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Bernhard Leupolt - Lateinamerika-Studien Online

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Drei Jahrzehnte Neoliberalismus in <strong>Lateinamerika</strong>:<br />

Bilanz und Perspektiven.<br />

Ein Seminar des Interdisziplinären Lehrgangs für Höhere<br />

<strong>Lateinamerika</strong>studien am Österreichischen <strong>Lateinamerika</strong>-Institut.<br />

„Wettbewerbsdispositiv oder demokratische<br />

Öffentlichkeit?<br />

Zur Rolle der sozialen Bewegungen in Brasilien“<br />

<strong>Bernhard</strong> <strong>Leupolt</strong><br />

WS 2003/2004


Wettbewerbsdispositiv oder demokratische Öffentlichkeit?<br />

Zur Rolle der sozialen Bewegungen in Brasilien<br />

Kampf aller gegen alle? … Relevanz der Begriffe Taktik und Strategie für die<br />

Analyse der Strukturen und des politischen Prozesses; Wesen und Transformation<br />

der Kräfteverhältnisse. All diese Fragen müßten untersucht werden.<br />

FOUCAULT 1978: 41<br />

Abstract:<br />

Im vorliegenden Beitrag werden die sozialen Bewegungen Brasiliens als wichtige Auslöser<br />

von gesellschaftlichen Veränderungen verstanden. Im ersten theoretischen Teil<br />

werden einleitend die Handlungsspielräume für gesellschaftsveränderndes Handeln<br />

kritisch analysiert. Dabei wird besonders auf die Beschränkungen durch die fortschreitende<br />

Ökonomisierung aller menschlichen Handlungen hingewiesen. Als Ausweg wird<br />

die Demokratisierung im Rahmen des Projekts eines radikalen Reformismus vorgeschlagen.<br />

Im zweiten Teil wird der umfassende Demokratisierungsprozess in der Stadt<br />

Porto Alegre vorgestellt. Hier wurde ein neuartiges Projekt der Zusammenarbeit von<br />

sozialen Bewegungen und Lokalregierung ins Leben gerufen – das Partizipative Budget.<br />

Nach zehnjähriger Bewährungszeit auf Gemeindeebene wurde dieses Konzept auf<br />

eine höhere territoriale Ebene – die des Bundesstaats Rio Grande do Sul übertragen.<br />

Aufbauend auf den theoretischen Erkenntnissen des ersten Abschnitts soll anhand dieser<br />

Fallbeispiele kritisch betrachtet werden, inwieweit das Konzept des radikalen Reformismus<br />

in der Praxis umsetzbar ist. Außerdem soll versucht werden, Lehren für die<br />

Vorgangsweise sozialer Bewegungen zu ziehen.<br />

1. Handlungsspielräume sozialer Bewegungen<br />

Im Lauf der Geschichte zeigte sich, dass diese keineswegs vorbestimmt, sondern vielmehr<br />

gestaltbar ist. Die Gestaltungsmöglichkeiten sind jedoch nicht beliebig, sondern<br />

müssen innerhalb von Strukturen erfolgen. Diese stellen einerseits den „sozialen Beton,<br />

der den Fluss der Zeit determiniert“ (Novy 2002: 57) dar, sind jedoch andererseits keine<br />

„naturgegebenen Tatsachen“, denn auch sie wurden und werden durch menschliches<br />

Handeln produziert. Daher ist sowohl die Analyse der bestehenden Strukturen wie auch<br />

das Verständnis deren Entstehung und Beeinflussung fundamental, um die Handlungsspielräume<br />

der gesellschaftlichen Akteure auszuloten (Novy 2002: 56 f.). Mit Hilfe der<br />

Staatstheorie nach Gramsci und eines Griffs in die „Werkzeugkiste“ Foucaults sollen<br />

anschießend Analyseinstrumente für eine Strukturanalyse eingeführt werden.<br />

1.1. Kampf um Hegemonie und Dispositive<br />

Nach Gramsci können zwei Formen von Herrschaft unterschieden werden: „Konsens“<br />

und „Zwang“ (Gramsci 1971: 12). Neben der Ordnung, die der Staat durch Zwang<br />

durchsetzt, wie z.B. dem Erlass von Gesetzen, ist daher die Herrschaft über Konsens<br />

mindestens ebenso wichtig. Daher kommt den Einflüssen von nicht-staatlichen Akteuren<br />

der Zivilgesellschaft 1 eine große Bedeutung zu. Diese können wie vielfach die Kirche<br />

und die Medien als legitimierende Akteure, aber auch – durch das Fehlen eines<br />

1 Aufgrund der Vielfalt der Inhalte des Begriffs „Zivilgesellschaft“ (vgl. Boris 1998: 18 ff.) scheint es notwendig<br />

ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass hier auf den von Gramsci geprägten Begriff von Zivilgesellschaft<br />

als umkämpftes Terrain jenseits des Staats zurückgegriffen wird. Alle nicht-staatlichen Akteure<br />

werden somit erfasst (Gramsci 1971: 12); der Begriff wird daher nicht synonym mit sozialen Bewegungen<br />

verwendet.


direkten Zwangs – zu Zentren der Opposition (z. B. Gewerkschaften) oder als Basisinitiativen<br />

