Portrait Rose Volz-Schmidt (PDF) - Wellcome
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<strong>Rose</strong> <strong>Volz</strong>-<strong>Schmidt</strong><br />
<strong>Rose</strong> <strong>Volz</strong>-<strong>Schmidt</strong>, Jahrgang 1955, ist Mutter von drei Kindern und ausgebildete<br />
Sozialpädagogin und Supervisorin. Über zwanzig Jahre leitete sie<br />
die Familien-Bildungsstätten im Kirchenkreis Hamburg-Niendorf. In dieser<br />
Zeit entstanden innovative Ideen zur Unterstützung von Familien, unter anderem<br />
das Konzept von wellcome. Seit 2009 widmet sich <strong>Rose</strong> <strong>Volz</strong>-<strong>Schmidt</strong><br />
ausschließlich der Weiterentwicklung und Multiplikation von wellcome und<br />
ist geschäftsführende Gesellschafterin der gemeinnützigen wellcome GmbH.<br />
Dies ist ein Angebot für Familien und wird nach einem Social-Franchise-<br />
Verfahren bundesweit verbreitet. Es verbindet bürgerschaftliches Engagement<br />
mit fachlicher Hilfe. wellcome, eine mehrfach ausgezeichnet soziale<br />
Idee, wurde 2002 in Hamburg gegründet und ist inzwischen bundesweit an<br />
über 200 Standorten vertreten. <strong>Rose</strong> <strong>Volz</strong>-<strong>Schmidt</strong> wurde zweimal als Social-<br />
Entrepreneur ausgezeichnet, erhielt den Prix Courage und ist Trägerin des<br />
Bundesverdienstkreuzes. Sie ist unter anderem Jury-Mitglied bei der Robert<br />
Bosch Stiftung, der Schwab Foundation und der Boston Consulting Group.<br />
Weiterführende Informationen: www.wellcome-online.de<br />
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wellcome – für das Abenteuer Familie<br />
Ihr erstes Kind war ein Wunschkind, dann folgte<br />
eine schwierige Geburt. Vor diesem Hintergrund<br />
hatten Sie die Idee, ein Projekt zu initiieren, das<br />
Familien hilft, den Baby-Stress zu bewältigen und<br />
Mütter aus der Isolation zu holen. 2002 gründeten<br />
Sie das Projekt »wellcome – praktische Hilfe<br />
für Familien nach der Geburt«. Welches konkrete<br />
Konzept steckt dahinter?<br />
wellcome wendet sich an Familien in einer existentiellen<br />
Übergangssituation. Wer in dieser Situation<br />
kein privates Netzwerk durch Familie oder<br />
Nachbarn hat, bekommt einen ehrenamtlichen<br />
»wellcome-Engel« von uns vermittelt. Diese erfahrenen<br />
Ehrenamtlichen gehen zweimal die Woche<br />
für zwei bis drei Stunden und helfen praktisch<br />
und individuell – je nach Lage der Dinge für mehrere<br />
Wochen oder Monate. In jedem Fall so lange,<br />
bis der Übergang in die neue Lebenssituation gemeistert<br />
ist.<br />
Als Sozialpädagogin haben Sie über zwanzig Jahre<br />
eine evangelische Familien-Bildungsstätte im<br />
Kirchenkreis Hamburg-Niendorf geleitet. Welche<br />
Bedeutung hat diese Zeit für das wellcome-Projekt?<br />
Welche Erfahrungen, positive und negative,<br />
waren besonders prägend?<br />
Bertolt Brecht hat einmal gesagt: »Erst kommt<br />
das Fressen – dann kommt die Moral.« Auf<br />
Eltern schaft übertragen heißt das: Wie will ich<br />
von Eltern erwarten, dass sie zu Vorträgen oder<br />
Workshops über Erziehungsfragen kommen,<br />
wenn sie es nicht einmal schaffen, Brot und Milch<br />
einzukaufen, weil der Babystress sie überrollt?<br />
Mir ist aufgrund der eigenen Erfahrung deutlich<br />
geworden, dass Familienbildung mehr auf die<br />
veränderten Bedingungen von Familien eingehen<br />
muss, wenn sie die Eltern noch erreichen möchte.<br />
Und individuelle, praktische Hilfe, verbunden<br />
mit Erfahrungswissen, fehlt aufgrund der wachsenden<br />
