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Unser Stammbaum beginnt mit Alex Barthold von Wildemann, der in ...

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<strong>Unser</strong> <strong>Stammbaum</strong> <strong>beg<strong>in</strong>nt</strong> <strong>mit</strong> <strong>Alex</strong> <strong>Barthold</strong> <strong>von</strong> <strong>Wildemann</strong>, <strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> ersten<br />

Hälfte des 16. Jahrhun<strong>der</strong>ts <strong>mit</strong> Kaiser Karl V. nach Spanien zog. Der erste, <strong>der</strong> <strong>in</strong>s<br />

Baltikum kam, sche<strong>in</strong>t dessen Enkel Mart<strong>in</strong> gewesen zu se<strong>in</strong>, <strong>der</strong> Ende des 16.<br />

Jahrhun<strong>der</strong>ts <strong>mit</strong> dem Gut Bersgall belehnt wurde. Solche Lehen wurden erblich für<br />

gute Kriegs- o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e Dienste vergeben. Mart<strong>in</strong> hatte vier Söhne, <strong>von</strong> denen <strong>der</strong><br />

jüngste, Caspar, 1604 geboren, unser Ahnherr wurde.<br />

Fünf Generationen später wird 1790 Wilhelm Woldemar Wolfgang <strong>von</strong> <strong>Wildemann</strong><br />

geboren, <strong>der</strong> <strong>der</strong> Grossvater unseres Grossvaters Carl Wilhelm war und <strong>der</strong> erste,<br />

über dessen Leben wir aus den Urkunden etwas erfahren. Wilhelm Woldemar<br />

Wolfgang kam 1790 als Sohn aus <strong>der</strong> dritten Ehe <strong>von</strong> Christoph Leopold zur Welt,<br />

als dieser schon fast 50 Jahre alt war; er war 27 Jahre jünger als se<strong>in</strong> ältester<br />

Stiefbru<strong>der</strong>. Als er 13 Jahre alt war, starb se<strong>in</strong> Vater. Mit 14 Jahren erbte er das<br />

grosse Vermögen des Barons Ewald <strong>von</strong> Klopmann, Oberhofmarschall am<br />

Zarenhof und Ritter mehrerer Orden, <strong>der</strong> ihn als Sohn adoptierte und dessen<br />

Namen unser Geschlecht fortan zusätzlich führen musste. Als Vormün<strong>der</strong> bis zur<br />

Volljährigkeit wurden die Herren Johann <strong>von</strong> Medem und Andreas <strong>von</strong> Königsfels<br />

bestimmt. Klopmann hat das Testament schon 1797 abgefasst, und es sche<strong>in</strong>t,<br />

dass er auch zu <strong>der</strong> Zeit schon Wilhelm W.W. adoptiert hat. Möglicherweise waren<br />

die Familienverhältnisse im Hause <strong>Wildemann</strong> etwas schwierig, und Vater<br />

Christoph Leopold war vielleicht froh, diesen Nachkömml<strong>in</strong>g unter so glücklichen<br />

Umständen abtreten zu können. Wie gross die Erbschaft wirklich war, ist nicht<br />

ersichtlich. Aber es wird im Testament immer vom beträchtlichen gesamten<br />

Vermögen gesprochen und <strong>von</strong> vielen wertvollen Objekten, wie Möbel, Porzellane,<br />

Bil<strong>der</strong>, Silber, Wagen und vielem an<strong>der</strong>en. Ausserdem vermachte Klopmann<br />

„me<strong>in</strong>er Freund<strong>in</strong>, <strong>der</strong> Mademoiselle Gerdrutha Fischer“ neben e<strong>in</strong>em hohen<br />

Geldbetrag e<strong>in</strong> zweistöckiges Haus nebst drei Wagen und zwei Pferden, „me<strong>in</strong>em<br />

Jungen Fritz Jel<strong>in</strong>ski“, <strong>der</strong> Reformierten Kirche, dem Armenhaus, dem<br />

Kammerdiener und dem Lakai jährliche Zahlungen. Vielleicht kaufte sich Wilhelm<br />

Woldemar Wolfgang das Gut Blaupomusch aus dem geerbten Vermögen.<br />

Aber se<strong>in</strong> Leben sollte nur e<strong>in</strong> kurzes se<strong>in</strong>. Mit 23 Jahren g<strong>in</strong>g er <strong>in</strong> den<br />

Militärdienst, wo er Wladimir genannt wird und wo er <strong>in</strong> das Quartiermeisteramt im<br />

Gefolge des Zaren kam. Er wurde rasch beför<strong>der</strong>t und schon 1813 Stabskapitän. Im<br />

Jahre 1812 kam er an die Front und kämpfte <strong>in</strong> Russland, Österreich, Sachsen und<br />

Preussen gegen Napoleon. 1812 erlitt er e<strong>in</strong>e Schussverletzung im l<strong>in</strong>ken<br />

Ellenbogen. Aber er blieb bis zum Mai 1813 im Krieg, bekam dann se<strong>in</strong>en Abschied,<br />

um se<strong>in</strong>e Wunde auszuheilen. Wir wissen nicht, ob dies vielleicht die<br />

vernachlässigte Ellenbogenverletzung ist. Woldemar Wladimir g<strong>in</strong>g nach Hause auf<br />

se<strong>in</strong> Gut Elaupomusch und heiratete im Dezember 1813 Jeanette <strong>von</strong> Hahn aus<br />

Gelbpomusch. Se<strong>in</strong> Sohn Wilhelm Christoph wurde am 20. Oktober 1814 geboren,<br />

und am gleichen Tag wurde W.W.W. offiziell <strong>mit</strong> dem Rang e<strong>in</strong>es Kapitäns „<strong>mit</strong><br />

Uniform“ aus dem Heeresdienst entlassen. Am 31. Januar 1815 stirbt er, 27-jährig,<br />

jungverheiratet, Vater e<strong>in</strong>es 3 Monate alten Sohnes. Vielleicht als Folge <strong>der</strong><br />

Kriegsverletzung, o<strong>der</strong> er wurde Opfer e<strong>in</strong>er <strong>der</strong> schrecklichen Grippe-Epidemien,<br />

denen man damals machtlos gegenüberstand. Wir wissen es nicht. Auch wissen wir<br />

nicht, ob <strong>der</strong> kle<strong>in</strong>e Wilhelm Christoph alle<strong>in</strong> aufwuchs, o<strong>der</strong> ob se<strong>in</strong>e Mutter wie<strong>der</strong><br />

geheiratet hat und er noch Geschwister bekam. Er wuchs <strong>in</strong> Blaupomusch auf,<br />

wurde Oberleutnant im Kaiserl. Russ. Husarenregiment und heiratete am 11.<br />

Familienchronik „<strong>von</strong> Wildeman“ Seite 1 <strong>von</strong> 57 Februar 1986


Februar 1849 Frie<strong>der</strong>ike <strong>von</strong> Haaren aus Poislitz, die 1818 geboren, e<strong>in</strong>e<br />

geschiedene Frau war. Am 11. Oktober 1849 (!) wurde das erste K<strong>in</strong>d Marzell<strong>in</strong>e<br />

geboren, am 28. November 1850 kam Carl Wilhelm (unser Grossvater) zur Welt<br />

und am 23. März 1853 Wilhelm Friedrich. Im gleichen Jahr starb Frie<strong>der</strong>ike nach<br />

nur vierjähriger Ehe, vielleicht an <strong>der</strong> Geburt <strong>von</strong> Wilhelm Friedrich. So verloren also<br />

Grosspapa und se<strong>in</strong>e Geschwister im Alter <strong>von</strong> 0 bis 4 Jahren ihre Mutter und fünf<br />

Jahre darauf, 1858, starb auch <strong>der</strong> Vater, als Marzell<strong>in</strong>e 9, Grosspapa 8 und<br />

Wilhelm Friedrich 5 Jahre alt waren. Wer mag die drei K<strong>in</strong><strong>der</strong> erzogen und wer das<br />

Gut bewirtschaftet haben? Vielleicht e<strong>in</strong>er o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> vielen Verwandten, den<br />

Nachkommen <strong>der</strong> vielen Geschwister se<strong>in</strong>es Grossvaters. Es ist sehr<br />

wahrsche<strong>in</strong>lich, dass es auch heute noch viele enger o<strong>der</strong> weitläufiger <strong>mit</strong> uns<br />

verwandte <strong>Wildemann</strong>s gibt. Von Grosspapas Schwester Marzell<strong>in</strong>e Johanna<br />

Wilhelm<strong>in</strong>a wissen wir gar nichts. H<strong>in</strong>gegen über se<strong>in</strong>en jüngeren Bru<strong>der</strong> Wilhelm<br />

Friedrich haben wir recht genaue militärische Urkunden. Nachdem er bis zum 17.<br />

Jahr <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Privatschule erzogen worden war, begann se<strong>in</strong>e militärische<br />

Erziehung, als er als Unteroffizier <strong>in</strong> das Dragonerregiment <strong>der</strong> Grossfürst<strong>in</strong> Maria<br />

Feorodowna e<strong>in</strong>trat. Se<strong>in</strong> Dienst im Regiment wechselte ständig <strong>mit</strong> theoretischwissenschaftlichen<br />

Kursen ab. 1873 wurde er Junker und Kornett und im März 1874<br />

Leutnant. 1877 wurde er Rittmeister und war als solcher zwei Jahre lang <strong>der</strong><br />

Pferdebeschaffung (Remonten) für die Armee und <strong>der</strong> Ausbildung <strong>von</strong> jungen<br />

Soldaten zugeteilt. Ab August 1880 diente er im Polizeikorps <strong>in</strong> Livland und <strong>in</strong><br />

M<strong>in</strong>sk. 1899 erhielt er den Rang e<strong>in</strong>es Regimentskommandeurs, und 1906 wurde er<br />

als Generalmajor verabschiedet. Auche ohne Kriegs- o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e Heldentaten<br />

wurden im Namen des Zaren den Offizieren für geleistete Dienste grosszügig Orden<br />

verliehen. So erhielt Wilhelm Friedrich im Lauf se<strong>in</strong>er 39-jährigen Dienstzeit die<br />

folgenden:Orden:<br />

„ Hl. <strong>Alex</strong>an<strong>der</strong> Newski<br />

„ Hl. Anna 3. Stufe und Hl. Anna 2. Stufe<br />

„ Hl. Stanislaus 2. Stufe<br />

Persischer Orden „Löwe und Sonne“ 2. Stufe<br />

Orden Hl. Wladimir 2. Stufe<br />

ferner:<br />

Silbern/goldenes Zigarrenetui<br />

Goldene Uhr <strong>mit</strong> Abbildung <strong>der</strong> Zar<strong>in</strong> Maria Feorodowna und Zarenwappen<br />

Medaille <strong>Alex</strong>an<strong>der</strong> III <strong>mit</strong> Band<br />

Gedenkmünze 1. Kategorie.<br />

Was muss es die Regierung gekostet haben, an tausende <strong>von</strong> Offizieren solche<br />

Orden und Geschenke zu verteilen! Dazu gab es noch e<strong>in</strong>zelne Geldzuwendungen.<br />

Aber die Gehälter waren nicht hoch und die Ferien nur knapp. 1876 heiratete<br />

Wilhelm Friedrich Emel<strong>in</strong>e Agathe Schulz; sie hatten e<strong>in</strong> Haus <strong>in</strong> Riga. 1878 wurde<br />

<strong>der</strong> Sohn Hugo Theodor Wilhelm geboren, <strong>der</strong> aber schon 1902 starb. Wilhelm<br />

Friedrich starb 1916 und se<strong>in</strong>e Frau, die uns dem Namen nach als Tante Emmy<br />

bekannt war, 1922 <strong>in</strong> Riga. Sie hat dort den ganzen Krieg, die bolschewistische<br />