Kern einer gesellschaftsverändernden sozialen Bewegung werden. Gemeinsam<br />

mit dem Kern des Staates bildet die Zivilgesellschaft nun den „erweiterten Staat“, dem<br />

die Funktion zukommt, für Hegemonie zu sorgen. Staat ist somit auch ein Feld der sozialen<br />

Auseinandersetzung, ein spezifisches, strukturell bestimmtes und konkret jeweils<br />

durch soziale Kämpfe innerhalb der Zivilgesellschaft ausgestaltetes Kräftegleichgewicht<br />

(Novy 2001: 41 ff.). Diese Kämpfe um die Hegemonie werden zwischen wirtschaftlichen,<br />

politischen und intellektuellen Kräften ausgetragen. Die wichtigsten Akteure sind<br />

dabei „organisierte Interessen, politische Parteien und soziale Bewegungen, wobei zusätzlich<br />

den Massenmedien – und weniger dem Bereich der Öffentlichkeit an sich – die<br />

entscheidende Aufgabe zukommt“ (Jessop 2003: 98) 2 .<br />

Um den Kampf um gesellschaftliche Hegemonie genauer untersuchen zu können,<br />

scheint das Foucault’sche Dispositiv hilfreich zu sein. Damit beschreibt er „ein entschieden<br />

heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architekurale Einrichtungen,<br />

reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche<br />

Aussagen, philosophische, moralische oder philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes<br />

ebensowohl wie Ungesagtes umfasst“ (Foucault 1978: 120). Somit wirkt ein<br />

Dispositiv „mehr in die Breite als in die Tiefe und lenkt Diskurse mehr als dass es ihren<br />

Inhalt festlegt“ (Novy 2003: 288). Diskurse sind demnach als Machtstrategien zu verstehen.<br />

Das Dispositiv gibt dabei einen die Diskurse asymmetrisch strukturierenden<br />

Rahmen vor, da es sich „um eine bestimmte Manipulation von Kräfteverhältnissen handelt“<br />

(Foucault 1978: 122 f.).Das kann insbesondere auch dadurch gelingen, da innerhalb<br />

des Dispositivs auch Raum für Widerspruch bleibt (Novy 2002: 86), denn „[w]o es<br />

Macht gibt, gibt es Widerstand. Und doch oder vielmehr gerade deswegen liegt der Widerstand<br />

niemals außerhalb der Macht“ (Foucault 1983: 116).<br />

1.2. Neoliberale Transformation und Wettbewerbsdispositiv<br />

Während der letzten Jahrzehnte wurden zusehends die Märkte geöffnet, der freie Kapitalverkehr<br />

eingeführt und Staatsunternehmen verkauft. „Die Ideologie, die dieses neue<br />

Regime rechtfertigt, ist der Neoliberalismus. Seine weltweiten Folgen sind Finanzkrisen,<br />

verstärkte Polarisierung von Einkommen und Vermögen, zunehmende Armut sowie eine<br />

Unterbrechung, oft auch ein Rückgang der Industrialisierung in den Entwicklungsländern,<br />

Nicht-Nutzung wirtschaftlicher Ressourcen … bei sinkendem Lebensstandart“<br />

(Schui 2003: 23).<br />

Diskursiv werden diese negativen Effekte als „Sachzwänge der Globalisierung“ legitimiert.<br />

Diese wird dabei als ein völlig neuartiges Phänomen vermittelt, das keine anderen<br />

Alternativen zuließe (Novy 2000). Laut Hirsch ist Globalisierung jedoch „eher eine<br />

neoliberale Propagandaformel denn gesellschaftliche Realität. Die mit ‚Globalisierung’<br />

bezeichnete Entwicklung hat zweifellos im internationalisierten Kapital einen wesentlichen<br />

Akteur, wurde aber sehr wesentlich durch die Politik von Staaten und Regierungen<br />

vorangetrieben“ (Hirsch 2002: 125). Nationalstaaten lösen sich nicht auf, sondern werden<br />

zu nationalen Wettbewerbsstaaten transformiert (Hirsch 2002: 110 ff.). Im Zuge des<br />

neoliberalen Transformationsprozesses kommt es schließlich zu einer Ökonomisierung<br />

von Zivilgesellschaft und Staat (Hirsch 2002: 186, Lemke 1997, Bröckling u.a. 2000).<br />

Novy und Jäger konstatieren daher die Entstehung eines Wettbewerbsdispositivs.<br />

Demnach wird Wettbewerb „zu einem Dispositiv, weil es keineswegs nur auf das Ökonomische<br />

beschränkt ist, sondern expansiv ist und auf beliebig viele Bereiche ausge-<br />

2<br />

Habermas (1990: 28) bezeichnet das Ergebnis der manipulativ eingesetzten Macht der Medien als<br />

„vermachtete Öffentlichkeit“.


