersuchungen
geworden. Darüber hinaus wird Foucault häufig dafür kritisiert, dass er sich letztlich nur die weiße
bürgerliche Mittelschicht in Westeuropa angeschaut und seine Analyse des Rassismus nicht
systematisch mit seinen Gedanken zu Sexualität verknüpft hat. Dagegen wird in neueren Ansätzen
versucht, diese komplexen Zusammenhänge (auch zur kapitalistischen Wirtschaftsordnung, der
Nord-Süd-Problematik, zu Migrationspolitik etc.) zu erfassen.
Es ist klar, dass im Anschluss an Foucault das Formulieren von alternativem als dem hegemonialen
Wissen schon ein politischer Widerstandsakt ist. Die Zweigeschlechtlichkeit infrage zu stellen,
eröffnet neue Möglichkeiten für die eigene Lebenspraxis und zielt auch auf das gesellschaftliche
„Ganze“. Engel/ Schuster betonen in diesem Zusammenhang, dass es dabei nicht um den Anspruch
geht, selbst eine „Wahrheit“ zu verkünden, sondern um „strategische Einsätze in einem diskursiven
Machtfeld“ 6 , insofern, konkreter gewendet, dieses „nicht-objektive Wissen für Menschen
handlungsleitend wird“ 7 . Die Kritik bedarf „weder eines universellen Wertehorizonts noch einer
definitiven Zielformulierung“ 8 . Queere Bewegungen problematisieren dabei auch (feministische,
homosexuelle etc.) Identitätspolitiken und ihre Ausschlüsse, richten sich vor allem gegen die
Normen und probieren neue Formen von Praxis aus.
Foucault hat also wichtige Aspekte aus dem Blick verloren, aber wertvolle Analyseinstrumente für
die weiterführende Theoriebildung bereitgestellt. Die queer/ feministischen Arbeiten im Anschluss
4 Engel/ Schuster, S. 136
5 Vgl. ebd., S. 137
6 Ebd., S. 145
7 Ebd.
8 Ebd., S. 146
3

an ihn sind meines Erachtens sehr bereichernd und eröffnen neue Perspektiven. Konsequent sind sie
auch in ihrer Selbstrefexion, sei es, was den Sprachgebrauch, sei es, was die darüber hinausgehende
politische Praxis angeht. Durch ihre Radikalität verfallen sie nicht in Fehler mancher älterer
feministischer Ansätze (die sich etwa darin zuspitzen, dass zum Teil sogar „die Frau“ aufgrund ihrer
anderen „Natur“ zum „besseren“ Geschlecht erklärt wurde), was sowohl einen theoretisch-
analytischen als auch einen praktisch-emanzipativen Gewinn bedeutet. Allerdings werden gerade
durch das veränderte Verständnis von politischer Praxis auch neue Probleme aufgeworfen:
Selbst nicht „die Wahrheit“ verkünden zu wollen, ist zwar eine attraktive Haltung, doch ist nicht ein
Strukturmerkmal einer Aussage ihr Geltungsanspruch, um den sie zumindest, einmal
ausgesprochen, nicht umher kommt? Etwas über Aussagen (oder gar diskursive Spielregeln)
schlechthin zu sagen, erscheint zwar im Anschluss an Foucault überaus fragwürdig. Doch wie soll
der strategische Einsatz im Machtfeld seine handlungsrelevante Wirkung entfalten, wenn nicht
darüber, dass eine These (etwa die, dass Zweigeschlechtlichkeit gesellschaftlich hervorgebracht ist)
Geltung beansprucht und darin ernstgenommen wird? Darüber, dass sie Handlungen ermöglicht,
könnte man aus pragmatistischer Perspektive entgegnen. War aber dann alles quasi gar nicht so
ernst gemeint, sondern ist nur aus zweckrationalen Erwägungen heraus formuliert worden? Dem
kann hier nicht weiter nachgegangen werden, jedenfalls aber tut sich hier eine Reihe nicht ganz
einfach zu lösender Probleme auf. Ähnlich steht es um die Frage, inwiefern die Kritik, wie sie im
Anschluss an Foucault aus queerer Perspektive formuliert und verstanden wird, keines „universellen
Wertehorizonts“ bedarf. Das ist einerseits sowohl theoretisch konsequent (aufgrund des
genealogischen Ausgangspunkts) als auch praktisch von gewisser Attraktivität (es ermöglicht neue
Bündnisse und ist weniger ausschließend). Allerdings verstehen sich queere Bewegungen als
emanzipativ, sie leisten Widerstand gegen Normen, die Menschen ein selbstbestimmtes Leben
erschweren, und selbstverstädlich lehnen sie z. B. Rassismus ab. Impliziert das nicht, dass sie doch
gewisse Werte miteinander teilen und sogar universell z. B. Rassismus als „schlecht“ sehen? Wie
gesagt ist die Problematik von ähnlicher Struktur wie die zuvor aufgeworfene und kann hier
ebenfalls nur angeschnitten werden.
