Perseus' Schild. Griechische Frauenbilder im Film. - Ulrich Meurer
Perseus' Schild. Griechische Frauenbilder im Film. - Ulrich Meurer
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U l r i c h M e u r e r , M a r i a O i k o n o m o u<br />
E I N L E I T U N G<br />
D I E E N T H A U P T U N G D E S B I L D E S D E R M E D U S A<br />
C E R E B R U M / V E R T E B R A E<br />
Dass es mit dem Mythos beginnt, ist eine lange bekannte<br />
Tatsache – dies bereits ein Paradoxon, denn die »bekannte<br />
Tatsache« und dasjenige, was mit dem Mythos beginnt (»Geschichte«),<br />
gehören schon dem Logos an und offenbaren,<br />
dass die Rede vom Mythos <strong>im</strong>mer eine nachträgliche ist:<br />
Zwar mag alles mit dem Mythos beginnen, doch kann er nur<br />
mit dem erst darauf folgenden Logos zur Sprache kommen.<br />
Dieses Machtverhältnis zwischen den beiden Instanzen wird<br />
sowohl den Inhalt als auch die Ordnung der vorliegenden<br />
Sammlung von Texten zum griechischen Frauenbild <strong>im</strong> <strong>Film</strong><br />
als Dominante durchlaufen.<br />
Dass es mit dem Mythos beginnt, begründet zudem oft genug<br />
die Vermutung, er sei ein archaisches Modell zur Domestizierung<br />
der Schrecken der Realität (Blumenberg spricht von<br />
der Angst angesichts des »Absolutismus der Wirklichkeit«,<br />
von der Überführung numinoser Unbest<strong>im</strong>mtheit in die nominale<br />
Best<strong>im</strong>mtheit durch den Mythos und davon, dass er<br />
das Unhe<strong>im</strong>liche vertraut und ansprechbar mache). 1 Damit<br />
erledigt die Mythologie dieselbe Aufgabe wie die Vernunft, sie<br />
übern<strong>im</strong>mt bei der Überwindung der Fremdheit der Welt wie<br />
des Anderen eine »vernünftige« Funktion. 2 Aber es bleibt der<br />
Verdacht, dass hierin vielleicht eine durch das niemals hintergehbare<br />
(Selbst-)Verständnis des Logos angeleitete und des-
10 MEURER, OIKONOMOU<br />
halb projektive Fest-Stellung des Mythos aufscheinen könnte,<br />
denn eine solche Lektüre stellt ihn zwar, in seiner gleichsam<br />
prähistorischen Unfassbarkeit oder in der rohen Medialität<br />
des Oralen, als vorvergangen und rud<strong>im</strong>entär dar; zugleich<br />
jedoch misst sie ihm <strong>im</strong>mer schon die zivilisierende Bedeutung<br />
des Symbols und der Schrift zu. 3 Wäre stattdessen nicht<br />
auch nach dem Fabulieren jenseits aller Signifikanz oder – angesichts<br />
des weit verzweigten Paradigmas von unaufhörlich<br />
substituierbaren mythologischen Figuren und Begebenheiten<br />
– nach der dezentrierten und referenzlosen Strukturalität, womöglich<br />
nach einer ganz »unlogischen« und ganz »anderen«<br />
Seinsweise des Mythischen zu fragen? So jedenfalls entzöge<br />
sich der Mythos ein Stück weit seiner Interpretation als Erklärungsmodell<br />
und würde in der Tat zum Anderen des folgerichtigen<br />
und hermeneutischen Denkens, das vom homo<br />
significans als überlegenes symbolisches System unermüdlich<br />
an ihn herangetragen wird.<br />
Dass es mit dem Mythos beginnt, verleiht ihm schließlich<br />
ein »geschlechtliches« Gepräge. Denn er selbst schon ist aus<br />
frühen und späteren Sed<strong>im</strong>enten und Schichten aufgebaut,<br />
deren unterste den vorzivilisierten Zustand der Welt mit einem<br />
unteilbaren, unzähmbaren und an<strong>im</strong>alischen Schrecken<br />
des Weiblichen belegt (der grausame Block Medea; das opake<br />
Rätsel der Sphinx; die maßlose, sodomitische Pasiphae; der<br />
fein klingende Magnetismus der Sirenen), bevor dann auch<br />
der Mythos in die Phase der Kultur und des Diskurses eintritt;<br />
dafür aber gilt es, einen Drachentöter, einen Jason, Ödipus,<br />
Odysseus zu mobilisieren, der der furchtbaren Urbedrohung<br />
entgegentritt und ihr <strong>im</strong> Namen der Polis und der anstehenden<br />
patriarchalen Ordnung – vorübergehend zumindest<br />
und unvollständig, da <strong>im</strong>mer wieder etwas aus dem Dunkel<br />
auftauchen will – ein Ende macht. Insofern zeichnet sich <strong>im</strong>
DIE ENTHAUPTUNG DER MEDUSA 11<br />
Bereich des Mythischen selbst ein Machtwechsel ab, der demjenigen<br />
ähnelt, welcher später dann den gesamten Mythos <strong>im</strong><br />
Logos zu beschließen sucht (deshalb auch verwundert es<br />
kaum, wenn die in diesem Band besprochenen griechischen<br />
<strong>Frauenbilder</strong> meistenteils dem Mythos entstammen, auf ihn<br />
rekurrieren, ihn erneuern: sie unterliegen dem gleichen ordnenden<br />
Gesetz und dem gleichen kadrierenden Blick, wie sie<br />
sich beidem ebenso entwinden und als subversive und subl<strong>im</strong>e<br />
Figuration wieder auftauchen).<br />
In jedem der drei angeführten Merkmale des Mythos – in<br />
seiner diskursiven Abhängigkeit vom Logos, der (für) ihn<br />
spricht; in seiner Rationalisierung als Deutungs- und Zeichensystem;<br />
in seiner Verdrängung weiblicher Monstrosität<br />
durch die Regel des Symbolischen – äußert sich der Anspruch,<br />
in ihn ein Reg<strong>im</strong>e einzuführen oder über ihm eines zu<br />
errichten; manches Mal scheint es sogar darum zu gehen, den<br />
Mythos allererst zu phantasieren, nur um ihn daraufhin durch<br />
den Logos als seinen Sachwalter ersetzen zu können. Dies in<br />
ein Bild zu fassen, bietet sich aus vielerlei Gründen die ihrerseits<br />
mythische Erzählung um Perseus und die Gorgo Medusa<br />
an (der dadurch gleichzeitig eine meta-mythische Funktion<br />
zukommt): Der argivische Heros macht sich <strong>im</strong> Auftrag von<br />
Polydektes, König von Seriphos, zum Rand der Welt auf, um<br />
das Haupt der Medusa zu erringen. Ausgestattet mit einer<br />
Auswahl magischer Instrumente, geflügelten Sandalen, einem<br />
diamantenen Sichelschwert, einer Tarnkappe und dem <strong>Schild</strong><br />
der Athene, erreicht er die Wohnstätte der Gorgonen, köpft<br />
die Medusa, deren versteinernden Anblick er meidet, indem<br />
er lediglich ihr Spiegelbild in seinem blanken <strong>Schild</strong> fixiert,<br />
und entflieht mit seiner Trophäe über Libyen und Äthiopien<br />
zurück nach Seriphos.