dehnt wird: Die Ökonomisierung des Sozialen und der Politik schaffen eine Wettbewerbsgesellschaft<br />

und einen Wettbewerbsstaat“ (Novy/Jäger 2003: 101).<br />

„Die Ökonomie ist nicht mehr ein gesellschaftlicher Bereich unter anderen mit einer<br />

ihm eigenen Rationalität, Gesetzen und Instrumenten; vielmehr umfasst das<br />

Gebiet des Ökonomischen die Gesamtheit menschlichen Handelns“ (Lemke<br />

1997: 248).<br />

In der Eigenschaft des Dispositivs, auch Widerstand mit einzuschließen, liegt somit eine<br />

reale Gefahr für soziale Bewegungen – besonders bezüglich der Einbindung der Zivilgesellschaft<br />

in politische Entscheidungsprozesse, v. a. auf regionaler Ebene. So weist<br />

Mayer darauf hin, dass die neue Form der lokalen Staatlichkeit oftmals „die Betonung<br />

des unternehmerischen Aktivismus, die Privilegierung des lokalen Raums, workfare<br />

statt welfare und die Einbeziehung zivilgesellschaftlicher Akteure“ (Mayer 2003: 270)<br />

darstellt. Letztere stehen in einem ambivalenten Verhältnis, da sie einerseits die Marktkräfte<br />

mit Hilfe ihrer Ressourcen nicht-marktförmiger Koordination wie Solidarität und<br />

Ermächtigung politisch einhegen sollen; andererseits kann es jedoch nur über sie gelingen,<br />

Markt und Konkurrenzrationalität in zivilgesellschaftliche Bereiche einzuführen, die<br />

ansonsten schwer vom globalen Kapital zu durchdringen wären. Somit können „Marktkriterien<br />

dort Einzug halten, wo bislang wohlfahrtsstaatliche Kriterien und soziale Rechte<br />

galten“ (Mayer 2003: 273). Hirsch warnt in diesem Zusammenhang eindringlich vor<br />

der „Entwicklung einer historisch neuen Form von Totalitarismus, die nicht mehr nur von<br />

den Staatsapparaten ausgeht, sondern in den Strukturen der „Zivilgesellschaft“ wurzelt“<br />

(Hirsch 2002: 178).<br />

1.3. Demokratiedispositiv und Radikaler Reformismus<br />

Das Wettbewerbsdispositiv führt dazu, dass „Form und Inhalt emanzipativer Bewegungen<br />

neu gedacht werden müssen, ebenso wie es notwendig ist, über das liberale Verständnis<br />

hinaus weisende Demokratiekonzepte zu entwickeln“ (Hirsch 2002: 191). Das<br />

weist auf die Notwendigkeit der Konstruktion eines Demokratiedispositivs hin. Um dies<br />

zu verwirklichen ist es nötig, die Strukturen des Wettbewerbsdispositivs zu transformieren.<br />

Dies gestaltet sich jedoch schwierig, da gerade innerhalb dieser Strukturen gehandelt<br />

werden muss. Emanzipatives Handeln bedeutet daher in Anlehnung an Foucault<br />

„das Spiel zu spielen und es gleichzeitig nicht zu akzeptieren – und es nicht zu akzeptieren,<br />

indem man es anders spielt“ (Lemke 1997: 369). Es geht also um „eine Suche<br />

nach neuen und anderen „Spielregeln“, die letztlich das Spiel selbst verändern“ (ebenda).<br />

Um das zu ermöglichen, schlagen Esser u. a. (1994) das Konzept des radikalen Reformismus<br />

vor. Reformismus bezeichnet dabei die Auflösung der institutionalisierten<br />

Machtbeziehungen, jedoch nicht schlagartig, sondern durch schwierige und langwierige<br />

Praxis-, Erfahrungs-, Lern- und Selbstaufklärungsprozesse. Radikal meint, dass emanzipative<br />

Politik von Anfang an auf die Überwindung der herrschenden gesellschaftlichen<br />

Formen und ihrer institutionellen Ausprägungen abzielen muss (Esser u. a. 1994).<br />

Hirsch nahm den Gedanken später wieder auf, und forderte weiters „die Entwicklung<br />

einer von Staat und kommerziellen Medien unabhängigen Öffentlichkeit, die unabhängige<br />

Diskussion und Verständigung ermöglicht und damit die Voraussetzung schafft, in<br />

die herrschenden Diskurse einzugreifen“ (Hirsch 2002: 202). Gegen die herrschenden<br />

Ökonomisierungstendenzen muss eine demokratische Zivilgesellschaft entwickelt werden.<br />

Somit will der radikale Reformismus „eine Kulturrevolution, die nicht nur Bewusstseinsinhalte,<br />

sondern vor allem gesellschaftliche und politische Beziehungen und Praktiken<br />

umgreift“ (ebenda).


„Die emanzipative Umwälzung gesellschaftlicher Verhältnisse ist eine Angelegenheit<br />

der Menschen selbst, eine Frage konkreter Praxis, die im unmittelbaren<br />

Lebenszusammenhang ansetzen muss“ (Hirsch 2002: 201).<br />

Zusammengefasst handelt es sich „um eine Perspektive des Kampfes innerhalb und<br />

gegen den Kapitalismus, innerhalb und gegen den Staat“ (Hirsch 2002: 190). Novy<br />

(2003) erweiterte das Konzept: Radikaler Reformismus wird demnach nicht ohne<br />

Staatsreform in Richtung eines öffentlichen Staats möglich sein. Nach Habermas ist die<br />

„Herrschaft“ der Öffentlichkeit „ihrer eigenen Idee zufolge eine Ordnung, in der sich<br />

Herrschaft überhaupt auflöst“ (1990: 153). Demnach kann im öffentlichen Staat politisches<br />