Revolution <strong>mit</strong>erlebt und hat dann, wie aus ihren Briefen zu entnehmen ist, sehr<br />

Familienchronik „<strong>von</strong> Wildeman“ Seite 2 <strong>von</strong> 57 Februar 1986


ärmlich vom Verkauf <strong>von</strong> Möbeln usw. noch im Nachkriegslettland gelebt.<br />

Grosspapa, Carl Wilhelm <strong>von</strong> <strong>Wildemann</strong>, 1850 geboren, besuchte wohl auch die<br />

gleiche Privatschule wie se<strong>in</strong> Bru<strong>der</strong>. Er wurde nicht Offizier, son<strong>der</strong>n lebte ganz für<br />

die Bewirtschaftung se<strong>in</strong>es Gutes. 1873 heiratete er Olga <strong>von</strong> Denffer, die <strong>von</strong> Beruf<br />

Lehrer<strong>in</strong> und Erzieher<strong>in</strong> auf e<strong>in</strong>em Nachbargut war. Grosspapa war e<strong>in</strong> sehr<br />

erfolgreicher und angesehener Gutsherr, und es muss bis zum Ausbruch des ersten<br />

Weltkrieges 1914 e<strong>in</strong>e gute und sorgenfreie Zeit für ihn und se<strong>in</strong>e schnell<br />

wachsende Familie gewesen se<strong>in</strong>, <strong>in</strong> <strong>der</strong> schönen Tradition des baltischen<br />

Landadels. überschattet wurde dieses Leben wohl <strong>von</strong> <strong>der</strong> teilweisen Bl<strong>in</strong>dheit<br />

unserer Grossmutter, nachdem e<strong>in</strong>es ihrer Augen entfernt werden musste. Sie hatte<br />

sich <strong>in</strong> verhältnismässig jungen Jahren, als sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Krankenhaus pflegen half,<br />

angesteckt. Wir kannten sie nur <strong>mit</strong> e<strong>in</strong>er Brille, <strong>der</strong>en e<strong>in</strong>es Glas undurchsichtig<br />

war. Sie war streng und reichlich fromm, und wir hatten etwas Angst vor ihr.<br />

Carl Wilhelms und Olgas K<strong>in</strong><strong>der</strong> waren:<br />

Magda Frie<strong>der</strong>ike Olga Elisabeth - unsere sehr geliebte Tante Magda - geboren<br />

1874. Sie blieb unverheiratet und lebte immer <strong>mit</strong> den Eltern und nach Grosspapas<br />

Tod bei <strong>der</strong> Mutter. Sie starb 1934 an Lungenkrebs <strong>in</strong> Sw<strong>in</strong>emünde. Udo Victor<br />

Wilhelm, geboren 1875. Er wurde Eisenbahn<strong>in</strong>genieur und arbeitete an <strong>der</strong><br />

Transsibirischen Bahn <strong>in</strong> Sibirien, sche<strong>in</strong>bar immer ganz im Osten des unendlich<br />

grossen Landes. Er blieb auch während und nach dem ersten Weltkrieg und<br />

wahrsche<strong>in</strong>lich auch den zweiten Weltkrieg h<strong>in</strong>durch dort im Fernen Osten. Offiziell<br />

verheiratet sche<strong>in</strong>t er nicht gewesen zu se<strong>in</strong>. Aber er lebte <strong>mit</strong> e<strong>in</strong>er Freund<strong>in</strong><br />

namens Lara zusammen, <strong>der</strong>en Tochter (und viel leicht auch se<strong>in</strong>e ?) auch bei ihm<br />

lebte. Dies geht aus e<strong>in</strong>em Brief an se<strong>in</strong>e Schwester Magda vom Dez. 1929 (wegen<br />

Papus Tod) hervor und wurde mir auch <strong>von</strong> e<strong>in</strong>em entfernten Verwandten, Graf<br />

Wendel<strong>in</strong> Keyserl<strong>in</strong>gk, <strong>der</strong> während des ersten Krieges 1914-18 <strong>mit</strong> se<strong>in</strong>en Eltern <strong>in</strong><br />

Wladiwostok lebte und Udo dort sah, bestätigt. Die Freund<strong>in</strong> war Russ<strong>in</strong> und<br />

sozusagen „Haushälter<strong>in</strong>“. <strong>Unser</strong>e Grosseltern müssen <strong>von</strong> diesem Verhältnis<br />

gewusst haben, was <strong>in</strong> <strong>der</strong> damals sittenstrengen Zeit gewiss nicht leicht für sie<br />

gewesen se<strong>in</strong> kann. Wir wissen gar nichts über Onkel Udos Schicksal - wo liegt er<br />

begraben und wo s<strong>in</strong>d die möglichen Nachkommen? Als Dritter kam dann Walter<br />

Georg zur Welt (<strong>der</strong> erste, <strong>der</strong> seit vier Generationen ke<strong>in</strong>en Wilhelm im Namen<br />

hatte!) Er wurde 1877 geboren. Im <strong>Stammbaum</strong> ersche<strong>in</strong>t er als Erbherr auf<br />

Blaupomusch, also hatte wohl Udo auf das Gut verzichtet. O<strong>der</strong> hatte Grosspapa<br />

ihn vielleicht enterbt? Wohl kaum.<br />

Als Onkel Walter 1911, also <strong>mit</strong> 34 Jahren Al<strong>in</strong>e <strong>von</strong> <strong>der</strong> Recke, Witwe und Mutter<br />

<strong>von</strong> vier K<strong>in</strong><strong>der</strong>n und Besitzer<strong>in</strong> <strong>der</strong> Güter Waldeck und Paulsgnade, heiratete, hätte<br />

er wohl für sich auf Blaupomusch verzichtet, wenn das Schicksal nicht e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e,<br />

schreckliche Wende genommen hätte. E<strong>in</strong>er se<strong>in</strong>er beiden eigenen Söhne, Udo<br />

Manfred Joachim und Georg Carl Louis (genannt Ulli), hätte Blaupomusch geerbt,<br />

während se<strong>in</strong> Stiefsohn Claus-Jürgen <strong>von</strong> <strong>der</strong> Recke (die drei an<strong>der</strong>en K<strong>in</strong><strong>der</strong><br />

waren Töchter) die Reckeschen Güter bekommen hätte. Aber es g<strong>in</strong>g alles im<br />

schrecklichen Geschehen <strong>der</strong> bolschewistischen Revolution unter. Die Grosseltern<br />

mussten, wie alle an<strong>der</strong>en auch, ihr schönes Gut 1919 verlassen. Onkel Walter und<br />

Tante Al<strong>in</strong>e, die als adlige Gutsbesitzer dann auch hätten fliehen müssen, schoben<br />

die Abreise auf, da <strong>der</strong> 6- jährige Joachim <strong>mit</strong> schwerer Halsentzündung im<br />

Krankenhaus lag und Tante Al<strong>in</strong>e nicht die Reise wagen wollte. Sie wurden Ende<br />

Familienchronik „<strong>von</strong> Wildeman“ Seite 3 <strong>von</strong> 57 Februar 1986


Januar gefangen genommen und am 14. März beide ermordet. Im April wurden<br />

Walter und Al<strong>in</strong>e auf e<strong>in</strong>em <strong>der</strong> Güter beerdigt im Beise<strong>in</strong> <strong>der</strong> vier K<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>von</strong> <strong>der</strong><br />

Recke, die danach <strong>mit</strong> den beiden kle<strong>in</strong>en Stiefbrü<strong>der</strong>n und dem K<strong>in</strong><strong>der</strong>mädchen<br />

Frl. Krüger nach Mecklenburg fuhren. Die Recke-Geschwister waren damals<br />

zwischen 20 und 12 Jahren alt. Sie waren Gisela, Renee, Sigrid und Claus-Jürgen.<br />

Ausser Sigrid s<strong>in</strong>d alle durch Krankheit und Kriegse<strong>in</strong>wirkungen (des 2. Krieges)<br />

jung gestorben. Sigrid heiratete 1929 den bereits erwaehnten Graf Wendel<strong>in</strong><br />

Keyserl<strong>in</strong>gk, e<strong>in</strong>en über Haarens und Ropps entfernten Verwandten <strong>von</strong> uns. Sie<br />

lebt <strong>mit</strong> ihrer grossen K<strong>in</strong><strong>der</strong>- und Enkelschar <strong>in</strong> Kanada. Sigrid ist gerade 80 Jahre<br />

alt geworden. Zwei Besuche <strong>in</strong> <strong>der</strong> verwandtschaftlichen und so baltisch<br />

gastfreundlichen Atmosphäre ihres Hauses bei Montreal s<strong>in</strong>d mir unvergessliche<br />

Erlebnisse. Tante Al<strong>in</strong>es erster Mann, Matthias v.d. Recke, war 1908 an<br />

Lungenentzündung gestorben. Sigrid erzählte mir, dass sie ihren jungen Stiefvater,<br />

Walter <strong>von</strong> <strong>Wildemann</strong>, <strong>der</strong> fünf Jahre jünger war als se<strong>in</strong>e Frau, sehr geliebt<br />

hatten. Ihr eigner Vater war fast 20 Jahre älter gewesen als ihre Mutter.<br />

Traurigerweise hat den kle<strong>in</strong>en Joachim <strong>in</strong> Deutschland dann doch das Schicksal<br />

ereilt, denn er starb bald nach <strong>der</strong> Flucht an se<strong>in</strong>er Halskrankheit (Diphterie o<strong>der</strong><br />

Ang<strong>in</strong>a?), wodurch das Opfer <strong>der</strong> Eltern s<strong>in</strong>nlos wurde. Ullis Geschick fliesst <strong>in</strong> die<br />

Geschichte unserer Familie e<strong>in</strong>, da er <strong>von</strong> unsrem Vater adoptiert wurde. 1882<br />

wurde den Grosseltern die Tochter Elisabeth Leont<strong>in</strong>e Jacob<strong>in</strong>e Thekla geboren,<br />

die schon <strong>mit</strong> 10 Jahren an Grippe starb. 1884 kam als Jüngster unser Vater,<br />

Bernhard Eduard Wilhelm zur Welt, und da<strong>mit</strong> kommen wir zur Geschichte unserer<br />

Familie. Wir haben die Fotografie des Gutshauses <strong>von</strong> Blaupomusch, an das<br />

Grosspapa (Carl Wilhelm) e<strong>in</strong>en mo<strong>der</strong>nen Teil <strong>mit</strong> grossen Räumen und grossen<br />

Fenstern angebaut hatte. Vor <strong>der</strong> Freitreppe steht e<strong>in</strong> Vierspänner, <strong>der</strong> Kutscher<br />

sitzt auf dem Bock und vorn am Kopf <strong>der</strong> Pferde steht e<strong>in</strong> junger Mann im dunklen<br />

Anzug und Hut: Das ist unser Vater, unser Papu. Blaupomusch liegt <strong>in</strong> Litauen am<br />

Ufer <strong>der</strong> Musse. Dort lagen viele <strong>der</strong> Güter <strong>der</strong> Verwandten, die meisten auf -<br />

pomusch (an <strong>der</strong> Musse) endend. Tante Elli <strong>von</strong> <strong>der</strong> Ropp, geb. <strong>von</strong> Bistram, die so<br />

liebe, kürzlich 98-jährig <strong>in</strong> München verstorbene Tante, die auf dem Gut Grenzthal<br />

aufwuchs, erzählte wie sie <strong>in</strong> <strong>der</strong> Jugend so viel <strong>mit</strong> <strong>Wildemann</strong>s verkehrt hatten;<br />

wie oft sie als junges Mädchen und auch später als junge Frau (<strong>von</strong><br />