12 MEURER, OIKONOMOU<br />
Herauszustellen ist an diesem Mythos hier zunächst, dass<br />
es ihm – genetisches Merkmal der gesamten »Gattung«? – an<br />
einer ursprünglichen und geschlossenen Form gebricht. Kein<br />
Text initiiert ihn; er existiert bestenfalls als Durchschnittsbild<br />
seiner Varianten und frühesten Versionen – von Homer und<br />
Hesiod über Lucan, Plinius und Pausanias. Seine Einheit stellt<br />
sich erst durch eine Paraphrase wie die hiesige ein, durch die<br />
Reduktion auf einen integrierenden Kern mittels des Logos,<br />
oder aber durch die neue, die <strong>im</strong>mer nächste Bearbeitung,<br />
durch die Gestaltung also auf dem Boden eines Mediums.<br />
Jenes Prinzip unumgänglicher Vermittlung scheint jedoch<br />
schon der Mythos selbst zu besprechen: Das Archaische, die<br />
Medusa, bleibt konsequent unsichtbar; indem es sich zeigt,<br />
entzieht es sich augenblicklich und hat sich nie gezeigt, denn<br />
wer der Gorgo ansichtig wird, ob Mensch, Tier oder Pflanze,<br />
verwandelt sich auf der Stelle, ohne jedes zusammenfassende<br />
Erkennen und ohne alle noch so geringe Verzögerung, die ein<br />
Registrieren des Objekts verlangen müsste, zu Stein, so dass<br />
am Ende wieder niemand die Medusa je gesehen hat. Dazu bedarf<br />
es der Wiedergabe, es bedarf des Mediums als eines Dritten<br />
zwischen Blick und Angeblicktem, um überhaupt eine<br />
Form wahrzunehmen: der <strong>Schild</strong>, der die Medusa als Reflexion<br />
sichtbar macht und damit zugleich die notwendige Repräsentation<br />
des Mythischen durch ein diskursives Werkzeug<br />
reflektiert. In der Geschichte von Perseus und Medusa findet<br />
solcherart eine Verhandlung der Unerlässlichkeit des Medialen<br />
(und des Aisthetischen) statt, die den Mythos erst zum Vorschein<br />
bringen. Wie sich in dieser Konstruktion des Urbilds<br />
durch das Abbild – in der, da die erste der beiden Instanzen<br />
für sich keine Realität besitzt, das jeweilige Präfix recht eigentlich<br />
seine Bedeutung verliert und nur das Bild bleibt –<br />
nun ein Machtverhältnis zeigt, belegt die Engführung jener
DIE ENTHAUPTUNG DER MEDUSA 13<br />
Aufdeckung des Mythos mit seiner Zähmung; nicht nur wird<br />
das bedrohliche Vorzeitige zum ersten Mal sichtbar, es verliert<br />
in der Darstellung und Verarbeitung durch den Spiegel<br />
(vorerst) seine Kraft. 4<br />
Darüber hinaus birgt der Mythos Elemente, die man als<br />
Hypostase nicht nur <strong>im</strong> Allgemeinen eines Medialen oder<br />
einer Vermittlung, sondern <strong>im</strong> Besonderen des <strong>Film</strong>ischen<br />
lesen kann: Medusa nämlich ist die Figur der Stasis, ein »eigentlich<br />
ganz untätige[s] Wesen«, 5 da seine Gefahr <strong>im</strong> bloßen<br />
Aussehen liegt, und dazu eines, das um sich herum alle Bewegung<br />
einfriert. Sie bedroht H<strong>im</strong>mel und Meer mit seltsamer<br />
Lähmung und zieht über die ganze Welt eine steinerne Kruste.<br />
Vögel werden <strong>im</strong> Flug schwer und fallen herab, wildes<br />
Getier verharrt regungslos auf seinem felsigen Standplatz, zu<br />
marmornen Statuen wandeln sich ganze Völkerschaften <strong>im</strong><br />
nahe gelegenen Äthiopien. 6 Die Konstellation des Blicks, des<br />
Anblickens und Versteinerns aber ruft die Fotografie auf, in<br />
der es eine vergleichbare Stauung gibt, »Inbegriff eines Stillstands«,<br />
7 sobald sich das Objektiv des Objekts bemächtigt hat.<br />
Der fotografische Apparat erzeugt zufällige Standbilder, die<br />
gerade <strong>im</strong> Aufruf ihrer realen und atmenden Vorlage umso<br />
mehr deren Bewegungslosigkeit ausstellen. Und wenn Roland<br />
Barthes von der tragischen Verschränkung zweier Zeiten <strong>im</strong><br />
Foto spricht, von dessen punctum, das da heißt: »das wird sein<br />
und das ist gewesen«, »dies ist tot und dies wird sterben«, 8 so<br />
gleichen dem Lichtbild auch darin die von der Medusa petrifizierten<br />
Körper. Einerseits sind sie dem vergangenen Leben<br />
ähnlich – eben keine Denkmäler, die als Synthesen auf die<br />
Person nur ideal verweisen – und vermögen als eine bis aufs<br />
Haar und bis auf die feine Muskelspannung treue Form das<br />
Dagewesensein des lebendigen Menschen in seinem toten<br />
Hiersein zu belegen. Andererseits tragen sie zugleich den ge-
14 MEURER, OIKONOMOU<br />
spenstischen futurischen Aspekt des Fotos in sich, denn wer<br />
die Medusa anschaut, erstarrt augenblicklich und in der Haltung,<br />
die er gerade einn<strong>im</strong>mt; er wird zum Bild seines aktiven<br />
Selbst und zum knappen Zeitschnitt, so dass man mit Fug<br />
über die Figur noch sagen könnte, gleich erst, jetzt wird sie<br />
sterben, da noch ein Rest von Verhalten in ihr ist.<br />
Diese Starre aber zu verhindern, den gegenwärtigen Tod<br />
des Fotografischen zu überwinden und weiterhin Bewegung<br />
zu garantieren hat sich Perseus zur Aufgabe gemacht, die Figur<br />
der Kinese, die mit den Flügelschuhen des Hermes Länder<br />
durchquert und in unsichtbarem Flug den Schwestern<br />
seines Opfers, Stheno und Euryale, entkommt. Noch dazu ist<br />
es eine optische Anordnung, mit deren Hilfe er, während Medusa<br />
schläft, den Schrecken des Statischen beendet. Der polierte<br />
<strong>Schild</strong> – nach Remigius von Auxerre aus Kristall, dem<br />
Liber monstrorum zufolge aus Glas 9 – dient als Reflektor, mit<br />
dessen allerdings seitenverkehrtem Bild Perseus für seinen<br />
Hieb Maß n<strong>im</strong>mt. Es ist das bildproduzierende Gerät, die von<br />
einem Schirm zurückgeworfene Repräsentation, welche die<br />
versteinernde Macht brechen und der Welt die Bewegung<br />
zurückerstatten, so dass dem Halsstumpf des toten Monstrums<br />
fotogrammatischer Stasis die rege Imagination in Gestalt<br />
des geflügelten Pegasus entspringt. 10<br />
Schließlich steht der Mythos von der Enthauptung der Medusa<br />
nicht lediglich ein für die Unerlässlichkeit medialer Wiedergabe<br />
oder für die Bewältigung des Stillstands durch eine<br />
(filmische) Optik, sondern führt dieses Repräsentationsreg<strong>im</strong>e<br />
ebenso als eng verflochten mit einem männlichen Diktat vor:<br />
Von Beginn an ist die Gorgo Medusa schuldlos unterworfen,<br />
wird zuerst von der auf ihre vormalige Schönheit eifersüchtigen<br />
Athene – aus dem Kopf des Zeus entsprungen und (daher)<br />
männlichste aller Frauen – in ein Ungeheuer verwandelt
DIE ENTHAUPTUNG DER MEDUSA 15<br />
und später dann von Perseus wegen eines hohlen Versprechens<br />
ohne Not getötet. Hierdurch schon gibt sie sich als<br />
<strong>im</strong>mer behandelte Figur zu erkennen, die der Willkür des<br />
männlichen Logos ausgeliefert scheint. Dazu aber gehört die<br />
Medusa jener schon erwähnten untersten Schicht oder Matrix<br />
des Mythischen an, die als unhe<strong>im</strong>licher und mit dem Weiblichen<br />
untrennbar assoziierter Mutterboden aller späteren<br />
Zivilisationsbewegung innerhalb des mythischen Kosmos<br />
dient; sie ist eine Gestalt, die »<strong>im</strong> klassischen Altertum zur<br />
Repräsentantin des Fremden und Anderen wird und deren<br />
Schicksal ebenso wie das Medeas und Andromedas eng mit<br />
den Eroberungs- und Kolonisierungsunternehmen der griechischen<br />
Heroen verknüpft ist«. 11 Entsprechend identifiziert<br />
sie etwa der schwärmerisch in der Archäologie dilettierende<br />
Wissenschaftsautor und exilierte deutsche Kaiser Wilhelm II.<br />
in seinen Studien zur Gorgo als Wesen einer finster-mütterlichen<br />