Mögliche Ansätze im Anschluss an Lorenzer – mit Blick auf queer/ feministische Arbeiten
nach Foucault
Wo bei Lorenzer mögliche Anknüpfungspunkte mit Blick auf theoretische Entwicklungen zum
Thema Geschlecht und geschlechtliche Subjektivierung sind, wurde bisher, soweit ich sehe, wenig
4

erforscht. Wie Foucault hat auch Lorenzer sich mit dem Körper und mit Sexualität mit Blick auf
Subjektivierungprozesse beschäftigt, Geschlecht aber weitgehend (nicht jedoch völlig) außer Acht
gelassen. Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, inwieweit seine Konzepte trotzdem
für eine Analyse der Problematik von Geschlecht genutzt werden könnten, insbesondere inwieweit
seine Überlegungen mit queer/ feministischen Perspektiven vereinbar sind. Schließlich soll Ulrike
Prokops Analyse der geschlechtsspezifischen Inszenierung in der Sendung Big Brother 9 , in der sie
auf Lorenzer zurückgreift, in Hinblick auf diese Fragen in knapper Form dargestellt und diskutiert
werden.
Nach Lorenzers kritisch-psychoanalytischer Auffassung ist im Subjekt immer „Einheit von
Natürlichkeit und Sozialität“ 10 , vom Erbgut sagt er etwa, es sei „nur ein Set von
gattungsgeschichtlich gewordenen Natur-Möglichkeiten, die durch die menschliche Praxis der
Mutter-Kind-Einheit in einer sozial bestimmten Form verwirklicht werden.“ 11 Demnach gibt es
nichts am Menschen und seinem Körper, das bloß biologisch ist und zu dem das Soziale
nachträglich hinzutritt. Vielmehr untersucht Lorenzer bis in kleinste Details das Werden des
Subjekts von den psycho-physischen Prozessen her. All dies ist hervorragend dazu geeignet, aus
queer/ feministischer Perspektive in Hinblick auf geschlechtliche Subjektivierung weitergedacht zu
werden. Auch mit Lorenzer erscheint die Unterscheidung zwischen „sex“ und „gender“ fraglich,
auch er fragt, wie Gesellschaft auf subtile Weise den Körper durchdringt und mitkonstituiert.