Handeln im und gegen den Staat gleichzeitig erfolgen.<br />

2. Soziale Bewegungen und Gesellschaftsveränderung in Brasilien<br />

In Brasilien formierten sich im Demokratisierungsprozess – nach lang andauernder Militärdiktatur<br />

(1964-1985) – zahlreiche soziale Bewegungen. Sie kämpften einerseits für<br />

demokratische Rechte und andererseits für ein Mehr an ökonomischer Mitbeteiligung 3 .<br />

Obwohl der Höhepunkt der Mobilisierung mit der Konsolidierung der (bürgerlichen) Demokratie<br />

sicherlich überschritten wurde, konnte die soziale Bewegung im lateinamerikanischen<br />

Vergleich ihre Stärke relativ gut beibehalten. Der Grund für diese relative<br />

Stärke liegt unter anderem auch in der Arbeiterpartei (Partido dos Trabalhadores – PT)<br />

(Boris 1998: 33 f.).<br />

Diese Partei wurde 1980 als eine Art „Plattform“ im Kampf für bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen,<br />

höhere Löhne und Gehälter, und besserer öffentlicher Einrichtungen<br />

für Bildung, Wohnen, Verkehrsmittel und Gesundheitseinrichtungen und die Wiedergewinnung<br />

des demokratischen Rechtsstaats gegründet. Somit konnten sich radikale GewerkschafterInnen,<br />

AktivistInnen sozialer Bewegungen und kirchlicher Basisgemeinden<br />

sowie linke Intellektuelle und PolitikerInnen in einer Partei zusammenschließen (PT<br />

2003: 7). Charakteristisch für diese Partei war lange Zeit, dass sie sich einerseits aus<br />

AktivistInnen sozialer Bewegungen zusammensetzte und andererseits deren Autonomie<br />

weitgehend respektierte 4 (Boris 1998: 33 f.).<br />

Seit den Wahlen 1988 stellt die Arbeiterpartei BürgermeisterInnen in den größten brasilianischen<br />

Städten und später auch GouverneurInnen in Bundesstaaten. Somit konnte<br />

die PT (als eine der wenigen Linksparteien <strong>Lateinamerika</strong>s) schon einige Regierungserfahrung<br />

sammeln. Das spektakulärste Ereignis in der Geschichte der Partei war sicherlich<br />

2002 die Wahl ihres Kandidaten – Luis Inácio Lula da Silva – zum Präsidenten des<br />

Landes (PT 2003). Dadurch entstanden neue Hoffnungen zur Umsetzung von Forderungen<br />

der sozialen Bewegungen. Nach einem Jahr Amtszeit ist es jedoch schwierig,<br />

schon eine Bewertung dieser Regierung vorzunehmen (ausführlicher dazu Boris 2003:<br />

28 ff.).<br />

Die Regierung kann jedoch auf einige gute Erfahrungen auf lokaler Ebene verweisen<br />

(ausführlicher dazu Magalhães u.a. 2002). Die Stadt Porto Alegre wird seit 1989 durchgehend<br />

von der PT regiert. Hier konnte sich eine nahezu einzigartige Beziehung der<br />

Lokalregierung zu den sozialen Bewegungen entwickeln. Zwischen 1999 und 2002<br />

3<br />

Im Unterschied zu den sozialen Bewegungen in den Zentrumsökonomien, die vorrangig aus der jüngeren<br />

Generation der Mittelschicht bestehen, sind es in <strong>Lateinamerika</strong> vor allem die Unterschichten – junge<br />

und alte Menschen – die die Stärke der Bewegung ausmachen (Boris 1998: 16).<br />

4<br />

Boris berichtete jedoch schon 1998 vom „Problem, die Parteidisziplin mit der Flexibilität der PT-<br />

Programmatik ständig in Einklang zu bringen“ (34). Pont (2003) konstatiert sogar, „dass die organisierte,<br />

entschiedene Arbeit der PT mit den sozialen Bewegungen nachgelassen hat, als ob der Partei dank ihrer<br />

Größe und der Wahlergebnisse ein angeborenes ‚Recht’ auf die sozialen Bewegungen zustünde“ (76).


wurde dieses Konzept in Rio Grande do Sul auf die Ebene des Bundestaates übertragen.<br />

Ausgehend von diesen Erfahrungen sollen die Chancen und Gefahren für die soziale<br />

Bewegung bei Zusammenarbeit mit dem Staat dargestellt werden.<br />

2.1. Lokalregierung und soziale Bewegungen in Porto Alegre<br />

In Porto Alegre – Hauptstadt des südlichsten brasilianischen Bundesstaats Rio Grande<br />

do Sul – entstand schon in den 70er Jahren – noch während der Militärdiktatur – durch<br />

die Konstituierung von Stadtteilinitiativen eine starke soziale Bewegung. Vorwiegend<br />

BewohnerInnen von irregulären Armenvierteln (favelas bzw. vilas) lehnten sich dagegen<br />

auf, von der Regierung übergangen zu werden. Sie forderten vor allem Investitionen in<br />

städtische Infrastruktur und Leistungen sowie die Autonomie der Stadtteilinitiativen. Sie<br />

standen in Konfrontation zur Stadtregierung und verliehen ihren Forderungen auch<br />

durch spektakuläre Aktionen – wie z.B. Straßenblokaden – Nachdruck. Die Besonderheit<br />

dieser Bewegung bestand darin, dass sie aus ihren alltäglichen Bedürfnissen Forderungen<br />

nach staatsbürgerlichen Rechten ableitete. Damit grenzten sie sich stark vom<br />

vorherrschenden Paternalismus und Klientelismus ab (Fedozzi 2000: 28 ff.). Die Gründung<br />

des „Dachverbands der Lokalinitiativen Porto Alegres“ (União das Associações de<br />