Vorzeit, welche die Antike selbst zu überwinden sich<br />
anschickt. 12 Desgleichen siedelt wenige Jahre zuvor auch Sigmund<br />
Freud die Medusa – freilich in ganz anderer Absicht,<br />
nämlich als Bestätigung, die seine Theorie vom Kastrationskomplex<br />
durch das grauenvoll schlangenumwundene Gesicht<br />
(ein einziges weibliches Genital) erfährt 13 – auf dem »dunklen<br />
Kontinent« der Sexualität der Frau an und deutet sie <strong>im</strong> Zusammenhang<br />
von Geschlecht und Macht.<br />
Dies, die befremdende Weiblichkeit, die einem ausgreifend<br />
systematisierenden patriarchalen Reg<strong>im</strong>e anhe<strong>im</strong> fällt, lässt<br />
sich jedoch erst durch Luce Irigarays Geschlechterkonzept<br />
von Reflexion und M<strong>im</strong>ese mit dem Aspekt einer nicht zuletzt<br />
medialen Verdoppelung zusammenführen, und dabei<br />
vollzieht sich eine seltsame Umkehrung: Irigaray verficht die<br />
bewusste m<strong>im</strong>etische Wiederholung der marginalen Position,<br />
die der herrschende Diskurs dem Weiblichen zuweist, durch
16 MEURER, OIKONOMOU<br />
die Frau selbst als einzig mögliches Verfahren, eben diesen<br />
Diskurs zu unterminieren:<br />
Es existiert, zunächst vielleicht, nur ein einziger »Weg«,<br />
derjenige, der historisch dem Weiblichen zugeschrieben<br />
wird: die M<strong>im</strong>etik. Es geht darum, diese Rolle freiwillig zu<br />
übernehmen. Was schon heißt, eine Subordination umzukehren<br />
in Affirmation, und von dieser Tatsache aus zu<br />
beginnen, jene zu vereiteln. [...] M<strong>im</strong>esis zu spielen bedeutet<br />
also für eine Frau den Versuch, den Ort ihrer Ausbeutung<br />
durch den Diskurs wiederzufinden, ohne sich darauf<br />
einfach reduzieren zu lassen. Es bedeutet [...], sich wieder<br />
den »Ideen«, insbesondere der Idee von ihr, zu unterwerfen,<br />
so wie sie in/von einer »männlichen« Logik ausgearbeitet<br />
wurden; aber, um durch einen Effekt spielerischer<br />
Wiederholung das »erscheinen« zu lassen, was verborgen<br />
bleiben mußte. 14<br />
Nun scheint in dem von Irigaray auch <strong>im</strong> Folgenden verwendeten<br />
Wortfeld – von der M<strong>im</strong>esis und dem Spiel über die<br />
Wiederholung, das Erscheinen, das speculum und die Reflexion bis<br />
hin zum Anderen, zum Wider-Schein und zur re-semblance – zunächst<br />
der Spiegel auf, der in der Hand des Perseus das Mythische<br />
sicht- und behandelbar macht. Jener Spiegel ist, wie<br />
gesagt, Synekdoche des Mediums, des optischen Gerätes,<br />
führt mithin die Fotografie wie auch den <strong>Film</strong> als Repräsentationssysteme<br />
vor, denen der Mythos und das archaische<br />
Frauenbild, um das es hier geht, ihre Wahrnehmbarkeit und<br />
Objektivität verdanken. Aber es ist, als entwinde Irigaray diesen<br />
Spiegel seinem Besitzer, um ihn dem Opfer zu überantworten.<br />
Darin liegt die seltsame Umkehrung (von der Subordination<br />
zur Affirmation); war es zuvor der Okkupator des<br />
Diskurses, der ihn ganz für sich beansprucht und in der Verdoppelung<br />
der Medusa durch das Bild seine Macht durchge-
DIE ENTHAUPTUNG DER MEDUSA 17<br />
setzt hat, so ist es jetzt die Frau, ist es Medusa selbst, die sich<br />
des Spiegels bedient, sich seiner Macht willentlich auszusetzen<br />
scheint und sie, indem sie sich der Verbildlichung hingibt, bewusst<br />
reproduziert. Hat bisher der Held mit Hilfe seines<br />
<strong>Schild</strong>es das Bild des Weiblichen erzeugt, wie es sein Blick<br />
und seine Waffe zu domestizieren suchen, so dient das reflektierte<br />
Bild gerade in seiner Treue zur männlichen Idee und<br />
sogar in seiner Eigenschaft als Mordwerkzeug nun unversehens<br />
der Gorgo Medusa dazu, sich als verstummtes und verstümmeltes<br />
Wesen zu sehen und ihrem Gegenüber darzustellen.<br />
Die M<strong>im</strong>ese ist auf ihrer Seite. In der Bestätigung des<br />
überkommenen Machtverhältnisses läge also dessen Destabilisierung;<br />
die Gorgo ließe sich ansehen, ordnete sich so dem<br />
ihr aufgezwungenen Blick unter, und wäre doch zugleich anderswo<br />
– ein Anderswo, das sie sich schafft »zum Preis einer<br />
erneuten Durchquerung des Spiegels, der alle Spekulation aufrechterhält«.<br />
15<br />
Eine solche subversive Taktik der Unterlegenen mag erklären,<br />
weshalb das abgeschlagene Haupt der Medusa weiterhin<br />
fast ungebrochen wirksam bleibt. Auf seinem Weg nach Seriphos<br />
verwandelt Perseus mit dessen Hilfe zuerst Atlas, der<br />
ihm die Gastfreundschaft versagt, in ein Gebirge; genauso erstarren<br />
Phineus, der mit dem griechischen Heros um Andromeda<br />
konkurriert, samt seinen zweihundert Gefolgsleuten,<br />
dann König Polydektes und sein Hofstaat be<strong>im</strong> Anblick des<br />
Kopfes, den Pallas Athene schließlich als mächtige Waffe in<br />
die Mitte ihres <strong>Schild</strong>es setzt. Zumindest also muss ein Rest<br />
bleiben, der sich dem Reg<strong>im</strong>e der symbolischen Ordnung<br />
entzieht (beziehungsweise in deren bewusster Anerkenntnis<br />
und M<strong>im</strong>ese jene Ordnung verdoppelt, bestätigt, entkräftet).<br />
Das Ende des Weiblichen ist vorübergehend, eben weil es<br />
den Nacken beugt und sich dem Tod ausliefert; etwas taucht
18 MEURER, OIKONOMOU<br />
wieder auf, was unbewältigt <strong>im</strong> Verborgenen nur darauf gewartet<br />
hat und <strong>im</strong>mer noch darauf wartet – wohlverwahrt <strong>im</strong><br />
verschnürten Beutel Perseus’, begraben unter einem Erdhügel<br />
in Argos.<br />
Diese Subversion des Mythos von der Gorgo Medusa<br />
wirkt mutatis mutandis offenbar ebenso in der Darstellung des<br />
Weiblichen in einem Medium, das man ableiten kann aus<br />
jener ersten Erzählung einer Überwindung der Stasis durch<br />
eine bildgebende Optik: Die Reflexion in Perseus’ <strong>Schild</strong>, der<br />
sich die wissende Medusa aussetzt, weist voraus auf die Repräsentation<br />
der Frau, auf die »griechischen <strong>Frauenbilder</strong> <strong>im</strong><br />
<strong>Film</strong>«, wie sie dieser Band versammelt. Stets hat es auch hier<br />
den Anschein, als konzentrierten sich die männlichen Anschauungen<br />
und Ideen vom Weiblichen <strong>im</strong> Hohlspiegel<br />
kinematografischer Imagination, und ebenso beharrlich<br />
befreit sich das Weibliche aus der reinen Betrachtung und<br />
Bespiegelung, just indem es sich ihr scheinbar naiv anhe<strong>im</strong><br />
gibt. Insofern wiederholen die <strong>Film</strong>e ihr mythisches Vorbild,<br />
zuweilen indem die Frauenfiguren bewusst die ihnen <strong>im</strong> Diskurs<br />
zugewiesenen Positionen einnehmen und dadurch am<br />
Ende doch <strong>im</strong>mer schon ihren autonomen Raum, ihr Wollen<br />
und Handeln durchgesetzt haben – vom Hirtenmädchen,<br />
hinter dessen ausgestelltem nacktem Körper und hysterischem<br />
Gefühlshaushalt ein ungeahnt erfahrenes Selbstvertrauen<br />
aufscheint (Daphnis und Chloe), bis hin zur Griechin in<br />
Chicago, die sich dem väterlichen und dem Familienwillen<br />
unterstellt und eben dadurch den eigenen Willen erst realisiert<br />
(My Big Fat Greek Wedding). Ein anderes Mal erweist sich die<br />
emanzipatorische Macht der Niederlage, indem etwa Brigitte<br />
Bardot in ihrem banalen Sterben (Le Mépris) oder auch Melina<br />
Merkouri in ihrer blutigen Selbstopferung (Stella) die Gewalt<br />
des Blicks und der Männerliebe längst bereits in den Grenzen
DIE ENTHAUPTUNG DER MEDUSA 19<br />