Eichenpomusch aus) <strong>in</strong> Blaupomusch gewesen war.Ich habe bei Tante Elli im<br />

Tagebuch ihrer Mutter, Tante <strong>Alex</strong>andr<strong>in</strong>e, gen. Alli, lesen können. Tante Alli war<br />

Mamus Kus<strong>in</strong>e, aber sehr viel älter, 1860 geboren. Es ist e<strong>in</strong>e wun<strong>der</strong>bare<br />

Beschreibung des Lebens auf den Gütern damals <strong>in</strong> <strong>der</strong> schönen Tradition <strong>der</strong><br />

patriarchalischen Gutsherren, <strong>der</strong>en Arbeiter wie K<strong>in</strong><strong>der</strong> e<strong>in</strong>er grossen Familie vom<br />

Besitzer abh<strong>in</strong>gen, wenig Lohn aber viel Naturalien bekamen. Auch über die ersten<br />

Unruhen berichtet sie, dann über die Revolution <strong>von</strong> 1905, als die lettischen<br />

Arbeiter ernsthaft gegen die Besitzer aufstanden, mehr Lohn verlangten und auch<br />

schon gewalttätig wurden. Da Grenzthal direkt an <strong>der</strong> Grenze zwischen Lettland<br />

(damals Kurland) und Litauen lag, schwappte die Revolution dorth<strong>in</strong> über. Tante<br />

Allis Mann, Baron Nikolaus <strong>von</strong> Bistram, wurde <strong>mit</strong> den Leuten auf gütliche Art<br />

fertig. Schlimm wurde es dann 1918/19, als alle baltischen Län<strong>der</strong> vom Geist <strong>der</strong><br />

russischen Revolution erfasst wurden, viele Gutsbesitzer vertrieben o<strong>der</strong> getötet.<br />

Nikolaus Bistram war schon 1913 gestorben, so hatte Tante Alli das alles alle<strong>in</strong><br />

durchgemacht, sie musste auch <strong>in</strong>s Gefängnis, da sie e<strong>in</strong> Dokument <strong>der</strong> Roten <strong>mit</strong><br />

„Baron<strong>in</strong> Bistram“ unterschrieben hatte, obwohl die Titel abgeschafft waren. Aber<br />

durch die günstigen Aussagen ihrer Leute wurde sie wie<strong>der</strong> freigelassen. Sie<br />

Familienchronik „<strong>von</strong> Wildeman“ Seite 4 <strong>von</strong> 57 Februar 1986


konnten dann alle nach Deutschland resp. Frankreich entkommen. Allerd<strong>in</strong>gs g<strong>in</strong>g<br />

Tante Alli nach dem Kriege tapfer wie<strong>der</strong> zurück für e<strong>in</strong>ige Jahre.<br />

Gestorben ist sie 1943 <strong>in</strong> Frankreich bei ihrer Tochter Marie Liebrecht, die e<strong>in</strong>en<br />

Pfarrer im Elsass geheiratet hatte.Tante Alli, <strong>der</strong>en Eltern direkte Vetter und Kus<strong>in</strong>e<br />

waren, hatte 11 Geschwister, <strong>von</strong> denen aber mehrere schon als Kle<strong>in</strong>k<strong>in</strong><strong>der</strong><br />

starben. Elli, ihr zweitältestes K<strong>in</strong>d, war nur vier Jahre älter als die jüngste<br />

Schwester ihrer Mutter. Sie war 6 Monate jünger als Papu und schon verwandt <strong>mit</strong><br />

<strong>Wildemann</strong>s, ehe sie 1903 Paul <strong>von</strong> <strong>der</strong> Ropp, ihren Onkel zweiten Grades und<br />

Mamus Bru<strong>der</strong>, heiratete. Denn <strong>Wildemann</strong>s und Ropps waren verwandt, unsere<br />

Eltern waren Vetter und Kus<strong>in</strong>e zweiten Grades, da ihre Grossmütter<br />

väterlicherseits Fre<strong>der</strong>ike und Leont<strong>in</strong>e <strong>von</strong> Haaren aus Poislitz Schwestern<br />

gewesen waren. Der Vater dieser Schwestern Haaren, also unser Ururgrossvater<br />

und <strong>der</strong> Ururgrossvater <strong>von</strong> Wendel<strong>in</strong> Keyserl<strong>in</strong>gk waren Brü<strong>der</strong> gewesen. So war<br />

es im Baltikum: man heiratete <strong>in</strong>nerhalb des Kreises <strong>der</strong> Familien, <strong>mit</strong> denen man<br />

benachbart, befreundet und auch oft schon verwandt war. Tante Elli erzählte mir,<br />

dass unser Grosspapa, ihr Onkel Carl, e<strong>in</strong> weitum beliebter, da kluger und gütiger<br />

Mann war, <strong>der</strong> es verstand, zwischen den oft unzufriedenen baltischen<br />

Gutsbesitzern und den russischen Behörden zu ver<strong>mit</strong>teln. Auch Tante Ellis und<br />

Onkel Pauls Tochter Lydia, die jetzt 80-jährig <strong>in</strong> München lebt, hat klare<br />

Er<strong>in</strong>nerungen an Blaupomusch bis zum Jahre 1915, <strong>in</strong> dem ihre und unsere<br />

Familien nach Petersburg g<strong>in</strong>gen. Aus ihren Erzählungen und denen <strong>von</strong> Sylvester<br />

und Tatjana entsteht e<strong>in</strong> recht anschauliches Bild des Lebens auf Blaupomusch.<br />

Doch zunächst zurück zum jungen Bernhard, genannt Benno, unserem Vater, <strong>der</strong><br />

bis 1906 am militärischen Lyzeum <strong>in</strong> Peterhof bei Petersburg Jura studierte und die<br />

Ferien zuhause <strong>in</strong> Blaupomusch verbrachte. Er verliebte sich <strong>in</strong> Gertrude <strong>von</strong> <strong>der</strong><br />

Ropp, die jüngste Tochter auf dem Gute Dauzogir; die beiden wollten sich verloben.<br />

Gertrudes Vater, Wilhelm <strong>von</strong> <strong>der</strong> Ropp, war schon 1902 gestorben. Er hatte 1865<br />

als junger Ingenieur auf <strong>der</strong> Krim die 17-jährige Lydia Gurieff, e<strong>in</strong>e russische<br />

Aristokrat<strong>in</strong>, geheiratet. Er war dort sehr erfolgreich gewesen, hatte viel Geld<br />

verdient, sodass er <strong>in</strong> Kurland die Güter Dauzogir, Gulb<strong>in</strong> und Eichenpomusch<br />

kaufen konnte. Das junge Paar zog nach Dauzogir. Ihnen wurden 11 K<strong>in</strong><strong>der</strong><br />

geboren, <strong>von</strong> denen aber drei ganz kle<strong>in</strong> starben. <strong>Unser</strong>e Mutter, Gertrude, war das<br />

zweitjüngste K<strong>in</strong>d. Sie kam 1881 zur Welt. Die K<strong>in</strong><strong>der</strong> wuchsen hauptsächlich <strong>in</strong><br />

Dresden auf, da sie e<strong>in</strong>e deutsche Erziehung, d.h. Schulbildung haben sollten. So<br />

kamen sie <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Mutter nur zu den Ferien nach Hause. Dies hatte auch noch<br />

e<strong>in</strong>en an<strong>der</strong>en Grund: Lydia <strong>von</strong> <strong>der</strong> Ropp, geb. Gurieff, war natürlich <strong>von</strong> Haus aus<br />

orthodoxen Glaubens. Als ihr nach den zwei ältesten K<strong>in</strong><strong>der</strong>n <strong>Alex</strong>an<strong>der</strong> und Maria<br />

die zwei nächsten als Babies starben, g<strong>in</strong>g sie zur Erholung nach Wiesbaden.<br />

Physisch und seelisch nie<strong>der</strong>geschlagen wie sie war, geriet sie dort unter den<br />

E<strong>in</strong>fluss e<strong>in</strong>es protestantischen Pastors, <strong>der</strong> sie zum šbertritt zum lutherischen<br />

Glauben überredete, nur durch diesen sollte sie Trost f<strong>in</strong>den. Sie war ja noch sehr<br />

jung und liess sich zu diesem unklugen Schritt verleiten, wahrsche<strong>in</strong>lich ohne ihren<br />

Mann um Rat zu fragen - er war ja auch weit weg. Zu <strong>der</strong> Zeit, unter <strong>der</strong> Regierung<br />

<strong>Alex</strong>an<strong>der</strong>s II, war es <strong>in</strong> Russland ungesetzlich, aus <strong>der</strong> orthodoxen Kirche<br />

auszutreten. <strong>Unser</strong> Grossvater war sehr unglücklich über diesen Schritt se<strong>in</strong>er Frau,<br />

<strong>der</strong> geheimgehalten werden musste. Ebenso durfte es nicht bekannt werden, dass<br />

die weiteren K<strong>in</strong><strong>der</strong> lutherisch getauft wurden. Aber Grossmutter war fanatisch und<br />

überfromm, wie es ja Konvertiten oft s<strong>in</strong>d. So ergab es sich, dass unsere<br />

Grossmutter die meiste Zeit <strong>mit</strong> den K<strong>in</strong><strong>der</strong>n <strong>in</strong> Dresden lebte, wo sie <strong>in</strong> aller<br />

Familienchronik „<strong>von</strong> Wildeman“ Seite 5 <strong>von</strong> 57 Februar 1986


Freiheit ihre lutherische Frömmigkeit praktizieren konnte. In den Ferien waren alle<br />

zusammen <strong>in</strong> Dauzogir, und Grossvater reiste auch manchmal nach Dresden und<br />

machte manch schöne Auslandsreise <strong>mit</strong> Frau und K<strong>in</strong><strong>der</strong>n. Bei Waldtraut Flügel<br />

koonte ich auch e<strong>in</strong> Tagebuch <strong>von</strong> Tante Helene über e<strong>in</strong>e Reise <strong>in</strong> die Schweiz <strong>mit</strong><br />

ihren Eltern und ihrer jüngeren Schwester Gertrud, also unserer Mutter, lesen. Es ist<br />

wun<strong>der</strong>hübsch beschrieben, wie man damals <strong>in</strong> <strong>der</strong> Schweiz reiste. Tante Helene<br />

war zu <strong>der</strong> Zeit 17, Mamu vier Jahre jünger.<br />

Sie wohnten <strong>in</strong> Hotels am Vierwaldstättersee, machten Ausflüge <strong>mit</strong> Pferdekutschen<br />

und Schiff und bestiegen tapfer <strong>in</strong> ihren bis auf den Boden reichenden Röcken die<br />

Berge, wobei die kle<strong>in</strong>e Gertrud auf e<strong>in</strong>er beson<strong>der</strong>s hübsch beschriebenen<br />

Bergpartie im Schneematsch immer wie<strong>der</strong> rutschte und fiel. Mamu hat mir<br />

mehrmals <strong>von</strong> ihren Schweizer Reisen <strong>mit</strong> ihren Eltern erzählt.<br />

Grossvater war, wie alle Deutschbalten lutherisch getauft, was <strong>von</strong> <strong>der</strong> russischen<br />

Regierung völlig anerkannt wurde. Aber dass e<strong>in</strong>e orthodoxe Russ<strong>in</strong> ihren Glauben<br />

aufgab, war e<strong>in</strong> schlimmes Vergehen und Grossvater wurde dadurch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e<br />

schwierige Lage gebracht. Die übertriebene Frömmigkeit <strong>der</strong> Mutter war für die<br />

K<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>in</strong> Dresden wohl auch nicht leicht und hat sie <strong>der</strong> Mutter möglicherweise<br />

etwas entfremdet. So haben sie ihre Ferien <strong>in</strong> Dauzogir immer beson<strong>der</strong>s<br />

genossen. Mamu sprach <strong>mit</strong> viel Heimweh und Liebe <strong>von</strong> dem unbeschwerten<br />