Moradores de Porto Alegre – UAMPA) leistete einen weiteren wichtigen Beitrag zur<br />

kämpferischen Ausrichtung der Bewegung, wie auch zu deren Politisierung. Aufgrund<br />

dieses Hintergrunds waren die sozialen Bewegungen während des Demokratisierungsprozesses<br />

in den 80er Jahren besonders stark ausgeprägt. In diesem Kontext entstand<br />

dann schließlich auch die Forderung innerhalb der Bewegung, das Stadtbudget zu demokratisieren<br />

(Fedozzi 2000: 42 ff.).<br />

Olivio Dutra, der Bürgermeisterkandidat der PT hatte im Zuge des Wahlkampfs 1988<br />

ebendiese Demokratisierung gefordert, wie auch eine Umkehr der Verteilungsprioritäten<br />

von öffentlichen Mitteln, hin zu den gesellschaftlich marginalisierten Gruppen. Nach seinem<br />

Wahlsieg waren die Erwartungen der Lokalinitiativen an die neu gewählte PT-<br />

Regierung daher sehr hoch gesteckt. Die versprochene Demokratisierung des Lokalstaats<br />

sollte dann mit Hilfe des Partizipativen Budgets ermöglicht werden, um die sozialen<br />

Bewegungen erstmals am Lokalstaat teilhaben zu lassen (ausführlicher dazu Becker<br />

2001, Leubolt 2003).<br />

Die PT konnte in Porto Alegre mittlerweile ein sehr hohes Maß an Hegemonie erreichen<br />

– sie stehen nun immerhin in der vierten aufeinander folgenden Legislaturperiode. Dies<br />

ist besonders durch die erfolgten materiellen Verbesserungen der Bevölkerung zu verstehen.<br />

Zwischen 1989 und 1996 verbesserte sich die Versorgung der Stadt mit grundlegender<br />

Infrastruktur sehr stark. Der Prozentsatz der Haushalte, die an das Kanalnetz<br />

angeschlossen sind, konnte von 46% auf 85% erhöht werden, der Zugang zu Fließwasser<br />

von 80% auf 98% (PMPA). Durch die vielfach praktizierte Asphaltierung von Straßen<br />

in irregulären Armenvierteln konnten diese effektiv an das öffentliche Verkehrssystem<br />

angeschlossen werden, da Busse bei stärkeren Regenfällen nicht mehr im Matsch<br />

stecken bleiben (Becker 2001: 197). Weiters war bemerkenswert, dass Armenviertel im<br />

Stadtzentrum urbanisiert wurde, anstatt an den Stadtrand verdrängt zu werden (Solidariedade<br />

2003: 87). Auch im Bildungswesen konnten beachtliche Fortschritte verzeichnet<br />

werden, zwischen 1989 und 1999 hat sich die Zahl der Kinder an öffentlichen Schulen<br />

mehr als verdoppelt. Diese Entwicklungen konnten maßgeblich dazu beitragen, dass<br />

Porto Alegre heute (mit 0,792) den höchsten Human Development Index (HDI) unter<br />

den brasilianischen Metropolen aufweist (PMPA). Da diese Errungenschaften eng mit<br />

den Entscheidungen des Partizipativen Budgets in Verbindung stehen, kann auf positive<br />

materielle Errungenschaften durch die Zusammenarbeit sozialer Bewegungen mit<br />

der Lokalregierung hingewiesen werden.


Anfänglich war die Beziehung der Lokalregierung zu den Lokalinitiativen vor allem<br />

durch einen Konflikt gekennzeichnet (Fedozzi 2000: 61 ff.). Auf der einen Seite verhinderten<br />

finanzielle Engpässe zunächst die Realisierung der geplanten Investitionen; auf<br />

der anderen Seite hatten auch die sozialen Bewegungen Probleme, sich auf die neue<br />

Art zu regieren einzustellen. Vormals teilten sie sich vorwiegend in konfliktive Bewegungen,<br />

die an die offene Konfrontation mit dem Staat gewöhnt waren und klientelistische<br />

Bewegungen, die unter Ausschluss der Öffentlichkeit, in persönlichen Verhandlungen<br />

mit Politikern, öffentliche Investitionen erreichten. Sie mussten erst damit umgehen<br />

lernen, nun aktiv an der Lokalpolitik beteiligt zu sein (Fedozzi 2001: 124ff). Doch<br />

gerade diese Teilhabe am Lokalstaat sollte sich in vieler Hinsicht als sehr günstig erweisen.<br />

Die einzelnen TeilnehmerInnen lernten im öffentlichen Diskurs, ihre persönlichen<br />

Bedürfnisse zu öffentlichem Interesse zu transformieren. Somit konnte eine<br />

„staatsbürgerliche Sprache“ entwickelt werden, die nicht auf abstrakten Rechten und<br />