der bloßen <strong>Film</strong>handlung zurückgelassen, ihre Rolle überstiegen<br />
haben und jenseits des vom Plot vorgeschriebenen Todes<br />
zum Leinwand-Mythos geworden sind. Und schließlich ist da<br />
Medea, die kolchische Zauberin, deren Name an den der Medusa<br />
anschließt und sie – wie diese – als »mächtige Gestalt der<br />
Vorzeit« ausweist. 16 Ob sie nach dem Kindsmord das eigene<br />
Haus in einem Flammensturm versinken lässt und Jason damit<br />
die Bestattung seiner Söhne verwehrt (so endet Pasolinis<br />
Version der Geschichte) oder ob sie sich, während ihr Mann<br />
bis zur Erschöpfung <strong>im</strong> Kreis jagt, mit der ruhigen Flut einschifft<br />
(Lars von Triers Version) – in jedem Fall entkommt<br />
sie dem strafenden, symbolischen Gesetz der Zivilisation,<br />
dem sie zuvor in hoffnungsloser Selbstaufgabe sich unterstellt<br />
hat, weil sie sich ihm unterstellt hat, und dadurch jetzt dessen<br />
xenophobes Gerüst freizulegen vermag. Ihre vernichtende<br />
Zauberkraft ist ungebrochen, sie n<strong>im</strong>mt sie mit sich, und weder<br />
die Mythologie noch das Kino weiß etwas von ihrem Ableben.<br />
17<br />
Aber <strong>im</strong> Bild des Medusenhauptes, das auch dann noch seine<br />
unheilvolle Kraft übt, wenn es vom Leib, seinen Blut- und<br />
Nervenbahnen, seinem Atem und Herzschlag getrennt wurde,<br />
offenbart sich nicht nur der unhe<strong>im</strong>liche Erfolg jener von Irigaray<br />
vertretenen Strategie, sich der »männlichen« Idee und<br />
ihren Bildproduktionen zu unterwerfen und in diesem m<strong>im</strong>etischen<br />
Akt deren Herrschaft zu untergraben. Es tritt darin<br />
nämlich zugleich ein Konzept zu Tage, das man neuerlich als<br />
Machtkonstellation beschreiben muss, die alle Politik, Philosophie,<br />
Physiologie, alles abendländische Denken durchläuft<br />
und wiederum von einem Modell patriarchaler Signifikanz<br />
begleitet wird: Es ist der instrumentale Blick, es ist der Kopf –<br />
und er allein –, der als Sitz eines wenn auch nur mehr rudi-
20 MEURER, OIKONOMOU<br />
mentären Willens agiert. In ihm wohnt die Bedrohung, er ist<br />
Zentrum und einziger General der Kraft, während ihr die<br />
körperliche Peripherie der ansonsten bedeutungslosen Gliedmaßen<br />
bestenfalls einen größeren Bewegungs- und Aktionsradius<br />
gewähren darf. Mit diesem durchweg intellektuellen<br />
Schema, das die Idee, das Erkennen, die Optik, das Wollen<br />
und die Macht <strong>im</strong> Kopf ansiedelt und den Körper als Abfall<br />
am Rand der Welt zurücklässt, wird die Gorgo (nachdem sie<br />
sich zuerst Perseus und dessen Reflexion hingegeben und so<br />
nicht den Sieg des Helden, sondern sich selbst affirmiert hat)<br />
letzten Endes doch wieder in die Strukturen des Sehens, in<br />
die Hierarchien eines männlichen Logos und in den Idealismus<br />
eingespannt. Eine fatale Kehre nach der anderen – der<br />
Mythos von der Überwindung Medusas wird zum Mythos<br />
ihrer ungebrochenen Macht gewendet, der jedoch, indem er<br />
ausschließlich vom Kopf erzählt, diese vorzeitliche Macht ein<br />
zweites Mal zu brechen versteht; am Ende gilt wie zuvor<br />
cerebrum statt vertebrae, Kopf statt Körper, Logos statt Mythos,<br />
Blick statt Wahrnehmung.<br />
Für das Kino und seine Theorien legt Heide Schlüpmann<br />
exemplarisch dar, wie vor allem die feministische Debatte der<br />
siebziger und achtziger Jahre, der auch Irigaray zuzurechnen<br />
ist, diese letzte Wendung ignoriert und gerade in ihrer Kritik<br />
des männlichen Blicks auf der Leinwand unwillkürlich dessen<br />
Ideal des Sehens und des hegemonialen Logos folgt. Daher<br />
habe die eingeschränkte Fixierung auf das begehrende Auge<br />
schließlich jene feministische Auseinandersetzung mit dem<br />
Kino in sich zusammenfallen lassen. 18 Stattdessen gelte es, in<br />
der Theorie von der Konzentration auf das Haupt, das objektivierende<br />
Sehen und die Technik der Kinematografie Abstand<br />
zu gewinnen und sich einem anderen, eher vegetativen<br />
Teil des <strong>Film</strong>erlebens zuzuwenden. Denn »[schließen] die
DIE ENTHAUPTUNG DER MEDUSA 21<br />
Blickkonstruktionen den weiblichen Standpunkt aus, bleibt<br />
die Frage nach einer Wahrnehmung, die nicht <strong>im</strong> Blick aufgeht«.<br />
19 Dieser Begriff – die Wahrnehmung – ist es nun, den<br />
Schlüpmann gegen den Blick ins Feld führt, um, wie sie sagt,<br />
mit seiner Hilfe die Liebe der Theoretikerinnen zum Kino aus<br />
ihrer Blindheit zu befreien. Dabei stützt sie sich grundlegend<br />
auf die Schriften Friedrich Nietzsches, auf dessen Kritik am<br />
Projekt der Aufklärung, auf dessen Preisgabe des Idealismus<br />
und der »›Weisheit‹ als Qualität der männlichen Existenz« sowie<br />
auf dessen Versuch, »dem in der philosophischen Tradition<br />
verborgenen ›Realismus der Wahrnehmung‹ Geltung zu<br />
verschaffen«. 20 Folgerichtig bezieht sich auch das häufig wiederholte<br />
Leitmotiv ihres Buchs auf eine Formel Nietzsches –<br />
am Leitfaden des Leibes.<br />
Um nun die mit feministischer Argumentation durchwobene<br />
Einleitung des vorliegenden Buchs, die Rede über die griechischen<br />
<strong>Frauenbilder</strong> <strong>im</strong> <strong>Film</strong> und den Mythos der Medusa<br />
nicht ebenso der Blindheit und dem Zusammenfall auszusetzen,<br />
indem man sie auf die – sicherlich nicht nur assoziativ<br />
miteinander verknüpften – Elemente des Blicks, des Gehirns<br />
und des Kopfs reduzierte, bedarf es also der Hinwendung<br />
zum Leib. Auf diese Weise erfährt der Mythos vom Kampf<br />
des Perseus gegen die Gorgo seine dritte Wendung, allerdings<br />
nachdem der Heros bereits den Ort seiner Heldentat mit dem<br />
verschnürten Haupt verlassen hat. Auf dem Wüstenboden ist<br />
zurückgeblieben, was für Perseus, für den gesamten Kreis der<br />
mythischen Erzählungen, die philosophische Tradition und<br />
die Theorie des Kinos nicht von Interesse ist: der kopf- und<br />
blicklose Körper, vertebrae statt cerebrum. Der Körper ohne regierende<br />
und integrierende Instanz lässt nun die Haupt-Sache<br />
vermissen, in der sich das hergebrachte idealistische Denken<br />
abgespielt hat; er stellt stattdessen die Verkörperung der Din-
22 MEURER, OIKONOMOU<br />
ge, des Materials und des Leibes dar. Etwa für Gilles Deleuze<br />
gerät dies zum Bild eines fundamentalen Wechsels <strong>im</strong> Denken:<br />
»Die abendländische Philosophie war das Hirn oder der<br />
väterliche Geist, der sich in der Welt als Totalität und in<br />
einem erkennenden Subjekt als Eigentümer verwirklichte.«<br />
Derweil sei der Pragmatismus, der sich gegen eine solche<br />
patriarchale Philosophie aufrichte, »[die] Affirmation einer<br />
Welt als Prozeß, als Archipel […], bewegliche Punkte und gewundene<br />
Linien, denn die Wahrheit hat <strong>im</strong>mer ›zerrissene<br />
Ränder‹. Nicht ein Hirn, sondern eine Wirbelkette, ein Rückenmark«.<br />
21 In Analogie zu diesem Schema, das der pragmatischen<br />
Philosophie erlaubt, sich des alten Geistes zu entledigen,<br />
das ohne ein zentrales und regelndes Prinzip, das ohne<br />
Kopf auskommt, entzieht sich auch der Körper der Medusa<br />
endgültig dem Zugriff Perseus’, erübrigt sich also die M<strong>im</strong>ese<br />
der Idee, die der männliche Diskurs laut Irigaray vom Weiblichen<br />
entwirft. Desgleichen befreit das Konzept des Leibes,<br />
enerviert allein durch das Rückenmark und seine Verzweigungen,<br />