gesellschaftlichen Mobilität jungen Eltern<br />
ganz besonders. In der Familienbildung habe ich<br />
gelernt, wie abhängig Familien von den jeweils<br />
herrschenden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen<br />
sind: Während sich vor zwanzig Jahren<br />
Mütter rechtfertigen mussten, wenn sie berufstätig<br />
werden wollten, müssen sie heute begründen,<br />
warum sie eine längere berufliche Pause einlegen<br />
wollen. Vor lauter Rechtfertigungsdruck kommen<br />
die Partner oft nicht mehr dazu zu überlegen, was<br />
sie eigentlich wollen und zahlen dafür einen hohen<br />
Preis. Die Scheidungszahl junger Eltern steigt. Zu<br />
den Chancen: Es gibt kaum eine Lebensphase, die<br />
so viele Möglichkeiten bietet, sich selbst neu zu<br />
entdecken und zu verändern als die, wenn Paare<br />
Eltern werden. Ein Rollenzuwachs, der sehr viel<br />
Erfüllung mit sich bringen kann, wenn man sich<br />
darauf einlässt. Erinnerungen an die eigene Kindheit,<br />
an alte Träume und Werte, Sensibilität für<br />
Umwelt und Gesundheit – der Anfangszauber ist<br />
allgegenwärtig. Eine echte Aufbruchszeit.<br />
2006 gründeten Sie die gemeinnützige Organisation<br />
wellcome gGmbH – weshalb sind die Ehrenamtlichen<br />
für Sie das Herzstück? Und wie viele<br />
wellcome-Teams sind derzeit bundesweit im Einsatz?<br />
Die Ehrenamtlichen sorgen dafür, dass die wellcome-Idee<br />
greift und wirklich ankommt. Sie sind<br />
sehr glaubwürdig und werden von den Familien<br />
geschätzt, von den Geschwisterkindern oft geliebt.<br />
Meist sind es Frauen, die sich bewusst für<br />
dieses freiwillige Engagement entschieden haben.<br />
Sie wollen helfen, ohne sich aufzudrängen. Sie geben<br />
eigene Erfahrungen weiter, ohne besserwisserisch<br />
zu sein. Sie sind da, hören zu und geben<br />
den Müttern das Gefühl, nicht mehr alleine zu<br />
sein. Auch die Fachfrauen haben ihren Platz im<br />
wellcome-System: Sie begleiten und unterstützen<br />
die Ehrenamtlichen und lotsen die Familien weiter,<br />
die andere Hilfen brauchen. So ergänzt sich<br />
bei wellcome Ehrenamt und Fachlichkeit perfekt.<br />
Bundesweit gibt es mehr als 200 solcher Teams.<br />
Bis Ende 2013 sollen es ca. 250 bundesweit sein.<br />
Wie ist die Organisation von wellcome aufgebaut?<br />
wellcome funktioniert als Social Franchise: Trä ger<br />
der freien Jugendhilfe (z. B. Familienbildungsstätten,<br />
Mütterzentren oder Mehrgenerationenhäuser)<br />
übernehmen das Konzept, werden geschult,<br />
schließen einen Kooperationsvertrag mit<br />
der wellcome gGmbH. Sie sorgen dafür, dass die<br />
Qualitätsstandards eingehalten werden und die<br />
wellcome gGmbH unterstützt sie dabei. Inzwischen<br />
gibt es in den großen Bundesländern mit<br />
vielen wellcome-Teams auch Landeskoordinatorinnen,<br />
die wiederum die Begleitung der lokalen<br />
Teamkoordinatorinnen übernehmen. Wir sind ein<br />
lernendes System, das durch das stetige Wachs-<br />
364 365<br />
tum auch organisatorisch immer wieder neue Herausforderungen<br />
zu bewältigen hat.<br />
Auf welchen Säulen basiert die Finanzierung der<br />
gGmbH ?<br />
wellcome weist eine stabile Mischfinanzierung<br />
auf. Unser Ziel als gemeinnützige Organisation<br />
ist die »schwarze Null«. Das erreichen wir durch<br />
Kooperationsgebühren der Einrichtungen, durch<br />
Förderer und Spender und durch einen Bundeszuschuss<br />
zur Qualitätssicherung.<br />
Sind wir in Deutschland auf einem guten Weg,<br />
uns diesem Ideal anzunähern?<br />