Leben auf dem schönen Gut. Sie litt unter <strong>der</strong> Nüchternheit und Kühle des<br />

protestantischen Glaubens, die Mystik und Feierlichkeit <strong>der</strong> orthodoxen Kirche<br />

entsprach ihrem Wesen so viel mehr. So trat sie <strong>mit</strong> 17 Jahren heimlich <strong>in</strong> Dresden<br />

zur russisch-orthodoxen Kirche über. Wir wissen nicht, wie sich dieser Schritt, den<br />

sie ja auf die Dauer nicht verbergen konnte, auf das Verhältnis zu ihrer Mutter<br />

auswirkte. Zu <strong>der</strong> Zeit, als Papu um sie warb, waren ihre Schwestern Marie, die<br />

Žlteste <strong>von</strong> allen, Helene und Margarethe schon <strong>in</strong> Deutschland verheiratet. Von<br />

den Brü<strong>der</strong>n hatte Paul se<strong>in</strong> Biologiestudium <strong>mit</strong> Dr.phil. abgeschlossen und<br />

bewirtschaftete se<strong>in</strong> Gut Eichenpomusch; Friedel (Friedrich Theodor Louis<br />

Sylvester) war als Bergwerk<strong>in</strong>genieur nach se<strong>in</strong>em Studium <strong>in</strong> Freiburg <strong>in</strong> Sachsen<br />

im Auftrag <strong>der</strong> deutschen Regierung viel <strong>in</strong> Afrika unterwegs, um <strong>in</strong> Abess<strong>in</strong>ien, im<br />

Kongo und im damaligen Deutsch- Südwestafrika im E<strong>in</strong>verständnis <strong>mit</strong> den<br />

dortigen Regierungen nach Gold und Edelste<strong>in</strong>en zu forschen.<strong>Alex</strong>an<strong>der</strong>, <strong>der</strong><br />

älteste Bru<strong>der</strong>, geboren 1868, war e<strong>in</strong> hochbegabter Ingenieur, <strong>der</strong> <strong>in</strong> genialer<br />

Weise e<strong>in</strong>en beson<strong>der</strong>en Schwimmgürtel o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e ähnliche Vorrichtung erfunden<br />

hatte, die, kle<strong>in</strong> zusammengelegt, am Körper getragen werden und im Notfall sofort<br />

e<strong>in</strong>satzbereit gemacht werden konnte. Lei<strong>der</strong> erwies sich diese <strong>mit</strong> höchsten<br />

Erwartungen begrüsste Erf<strong>in</strong>dung zuguterletzt als nicht funktionsfähig, e<strong>in</strong>e schwere<br />

Enttäuschung für <strong>Alex</strong>an<strong>der</strong>. Zu gleicher Zeit hatte er e<strong>in</strong>e unglückliche<br />

Liebesgeschichte, die ihn völlig aus <strong>der</strong> Bahn warf. Er wurde geistesgestört und<br />

musste ungefähr 1910 <strong>in</strong> die Anstalt für psychisch Kranke nach Bethel bei Bielefeld<br />

gebracht werden, wo er bis <strong>in</strong>s hohe Alter lebte.Wilhelm (Sylvester Wilhelm<br />

Gotthard), genannt Willi und später Bill, <strong>der</strong> Jüngste <strong>von</strong> allen, geboren 1886, war<br />

auch Ingenieur. Er heiratete etwa 1909 e<strong>in</strong>e englische Sänger<strong>in</strong>, die er <strong>in</strong><br />

Frankreich kennen lernte. Später zogen sie nach England, wo Onkel Bill Englän<strong>der</strong><br />

wurde und bis an se<strong>in</strong> Lebensende blieb. Se<strong>in</strong> Sohn Robert (Bob) lebt heute als<br />

pensionierter Professor <strong>in</strong> New York, se<strong>in</strong>e Tochter Ruth wurde Kranken- und<br />

Geme<strong>in</strong>deschwester <strong>in</strong> England, doch jetzt ist sie sicher auch nicht mehr<br />

berufstätig. Gertrude, also unsere Mutter, hat wohl nach beendigter Schule teils bei<br />

ihrer Mutter <strong>in</strong> Dresden und teils <strong>in</strong> Dauzogir gelebt, woh<strong>in</strong> auch die Mutter zuweilen<br />

Familienchronik „<strong>von</strong> Wildeman“ Seite 6 <strong>von</strong> 57 Februar 1986


kam. Als nun Bernhard <strong>von</strong> <strong>Wildemann</strong> aus Blaupomusch, 21-jährig, im letzten Jahr<br />

se<strong>in</strong>es Studiums an <strong>der</strong> Kaiserl. Akademie <strong>in</strong> Peterhof um die drei Jahre ältere<br />

Gertrude <strong>von</strong> <strong>der</strong> Ropp warb, stiessen sie auf den harten Wi<strong>der</strong>stand <strong>von</strong> Gertrudes<br />

Mutter Lydia. An dem jungen <strong>Wildemann</strong> war allerlei auszusetzen. Er war zu jung,<br />

er hatte noch ke<strong>in</strong>en Beruf und hatte, da er ältere Brü<strong>der</strong> hatte, auch ke<strong>in</strong> Gut zu<br />

erben. So war er f<strong>in</strong>anziell wohl nicht standesgemäss, und es waren auch an<strong>der</strong>e<br />

Bewerber vorhanden, die zwar <strong>der</strong> Mutter aber nicht <strong>der</strong> Tochter zusagten. Der e<strong>in</strong>e<br />

war e<strong>in</strong> viel älterer Herr, <strong>von</strong> dem sie gesagt haben soll: „Was, den alten verlebten<br />

Kerl soll ich heiraten? Ich liebe doch den jungen Benno“. Dann war da auch noch<br />

Max-<strong>Alex</strong>is <strong>von</strong> <strong>der</strong> Ropp, <strong>der</strong> viele Jahre später unter den tragischsten Umständen<br />

e<strong>in</strong>e Rolle <strong>in</strong> ihrem Leben spielen sollte. So war Bernhard ke<strong>in</strong> willkommener Gast<br />

auf Dauzogir, wenn er <strong>in</strong> den Ferien zuhause <strong>in</strong> Blaupomusch war. Mit allerlei<br />

Schlichen hat er versucht, <strong>mit</strong> Gertrude zusammenzukommen. E<strong>in</strong>e Episode hat<br />

Mamu uns erzählt: Sie kam <strong>mit</strong> ihrer Mutter nach langer Bahnfahrt zu e<strong>in</strong>em<br />

Aufenthalt <strong>in</strong> Dauzogir auf dem Bahnhof <strong>in</strong> Ponjewesch an. Papu, <strong>der</strong> es nicht<br />

erwarten konnte, die Angebetete wenigstens zu sehen, aber nicht da<strong>mit</strong> rechnen<br />

konnte, nach Dauzogir e<strong>in</strong>geladen zu werden, hatte sich auf dem Bahnhof<br />

Ponjewesch e<strong>in</strong>e Gepäckträgeruniform geliehen, und <strong>in</strong> dieser Verkleidung hatte er<br />

<strong>von</strong> allen, ausser <strong>von</strong> Mamu unerkannt beim Aussteigen aus dem Zug und beim<br />

E<strong>in</strong>steigen <strong>in</strong> die Kutsche helfen und sicher auch mal Mamus Hand halten können.<br />

Welches Glück und welcher Mut! So war es e<strong>in</strong>e schwierige Zeit <strong>der</strong> jungen Liebe.<br />

Irgendwann mussten sie ja zue<strong>in</strong>an<strong>der</strong> gefunden haben, wahrsche<strong>in</strong>lich <strong>in</strong> den<br />

Zeiten, als die Mutter <strong>in</strong> Dresden und Mamu <strong>in</strong> Dauzogir war. Im Frühjahr 1906, als<br />

Papu kurz vor dem Abschluss se<strong>in</strong>es Jurastudiums stand, fuhr er nach Dresden, um<br />

bei Lydia <strong>von</strong> <strong>der</strong> Ropp um die Hand ihrer Tochter Gertrude anzuhalten. Er stieg <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em Hotel ab, g<strong>in</strong>g zur Gartenstrasse und gab an <strong>der</strong> Türe se<strong>in</strong>e Visitenkarte ab.<br />

Aber <strong>der</strong> o<strong>der</strong> die Bedienstete kam zurück <strong>mit</strong> dem Bescheid, dass die Frau Baron<strong>in</strong><br />

ihn nicht zu empfangen wünsche. So begab sich Bernhard, tief geknickt auf die<br />

lange Reise zurück nach Blaupomusch. Geknickt aber nicht verzweifelt, da er<br />

wusste, dass das geliebte „Truschchen“ nur ihn wollte.<br />

Diese fiel vor Kummer <strong>in</strong> Ohnmacht. Tante Elli, Onkel Pauls Frau und schon Mutter<br />

<strong>von</strong> Lydia, hatte ganz schreckliches Mitleid <strong>mit</strong> Benno, <strong>der</strong> die weite Reise umsonst<br />

gemacht hatte und <strong>mit</strong> Gertrud, die so voller Hoffnung auf se<strong>in</strong>e Rückkehr gewartet<br />

hatte und nun ganz elend war. Tante Elli machte ihr e<strong>in</strong> heisses Fussbad, um sie<br />

aufzumuntern, aber da fiel sie gleich noch e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> Ohn-macht! Die Brü<strong>der</strong> Paul<br />

und Friedel konnten diesen Jammer nicht länger <strong>mit</strong> ansehen und beschlossen zu<br />

handeln. Zuerst fuhr Paul nach Blaupomusch um <strong>mit</strong> Bennos Vater zu sprechen.<br />

Dieser versicherte ihm, dass er gar nichts gegen diese Heirat hatte. Darauf fuhr<br />

Paul nach Dresden und konnte se<strong>in</strong>e Mutter zur E<strong>in</strong>willigung überreden. Friedel soll<br />

gesagt haben: „Wenn sie diesen rot-backigen Jungen so liebt, so lasst sie ihn doch<br />

haben“. Im Juni 1906 wurde die offizielle Verlobungsanzeige gedruckt, <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Lydia<br />

<strong>von</strong> <strong>der</strong> Ropp die Verlobung ihrer Tochter Gertrud <strong>mit</strong> Bernhard <strong>von</strong> <strong>Wildemann</strong><br />

bekannt gab, aber an <strong>der</strong> Hochzeit am 1. Oktober desselben Jahres war sie nicht<br />

dabei, vielleicht auch aus gesundheitlichen Gründen. Sie war schon lange kränklich<br />

und starb im Februar 1908. Zur Hochzeit am 1. Oktober 1906 fuhr Papu im Wagen<br />

<strong>mit</strong> Elli und Paul <strong>von</strong> <strong>der</strong> Ropp. Tante Elli erzählte, dass sie noch nie e<strong>in</strong>en so<br />

aufgeregten, glücklichen und seligen Menschen wie Benno <strong>in</strong> dem Augenblick<br />

gesehen habe. Man konnte ihn gar nicht ansprechen. Elli und Benno waren gleich<br />

alt, während Paul 13 Jahre älter war als se<strong>in</strong>e Frau. Die Hochzeit wurde e<strong>in</strong><br />

Familienchronik „<strong>von</strong> Wildeman“ Seite 7 <strong>von</strong> 57 Februar 1986


schönes und frohes Fest. Wir haben e<strong>in</strong>e Fotografie <strong>der</strong> Jungvermählten, e<strong>in</strong><br />

romantisches und elegantes Paar.Mamu im Spitzenkleid <strong>mit</strong> angesteckter Rose,<br />