das Kino und seine Theorie vom Pr<strong>im</strong>at des Blicks. In<br />
den hier behandelten <strong>Film</strong>en tritt daher bisweilen das Ungesehene<br />
und Verborgene an seine Stelle, etwa in Theo Angelopoulos’<br />
Adaption des Atriden-Mythos, dessen alles initiierende<br />
Tat – der Mord am he<strong>im</strong>kehrenden Agamemnon – der<br />
Kamera entzogen hinter verschlossener Tür geschieht; ein<br />
andermal sieht sich der Blick ersetzt durch die (moralische)<br />
St<strong>im</strong>me, die Antigone noch in ihrer dunklen Kammer Gehör<br />
verschafft, schließlich versagt seine zusammenfassende Kraft<br />
vollends vor der anatomischen Zerstückelung, die der Avantgarde-<strong>Film</strong><br />
am medialen Körper des Prometheus exerziert.<br />
Und wie der Korpus der <strong>Film</strong>e wird ebenso dieser Band,<br />
dessen Teile sich aus gänzlich unterschiedlichen theoretischen<br />
und stilistischen Richtungen wie auch in <strong>im</strong>mer wechselndem
DIE ENTHAUPTUNG DER MEDUSA 23<br />
Umfang und Anspruch ihrem Gegenstand nähern, in seiner<br />
Ordnung vom abwesenden Regelsystem, vom Fehlen des<br />
Blicks und des Haupts und vom Modell der Wirbelkette<br />
angeleitet: Anstatt die Beiträge zu Organen zu degradieren,<br />
die dem Diktat eines einzigen Programms gehorchten – der<br />
methodischen Unterscheidung etwa zwischen Mythosbearbeitung<br />
und modernem Stoff, dem Prinzip historischer Progression<br />
–, anstatt sie der zentralen Gesetzgabe eines Kopfes<br />
(kephale) zu unterstellen, bilden die Kapitel (kephalaia) eine<br />
vielköpfige beziehungsweise kopflose Verknüpfung von<br />
Isolaten und flottierenden Relationen, in der »jedes Element<br />
für sich allein steht und gleichwohl in Beziehung zu den anderen«.<br />
22 Es geht darum, die Struktur durch eine lose Serie<br />
der Texte zu ersetzen, so dass zwar eine lockere Koppelung<br />
zweier benachbarter Knoten noch auszumachen ist, eine Art<br />
intervertebrale Bandscheibe oder faserknorplige, flexible Verbindung<br />
zwischen den Wirbeln, nicht mehr aber ein kodiertes<br />
und womöglich baum- oder pyramidenförmiges System. Einzig<br />
der Aufsatz Angie Voelas über das <strong>Film</strong>exper<strong>im</strong>ent Prometheus<br />
Retrogressing, der am entschiedensten ein »weibliches«<br />
Kino vom Bild der Frau oder der Bildproduktion durch die<br />
Frau löst, n<strong>im</strong>mt eine in gewisser Weise noch selbstreflexive<br />
oder bündelnde Position ein: Er entdeckt in der fragmentierenden,<br />
einer triebhaften Wiederholung hingegebenen und<br />
vernunftlosen Ästhetik des Avantgarde-<strong>Film</strong>s anstelle der<br />
symbolischen eine <strong>im</strong> Sinne Julia Kristevas semiotische Darstellungsweise,<br />
setzt sie – unabhängig vom Bildgegenstand –<br />
dem kontrollierenden und zentrierenden Panoptikon des<br />
klassischen Kinos entgegen und scheint damit zugleich die<br />
möglichst kontingente und alineare Verfertigung dieses Bandes<br />
zur Sprache zu bringen; insofern bildet Voelas Beitrag ein<br />
Ganglion <strong>im</strong> Nervengespinst der Texte, eine flüchtige Kon-
24 MEURER, OIKONOMOU<br />
zentration und auch eine Metaisierung in deren Rede, die <strong>im</strong>mer<br />
erneut abbricht und anhebt. Zwar taucht er deshalb an<br />
choratischem Ort in der Mitte des Buchs auf, geht jedoch zugleich<br />
in dessen Serie gleichberechtigter und autonomer<br />
Elemente auf, indem er eben weder an programmatischer<br />
Stelle dem Übrigen vorangeht noch die Wirbelkette synthetisierend<br />
abschließt ...
DIE ENTHAUPTUNG DER MEDUSA 25<br />
Der von Irini Stathi und Angie Voela gemeinsam verfasste<br />
erste Beitrag betrachtet das griechische Kino anhand zahlreicher<br />
Fallbeispiele zum einen als Reflexionsfläche, zum<br />
anderen als Produktionsstätte eines Frauenbildes, das bis in<br />
die Gegenwart <strong>im</strong>mer neue Umschichtungen und Konzeptualisierungen<br />
erfährt. Dominiert bis in die sechziger Jahre des<br />
letzten Jahrhunderts die oftmals in Stereotypen befangene<br />
Marginalisierung des Weiblichen als Objekt eines ihm aufgedrängten<br />
Begehrens oder als Träger eines Familienideals, so<br />
zeichnet sich nach Stathi/Voela daraufhin – gerade <strong>im</strong> Versuch<br />
einer Reduktion der Komplexität des modernen Geschlechterverhältnisses<br />
<strong>im</strong> realitätsfreien heterotopischen<br />
Raum der Mythosverarbeitung – seine zunehmende Problematisierung<br />
ab. Im Hinblick auf das in den Achtzigern zu<br />
verzeichnende Anwachsen feministischen Bewusstseins und<br />
nach der darauf antwortenden und zusehends rigideren Tendenz<br />
einer (psychosozialen, medizinischen, politischen, religiösen,<br />
künstlerischen und kinematografischen) Kontrolle und<br />
Domestizierung der Frau und ihrer zuweilen gar zerstörerischen<br />
Abweichung mündet der Prozess in eine verunsicherte<br />
Selbstbefragung des Mannes und die Destabilisierung seines<br />
Rollenverständnisses auf der Leinwand. Jene Erschütterung<br />
der bisher überaus wirksamen gynophoben Strategien des<br />
Kinos, die jetzt auf den Mann zurückfällt, veranschaulichen<br />
Stathi/Voela schließlich an drei Versionen des Orpheus-<br />
Mythos, Me ton Orfea ton Avgousto (Mit Orpheus <strong>im</strong> August,<br />
George Zervoulakos 1996), Adis (Hades, Stelios Haralambopoulos<br />
1997) und Kamia sympatheia gia ton diavolo (No Sympathy<br />
for the Devil, D<strong>im</strong>itris Athanitis 1998): Stets erfährt sich hier<br />
»Orpheus« als isoliert, dem Leben entsetzt und büßt, nachdem<br />
die Rettung aus der Unterwelt ein um das andere Mal<br />
misslingt, am Ende seine Identität ein. Derweil ist es Eury-
26 MEURER, OIKONOMOU<br />
dike, die in der Unterwelt ihr Zuhause findet (ein Echo noch<br />
auf die Heterotopie, die dem Weiblichen zugewiesen wird)<br />
und indifferent dem Scheitern der männlichen Logik und<br />
stringenten Narration beiwohnt.<br />
Der anschließende knappe Essay des Roman- und Drehbuchautors<br />
Petros Markaris stellt statt eines solchen diachronen<br />
Wandels des Frauenbilds <strong>im</strong> griechischen Kino dessen Konstanz<br />
in den Vordergrund (dies – die Frage nach der Historizität<br />
von Weiblichkeitskonzepten – die »Bandscheibe« zwischen<br />
den ersten beiden vertebrae des Textkorpus): Das Werk<br />
Theo Angelopoulos’ rekurriere seit dessen kargem und lakonischem<br />
Spielfilmdebüt Anaparastasi (Rekonstruktion, 1970)<br />
unablässig auf die antike Tragödie und besonders auf deren<br />
Bearbeitungen des Atriden-Mythos. Auf dessen Boden und<br />
als Spiegel der durch Krieg, Bürgerkrieg und Diktatur geprägten<br />
Geschichte des Landes entwerfe Angelopoulos durchgängig<br />
den Typus der leidenden und opferwilligen Frauenfigur,<br />
der spätestens mit To vlemma tou Odyssea (Der Blick des<br />
Odysseus, 1995) archetypische Bedeutung für den gesamten<br />
Kulturraum des Balkans zukomme. Während allerdings dieser<br />
Typus einerseits regressive Züge aufweist, da er eine Kontinuität<br />
des Musters passiver und niedergehaltener Weiblichkeit<br />
vom Altertum bis in die jüngste Gegenwart postuliert und<br />
darin alles nonkonforme und transgressive Potential sowohl<br />
der mythologischen Frauengestalten als auch der modernen<br />
Emanzipationsbewegung leugnet, ist er Markaris zufolge andererseits<br />
als »sozialrealistisch« zu verstehen, indem er die<br />
ungebrochen patriarchalen Verhältnisse der griechischen Gesellschaft<br />
repräsentiere.