Offenbar ist es sogar so, dass er das Thema Geschlecht nicht völlig vergessen hat – im Gespräch mit
Görlich sagt er in Zusammenhang mit dem Ödipuskomplex: „Die Sprache selbst entpuppt sich in
ihrem Anspruch, alle Lebensäußerungen zu reglementieren, indem sie das sinnliche Verhältnis des
Individuums zur Welt geschlechtsspezifisch definiert: Der Vater wird als Mann und die Mutter wird
als Frau >>bewusst

vermittels dessen diese Herstellung sich vollzieht, und er ausdrücklich von der Ebene des
Bewussten spricht. Zwar spielt auch nach Foucault und nach queer/ feministischen Ansätzen
Sprache eine wichtige Rolle im Wissen-Macht-Geflecht, so dass hier ein möglicher
Anknüpfungspunkt vorliegt und man etwa mit psycho-analytischen Begriffen untersuchen könnte,
was in Hinblick auf den Macht-Diskurs rund um Geschlecht im Subjekt passiert. Allerdings sieht
Lorenzer hier nicht, dass sich geschlechtliche Subjektivierung gerade auch vor-sprachlich, viel
subtiler und noch verborgener als durch Sprache, psychoanalytisch gesprochen: auf der Ebene des
Unbewussten vollzieht. Schon nach Foucault umfasst der Diskurs auch das Ungesagte, „Gesten und
Haltungen, [...] Raumgestaltungen“ 13 usw.. Wie eingangs skizziert, liefert Lorenzer aber auch für die
Analyse dieser Bereiche durchaus geeignete Konzepte, die er selbst jedoch nicht auf Geschlecht
bezieht. In Bezug auf den Körper dürfte das deutlich geworden sein, ein weiteres Beispiel ist seine
Analyse von Gegenständen (i. e. S.). In diesen tritt Gesellschaft ganz direkt und ungebrochen an das
Individuum heran, sie geben einerseits die Form vor, andererseits entwickelt das Kind gerade im
Umgang mit ihnen ein aktives Aneignen, und die daraus entstehenden sinnlich-symbolischen
Interaktionsformen „sind die Basisschicht der Subjektivität, die Grundlage von Identität und
Autonomie“ 14 . Es entwickelt sich auch die Möglichkeit von widerständigem Handeln. Sehr
vereinfacht und konkret dargestellt, kann man sich das auf Geschlecht angewendet etwa so
verbildlichen: Der kleine Junge Hans bekommt immer blaue Kleidungsstücke, während das
Schwesterchen Fatma rosa Röcke und Oberteile trägt. Hans und Fatma beschließen aber eines
Tages, ihre Kleidung zu tauschen... Doch kommen wir zurück zu Lorenzers Aussage zum
geschlechtspezifischen Denken. Interessant ist noch, dass er das Thema in Zusammenhang mit dem
Ödipuskomplex, also mit Begehren und Sexualität anspricht. Mehr noch, die
Zweigeschlechtlichkeit macht den Ödipuskomplex erst möglich. Damit verweist er auf den
Zusammenhang zwischen Geschlecht und Sexualität, den Foucault nicht thematisiert hat, und der
aus queer/ feministischer Perspektive zentral ist. Kurz davor spricht er sogar von „Normen“ 15 , die
der individuellen Sinnlichkeit auferlegt werden. Jedoch problematisiert er weder Heteronormativität
noch die Normen, wie ein Körper auszusehen hat, damit die Vereindeutigung halbwegs still und
leise stattfinden kann. Auch geschlechtliche Hierarchisierung wird nicht thematisiert.
Schauen wir uns noch kurz Ulrike Prokops Analyse zu Big Brother an. Sie fragt anhand
empirischen Materials, ob sich geschlechtspezifische Unterschiede in der Inszenierungs-Strategie
zeigen, und wie die Sendung auf das Publikum wirkt. Ihr zufolge setzen tatsächlich einige Frauen in
13 Engel/ Schuster, S. 136
14 Alfred Lorenzer, Das Konzil der Buchhalter, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main, 1992, S. 163
15 Lorenzer, Gespräch, S. 318
6

der Spielsituation des miteinander gegeneinander eine Strategie ein, die keiner von den Männern
einsetzt, und umgekehrt. Prokop weist darauf hin, dass auch Kamera, Schnitt und Regie nicht
geschlechtsneutral eingesetzt wurden: „Man denke nur an die regelmäßigen Zusammenschnitte:
Frauen im Bad, endlos mit ihrem Outfit beschäftigt/ Männer längst im Hof bei der Arbeit an der
Gruppenaufgabe.“ 16 Prokop konstatiert darüber hinaus, dass sich die Gruppe schnell