Papu <strong>in</strong> russ. Offiziersuniform, unendlich jung aussehend, beide sehr gefasst und<br />

ernst, so wie man damals für Aufnahmen posieren musste. <strong>Unser</strong> lieber Papu, wie<br />

schwer muss es ihm gefallen se<strong>in</strong>, für dieses Bild so ernst dre<strong>in</strong>zublicken, nachdem<br />

er endlich se<strong>in</strong> heißersehntes Truschchen hatte. Wie wenig ahnten sie damals, was<br />

das Leben ihnen abfor<strong>der</strong>n würde. Der so junge Benno, <strong>der</strong> vor vier Monaten se<strong>in</strong><br />

Studium an <strong>der</strong> Akademie <strong>in</strong> Peterhof abgeschlossen hatte, hatte als Jurist e<strong>in</strong>e<br />

gute Laufbahn <strong>in</strong> Aussicht. Die allerersten Jahre <strong>in</strong> Russland waren sicher die<br />

schönsten ihres Lebens, auch wenn Papu wohl zu jung war für die sich bald<br />

e<strong>in</strong>stellenden Babies. Zum Kummer <strong>von</strong> Mamu und <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>frau hat er den<br />

nachts viel schreienden Sylvester (Sylvester Paul Karl), am 7.Juni 1908 geboren, <strong>in</strong><br />

den vom K<strong>in</strong><strong>der</strong>zimmer am weitesten entfernten Raum geschoben, um ihn nicht zu<br />

hören. Die ersten Stationen <strong>der</strong> jungen Ehe waren Simbirsk (Heute Uljanow) an <strong>der</strong><br />

Wolga, wo Sylvester geboren wurde und Glebau <strong>in</strong> Litauen, wo Papu Landrat war.<br />

In Simbirsk, im „tiefsten“ Russland waren sie beson<strong>der</strong>s glücklich. Sie liebten das<br />

Land und die Menschen, die Abgeschiedenheit, die e<strong>in</strong>fachen Bauern, ihre Sprache<br />

und ihre Feste. Papu war ja reichlich jung für diesen Posten und war wohl als<br />

Vertreter <strong>der</strong> Obrigkeit ke<strong>in</strong> strenger Herr. Was genau zu den Pflichten e<strong>in</strong>es<br />

„Semski natschalnik“ gehörte, wörtlich übersetzt:<br />

Vorgesetzter o<strong>der</strong> Aufseher des Landes, das wissen wir nicht.Jedenfalls hatte er<br />

nur <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Landbevölkerung zu tun, <strong>mit</strong> den Bauern vor allem, <strong>von</strong> denen ja damals<br />

fast alle Analphabeten waren. So hat er sich wohl <strong>mit</strong> ihren Sorgen und Anliegen<br />

befasst, ernsthafte Probleme an die Regierungsstellen <strong>in</strong> Moskau weitergeleitet und<br />

vielleicht auch, da man ja e<strong>in</strong>en Juristen <strong>in</strong> dieses Amt berufen hatte, kle<strong>in</strong>ere<br />

Gerichtsfälle behandelt.Se<strong>in</strong>e grösste Freude und Leidenschaft war aber die Jagd.<br />

Er beschrieb das herrliche Jagen <strong>in</strong> Russland später <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en wun<strong>der</strong>schönen<br />

Geschichten, die <strong>in</strong> deutschen Jägerzeitungen veröffentlicht wurden. Es waren<br />

e<strong>in</strong>zigartige Beschreibungen <strong>der</strong> Natur und Landschaft und Menschen im Osten, vor<br />

allem aber <strong>der</strong> Jagd auf Bären, Wölfe, Luchse, Rot-, Reh- und Schwarzwild. Mamu<br />

schoss auch sehr gut und jagte manchmal <strong>mit</strong> Papu. Das Gehörn e<strong>in</strong>es <strong>von</strong> ihr<br />

erlegten Rehbocks hängt bei Roman <strong>in</strong> Swakopmund.<br />

So waren wohl diese ersten 2-3 Jahre die glücklichsten und sorgenfreisten ihrer<br />

Ehe. Als dann das zweite K<strong>in</strong>d erwartet wurde, beschlossen sie, <strong>in</strong> die Nähe ihrer<br />

Familie zurückzukehren und Papu wurde nach Glebau <strong>in</strong> Litauen versetzt. Tatjana<br />

(Tatjana Lydia) wurde am 1. September 1909 <strong>in</strong> Blaupomusch geboren. Sylvester,<br />

etwas über e<strong>in</strong> Jahr alt, hat sicher Leben <strong>in</strong> das Gutshaus gebracht und se<strong>in</strong>e<br />

„Njanja“ <strong>in</strong> Bewegung gehalten. Inzwischen hatte Papu se<strong>in</strong> Amt <strong>in</strong> Glebau<br />

angetreten, woh<strong>in</strong> ihm bald Mamu <strong>mit</strong> den beiden K<strong>in</strong><strong>der</strong>n folgte. Das Hauptereignis<br />

<strong>der</strong> Zeit <strong>in</strong> Glebau war die Geburt <strong>von</strong> Roman am 8. Juli 1911. Glebau lag nicht sehr<br />

weit <strong>von</strong> Blaupomusch, und so ist die Familie sicher öfters dorth<strong>in</strong> zu Besuch<br />

gefahren. Wir wissen wenig über die Zeit <strong>in</strong> Glebau, nur Tatjana hat zwei<br />

Er<strong>in</strong>nerungen daran: Sie fiel die Treppe vom ersten Stock des Hauses, <strong>in</strong> dem wir<br />

lebten, h<strong>in</strong>unter und tat sich so weh, dass sie <strong>in</strong>s Bett musste. Und bei e<strong>in</strong>em<br />

Spaziergang im W<strong>in</strong>ter auf dem <strong>in</strong> hohen Schnee freigeschaufelten Pfad g<strong>in</strong>g sie<br />

h<strong>in</strong>ter Mamu und Sylvester her. Die Schneewälle waren höher als sie sehen konnte,<br />

und als sie plötzlich bei e<strong>in</strong>er Biegung niemanden mehr sah, we<strong>in</strong>te sie vor Angst.<br />

Familienchronik „<strong>von</strong> Wildeman“ Seite 8 <strong>von</strong> 57 Februar 1986


Kle<strong>in</strong>e Erlebnisse, die im Gedächtnis <strong>der</strong> damals Zweijährigen haften geblieben s<strong>in</strong>d<br />

und uns diese sonst unbekannte Zeit etwas lebendig machen.<br />

So lebten also die Eltern <strong>von</strong> 1909 an <strong>in</strong> Glebau bis 1912, als Papu Mitarbeiter <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em Rechtsanwaltbüro <strong>in</strong> Mitau wurde, wo Mamu e<strong>in</strong> Haus besass. Wie <strong>von</strong><br />

Glebau, s<strong>in</strong>d wir auch <strong>von</strong> Mitau aus viel <strong>in</strong> Blaupomusch gewesen. Von<br />

Blaupomusch soll jetzt erzählt werden. (Er<strong>in</strong>nerungen <strong>von</strong> Sylvester, Tatjana und<br />

Lydia schliessen auch die Zeit <strong>von</strong> 1917 - Ende 1918 e<strong>in</strong>, <strong>in</strong> <strong>der</strong> wir nach langer<br />

Abwesenheit wie<strong>der</strong> <strong>in</strong> Blaupomusch waren.) Wie schon erwähnt, bestand das<br />

Haus aus e<strong>in</strong>em alten und e<strong>in</strong>em neuen Teil.Von <strong>der</strong> Freitreppe kam man <strong>in</strong> die<br />

Veranda und dann <strong>in</strong> die Halle, <strong>in</strong> <strong>der</strong> rechts <strong>der</strong> Esstisch stand. L<strong>in</strong>ks g<strong>in</strong>g es <strong>in</strong><br />

das grosse Wohnzimmer im Neubau, wo sich Grosspapa meistens aufhielt und<br />

nach<strong>mit</strong>tags se<strong>in</strong> Schläfchen auf dem Schaukelstuhl machte. Da durfte man ihn<br />

nicht stören. An dieses Bild kann auch ich (Mar<strong>in</strong>a (Mar<strong>in</strong>a Helene), 1913 <strong>in</strong> Mitau<br />

geboren) mich er<strong>in</strong>nern. Im Wohnzimmer stand auch <strong>der</strong> Barograph, den Sylvester<br />

jetzt hat und an dem Grosspapa immer tippte. Das wollte Sylvester auch immer<br />

gern, aber er durfte nicht. An das Wohnzimmer, <strong>in</strong> dem auch das Klavier stand,<br />

schloss sich e<strong>in</strong> schöner Raum an, <strong>in</strong> dem Grossmama sich meistens aufhielt. Die<br />

Küche, Wirtschaftsräume und Leutezimmer waren im alten Teil, die Schlafzimmer<br />

im ersten Stock des Neubaus. Lydi erzählt, wie sie immer am liebsten nach Blaupomusch<br />

gekommen ist, wenn Tante Gertrud <strong>mit</strong> den K<strong>in</strong><strong>der</strong>n, also wir dort waren.<br />

Dann wurde herrlich gespielt. Sonst kam sie nicht so gern <strong>mit</strong> ihren Eltern nach<br />

Blaupomusch. Und wenn, dann folgte sie Tante Magda, die unter Grosspapas<br />

Leitung die ganze Hauswirtschaft besorgte, e<strong>in</strong>en Schlüsselbund am Gürtel trug<br />

und die kle<strong>in</strong>e Lydi <strong>mit</strong>nahm <strong>in</strong> Küche und Handkammer, <strong>in</strong> den Garten, Kuh- und<br />

Pferdestall und zum Zw<strong>in</strong>ger, wo <strong>der</strong> böse Schäferhund gefüttert wurde, <strong>der</strong> schon<br />

mal jemanden gebissen hatte. Ropps kamen <strong>von</strong> Eichenpomusch im W<strong>in</strong>ter auf<br />

dem Eis über die Musse. Im Sommer fuhr man auf e<strong>in</strong>em Floss, das auch<br />

Fuhrwerke übersetzte und an e<strong>in</strong>em Strick h<strong>in</strong> und her gezogen wurde. Das Floss<br />

war bei Rajun, ebenso die Furt, durch die man fahren konnte, die aber an e<strong>in</strong>er<br />

Stelle recht tief war. Rajun lag auf <strong>der</strong> Blaupomusch’schen Seite <strong>der</strong> Musse. Von<br />

dort fuhr man dann durch den wun<strong>der</strong>schönen Saakschen Wald nach<br />

Blaupomusch. Saak war das Nachbargut, auf dem zwei alte Damen wohnten und<br />

das <strong>von</strong> Grosspapa <strong>mit</strong> bewirtschaftet wurde.<br />

Lydi hat e<strong>in</strong>mal im Saakschen Wald <strong>mit</strong> ihrer Freund<strong>in</strong> Ranunkeln gepflückt und<br />

brachte die Blumen nach Hause zu ihrer Mutter. Tante Elli hat geschimpft, weil sie<br />

im fremden Wald Blumen suchte und schickte sie zu den Saakschen Damen, um<br />

sich zu entschuldigen. So g<strong>in</strong>g Lydi <strong>mit</strong> ihrer Freund<strong>in</strong> Martha, die e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d aus dem<br />

Dorf war, etwas ängstlich zu den Saakschen Damen und entschuldigte sich. Martha<br />

traute sich nicht <strong>mit</strong> h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>. Die Damen sagten: „Aber K<strong>in</strong>dchen, die Blumen blühen<br />

doch für alle, die kannst du ruhig pflücken“. Darauf bekam jede e<strong>in</strong> Stück Kuchen.<br />