DIE ENTHAUPTUNG DER MEDUSA 27<br />
Gegen jenes Schema einer in und an der Symbolwelt leidenden<br />
Weiblichkeit stellen sich nun die <strong>Frauenbilder</strong> in Lars<br />
von Triers Medea (1988) und Dogville (2003): Virginia Richter<br />
legt anschaulich dar, wie stets der Mythos von Medea nach<br />
der Erfüllung seiner grundlegenden dreigliedrigen »Formel«<br />
verlangt, welche die Figur als Magierin, Fremde und Kindsmörderin<br />
identifiziert; hierdurch aber ist sie dem Diskurs<br />
nicht mehr (oder bestenfalls als dessen Grenze) einzuordnen<br />
und überschreitet – ob in der Überzeichnung des Barbarischen<br />
oder in dessen moderner Kritik – in allen Versionen<br />
seit Euripides <strong>im</strong>mer wieder die Demarkationen des Menschlichen,<br />
der Polis und ihrer Moral. Dabei handelt Trier jenen<br />
Grundkonflikt nicht zuletzt auf der formal-ästhetischen Ebene<br />
seiner Verfilmung ab, indem er den dialogischen discours<br />
und die histoire der klassischen Tragödie in einer metamedialen<br />
Betonung des Kinematografischen auflöst – das körnige<br />
<strong>Film</strong>material, der expressive Kontrast und die verfremdende<br />
Farbgebung leiten die Bilder hin zum Abstrakten, während<br />
die Entschleunigung der Handlung, der Einsatz der Pause<br />
und eine zirkuläre Erzählstruktur das zielgerichtete Narrativ<br />
in Frage stellen. Da auf diese Weise einerseits die Geschichte<br />
zum Träger des Formexper<strong>im</strong>ents gerät, andererseits jedoch<br />
der Medea-Stoff <strong>im</strong>mer seine formelhafte Bestätigung fordert,<br />
da die autoreflexive Kreisbewegung (Medea) und die lineare<br />
Handlung (Jason) sich derart ergänzen und zugleich aneinander<br />
reiben, lässt sich von einer Verlagerung jener beiden kollidierenden<br />
Prinzipien des Mythos in die Gestaltung des <strong>Film</strong>s<br />
sprechen. Ähnlich verfährt auch Dogville, wenn er die Dynamik<br />
des Aktionsbildes <strong>im</strong> Tableau und <strong>im</strong> Theatralen zurückn<strong>im</strong>mt.<br />
Hier ist es die Hauptfigur Grace, die das Moment der<br />
Transgression markiert; ihre Opferrolle wie auch die Rache an<br />
der Dorfgemeinschaft stellen ein unmäßiges Handeln dar, das
28 MEURER, OIKONOMOU<br />
sie in die Nähe des moralischen Problems Medea versetzt.<br />
Und wie schon dort das Dilemma als Frage nach der Form<br />
des Erzählens aufscheint, begegnet man hier dem Ethischen<br />
wiederum <strong>im</strong> Ästhetischen: Der Antirealismus bühnenhafter<br />
Inszenierung verwandelt den <strong>Film</strong> in eine vor allem exper<strong>im</strong>entelle<br />
Auseinandersetzung zwischen christlicher und antiker<br />
Weltordnung, die Lars von Trier allerdings in den formalen<br />
Bedingungen seines Werks als aporetisch ausstellt:<br />
Wird bereits die Bekräftigung der Rache als Handlungsmax<strong>im</strong>e<br />
in beiden <strong>Film</strong>en paradox formuliert – ein zweites Unrecht<br />
tilgt nicht das erste, aber der Bruch mit der Norm wirkt<br />
dennoch befreiend –, so weist die explizit künstliche und dekonstruierte<br />
Handlungsgestalt ein weiteres Mal auf dieses prekäre<br />
Verhältnis von Opfer und Rache, das in jeder Bearbeitung<br />
<strong>im</strong>mer erneut diskutiert, niemals aber zum Abschluss<br />
gebracht werden kann.<br />
Auch Aristotelis Chaitidis widmet sich dem »Problem Medea«,<br />
nun allerdings mit Blick auf die eingangs verhandelte<br />
Dialektik von Mythos und Logos: Wie schon Cherubinis<br />
Oper alle Handlung vom Wort in den Gesang verlege, transponiere<br />
seinerseits Pier Paolo Pasolini die Tragödie ins Bild –<br />
ein Analogon, das die Wahl der gleichsam archaisch-instinkthaft<br />
anmutenden Hauptdarstellerin Maria Callas für seine<br />
Medea-Adaption (1969) motiviere. Auf diese Weise vom<br />
sprachlichen Ausdruck weitgehend gereinigt, strebt Pasolinis<br />
<strong>Film</strong> laut Chaitidis die Präsentation des Mythischen vor dessen<br />
Umwandlung durch Symbol und Logos an. Im zeichenfreien<br />
Bild des Realen, das der Regisseur am klarsten noch in<br />
der Einstellungssequenz verwirklicht sieht, die dem Geschehen<br />
der Welt ihre unendliche Linearität beiordnet, kann das<br />
Kino die Entfremdung des Mythos durch den Eingriff der
DIE ENTHAUPTUNG DER MEDUSA 29<br />
Vernunft rückgängig machen. Um also die psychologisch<br />
lesbare und intentionale Darstellung zu Gunsten des Passiven<br />
und Meditativen zurückzudrängen, bringt Pasolini die unterschiedlichsten<br />
Verfahren ins Spiel: er de-individuiert die Charaktere<br />
und untergräbt damit die Einfühlung auf der herkömmlichen<br />
Affektbasis, handhabt die Kamera distanziert<br />
und gestaltet den Bildraum flächig, bevorzugt die schlichte<br />
Bewegung und »unlogische« Verkettung der Sequenzen. Entsprechend<br />
lässt sich die Topologie des <strong>Film</strong>s als Ausdruck<br />
jener konkurrierenden Konzepte von Mythos und Logos<br />
lesen. Während das vorzivilisierte Kolchis den Raum des<br />
Kollektivs, des Rituals, der Natur und der zirkulären Zeitstruktur<br />
bildet und damit Medea als prärationale mythische<br />
Figur ausweist, ist die Welt Jasons ein vernunftgeprägter Kulturraum,<br />
in dem das Individuum, das gerichtete Handeln, die<br />
Instrumentalisierung des Menschen und seiner Umgebung<br />
herrschen. In Medea, die die Grenze zwischen Barbarei und<br />
Polis überschreitet, kollidieren daraufhin beide Sphären, was<br />
deren katastrophale Reaktion zur Folge hat; die Reise Medeas<br />
vom Mythos zum Logos endet nicht in harmonischer Synthese,<br />
sondern in der Zersetzung des zivilisatorischen Anspruchs<br />
Korinths durch das fremde Weibliche.<br />
Tritt demnach Medea als ein mythisches Prinzip auf, das sich<br />
gleichsam in Pasolinis Bildraum und Ästhetik hinein verlängert,<br />
führt derweil der Beitrag zu Jean-Luc Godards Le Mépris<br />
(Die Verachtung, 1963) aus, inwiefern hier umgekehrt die von<br />
Brigitte Bardot verkörperte Penelope-Figur nun als Hypostase<br />
einer filmischen Form fungiert, welche die Textur des Erzählens<br />
zusehends auflöst und dabei dessen mediale Bedingungen<br />
freilegt. Für Michel Serres stellt Penelope noch die<br />
»Theoretikerin« des Epos und seines Diskurses dar, indem sie
30 MEURER, OIKONOMOU<br />
die Verknüpfung der Raumteile, die Odysseus’ Irrfahrt vollzieht,<br />
an ihrem Webstuhl nachvollzieht. Diesen Anspruch<br />
eines theoretischen Reflexes auf inhaltlicher Ebene scheint<br />
Godard aufzugreifen, jetzt allerdings als Explikation des<br />
formkritischen, nicht mehr synthetisierenden, sondern<br />
fragmentierenden Blicks der nouvelle vague. Im Bild der Protagonistin,<br />
die sich allenthalben in reiner Farbe auflöst, sich<br />
unentschlossen der Handlung entzieht und dem Standbild<br />
eher als der Bewegung zuneigt, will sich das neue Kino nicht<br />
mehr als episch erweisen. An Camille/Bardot/Penelope wird<br />
der Chromatismus anstelle des Realitäts- oder Symbolgehalts<br />
der Farbe, die Pose oder Verhaltensweise anstelle der klassischen<br />
Aktion und desgleichen die Materialität und Technik<br />
des <strong>Film</strong>ischen anstelle seiner Verdrängung durch die Wahrnehmungsillusion<br />
vorgeführt – da Penelope zu weben aufgehört<br />
hat, treten die Kettfäden des Kinos, das Fotogramm,<br />
der Bildkader, die Montage, der Bewegungsapparat nunmehr<br />
unverbunden zu Tage.<br />
Daraufhin löst Angie Voela das »Weibliche« gänzlich von<br />
einer Figur, vom erzählbaren Inhalt oder Objekt eines <strong>Film</strong>s,<br />
um es fast ausschließlich in der Bildästhetik anzusiedeln –<br />