(stillschweigend) darauf geeinigt hat, im Rahmen des Konventionellen, des Konformen zu
verbleiben. Besonders hinsichtlich der Frage, welche Art der von Frauen ausgehenden Annäherung
an Männer als legitim gilt, hat sich gezeigt, dass ein Verstoß gegen die Norm große Empörung und
den raschen Ausschluss der Abweichlerin aus der Gruppe nach sich zieht. Versuche der Paarbildung
und das starke Moralisieren deutet Prokop als Strategien, die vor allem ein wichtiges
Erfolgskriterium erfüllen: Sie können vom Publikum leicht verstanden werden. Ein hohes Maß an
Moralisierung war auch ein zentrales Diskussionsthema in Publikumsgruppen. Daneben war die
Frage nach dem Authentischen der SpielteilnehmerInnen häufiger Diskussionspunkt. Prokop
interessiert sich aber auch für den non-verbalen Teil der Inszenierung und für die Wirkung auf das
Publikum, über die nicht gesprochen wird. Sie vermutet, dass es eigentlich um gerade diesen Teil
geht, um „die faszinierende Betrachtung von Mustern der Selbstdarstellung, [...] um eine reine
Wirkungsästhetik körperlicher Präsentation“ 17 . Die „Inszenierung von fragmentierten
Körperbildern“ 18 liefert dem Publikum „den Code für den Typus, der im Sehen entschlüsselt und
interpretiert wird“ 19 . Hier greift sie nun explizit auf psychoanalytische Konzepte zurück und sagt,
dass der Typus ein Ideal des „schönen“ Körpers repräsentiert, der fürs Publikum Gegenstand von
Fetischisierung und Identifikation bzw., wenn Unvollkommenheit offenbar wird, von emotionaler
Ablehnung wird. Für die DarstellerInnen im Container ebenso wie fürs Publikum geht es „um das
kollektive Thema des Narzissmus und der Körperscham“ 20 .
Prokop macht an anderer Stelle explizit, dass sie sich bei ihren tiefenhermeneutischen
Medienanalysen der kulturanalytischen Methode Lorenzers bedient und etwa die Spannung
zwischen Manifestem und Latentem und entsprechende (kollektive) Abwehrmechanismen im Sinne
des szenischen Verstehens erforscht. 21 Damit gelangt sie im Hinblick auf die nichtsprachliche
Darstellungs- und Wirkungsdimension von Big Brother zu interessanten Thesen. Das ist eine eher
16 Prokop, S. 245
17 Ebd., S. 270
18 Ebd.
19 Ebd.
20 Ebd., S. 273
21 Vgl. Ulrike Prokop, Einleitung. Der tiefenhermeneutische Ansatz in der Medienforschung, in: Ulrike Prokop,
Mechtild M. Jansen (Hrsg.), Doku-Soap, Reality-TV, Affekt-Talkshow, Fantasy-Rollenspiele. Neue
Sozialisationsagenturen im Jugendalter, Tectum - Der Wissenschaftsverlag, Marburg, 2006, S. 17-21
7

ungewöhnliche Herangehensweise, aber gerade deshalb ein gutes Beispiel dafür, dass im Anschluss
an Lorenzer vielfältige Ansätze zur Erforschung von Geschlecht und Normativität möglich sind.
Auffallend ist, dass viele Punkte, die Prokop anspricht, zugleich im Rahmen queer/ feministischer
Ansätze im Anschluss an Foucault auftauchen. Die Inszenierung, die performance ist für Butler
zentral, ebenfalls die Frage nach dem (vermeintlich) „Authentischen“ sowie der Zwang fürs
Subjekt, sich verstehbar, entzifferbar (nach Maßgabe der Normen und der Vereindeutigung)
darzustellen. Hervorzuheben ist auch, das Prokop das für die queer studies so wichtige Thema der
Normativität sowohl in Bezug auf Geschlecht als auch auf Paarbildung als auch auf Schönheit von
Körpern thematisiert. 22
Insgesamt bietet Lorenzer meiner Auffassung nach fruchtbare Anschlusspunkte für die Frage nach
Prozessen geschlechtlicher Subjektivierung. Sie mit Gedanken zu vernüpfen, die aus queer/
feministischer Perspektive in Auseinandersetzung mit Foucault formuliert werden, ist eine
spannende Forschungsidee.
22Kritikwürdig ist meines Erachtens aber, dass manche ihrer Formulierungen die Normativität in Bezug auf Schönheit
von Körpern mitreproduzieren – zumindest in einem Text, der gerade diese Normativität problematisiert, wäre es
konsequent, etwa die Beine einer bestimmten Frau nicht einfach als „hübsche Beine“ (Prokop, S. 249) zu bezeichnen,
sondern z. B. „dem gegenwärtigen Schönheitsideal zufolge hübsche Beine“ zu sagen.
8