Blaupomusch hatte e<strong>in</strong>en wun<strong>der</strong>schönen Park, <strong>der</strong> bis zum Fluss g<strong>in</strong>g. In dem<br />

Park war das Grab <strong>von</strong> Elschen. Tante Elli, also Lydis Mutter, hatte die um zwei<br />

Jahre ältere Elschen ganz beson<strong>der</strong>s geliebt und bewun<strong>der</strong>t und war schrecklich<br />

traurig über ihren Tod. Wie früher erwähnt, war Tante Elli auch als K<strong>in</strong>d viel <strong>in</strong><br />

Blaupomusch gewesen, wo sie vor allem <strong>mit</strong> Elschen und Bernhard, also <strong>mit</strong> Papu,<br />

eng befreundet war. Die an<strong>der</strong>en Geschwister waren ja sehr viel älter gewesen.<br />

In den Wäl<strong>der</strong>n fiel viel Brennholz an und selbstverständlich wurden die Gutshäuser<br />

<strong>mit</strong> Holz geheizt. Das Holz wurde im W<strong>in</strong>ter geschlagen, trocknete aufgeschichtet<br />

Familienchronik „<strong>von</strong> Wildeman“ Seite 9 <strong>von</strong> 57 Februar 1986


im Walde, und wenn im nächsten W<strong>in</strong>ter <strong>der</strong> Boden gefroren und die Schlittenbahn<br />

gut war, wurde das Holz angefahren, auf dem Hof zersägt und gespalten und jeden<br />

Morgen früh zu den Oefen geschleppt. Vor allem die Wohn-zimmer wurden warm<br />

geheizt. Dicke Buchen- und Birkenkloben hielten die Zimmer den Tag über warm.<br />

Die Schlafzimmer wurden gegen Abend geheizt. Jedes Zimmer hatte e<strong>in</strong>en<br />

schönen Kachelofen, <strong>der</strong> meistens vom Gang aus geheizt wurde. In<br />

Eichenpomusch, sagt Lydi, war es <strong>der</strong> Gärtner, <strong>der</strong> im W<strong>in</strong>ter das Heizen besorgte,<br />

und <strong>in</strong> Blaupomusch, er<strong>in</strong>nert sich Sylvester, waren es zwei bestimmte Männer, die<br />

auf leisen Filzsohlen <strong>mit</strong> dem Holz durchs Haus g<strong>in</strong>gen und die Oefen anheizten<br />

und aufpassten. Sie brachten auch die grossen Holzblöcke zum Kam<strong>in</strong>, <strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Halle stand.<br />

Für Lydi dauerte dieses K<strong>in</strong><strong>der</strong>glück damals nur bis zu ihrem zehnten Jahr, denn<br />

nachdem im August 1914 <strong>der</strong> erste Weltkrieg ausgebrochen war, wurde die Lage <strong>in</strong><br />

Eichenpomusch und vielen an<strong>der</strong>en Gütern im Sommer 1915 durch die<br />

Anwesenheit <strong>der</strong> russischen Truppen, die rücksichtslos störten und Ansprüche<br />

stellten, sehr unangenehm, vor allem für die recht zarte Tante Elli. Ausserdem war<br />

vom Militär e<strong>in</strong> grosser Teil <strong>der</strong> Viehherde beschlagnahmt worden, und Onkel Paul<br />

wollte <strong>in</strong> Petersburg die Bezahlung dafür erwirken. Doch darüber später mehr.<br />

Zunächst wie<strong>der</strong> zu unseren Er<strong>in</strong>nerungen an Blaupomusch, d.h. Sylvesters,<br />

Tatjanas und Romans. Auch für uns beziehen sich diese Er<strong>in</strong>nerungen zunächst<br />

nur auf die Zeit bis zum Herbst 1915, als auch wir nach Petersburg g<strong>in</strong>gen; aber<br />

1917 im Herbst kamen wir wie<strong>der</strong> zurück auf das Gut, das <strong>von</strong> den Truppen<br />

unbehelligt geblieben war, vielleicht weil Grosspapas Bru<strong>der</strong> und Sohn Offiziere<br />

waren, und weil er selbst bei den russischen Behörden viel Autorität besass. Als wir<br />

1917 zurückkamen, war Litauen längst <strong>von</strong> den Deutschen besetzt, <strong>von</strong> „Oberost“,<br />

wie die e<strong>in</strong>gesetzte Militärregierung hiess.<br />

Blaupomusch, an das ich mich nur schemenhaft, Roman schon mehr und die<br />

beiden älteren Geschwister noch sehr deutlich er<strong>in</strong>nern, gilt uns wohl als eigentliche<br />

Heimat. Wo sollte sie sonst se<strong>in</strong>?<br />

In <strong>der</strong> Halle, <strong>in</strong> <strong>der</strong> die grossen Holzkloben im Kam<strong>in</strong> brannten, standen zu beiden<br />

Seiten ausgestopfte Bären <strong>mit</strong> Silbertabletts <strong>in</strong> den Pfoten. Wenn Gäste kamen,<br />

taten sie dort ihre Visitenkarten h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>. Sylvester fand diese Zettel s<strong>in</strong>nlos und warf<br />

sie immer <strong>in</strong> den Kam<strong>in</strong>. Grosspapa strafte ihn nicht, und Papu war ja meistens<br />

nicht da. Er kam nur zuweilen <strong>von</strong> Glebau o<strong>der</strong> Mitau nach Hause, während Mamu<br />

<strong>mit</strong> uns K<strong>in</strong><strong>der</strong>n längere Perioden auf dem Lande zubrachte. Fšr Mamu war das<br />

sicher nicht ganz leicht, denn zwischen ihr und Grossmama bestand ke<strong>in</strong> wirklich<br />

warmes E<strong>in</strong>vernehmen, aber Tante Magda konnte wohl vieles ausgleichen.<br />

Grossmama strickte viel und hielt sich meistens <strong>in</strong> ihrem schönen grossen hellen<br />

Zimmer im Neubau auf, <strong>von</strong> dem aus man <strong>in</strong> die Schlucht <strong>mit</strong> Tannen und Birken<br />

sah, wo Tatjana ihr Häuschen hatte. Rechts <strong>von</strong> <strong>der</strong> Schlucht war <strong>der</strong> Obstgarten<br />

<strong>mit</strong> e<strong>in</strong>em riesigen Apfelbaum und den Bienenstöcken. Weiter g<strong>in</strong>g es dann zu den<br />

Pferde-, Kuh- und Schwe<strong>in</strong>eställen. Tatjana hatte e<strong>in</strong>e Kuh „Gamma“, auf <strong>der</strong> sie<br />

auch ritt. Sillo ritt auf e<strong>in</strong>er Grauschimmelstute „Mascha“. E<strong>in</strong> Litauer, <strong>der</strong> ihn<br />

aufpassen und <strong>mit</strong> ihm spielen musste, namens Ljewa, imponierte ihm dadurch,<br />

dass er sich, wenn es schrecklich kalt wurde, und se<strong>in</strong>e handschuhlosen F<strong>in</strong>ger zu<br />

vereisen drohten, <strong>in</strong> die Hände p<strong>in</strong>kelte. Sillo hat dies aus Angst vor Schimpfe nicht<br />

gewagt. H<strong>in</strong>ter den Ställen g<strong>in</strong>g die Strasse nach Dargeln, wo das Leutedorf war;<br />

<strong>der</strong> Aufseher über die „Leute“, also die Gutsarbeiter, <strong>der</strong> „Wagger“ wohnte gleich<br />

rechts an <strong>der</strong> Dorfstrasse. Diese „Leute“, im letzten Jahrhun<strong>der</strong>t noch Leibeigene,<br />

Familienchronik „<strong>von</strong> Wildeman“ Seite 10 <strong>von</strong> 57 Februar 1986


jetzt treu ergebene Arbeiter, wurden nur wenige Jahre später Revolutionäre, die uns<br />

h<strong>in</strong>auswarfen. Noch aber regierte im fernen Petersburg <strong>der</strong> Zar, dem alle treue<br />

Untertanen waren. Vor den Ställen war e<strong>in</strong> grosser Teich und anschließend <strong>der</strong><br />

wun<strong>der</strong>schöne grosse Park bis zum Fluss, <strong>der</strong> Musse h<strong>in</strong>. Im Park standen grosse<br />

Eichen und e<strong>in</strong> Riesenahorn <strong>mit</strong> e<strong>in</strong>er Bank r<strong>in</strong>gsherum. Von dort führte e<strong>in</strong><br />

Sandweg zu Elschens Grab, zu dem Grossmama oft <strong>mit</strong> ihrem kle<strong>in</strong>en<br />

Pferdewagen fuhr. H<strong>in</strong>ter dem Park lag die Meierei und die Schmiede wie auch <strong>der</strong><br />

Eiskeller.Von diesem sah man nur das spitze Strohdach, unter dem sich e<strong>in</strong> tief die<br />

Erde e<strong>in</strong>gegrabenes Loch befand. Dort h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>, durch das Strohdach vor Wärme<br />

geschützt, wurden im W<strong>in</strong>ter grosse, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Musse ausgesägte Eisblöcke gestapelt,<br />

an Ketten herangeschleift.<br />

Sie wurden dick <strong>in</strong> Stroh verpackt und hielten sich den Sommer über, für die Küche,<br />

vor allem für Speiseeis. Hierfür wurden Eisstückchen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en grossen Holzeimer<br />

getan, <strong>in</strong> den e<strong>in</strong> Behälter gestellt wurde, <strong>in</strong> dessen Innerem das Speiseeis gerührt<br />

wurde.<br />

E<strong>in</strong>e me<strong>in</strong>er persönlichen wenigen Er<strong>in</strong>nerungen an Blaupomusch ist die an e<strong>in</strong>e<br />

Fahrt <strong>mit</strong> Pferden durch die Furt <strong>in</strong> <strong>der</strong> Musse, bei <strong>der</strong> Mamu mich auf dem Schoss<br />

hielt. Die Furt hatte Löcher, und das Wasser spritzte über den Wagen. Ich hatte<br />

grosse Angst, obwohl Mamu mich beruhigte und mir sagte, dass wir ja schon oft heil<br />

h<strong>in</strong>übergefahren s<strong>in</strong>d. Als ich dann Tante Elli und Onkel Paul sah, die uns auf <strong>der</strong><br />

an<strong>der</strong>en Seite erwarteten, war ich beruhigt, denn sie würden uns ja retten, falls uns<br />

etwas passierte. Neben <strong>der</strong> Furt ertrank e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong> Mädchen. Sie war <strong>der</strong> erste tote<br />

Mensch, den Tatjana, Sylvester und Roman gesehen haben; da lag sie tot im Gras<br />

und die Menschen standen dabei und we<strong>in</strong>ten.<br />

Von Sylvester, Tatjana und Roman s<strong>in</strong>d noch weitere Bil<strong>der</strong> und Er<strong>in</strong>nerungen<br />

lebendig (hier möchte ich erwähnen, dass Sylvester schon immer Sillo genannt<br />

wurde, Tatjana als K<strong>in</strong>d Nuschi, vielleicht vom russischen Tanjuscha, o<strong>der</strong> auch<br />

Sanka. Roman hiess als K<strong>in</strong>d zuhause Römi und ich blieb e<strong>in</strong>fach Baby, Babs o<strong>der</strong><br />

Penz, später Büntz<strong>in</strong>g. Onkel Friedel erfand viel später „Teddy“ für Tatjana):<br />

In Blaupomusch war unter dem Haus e<strong>in</strong> Keller, <strong>in</strong> den man direkt <strong>von</strong> aussen<br />

h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>kam und <strong>in</strong> dem neben vielen Vorräten auch die Honigschleu<strong>der</strong> stand. Vor<br />

uns vier K<strong>in</strong><strong>der</strong>n war wohl ke<strong>in</strong> Raum sicher, aber die Grosseltern und Tante Magda<br />

ertrugen uns liebevoll, wenn auch vielleicht nicht immer sehr glücklich. E<strong>in</strong><br />

wesentlicher Ertrag des Gutes war das Pappelholz, für das Grosspapa e<strong>in</strong>en<br />