deshalb gerät Costas Sfikas’ Promitheus enandiodromon (Prometheus<br />
Retrogressing, 1998), obwohl er sich scheinbar ganz dem<br />
männlichen Körper widmet, nichtsdestotrotz zum Exempel<br />
einer femininen Wahrnehmung: An Prometheus, Mittler<br />
zwischen menschlicher und göttlicher Sphäre wie auch zwischen<br />
vergangener Tat und augurischem Wissen um die<br />
Zukunft, veranschaulicht der <strong>Film</strong> das Interstitium zwischen<br />
Stasis und Bewegung, Bild und Ton sowie Subjektivität und<br />
Objektivität des Blicks. Mehr noch: in der Dekonstruktion<br />
seines gefesselten Leibes durch Collage und elektronische
DIE ENTHAUPTUNG DER MEDUSA 31<br />
Verfremdung überschreitet die Repräsentation die bipolare<br />
Scheidung von einheitlichem Sehen und Gesehenwerden und<br />
somit zugleich die sadomasochistische Ordnung, wie Voela<br />
<strong>im</strong> Rückgriff auf die Lacansche Psychoanalyse erklärt, um in<br />
der autoreflexiven Rückwendung des Blicks und des Triebs<br />
auf sich selbst ein neues Bewusstsein zu schaffen. Dieses<br />
Bewusstsein äußert sich – nun jenseits traditioneller Machtkonstellationen<br />
– in einer avantgardistischen Ästhetik des<br />
Dazwischen, die durch ihr relativierendes und ordnungskritisches<br />
Potential unweigerlich mit einer feministischen<br />
Perspektive und Ablösung dominanter Symbolordnung durch<br />
die »Chora« einhergeht. Als Gegenteil des Willens zur Macht,<br />
der für gewöhnlich <strong>im</strong> sinntragenden, linearen und beherrschenden<br />
Bild und Phonotext seinen Ausdruck findet, erzeugt<br />
Sfikas in repetitiven Bildschleifen, arbiträren Kamerafahrten<br />
und <strong>im</strong> poetisch-musikalischen Genotext des Voice-over –<br />
Aischylos’ Tragödientext <strong>im</strong> altgriechischen Original, der hier,<br />
von einer Frauenst<strong>im</strong>me vorgetragen, Prometheus Körper<br />
bewohnt – eine alternative und spezifisch weibliche Logik.<br />
Von Heterogenität geprägt, unterläuft Promitheus enandiodromon<br />
jeden Kontrollwahn durch ein Prinzip der Lücke und Leerstelle,<br />
das männlich-ideologische (Selbst-)Projektionen enthüllt<br />
und sie in die reine jouissance an Bild und Klang überführt.<br />
Eine der diversen Varianten jener Zwischenstellung, die Angie<br />
Voela als Ort einer kritischen Ästhetik benennt, kennzeichnet<br />
auch die Verarbeitung des Antigone-Mythos durch<br />
den Essayfilm Deutschland <strong>im</strong> Herbst (Rainer Werner Fassbinder,<br />
Alexander Kluge, Edgar Reitz, Volker Schlöndorff u.<br />
a., 1978). Während Antigone von alters her der Veranschaulichung<br />
einer Dialektik von Staatsräson und höherer Moral
32 MEURER, OIKONOMOU<br />
dient und sich in diesem Sinne <strong>im</strong>mer wieder als Personifizierung<br />
des politischen Widerstands gegen alle Autorität<br />
funktionalisiert sieht, ist es neuerlich Lacan, der sie aus der<br />
bloßen Gegensätzlichkeit in den Raum zwischen Leben und<br />
Tod oder Wille und Unterwerfung versetzt. Diese depolarisierende<br />
Geste findet ihre Entsprechung, wenn auch der Terrorismus,<br />
dessen Verhältnis zum Staat Deutschland <strong>im</strong> Herbst<br />
diskutiert, nicht als das böse Andere aus dem Bereich einer<br />
Gesellschaft ausgeschieden, sondern als deren innere Essenz<br />
und unhe<strong>im</strong>liches Double erkannt wird. Dass der <strong>Film</strong> über<br />
weite Strecken seiner Argumentation gleichsam abstrakt und<br />
in einer seiner Episoden schließlich explizit Antigone als<br />
Kristallisationspunkt oder Agentin einer politischen Debatte<br />
und als Spiegelfläche des Terrors der Roten Armee Fraktion<br />
in den späten siebziger Jahren einführt, bewirkt demnach die<br />
Relativierung der Gegensätze und die Installierung eines Zwischenraums,<br />
in dem staatliche und kr<strong>im</strong>inelle Gewalt enggeführt<br />
werden können (freilich ohne sie polemisch gleichzusetzen).<br />
Vor allem inszeniert Deutschland <strong>im</strong> Herbst diesen<br />
unentschiedenen Ort als Dialog oder St<strong>im</strong>menvielfalt, die sich<br />
oftmals von den Sprechern und ihren Körpern löst, so dass<br />
die »Polyphonie« des <strong>Film</strong>s und seine St<strong>im</strong>men (zwischen<br />
Sprache und Physis, Wort und Klang, Außen und Innen) das<br />
zuvor in strengen Oppositionen gegliederte politische Für<br />
und Wider nun in all seiner Komplexität aufzufächern versteht.<br />
Von solcher Vermittlung zur Entgegensetzung, von der St<strong>im</strong>me<br />
zur Schrift: Der filmphilologische Beitrag Klaus Kanzogs<br />
untersucht Max Frischs Roman Homo Faber als Vorlage der<br />
Verfilmung Schlöndorffs (1991) und best<strong>im</strong>mt dabei deren<br />
Abweichungen vom Text als Tendenz zum Melodramati-
DIE ENTHAUPTUNG DER MEDUSA 33<br />
schen, das seinerseits allerdings durch die weibliche Hauptfigur<br />
einer »Dekonstruktion« unterzogen wird. Mit Anspielungen<br />
auf den griechischen Mythenkreis durchsetzt, wobei<br />
<strong>im</strong> Motiv eines Informationsdefizits des Protagonisten und in<br />
dem des Inzests vor allem Ödipus als Folie zu dienen scheint,<br />
wirft zunächst das Buch – nicht zuletzt vor einem stark akzentuierten<br />
zeitgeschichtlichen Hintergrund (die Handlung<br />
setzt kurz vor dem zweiten Weltkrieg ein; die Geliebte Fabers,<br />
Hanna, ist Halbjüdin) – die Frage nach persönlicher<br />
Verantwortung und Schuld auf. In der filmischen Aufbereitung<br />
des Romans für den amerikanischen Markt sieht sich<br />
Schlöndorff daraufhin genötigt, die Komplexität des Konflikts,<br />
der Abstammungsproblematik und der mythischen<br />
Matrix der Erzählung zu reduzieren. Jene Vereinfachung<br />
bewirkt, das Elemente des Mythos bestenfalls noch als Andeutung<br />
in das Bild eingestreut sind; zugleich jedoch geht mit<br />
der narrativen Zuspitzung der Charaktere (und der intensiven<br />
Darstellung Barbara Sukowas) ein deutlicher Konturgewinn<br />
der nunmehr überaus situationsmächtigen und unabhängigen<br />
Hanna einher, die zudem als Mitschuldige neben Faber ihre<br />
Profilierung als tragische Figur erfährt.<br />
Gleichfalls an der Textvorlage, an Longos’ antikem Hirtenroman,<br />
orientiert sich Elisa-Anna Delveroudis Untersuchung<br />
der historisch changierenden Konstruktion von Liebesmodellen<br />
durch zwei griechische Verfilmungen, Orestis<br />
Laskos’ Daphnis kai Chloi (Daphnis and Chloe, 1931) und Nikos<br />
Koundouros’ Mikres Aphrodites (Young Aphrodites, 1963). Dabei<br />
lässt die von der Titelgebung über den Einsatz narrativer<br />
Hauptmerkmale bis hin zu ihrer Thematik jugendlich unverständiger<br />
Liebe vergleichsweise »treue« frühe Adaption bei<br />
genauer Betrachtung einen Subtext zeitgenössischer eroti-
34 MEURER, OIKONOMOU<br />
scher Diskurse erkennen: Unter dem Einfluss des klassischen<br />
Hollywood-Kinos wie auch der Hysterieforschung der zwanziger<br />
und dreißiger Jahre kommt es zu einer Stereotypisierung<br />
und sexuellen Überzeichnung der Charaktere, die letzten<br />
Endes hinleitet zur Inszenierung des voyeuristischen Schauwertes<br />
des weiblichen Körpers in der – wie Laskos selbst<br />
betont – ersten Nacktszene der <strong>Film</strong>geschichte. Derweil<br />
n<strong>im</strong>mt das in archaischer Zeit- und Ortlosigkeit angesiedelte<br />
Werk Koundouros’ für sich in Anspruch, Liebe als überhistorisches<br />
Instrument sozialer Unterdrückung auszuweisen. Auf<br />
der Basis vorgeblich archetypischer oder auch darwinistischer<br />
Machtrelationen errichtet die <strong>Film</strong>handlung in einer vorzivilisierten<br />
Hirtengemeinschaft eine nach Geschlecht und Lebensalter<br />