Pflichten beruhte, sondern darauf, gemeinsame Probleme zu thematisieren und gemeinschaftlich<br />

Lösungen dafür zu finden (Baiocchi 2002: 26). Die Diskussionen im öffentlichen<br />

Raum begünstigten auch die Entstehung von Solidarität, wie die Teilnehmerin<br />

Roselaine beschreibt:<br />

„Sogar ich habe nur an meine Straße gedacht, als ich zum Partizipativen Budget<br />

gekommen bin. Aber ich habe andere Personen und Gemeinschaften getroffen,<br />

und habe viel größere Probleme kennen gelernt. Was ich als Riesenproblem gesehen<br />

habe, war nichts im Vergleich zur Situation anderer Personen. Keine<br />

Wohnung zu haben, unter einem Tuch zu schlafen oder die Frage der Abwässer<br />

unter freiem Himmel, wo Kinder spielen und laufen. Ich vergaß meine Straße,<br />

sodass sie sogar bis heute nicht asphaltiert ist.“ (In: Solidariedade 2003: 105 5 )<br />

Diese sehr positiven Tendenzen müssen jedoch etwas relativiert werden, da die autonome<br />

Organisation der Lokalinitiativen und sozialen Bewegungen nun zurückgeht, wie<br />

Miguel Rangel von der NRO Solidariedade anmerkt:<br />

„Die Zahl der Konfrontationen nahm ab. Heute sperren wir nicht mehr die Straßen,<br />

sondern diskutieren innerhalb des Partizipativen Budgets.“ (Solidariedade<br />

2003: 138)<br />

Das Partizipative Budget wurde im Lichte des großen Erfolgen zum bevorzugten Ort der<br />

Rekrutierung neuer PT-Mitglieder. Als Folge wurden immer mehr vormals regierungskritische<br />

AktivistInnen zu BeraterInnen und Mitgliedern der Regierung (Baierle 2002: 321;<br />

Solidariedade 2003: 139). Daher komme es zusehends zur Kooptierung der Lokalinitiativen<br />

durch die PT, wie die Teilnehmer Eduino de Mattus deutlich ausdrückt:<br />

„Wir haben erreicht, Familien zu helfen und viele andere wichtige Errungenschaften,<br />

aber wir wissen auch, dass wir nicht mehr als Arbeitskräfte sind. Wir dienten<br />

der Politik der PT und wir dienten ihr sehr gut. Heute müssen wir den Prozess<br />

selbst übernehmen.“ (In: Solidariedade 2003: 139)<br />

Somit wird durch die Ermöglichung der Ermächtigung durch die direkte Teilhabe am<br />

Lokalstaat gleichzeitig auch eine „Aushöhlung der autonomen Organisation der populären<br />

Sektoren“ und die Wiederentstehung „populistischer Beziehungen“ (Baierle 2002:<br />

322) riskiert. Dies kann als Widerspruch zwischen Autonomie und Teilhabe an der Regierung<br />

bezeichnet werden (ebenda). Dennoch ist daran ersichtlich, wie schwierig die<br />

Zielsetzung des radikalen Reformismus zu verwirklichen ist, gleichzeitig im und gegen<br />

den Staat vorzugehen.<br />

5 Diese und alle weiteren Übersetzungen stammen vom Verfasser selbst.


Es ist jedoch wichtig zu vermerken, dass sich, anders als in anderen Städten, in Porto<br />

Alegre die Zahl der Lokalinitiativen in den 90er Jahren vergrößern konnte. Besonders<br />

die höhere Motivation, sich zu mobilisieren trug dazu bei, da dies zur realen Verbesserung<br />

der unmittelbaren Lebenssituation führen kann (Avritzer 2002). Außergewöhnlich<br />

ist weiters, dass die TeilnehmerInnen mehrheitlich aus ärmeren Schichten kommen.<br />

Außerdem sind sowohl Frauen, wie auch ethnische Minderheiten überdurchschnittlich<br />

stark vertreten 6 (Baierle 2002: 306). Baierle (2002: 305) konstatiert demnach die Entstehung<br />

einer „plebejischen Öffentlichkeit“. Durch die Diskussionen in den demokratischen<br />

Entscheidungsgremien, ausgehend von den unmittelbaren materiellen Bedürfnissen<br />

der Teilhabenden, kann eine wichtige Transformation stattfinden – das „Ich“ wird zu<br />

einem „Wir“ (Baiocchi 2002). Daher kann der Diskurs in der Öffentlichkeit dazu beitragen,<br />

die dem Wettbewerbsdispositiv inhärenten Individualisierungstendenzen zu überwinden.<br />

Somit kann von einem wichtigen Schritt in Richtung des Demokratiedispositivs<br />

gesprochen werden.<br />

2.2. Transformation des öffentlichen Lokalstaats auf höhere Ebenen<br />

Olívio Dutra war von 1998 bis 2002 (PT-)Gouverneur des Bundesstaates Rio Grande<br />

do Sul. In diesem Zeitraum wurde das Konzept des Partizipativen Budgets von der lokalen<br />

auf die regionale Ebene übertragen. Dieser Schritt war deshalb spektakulär, da nun<br />

erstmals in einem relativ großen Raum (über 10 Mio. EinwohnerInnen) praktische Erfahrungen<br />

zur radikalen Demokratisierung gesammelt werden konnten (ausführlicher<br />

dazu Leubolt 2003b). Auf dieser Ebene bot sich die Möglichkeit, die Teilhabe der BürgerInnen<br />

auch unmittelbar auf die politische Beeinflussung der Produktionsstrukturen zu<br />

beziehen (Becker 2001: 197).<br />

So wurden in wirtschaftlicher Hinsicht neue Akzente gesetzt. Die wirtschaftliche Entwicklung<br />

wurde der sozialen Entwicklung untergeordnet (Soares 2002: 20) und somit<br />

dem Wettbewerbsdispositiv eine Absage erteilt. Das wurde besonders an der neuen<br />