Liefervertrag <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Regierung hatte, die es zu Streichhölzern verarbeiten liess.<br />

Dieses Holz wurde im Sommer gefällt, aufgestapelt und im W<strong>in</strong>ter, wenn <strong>der</strong> Boden<br />

hart gefroren war, zogen die Pferde die niedrigen Schlitten <strong>mit</strong> den Stämmen <strong>in</strong><br />

langen Kolonnen zur Eisenbahnstation. Wenn Grosspapa <strong>mit</strong> <strong>der</strong> L<strong>in</strong>iendroschke<br />

zum Holz fuhr, durfte Sillo oft <strong>mit</strong>fahren. Auch auf die Fel<strong>der</strong> fuhren sie zusammen.<br />

Wenn Papu mal zuhause war, durfte Sillo ihn begleiten. E<strong>in</strong>mal, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Erntezeit,<br />

hatte Sylvester e<strong>in</strong> für ihn bedeutsames Erlebnis. Sie fuhren an e<strong>in</strong>em reifen<br />

Roggenfeld vorbei, und Sylvester pflückte e<strong>in</strong> Aehre, zerrieb sie <strong>in</strong> <strong>der</strong> Hand, blies<br />

die Spelzen aus und ass die Körner.<br />

Papu verbot ihm dies sofort, da die Gefahr, dass solche Spelzen im Hals stecken<br />

bleiben, sehr gross ist. Kurz danach hat aber Sillo es unbemerkt, wie er dachte,<br />

noch e<strong>in</strong>mal gemacht. Aber Papu hatte ihn dabei gesehen und stellte ihn zur Rede.<br />

Sylvester log aus Angst und sagte, er habe ke<strong>in</strong>e Körner mehr gegessen. Später,<br />

zuhause, musste er e<strong>in</strong>e Gerte im Park schneiden, <strong>mit</strong> <strong>der</strong> er se<strong>in</strong>e ersten und<br />

unvergesslichen Prügel vom Vater bekam, weil er gelogen hatte. Jahre später <strong>in</strong><br />

Familienchronik „<strong>von</strong> Wildeman“ Seite 11 <strong>von</strong> 57 Februar 1986


Misdroy, hat sich Sylvester noch e<strong>in</strong>mal wirkliche Prügel <strong>von</strong> Papu zugezogen, als<br />

er <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Schulheft e<strong>in</strong>e Note fälschte, <strong>in</strong>dem er aus <strong>der</strong> 3 des Lehrers e<strong>in</strong>e 2<br />

machte.<br />

Tatjana erzählt die Geschichte <strong>von</strong> e<strong>in</strong>em grossen Fest <strong>in</strong> Blaupomusch: Zu Besuch<br />

war auch e<strong>in</strong>e Dame <strong>mit</strong> e<strong>in</strong>em dreijährigen Töchterchen. Als die Kle<strong>in</strong>e <strong>der</strong> Mutter<br />

etwas <strong>in</strong>s Ohr flüsterte, g<strong>in</strong>gen sie zusammen h<strong>in</strong>aus. Und als sie wie<strong>der</strong><br />

erschienen, verkündete die Kle<strong>in</strong>e laut: „Ich habe Pipi gemacht und Mami auch“,<br />

obwohl ihr natürlich strengstes Schweigen e<strong>in</strong>geschärft worden war. - Oben im<br />

Haus <strong>in</strong> Blaupomusch wohnte e<strong>in</strong>e Zeitlang e<strong>in</strong>e alte Dame, die e<strong>in</strong> Nest <strong>mit</strong><br />

weissen Mäusen pflegte - zu Mamus grossem Entsetzen. E<strong>in</strong>mal, als die K<strong>in</strong><strong>der</strong><br />

Unterricht hatten, hörten sie die Dame furchtbar schreien. Alle rannten h<strong>in</strong>auf, wo<br />

die arme Dame verzweifelt <strong>mit</strong> erhobenen Händen vor dem leeren Käfig stand.<br />

Sämtliche Mäuse waren aus dem Käfig entlaufen und ihr unter die langen Röcke<br />

gekrochen. Das war selbst für die grosse Mauseliebe zuviel.<br />

E<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e Mäusegeschichte ist die <strong>von</strong> Sylvester, <strong>der</strong> im Garten zwei Feldmäuse<br />

f<strong>in</strong>g und sie durch das offene Fenster warf, wo die französiche Lehrer<strong>in</strong> gerade<br />

Tatjana unterrichtete und vor Angst auf den Tisch sprang. Sylvester erschien <strong>mit</strong><br />

unschuldigem Gesicht <strong>in</strong> <strong>der</strong> Stunde, se<strong>in</strong>e Missetat blieb unentdeckt.<br />

Die grosse Roggenernte wurde im Spätsommer <strong>mit</strong> e<strong>in</strong>er Dampflokomobile<br />

ausgedroschen, an <strong>der</strong> sich schon damals Sylvesters Begeisterung für Masch<strong>in</strong>en<br />

entzündete. Aber damals durfte er nur se<strong>in</strong>e Hände darunter halten, wo das Korn<br />

aus <strong>der</strong> Masch<strong>in</strong>e <strong>in</strong> die Säcke lief. Auch <strong>mit</strong> dem Verladen des Roggens musste<br />

gewartet werden, bis die Wege im W<strong>in</strong>ter gefroren und befahrbar waren, denn im<br />

Sommer waren sie grundlos. - In den oberen Stock im Hause Blaupomusch führte<br />

e<strong>in</strong>e Holztreppe, an <strong>der</strong>en Gelän<strong>der</strong> Sylvester immer verbotenerweise<br />

herunterrutschte. Im Besenverschlag unter <strong>der</strong> Treppe hat er e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong><br />

Dienstmädchen e<strong>in</strong>gesperrt und ist dann weggelaufen. Das arme Mädchen hat laut<br />

geschrien, bis man sie herausliess. Neben <strong>der</strong> Küche lag die Ges<strong>in</strong>destube, <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Sylvester gern <strong>mit</strong> dem Hauspersonal essen wollte, aber das war nicht erlaubt. E<strong>in</strong><br />

Dienstmädchen, das wir beson<strong>der</strong>s gern hatten, wurde <strong>von</strong> e<strong>in</strong>em tollwütigen Hund<br />

<strong>in</strong> den Arm gebissen - es war e<strong>in</strong> grosser weissgelber Hund, <strong>der</strong> auf den Hof<br />

gelaufen kam. Die Wunde wurde sofort ausgebrannt, aber das Mädchen starb<br />

traurigerweise doch.Es gab viel Verkehr zwischen den nahen Gütern, wo vor allem<br />

Verwandte und auch Freunde wohnten. Die wun<strong>der</strong>schönen Wiesen am Ufer <strong>der</strong><br />

Musse <strong>mit</strong> dem hohen Gras, <strong>in</strong> dem man sich so schön verstecken konnte, zogen<br />

sich am Fluss entlang bis zur Furt und Fähre, und jenseits, etwas flussaufwärts <strong>von</strong><br />

Blaupomusch aus lag Eichenpomusch, wo, wie schon erwähnt, Onkel Paul, Tante<br />

Elli und ihre K<strong>in</strong><strong>der</strong> Lydia und Gert lebten. Onkel Paul, <strong>von</strong> Mamu Lusschen (<strong>von</strong><br />

Paulus) genannt, war immer zu Spässen aufgelegt und hatte so wun<strong>der</strong>schöne<br />

dicke, braune Haare. E<strong>in</strong>ige Jahre später, <strong>in</strong> Deutschland, wurde uns allerd<strong>in</strong>gs die<br />

Freude an dieser bewun<strong>der</strong>ten Haarpracht gründlich verdorben.E<strong>in</strong>es Morgens -<br />

Onkel Paul war zu Besuch bei uns - schickten die Eltern Roman und mich, etwa 10-<br />

und 7-jährig, um an Onkel Pauls Tür zu klopfen und ihn zum Frühstück zu bitten. Er<br />

rief fröhlich „Here<strong>in</strong>!“, wir machten die Tür auf und sahen vor dem Spiegel e<strong>in</strong>en<br />

Glatzkopf, e<strong>in</strong>en vollkommen kahlen Schädel <strong>mit</strong> Onkel Pauls Gesicht. Ich schrie<br />

und rannte h<strong>in</strong>unter und konnte mich lange nicht beruhigen - <strong>der</strong> Schreck war<br />

e<strong>in</strong>fach zu gross. Roman war auch erschrocken, aber beherrschter, aber bestimmt<br />

auch tief enttäuscht. Wir K<strong>in</strong><strong>der</strong> hatten ja nicht die ger<strong>in</strong>gste Ahnung da<strong>von</strong> gehabt,<br />

dass Onkel Paul schon <strong>in</strong> jungen Jahren durch e<strong>in</strong>e Krankheit alles Haar verloren<br />

Familienchronik „<strong>von</strong> Wildeman“ Seite 12 <strong>von</strong> 57 Februar 1986


hatte und immer e<strong>in</strong>e Perücke trug. Als er <strong>in</strong> voller Haarpracht zum Frühstück<br />

erschien,tat es ihm sehr leid, dass er uns so erschreckt hatte.<br />

Sigrid Recke erzählte, wie sie und Renee e<strong>in</strong>mal, als Onkel Paul bei ihnen <strong>in</strong><br />

Waldeck zu Besuch war, sich e<strong>in</strong>e se<strong>in</strong>er Perücken geholt hatten und sich diese im<br />

Wohnzimmer immer fröhlich zuwarfen, so als wäre es des geliebten Onkels Kopf.<br />

E<strong>in</strong> Diener hat sie dabei ertappt und sie sehr ausgeschimpft. Ebenso wie wir, waren<br />

auch Ropps oft <strong>in</strong> Waldeck zu Besuch. Sylvester er<strong>in</strong>nert sich, dass er sich <strong>mit</strong> den<br />

Vettern Claus-Jürgen Recke (Stiefvetter) und Gert Ropp viel gezankt hat. In<br />

Waldeck war e<strong>in</strong> Turmzimmer, <strong>in</strong> dem die K<strong>in</strong><strong>der</strong> gern spielten.<br />

Es wurde auch <strong>in</strong> die kle<strong>in</strong>en Ortschaften Bauske, Schaulen und Poswoll gefahren<br />

und natürlich nach Dauzogir, Mamus Heimat, wo nach Grossvaters Tod Onkel<br />

Alfred Reiswitz wirtschaftete. Er war <strong>der</strong> Mann <strong>von</strong> Mamus älterer Schwester<br />

Helene und zukünftiger Erbe <strong>von</strong> Podelwitz <strong>in</strong> Sachsen, das aber zu <strong>der</strong> Zeit noch<br />

<strong>von</strong> se<strong>in</strong>em Vater bewirtschaftet wurde. Dauzogir gehörte Onkel Friedel, für den es<br />

nun se<strong>in</strong> Schwager verwaltete. Onkel Alfreds und Tante Helenes K<strong>in</strong><strong>der</strong>, 4<br />

Schwestern und e<strong>in</strong> Bru<strong>der</strong>, verlebten schöne K<strong>in</strong><strong>der</strong>jahre <strong>in</strong> Dauzogir bis Anfang<br />

1914 als Onkel Friedel geheiratet hatte und selbst dort wirtschaften wollte.<br />