gestaffelte Gewalthierarchie. Während diese dem<br />
Regisseur zufolge einer ursprünglich biologischen Gesetzmäßigkeit<br />
entspringt, welche die Frau und mehr noch das<br />
junge Mädchen allen sexuellen Übergriffen ausliefert, legt<br />
hingegen Delveroudi in Mikres Aphrodites dominante Züge der<br />
Sexualmoral der sechziger Jahre frei, so dass hier offenbar<br />
neuerlich die Projektion eines modernen Liebesdiskurses auf<br />
die antike Textvorlage stattfindet.<br />
Daraufhin widmet sich Raoul Eshelman der sprachlichen,<br />
ethnischen und geschlechtlichen Identität <strong>im</strong> Ausgang der<br />
Postmoderne. Entgegen deren unaufhörlicher Subjekt- und<br />
Zeichenzerstreuung sieht Eshelman in Joel Zwicks My Big Fat<br />
Greek Wedding (2002) ein Paradigma performativer Kommunikation<br />
und monistischer Individualität verwirklicht, für das<br />
die griechische Sprache und kulturelle Abstammung ein<br />
grundsätzlich konsensbildendes Terrain abgeben: die Sprachgrenzen<br />
zwischen dem amerikanischen Einhe<strong>im</strong>ischen und<br />
dem Einwanderer sind <strong>im</strong> »ostensiven«, sozial versöhnenden
DIE ENTHAUPTUNG DER MEDUSA 35<br />
Zeichen aufgehoben (jeder englische Begriff ist in My Big Fat<br />
Greek Wedding von einer griechischen Wurzel herleitbar und<br />
stiftet durch solche fiktive Etymologie eine Einheit jenseits<br />
linguistischer Differenzkonzepte); die griechische Migranten-<br />
Gemeinschaft wird, statt selbst ihre Integration betreiben zu<br />
müssen, als vitaler Mikrokosmos dargestellt, der aus der Peripherie<br />
der Gesellschaft in deren Mitte rückt und nun seinerseits<br />
zur Ass<strong>im</strong>ilation der entkräfteten, eigenschaftsarmen und<br />
– <strong>im</strong> Falle des männlichen Protagonisten – zum Femininen<br />
tendierenden Angelsachsen einlädt. Dieser Rollentausch stabilisiert<br />
alle Identität, die zuvor, so Eshelman, in der postmodernen<br />
Diskursabhängigkeit ihr Zentrum einzubüßen drohte,<br />
auf dem Boden von Kultur, Sprache und Vererbung (was sich<br />
ebenso am Geschlechterbild in Jeffrey Eugenides’ Roman<br />
Middlesex ablesen lasse); von dort aus sei nun eine Wahlfreiheit<br />
in der Lebens- und Persönlichkeitsgestaltung möglich, die<br />
sich den postmodernen De(kon)struktionen entwunden habe.<br />
Abschließend – als letztes Glied der Wirbelkette – erläutert<br />
die Dokumentarregisseurin Eva Stefani, wie ihr Kurzfilm<br />
Moiroloi (Klagelied, 1991) dem Monolog der darin porträtierten<br />
New Yorker Straßenverkäuferin Chrissoula einen adäquaten<br />
ästhetischen Rahmen zu verleihen sucht. Im Gegensatz zu<br />
Eshelmans Entwurf einer gelungenen Integration griechischer<br />
Immigranten entsetzt sich Chrissoula durch das Erzählen<br />
unablässig ihrer Gegenwart, so dass ihr Diskurs der Erinnerung<br />
an ihre Herkunft von den Motiven des ponos (Schmerz)<br />
und der xenitia (Fremdheit) getragen ist. Hierin wie auch in<br />
den Formmerkmalen des Zeitsprungs, der Redepause und der<br />
ritornellhaften Wiederholung gleicht ihr Sprechen traditionellen<br />
griechischen Klageliedern, die sich <strong>im</strong> Ausdruck des<br />
Verlusts zugleich als Selbstversicherung des Sozialen und als
36 MEURER, OIKONOMOU<br />
gemeinschaftsbildender Dialog verstehen. Insofern also der<br />
Monolog die Armut und Arbeit des Jetzt ausspart und sich<br />
liedhaft der Vergangenheit zukehrt, vollzieht er eine subversive<br />
und <strong>im</strong> Aufrufen von Gedächtnisbildern disruptive<br />
Bewegung, die sich gegen die Isolation und Stasis unausgefüllter<br />
Realität richtet. Jener Bewegung folgt Stefanis <strong>Film</strong><br />
zum einen <strong>im</strong> Wechsel real-dokumentarischer und <strong>im</strong>aginativfiktionaler<br />
Erzählmittel, zum anderen geraten Kamera und<br />
Tonanlage zum Analogon der für die moiroloia unerlässlichen<br />
»Antiphonie«, zum aktivierenden Zuhörer und Adressaten<br />
des Gesangs, ohne dabei eine erläuternde, komplettierende<br />
oder versöhnende Funktion erfüllen zu wollen. Auf diese<br />
Weise gelingt es dem <strong>Film</strong>, der brüchigen Heteroglossie der<br />
Frau in der Fremde, die durch das Sprechen ihren Stillstand in<br />
den Straßen der amerikanischen Großstadt transgressiv überwindet,<br />
ein Bild zu geben.<br />
1 Vgl. Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos. Frankfurt/M. 1979, S. 32.<br />
2 Vgl. ebd., 56.<br />
3 Daran ändert auch Cassirers Hinweis auf die besondere Nähe zwischen<br />
Wirklichkeit und mythischer Symbolfunktion wenig (»Wo nicht über den<br />
Mythos reflektiert wird, sondern wo wahrhaft in ihm gelebt wird, da gibt<br />
es noch keinen Riß zwischen der ›eigentlichen‹ Wahrnehmungswirklichkeit<br />
und der Welt der mythischen ›Phantasie‹.« (Ernst Cassirer: Philosophie<br />
der symbolischen Formen. Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis.<br />
Darmstadt 1982, S. 72). Auch hier geht es um eine Zeichenbeziehung<br />
des Mythischen zur Realität.
DIE ENTHAUPTUNG DER MEDUSA 37<br />
4 Vgl. Hans K. Lücke / Susanne Lücke: Antike Mythologie. Ein Handbuch.<br />
Der Mythos und seine Überlieferung in Literatur und bildender Kunst. Reinbek<br />
bei Hamburg 1999, S. 545: »Daß es sich hier um ein ästhetisches Phänomen<br />
handelt, zeigt der Umstand, daß das Spiegelbild die Macht des Urbildes<br />
bricht.«<br />
5 Ebd., 540.<br />
6 Vgl. Marcus Annaeus Lucanus: Pharsalia 9, 647-651: »hoc [monstrum]<br />
potuit caelo pelagoque minari / torporem insolitum mundoque obducere<br />
terram. / E caelo uolucres subito cum pondere lapsae, / in scopulis<br />
haesere ferae, uicina colentes / Aethiopum totae riguerunt marmore<br />
gentes.«<br />
7 Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie. Frankfurt/<br />
M. 1985, S. 101.<br />
8 Ebd., 106.<br />
9 Vgl. Lücke/Lücke: Mythologie, 634.<br />
10 Jenem Widerstreit zwischen fotogrammatischem und kinetischem<br />
Prinzip, der in der Opposition wie auch in der gegenseitigen Ergänzung<br />
mythischer Figuren Form gewinnt, wird man – nun am Beispiel des<br />
Odysseus und der Penelope – <strong>im</strong> Beitrag zu Godards Le Mépris wieder<br />
begegnen.<br />
11 Inge Stephan: Musen und Medusen, Mythos und Geschlecht in der Literatur<br />
des 20. Jahrhunderts. Köln u. a. 1997, S. 61.<br />
12 »Wir sind es gewöhnt, die griechischen Götter in der Vollendung des<br />
Weges von Myron und Polyklet über Phidias herüber bis Praxiteles und<br />
Lysipp zu sehen. Unter der gewöhnlichen Kultur verstehen wir Gestalt<br />
und Wesen harmonischer Dichtung. Nun hat die Gorgo mit diesen<br />
Herrlichkeiten des klassischen Hellas weder als Form noch als Wesen<br />
irgend etwas zu tun. Dieses grausige Geschöpf, dieser blutige Leib [...]<br />
gehört in die gleiche Schicht urgewaltiger Riesengötter wie Chronos<br />
selbst.« (Kaiser Wilhelm II.: Studien zur Gorgo. Berlin 1936, S. 14.)<br />
13 Vgl. Stephan: Musen, 66 ff. Inge Stephan bezieht sich hier auf Freuds<br />
1922 verfassten skizzenhaften Aufsatz »Das Medusenhaupt«, der erst<br />
postum veröffentlicht wurde (Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse und<br />
Imago. XXV. 1940. S. 105-106).<br />
14 Luce Irigaray: Das Geschlecht, das nicht eins ist. Berlin 1979, S. 78.<br />
15 Ebd., 79.<br />
16 Vgl. Stephan: Musen, 61.
38 MEURER, OIKONOMOU<br />
17 Vgl. hierzu etwa das Lemma »Medea« in: Edward Tripp: Crowell’s<br />
Handbook of Classical Mythology. New York 1970.<br />
18 Vgl. Heide Schlüpmann: Abendröthe der Subjektphilosophie. Eine Ästhetik<br />
des Kinos. Basel u. a. 1998, S. 15.<br />
19 Ebd., 12.<br />
20 Ebd., 17.<br />
21 Gilles Deleuze: Bartleby oder die Formel. Berlin 1994, S. 51.<br />
22 Ebd.