Position zum „Standortwettbewerb“ deutlich. Transnationale Konzerne erhielten – anders<br />

als in den meisten übrigen Bundesstaaten – nicht mehr große Teile des Budgets in<br />

Form von Subventionen. Diesbezüglich am spektakulärsten waren sicherlich die Neuverhandlungen<br />

mit Ford und GM, die für ihre Ansiedelung im Bundesstaat staatliche<br />

Investitionen im Wert von vier Mrd. US$ erhalten sollten. GM akzeptierte weitaus geringere<br />

Subventionen, während Ford sich anderswo ansiedelte. Öffentlich gefördert wurden<br />

stattdessen die lokalen Klein- und Mittelbetriebe, einschließlich von Formen der<br />

solidarischen Wirtschaft wie z.B. Kooperativen. Die wirtschaftlichen Entwicklung litt jedoch<br />

nicht darunter – das BIP pro Kopf wuchs beträchtlich stärker als in Brasilien insgesamt<br />

(Leubolt 2003: 81 f.).<br />

Dennoch verlor Tarso Genro, der Kandidat der PT bei den Gouverneurswahlen 2002<br />

gegenüber einem Kandidaten, der vor allem die Abwanderung von Ford kritisierte (Carta<br />

Maior, 13.8.02). Seit Anfang 2003 wird in Rio Grande do Sul daher wieder Standortwettbewerb<br />

betrieben (ebenda, 15.5.03). Obwohl die schon erfolgte Demokratisierung,<br />

aufgrund des Drucks der Bevölkerung nicht abgeschafft werden konnte, wurde sie doch<br />

entscheidend abgeschwächt (ebenda, 4.6.03). Aufgrund der Einbindung in den neuen<br />

wirtschaftspolitischen Kurs muss daher von einem vorläufigen Sieg des Wettbewerbsdispositivs<br />

gegenüber dem Demokratiedispositiv gesprochen werden.<br />

Auf höherer Ebene verlief die Entwicklung gegensätzlich. Mit Lula wurde 2002 erstmals<br />

der Kandidat der PT zum Präsidenten des Landes gewählt. Unter dem Vorzeichen einer<br />

6<br />

Problematisch ist die Beziehung jedoch zu den Allerärmsten und großen Teilen der Mittelschicht, die<br />

kaum teilhaben (Solidariedade 2002: 111 ff.).


Wirtschaftskrise und dem Scheitern des sozialliberalen Projekts seines Vorgängers<br />

Cardoso, konnte er die Wahl deutlich für sich entscheiden. Seit Anfang 2003 regiert er<br />

das Land mit Hilfe einer Koalitionsregierung 7 .<br />

Im Wahlprogramm der PT war noch davon die Rede, dass „die gute Erfahrung mit dem<br />

Partizipativen Budget auf Gemeindeebene nahe legt, dass es trotz der Schwierigkeit,<br />

die mit der Anwendung auf Ebene des Landes damit verbunden ist, auf diese Ebene<br />

ausgedehnt werden soll“ (PT 2002: 3). Nach Regierungsübernahme wurde jedoch<br />

schnell klar, dass es sich hierbei um ein voreiliges Versprechen gehandelt hatte. Der<br />

Dialog mit einigen sozialen Bewegungen – wie z.B. der Landlosenbewegung – intensivierte<br />

sich zwar, jedoch wurde kein gleichwertiges Instrument der Teilhabe eingeführt.<br />

Schritte zur Demokratisierung finden zwar statt, bleiben jedoch weitaus weniger radikal<br />

8 .<br />

Dafür behielten die sozialen Bewegungen hier ein größeres Ausmaß an Autonomie.<br />

Das zeigt sich vor allem am vermehrten sozialen Protest gegen Lula und die Mehrheitsfraktion<br />

der PT (Boris 2003: 25). Dies scheint nicht weiter verwunderlich, denn die „bisherige<br />

überaus korrekte und fast schon servile Erfüllung der Vorstellungen der internationalen<br />

Finanzwelt hat die brasilianische Wirtschaft nicht anzukurbeln vermocht“ (Boris<br />

2003: 27). Da „bei den schwerpunktmäßig mit wirtschaftlichen Fragen befassten Ministerien<br />

ein mehr oder minder deutliches Übergewicht neoliberaler Repräsentanten“ (Boris<br />

2003: 14) zu bestehen scheint, ist es auch fragwürdig, ob die sozialen Bewegungen<br />

bei engerer Zusammenarbeit nicht in das Wettbewerbsdispositiv kooptiert würden.<br />