Trotz aller Bemühungen um Elterngeld und Co.<br />
– nicht wirklich. Im Augenblick beobachten wir,<br />
dass junge Familien extrem unter Druck stehen,<br />
dass von 50 Prozent der Scheidungen Kinder betroffen<br />
sind. Die frühe Berufsrückkehr, die an sich<br />
nicht verkehrt ist, überfordert viele junge Eltern<br />
und damit auch die Partnerschaften, weil es zu<br />
wenig Unterstützung gibt. Eltern besser auf die<br />
Berufsrückkehr vorzubereiten und Unternehmen<br />
für die Bedürfnisse von Eltern zu sensibilisieren,<br />
wird eines der nächsten wellcome-Projekte werden,<br />
das ich für absolut erforderlich halte, wenn<br />
wir künftig noch Kinder in unserem Land haben<br />
wollen.<br />
Weshalb ist Hilfe zur Selbsthilfe der beste und<br />
nachhaltigste Weg?<br />
Ich gehe fest davon aus, dass Menschen gerne ihren<br />
eigenen Weg gehen und dass sie für ihre Kinder<br />
und für sich selbst sorgen wollen. Bevormundung<br />
auf Dauer macht schwach und abhängig.<br />
Das entspricht nicht meinem Menschenbild. Wir<br />
entdecken immer wieder, wie viel Energie Fami
lien haben, denen man das nicht zutrauen würde.<br />
Für wellcome-Familien ist die Tatsache, dass<br />
unsere Engel wieder gehen, häufig der Grund,<br />
überhaupt erst anzurufen. Sie erhalten Unterstützung<br />
auf Zeit und sind gleichzeitig sehr motiviert,<br />
später auch einmal anderen ihre Hilfe anzubieten,<br />
weil sie gemerkt haben, wie gut das tut.<br />
Wir verbrennen in Deutschland sehr viel Geld in<br />
Systemen, die Armut etc. verwalten, anstatt sie zu<br />
beseitigen. Ähnlich wie die Energiewende braucht<br />
Deutschland dringend eine Sozialwende.<br />
Inwiefern können die Bürgerinnen und Bürger helfen,<br />
hier eine spürbare Verbesserung zu erreichen?<br />
Bei wellcome arbeiten mehr als 2000 Ehrenamtliche<br />
mit und über 1000 unserer Paten geben Familien<br />
in Not finanzielle Unterstützung. Wir erleben<br />
eine wachsende Sensibilität der Bürger. Sie<br />
wollen helfen und erkennen, dass der Sozialstaat<br />
allein nicht die Lösung aller Probleme sein kann.<br />
Ich finde, jede und jeder kann sich einbringen: mit<br />
Zeit, Erfahrung oder Geld. Es gibt sehr viele Initiativen<br />
in Deutschland, die sich inzwischen auf<br />
eine neue Generation Ehrenamtlicher einstellen<br />
– alles Menschen, die sich auf Augenhöhe engagieren<br />
wollen.<br />
Weshalb ist die Beschäftigung mit Nachhaltigkeit<br />
immer auch ein privates Thema, das sich vom beruflichen<br />
Engagement nicht trennen lässt? Wie<br />
setzen Sie persönlich Nachhaltigkeit im täglichen<br />
Leben um?<br />
Unsere private Nachhaltigkeitsstrategie begann<br />
mit dem Tag der Geburt unserer ältesten Tochter.<br />
Ganz gleich ob es um Ernährung, Erziehung<br />
oder Schulbildung geht: Der Nachhaltigkeitsgedanke<br />
ist plötzlich allgegenwärtig – ob man will<br />
oder nicht. Vieles, was für den Augenblick vertretbar<br />
wäre, ist es nicht, wenn ich an die Nachhaltigkeit<br />
denke. Kinder brauchen Kontinuität und<br />
Verlässlichkeit, um zu verstehen, warum manche<br />
Produkte nicht gekauft werden, warum Grenzen<br />
gesetzt werden, warum Hausaufgaben wichtig<br />
sind etc. Natürlich macht man täglich Kompromisse<br />
und Ausnahmen – beim Naschen, beim<br />
Fernsehen etc. Aber das gesunde Aufwachsen von<br />
Kindern ist ein kontinuierlicher Prozess, der gemeinsam<br />
geübt werden will. Persönlich kann ich<br />
sagen, dass das mit dem Älterwerden der Kinder<br />
eher leichter fällt, da sie die Zusammenhänge z. B.<br />
zwischen Preisgestaltung und Produktionsbedingungen<br />
