Ü B E C K I S C H E LÄ T T E R - Lübeckische Blätter
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L <strong>Ü</strong> B E C K I S C H E<br />
B L Ä T T E R<br />
18. April 2009 · Heft 8 · 174. Jahrgang · Zeitschrift der Gesellschaft zur Beförderung gemeinnütziger Tätigkeit<br />
Von Gott und allen guten Geistern verlassen?<br />
Die Finanzkrise und der Weg in die Zukunft!<br />
Rede von Björn Engholm am 8. März in St. Stephanus, Karlshof<br />
Seit Beginn der Neuzeit ist die Geschichte<br />
immer aufs Neue verändert worden,<br />
durch Erfinder, Entdeckungen, bahnbrechende<br />
Ideen. Und diese Neuerungen<br />
waren immer verbunden – natürlich – mit<br />
Namen. Es waren Menschen, die etwas<br />
Neues wagten, die kreativ und<br />
risikobewusst in die Zukunft<br />
gingen. Ich erinnere an den<br />
größten „Bahnbrecher“ aller<br />
Zeiten, für meine Begriffe<br />
Martin Luther. Ich erinnere an<br />
Gutenberg, dessen Jünger ich<br />
mal war, als ich Schriftsetzer<br />
lernte; Kolumbus, Galilei, Immanuel<br />
Kant, der uns lehrte,<br />
uns täglich unseres Verstandes<br />
zu bedienen!<br />
Dann sind da die frühen Kaufmanns-<br />
und Finanzinnovatoren, die Fugger, die<br />
Venezianer, aber, und darauf sind wir in<br />
Lübeck zu Recht stolz, nicht zu vergessen<br />
die Hanseaten, deren Hauptsitz lange Zeit<br />
Lübeck war. Ich erwähne die großen Erfinder<br />
und Gründer des technischen Zeitalters,<br />
die Gebrüder Wright, die Flieger,<br />
den Freiherrn Karl Drais, der das belastbare<br />
Rad und damit die Mobilität erfunden<br />
hat, ich nenne Nobel, nenne Fischer.<br />
(Ich weiß nicht, ob Sie sich an Fischer erinnern,<br />
das ist der Mann mit dem Dübel,<br />
der überdies aber noch 950 weitere Patente<br />
besaß.) Denken wir an Pfaff, an Bosch,<br />
an Oetker. Und wir in Lübeck erinnern<br />
uns natürlich an Emil Possehl, auch an<br />
die Dräger-Familie, an die sehr früh schon<br />
in Lübeck niedergelassenen Brüggen, an<br />
Niederegger.<br />
Das waren Leute, die in einer Zeit, als<br />
es noch sehr beharrend war, den Schritt<br />
nach vorn wagten in eine neue Epoche.<br />
Alle diese Genannten waren gewiss nicht<br />
ohne Fehl und Tadel. Es wäre falsch zu<br />
sagen, sie seien „Chorknaben“ gewesen.<br />
Aber trotzdem besaßen sie alle drei Eigenschaften:<br />
1. Sie besaßen Neugier, Fantasie, Vorstellungs-<br />
und Wahrnehmungskraft,<br />
d. h., sie sahen buchstäblich voraus,<br />
weiter als andere;<br />
2. sie besaßen Wissen, Kompetenz und<br />
einen scharfen Verstand, anders gesagt,<br />
sie dachten weiter als andere zu<br />
ihrer Zeit;<br />
3. sie hatten fast alle ein Bewusstsein für<br />
Werte. Die meisten von ihnen christliche<br />
Werte, andere, auf Kant basierend,<br />
humanistische Einstellungen und Werte.<br />
Und das heißt, ihre Verantwortung<br />
und ihre Sittlichkeit reichten immer<br />
über die Gegenwart und den Tellerrand<br />
hinaus.<br />
Diese drei Elemente haben auch die<br />
Gründerväter der zweiten deutschen Republik<br />
gehabt. Ob man sie im Einzelnen<br />
mochte, etwa Konrad Adenauer, Ludwig<br />
Erhard: Aber mit der Erfindung der Sozialen<br />
Marktwirtschaft sind wir unter Brüdern<br />
und Schwestern am Ende so schlecht<br />
nicht gefahren. Mit dem rheinischen Kapitalismus,<br />
dieser geordneten, korporativen<br />
Form von Kapitalismus<br />
der letzten 45 Jahre, sind die<br />
Menschen nicht immer einverstanden<br />
gewesen, aber sie<br />
haben in diesem System auch<br />
nicht gerade übel gelebt, wenn<br />
sie heute zurückschauen.<br />
Das Rezept damals hieß:<br />
Wir brauchen starke Unternehmen<br />
und Unternehmer. Wir<br />
brauchen parallel dazu starke<br />
Gewerkschaften, die sich um die Würde<br />
des Menschen in der harten ökonomischen<br />
Gesellschaft kümmern. Und wir brauchen<br />
einen starken Staat, der feste Regeln setzt<br />
für das Verhalten der Teilnehmer am Wirtschaftsgeschehen.<br />
Und alle drei Kräfte<br />
waren im Zusammenspiel Garanten für<br />
Wohlstand, für Fortschritt, für soziale Lebensverhältnisse.<br />
Dann geschieht etwas, das historisch<br />
vielleicht so bedeutend ist wie der Untergang<br />
des Römischen Reiches. 1989<br />
zerfällt das gesamte sozialistische östliche<br />
Imperium mitsamt allen Satelliten.<br />
Und zugleich bekennen sich von heute<br />
auf morgen alle übrigen sozialistischen<br />
Regime, China, Vietnam, zum Kapitalismus.<br />
Von nun an ist die Welt ganz plötzlich<br />
grenzenlos. Es gibt in dieser Welt<br />
nur noch eine einzige Philosophie und<br />
die heißt „Markt und Kapital“. Der Wirt-<br />
Lübecker Totentanz der Marienkirche von Bernt Notke, 1463, Ausschnitt: Der Kaufmann und der Tod. Kopie durch Anton Wortmann von 1701, verbrannt 1942.<br />
Veranstaltungshinweis: Vom 5. bis zum 21. Mail findet die „Festwoche im Dom“ statt. Sie ist dem 500. Geburtstag Bernt Notkes gewidmet.<br />
(Historisches Foto: Wilhelm Castelli)<br />
<strong>Lübeckische</strong> <strong>Blätter</strong> 2009/8 113