3. Schlussfolgerungen<br />

Das Wettbewerbsdispositiv wurde in diesem Beitrag als Grundlage neoliberaler Herrschaft<br />

dargestellt. Das hat auch Auswirkungen auf die sozialen Bewegungen – mit Hilfe<br />

von Beteiligungsverfahren kommt es vielfach zu deren Einbindung in den nationalen<br />

Wettbewerbsstaat. Somit kann die Wettbewerbslogik in neue Bereiche menschlichen<br />

Lebens vordringen – insbesondere ins Soziale und in die Politik. Daher besteht die Gefahr<br />

der Entstehung eines „zivilgesellschaftlichen Totalitarismus“ (Hirsch). Als Alternative<br />

wurde das Demokratiedispositiv vorgestellt, das über einen radikalen Reformismus<br />

erreichbar wäre.<br />

An den Fallbeispielen von Porto Alegre und dem Bundesstaat Rio Grande do Sul wurde<br />

gezeigt, dass die sozialen Bewegungen gemeinsam mit einer linken Regierung ein solches<br />

Reformprojekt anstreben können. Durch die Verbindung von alternativer Öffentlichkeit<br />

mit Entscheidungsmacht können reale Verbesserungen der materiellen Situation<br />

der Bevölkerung erfolgen. Persönliche Bedürfnisse können dabei in öffentliches Interesse<br />

transformiert werden. Jedoch wurden auch Probleme aufgezeigt. Die starke Verbindung<br />

der sozialen Bewegungen und der PT ermöglicht den Bewegungen einerseits<br />

die aktive materielle Mitgestaltung der Gesellschaft; andererseits jedoch ist dies mit einem<br />

Verlust an Autonomie verbunden. Daher wäre es leichter, die Bewegungen in das<br />

Wettbewerbsdispositiv einzubinden – was jedoch aufgrund der politischen Ausrichtung<br />

der Regierungen nicht passierte.<br />

Die vorliegende Analyse zeigte somit, dass ein keine „Allheillösung“ für emanzipative<br />

Gesellschaftsveränderungen gibt. Die Zusammenarbeit der Bewegungen mit der Lokalregierung<br />

erwies sich in Porto Alegre als weitgehend fruchtbar für beide Seiten. Einer-<br />

7<br />

Der hier versuchte Ausblick auf die Situation in Brasilien kann nur ansatzweise stattfinden. Eine vollständigere<br />

Darstellung in deutscher Sprache findet sich bei Boris 2003.<br />

8<br />

Ausführlicher dazu Abong 2003, jedoch mit anderer Schwerpunktsetzung.


seits bekamen vormals ausgeschlossene Akteure eine Stimme in der Öffentlichkeit und<br />

profitierten davon auch materiell. Andererseits konnte eine linke Regierung damit beginnen,<br />

ein neues hegemoniales Projekt aufzubauen. Auf der höheren – bundesstaatlichen<br />

Ebene konnte dies leider nicht gelingen, obwohl es auch hier zu Verbesserungen<br />

der Lebensbedingungen kam – besonders für die vormals außer Acht gelassenen<br />

Kleinbäuerinnen und -bauern (Leubolt 2003b: 81 f.). Hier scheint es jedoch bedeutend<br />

schwieriger, eine alternative Öffentlichkeit – jenseits von Konzern- und Medienmacht –<br />

aufzubauen.<br />

Das erste Jahr der Amtszeit der Regierung Lula vermittelte ein anderes Bild der Beziehung<br />

zu den Bewegungen. Wohl auch vor dem Hintergrund einer wettbewerbsfreundlicheren<br />

Politik sind die Konflikte zahlreicher. Das scheint in dieser Situation auch die<br />

tauglichere Strategie zu sein.<br />

Aus diesen Beispielen lassen sich mehrere Lehren für die soziale Bewegung ziehen:<br />

Einerseits kann die Zusammenarbeit mit der Politik sehr fruchtbar sein, wenn somit radikal<br />

reformistisch vorgegangen werden kann. Jedoch müssen die PartnerInnen genau<br />

betrachtet werden – die Gefahr zur Mitarbeit am Wettbewerbsdispositiv ist groß. Außerdem<br />

sollte andererseits die Zielrichtung, gleichzeitig im und gegen den Staat zu arbeiten,<br />

nicht verloren gehen. Das schließt auch mit ein, dass sich die Bewegung nicht mit<br />

der Demokratisierung eines wichtigen Organs – wie des Budgets – zufrieden geben<br />

darf. Vielmehr muss, ausgehend von diesen Erfahrungen, die Eroberung weiterer öffentlicher<br />

Räume angestrebt werden.<br />

Durch diese sukzessive Eroberung öffentlicher Räume seitens der sozialen Bewegungen<br />

kann der Fehler vermieden werden, der schon vor mehr als 150 Jahren das Scheitern<br />

der französischen Arbeiterbewegung besiegelte. Damals warf sich das Proletariat<br />

„auf doktrinäre Experimente, in Tauschbanken und Arbeiter-Assoziationen, also<br />

in eine Bewegung, worin es darauf verzichtet, die alte Welt mit ihren eigenen<br />

großen Gesamtmitteln umzuwälzen, vielmehr hinter dem Rücken der Gesellschaft,<br />

auf Privatweise, innerhalb seiner beschränkten Existenzbedingungen seine<br />

Erlösung zu vollbringen sucht, also notwendig scheitert“ (Marx 1965: 19).


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