eher verstehen und zum Teil selbst bei ihren<br />
Kaufentscheidungen die Nachhaltigkeitsidee<br />
im Kopf haben.<br />
Was sind für Sie die Herausforderungen auf dem<br />
Weg zu einer nachhaltigen Gesellschaft? Und welche<br />
Rolle spielt dabei das Ehrenamt?<br />
Eine nachhaltig denkende Gesellschaft braucht<br />
mündige Bürger, die mitgestalten wollen – die<br />
aber auch bereit sind, Verantwortung zu übernehmen.<br />
Nur gegen etwas zu sein – den Staat, den<br />
Euro oder was auch immer – hilft keinem. Und<br />
dies ist für uns eine echte Herausforderung. Wir<br />
leben mental immer noch zwischen den politischen<br />
Postulaten der 70er Jahre, die da hießen:<br />
»Freie Fahrt für freie Bürger« bzw. »Vater Staat<br />
kümmert sich um den Steuerzahler«. Auch wenn<br />
wir wissen, dass dieses Denken längst überholt<br />
ist, handeln wir in vielen Bereichen noch so. Wir<br />
reparieren und therapieren, statt klug vorzusorgen.<br />
Wir erwarten Hilfe von außen, statt uns<br />
selbst zu kümmern. Wir wissen viel und setzen<br />
wenig um. Wer anfängt, sich ehrenamtlich zu en-<br />
gagieren, hat die erste Hürde genommen, nämlich<br />
sich selbst zu bewegen.<br />
Die Unternehmensberatung Boston Consulting<br />
Group, das Wirtschaftsmagazin Capital und die<br />
Schwab-Stiftung haben Sie zum »Social Entrepreneur<br />
2007« gekürt. Was bedeutet Ihnen diese<br />
Wertschätzung auch durch Ashoka? Und wie<br />
konnte wellcome konkret davon profitieren?<br />
Die mit den Auszeichnungen verbunden Zugänge<br />
zu Netzwerken und teilweise internationalen<br />
Foren haben wellcome ohne Frage einen Schub<br />
gegeben. Es ist fantastisch, sich auf höchstem Niveau<br />
mit anderen Social Entrepreneurs auszutauschen,<br />
die ähnlich unterwegs sind wie man selbst<br />
und auf der anderen Seite CEOs internationaler<br />
Konzerne zu erleben und dadurch zu verstehen,<br />
was Globalisierung bedeutet, welche Folgen sie<br />
für uns haben wird und dass Europa schon längst<br />
nicht mehr der Mittelpunkt der Welt ist. Besonders<br />
die Teilnahme an den Weltwirtschaftstforen<br />
war für mich als »Sozia ler« ein wesentlicher Blick<br />
über den Tellerrand. Ich habe bei weitem nicht alles<br />
gut gefunden, was ich da gehört und gesehen<br />
habe – aber ich habe in Unternehmen und Kon-<br />
366 367<br />
zernen eben auch Menschen getroffen, die sich mit<br />
Nachhaltigkeit glaubwürdig auseinandersetzen.<br />
Bundeskanzlerin Angela Merkel plädiert für eine<br />
»Kultur des Hinschauens«, wie sie beispielsweise<br />
von wellcome praktiziert wird. Deshalb übernahm<br />
sie die Schirmherrschaft für Ihr Projekt. Was bedeutet<br />
Ihnen dies? Und welche nachhaltige Wirkung<br />
geht davon aus?<br />
Die Schirmherrschaft der Kanzlerin hat sich für<br />
wellcome wie ein besonders wertvolles Qualitätssiegel<br />
ausgewirkt, weil sich die mächtigste Frau<br />
im Staat ausgerechnet einem Thema zuwendet,<br />
das besonders stark verharmlost wird: Familie<br />
und Ehrenamt. Manche haben die Relevanz begriffen<br />
und uns unterstützt. Allerdings war es<br />
für uns auf der anderen Seite eine besondere Verpflichtung,<br />
die mit dem Vertrauen verbundene Erwartung<br />
in unsere Arbeit auch zu erfüllen. Heute<br />
können wir sagen: Es ist uns gelungen, nicht<br />
nur den Respekt der Kanzlerin zu erhalten, sondern<br />
ihn auch zu bewahren. Im fünften Jahr ihrer<br />
Schirmherrschaft hat sie in diesem Frühjahr die<br />
Festrede zum zehnten Geburtstag von wellcome<br />
gehalten.