Reiswitzens zogen nach Podelwitz, und Onkel Alfred g<strong>in</strong>g bei Ausbruch des Krieges<br />

als deutscher Offizier <strong>in</strong>s Feld. Auf dem schönen Gut Podelwitz durften wir <strong>in</strong><br />

späteren Jahren Sommerferien verbr<strong>in</strong>gen. Lei<strong>der</strong> starb Onkel Alfred schon 1923<br />

und Tante Helene 1933. Ihr Tod war e<strong>in</strong> schwerer Schock für Mamu, die zu dieser<br />

Schwester e<strong>in</strong> beson<strong>der</strong>s <strong>in</strong>niges Verhältnis hatte, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Zeit, als sie solch<br />

zusätzlichen Kummer schwer durchstehen konnte.<br />

Von den vier Kus<strong>in</strong>en leben noch drei, und zwar <strong>in</strong> und um München:<br />

Waltraut <strong>mit</strong> ihrem Mann He<strong>in</strong>z Flügel <strong>in</strong> Tutz<strong>in</strong>g, <strong>in</strong> München Ursula <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

schönen Altersheim (sie war viele Jahre als Missionar<strong>in</strong> <strong>in</strong> Ch<strong>in</strong>a und Japan<br />

gewesen) und Marjutta, <strong>der</strong>en Mann, Bernhard <strong>von</strong> Schnurbe<strong>in</strong>, vor e<strong>in</strong>igen Jahren<br />

starb, <strong>in</strong> Hurlach auf dem Schnurbe<strong>in</strong>schen Gut, das jetzt ihrem Sohn Bernd gehört.<br />

Für mich ist es e<strong>in</strong> Segen, dass Mšnchen nicht allzu weit <strong>von</strong> Zürich liegt - jedes<br />

Zusammense<strong>in</strong> ist e<strong>in</strong>e grosse Freude. Der jüngste dieser Geschwister, unser<br />

Vetter Wenzel Reiswitz, <strong>der</strong> nach dem Krieg viele Jahre <strong>mit</strong> se<strong>in</strong>er Familie <strong>in</strong> Chile<br />

verbracht hat, lebt <strong>mit</strong> se<strong>in</strong>er Frau Jutta <strong>in</strong> Bad Camberg, nicht weit <strong>von</strong> Frankfurt;<br />

wir sehen uns zum Glück auch manchmal. - Ebenfalls <strong>in</strong> München ist natürlich Lydia<br />

Ropp, doch da<strong>von</strong> später. Doch noch e<strong>in</strong>mal zurück nach Blaupomusch. Manchmal<br />

fuhren wir zu Besuch zu den alten Damen <strong>in</strong> Saak. Dieses Gut das e<strong>in</strong>em Baron<br />

Hahn gehörte, wurde <strong>von</strong> Grosspapa <strong>mit</strong>bewirtschaftet. Wahrsche<strong>in</strong>lich waren die<br />

Damen Hahnsche Verwandte. Dort war es immer sehr elegant. Uns K<strong>in</strong><strong>der</strong>n war<br />

alles verboten, und wir langweilten uns schrecklich. Aber gerade gegenüber<br />

Blaupomusch, auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite vom Fluss lag Rotpomusch, das Bistrams<br />

gehörte; Onkel Rodi und Tante D<strong>in</strong>a Bistram, e<strong>in</strong> damals ganz junges Paar, das eng<br />

<strong>mit</strong> unseren Eltern befreundet war. Onkel Rodi war <strong>der</strong> ältere Bru<strong>der</strong> <strong>von</strong> Tante Elli,<br />

Tante D<strong>in</strong>a war e<strong>in</strong>e geborene Behr, Schwester <strong>von</strong> den Behrs, die nach Südafrika<br />

auswan<strong>der</strong>ten. An e<strong>in</strong>er Gesellschaft bei Bistrams <strong>in</strong> Rotpomusch, bei <strong>der</strong> wir auch<br />

waren und auch Onkel Paul aus Eichenpomusch, entschuldigte sich Tante D<strong>in</strong>a für<br />

den eilig zubereiteten Pudd<strong>in</strong>g. Der erste, den sie zum Kühlen draussen <strong>in</strong> den<br />

Schnee gestellt hatte, sei vom Hund gefressen worden. Darauf sagte Onkel Paul<br />

Familienchronik „<strong>von</strong> Wildeman“ Seite 13 <strong>von</strong> 57 Februar 1986


ganz trocken: „Ach hätte er doch lieber diesen gefressen.“ Papu hatte grossen<br />

Spass an dieser Geschichte und hat sie später oft erzählt.<br />

Wie gesagt, beziehen sich die Er<strong>in</strong>nerungen an Blaupomusch auf zwei<br />

Zeitabschnitte: 1909 bis 1915, als wir K<strong>in</strong><strong>der</strong> noch sehr jung, respektive w<strong>in</strong>zig<br />

waren und auf die Zeit <strong>von</strong> September 1917, als wir <strong>von</strong> Riga, das nun <strong>von</strong> den<br />

Deutschen besetzt war, nach Blaupomusch zurückkehren konnten und später <strong>von</strong><br />

Mitau aus oft dort waren bis zu unserer Flucht im Januar 1919. Wahrsche<strong>in</strong>lich<br />

stammen die meisten Er<strong>in</strong>nerungen aus dieser zweiten Periode.Da war Litauen, ja<br />

ganz Kurland längst <strong>von</strong> den Deutschen besetzt, und durch e<strong>in</strong> Wun<strong>der</strong> waren<br />

unsere Eltern lebendig <strong>der</strong> russischen Revulution entkommen und wie<strong>der</strong> <strong>mit</strong> uns<br />

zusammen.<br />

Doch <strong>der</strong> Reihe nach:<br />

1912 zogen wir nach Mitau, wo Papu e<strong>in</strong>e Stelle bei e<strong>in</strong>em Rechtsanwalt annahm.<br />

Von dort aus verbrachten wir oft schöne Zeiten <strong>in</strong> Blaupomusch.<br />

1914 wollte Papu e<strong>in</strong>e eigene Praxis übernehmen, doch dazu kam es durch den<br />

Ausbruch des ersten Weltkrieges nicht mehr. Er musste sofort e<strong>in</strong>rücken und fuhr<br />

am 21. Juli abends um 11 nach Petersburg. Dort wurde er <strong>der</strong> Automobilabteilung<br />

unter Eugen Hahn zugeteilt, nachdem er vorher noch schnell chauffieren gelernt<br />

hatte. Mamu g<strong>in</strong>g <strong>mit</strong> uns K<strong>in</strong><strong>der</strong>n nach Blaupomusch, wo wir bis auf weiteres<br />

bleiben sollten. Im Sommer 1915, ehe die Deutschen Litauen besetzten, holte Papu<br />

uns nach Petersburg, um se<strong>in</strong>e Familie auf se<strong>in</strong>er Seite des Krieges zu haben.<br />

Abends beteten wir immer für den Sieg des Zaren und <strong>der</strong> russischen Truppen.<br />

Gleichzeitig <strong>mit</strong> uns kamen auch Ropps nach Petersburg, wie schon früher erwähnt,<br />

das heisst, wir waren vielleicht kurz vor ihnen dort.Denn Lydi beschreibt, dass sie <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em Hotel abstiegen, wo Onkel Bernhard (also unser Vater) sie besuchte. Papu<br />

hatte schon vorher e<strong>in</strong>e Wohnung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Olgena Ulitza, Kristofski Ostrow gefunden,<br />

und diese wurde jetzt <strong>von</strong> Ropps und uns geme<strong>in</strong>sam bezogen. Wir waren im<br />

ganzen 12 Personen, 6 <strong>Wildemann</strong>s (Roman und ich allerd<strong>in</strong>gs noch sehr kle<strong>in</strong>)<br />

und vier Ropps; unser K<strong>in</strong><strong>der</strong>mädchen Eva und die Köch<strong>in</strong> <strong>von</strong> Ropps, Isabella, die<br />

<strong>mit</strong> Mamu zusammen kochte. Wir hatten drei Zimmer, Ropps zwei und geme<strong>in</strong>sam<br />

benutzten wir e<strong>in</strong> grosses Wohn- und Esszimmer. Wo das K<strong>in</strong><strong>der</strong>mädchen und die<br />

Köch<strong>in</strong> geschlafen haben, wissen wir nicht mehr. Onkel Walter, Papus Bru<strong>der</strong>,<br />

wohnte auch e<strong>in</strong>e Zeitlang bei uns, und zwar schlief er auf e<strong>in</strong>em Teppich, den<br />

Grossmutter Ropp <strong>mit</strong> Töchtern und Schwiegertöchtern geknüpft hatte. Uebrigens<br />

kamen wir nicht direkt <strong>von</strong> Blaupomusch nach Petersburg, son<strong>der</strong>n wir waren den<br />

Sommer 1915 über <strong>in</strong> Kamenka, dem Gut <strong>von</strong> Papus Freund Graf Sollogub, <strong>der</strong> <strong>mit</strong><br />

ihm zusammen die Militärakademie besucht hatte und jetzt auch im Kriege war, wie<br />

Papu.In Kamenka war <strong>Alex</strong>an<strong>der</strong> Sollogubs Frau, Tante Edja, e<strong>in</strong>e sehr hübsche<br />

Frau, <strong>mit</strong> ihren Söhnen. In <strong>der</strong> Revolution wurde ihr Mann ermordet; sie konnte <strong>mit</strong><br />

den Söhnen nach Paris fliehen.Alek, <strong>der</strong> jüngere, war später <strong>in</strong> Pommern längere<br />

Zeit bei uns.<br />

Tante Edja <strong>mit</strong> Wladimir kamen e<strong>in</strong>- o<strong>der</strong> zweimal zu Besuch. –<br />

Während dieser ersten Monate <strong>in</strong> Petersburg hatte Papu e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>gegipstes Be<strong>in</strong>, das<br />

er sich <strong>mit</strong> dem Motorrad gebrochen hatte, was ihm sehr h<strong>in</strong><strong>der</strong>lich war und ihm,<br />

wenn jemand dranstiess grosse Schmerzen bereitete, vor allem <strong>in</strong> <strong>der</strong> überfüllten<br />

Strassenbahn.<br />

Dann sagte er: „Kak boliet, zhyt ne chotschetzja“ (wie das wehtut, da will man nicht<br />

mehr leben).<br />

Familienchronik „<strong>von</strong> Wildeman“ Seite 14 <strong>von</strong> 57 Februar 1986


Er sprach gerne russisch. Eigentlich <strong>der</strong> Hauptgrund, warum Onkel Paul nach<br />

Petersburg gekommen war, war <strong>der</strong>, dass er das Geld für se<strong>in</strong>e Viehherde, die vom<br />

Militär requiriert worden war, bei den Militärbehörden e<strong>in</strong>treiben wollte. Es ist<br />

anzunehmen, dass Papu dies für Blaupomusch auch tun musste. So waren die<br />

beiden Schwäger viel unterwegs zu den Aemtern, um zu ihrem Geld zu kommen,<br />

was ihnen nach vielen Wochen dank Papus Sprachkenntnissen und militärischen<br />

Beziehungen auch gelungen ist.<br />

Die Lebens<strong>mit</strong>telversorgung für die beiden Familien war sehr schwierig, alles war<br />

rationiert. Die Menschen standen schon damals, im ersten Kriegsjahr, Schlange an<br />

den Läden. Aber Papu konnte im speziellen Offiziersladen e<strong>in</strong>kaufen und brachte<br />

immer die notwendigen Lebens<strong>mit</strong>tel <strong>mit</strong>. Die älteren K<strong>in</strong><strong>der</strong>, Lydia, Gert und<br />

Sylvester g<strong>in</strong>gen <strong>in</strong> die deutsche Privatschule, die sogenannte Lembergsche<br />

Schule, die <strong>von</strong> e<strong>in</strong>em Pastor Lemberg geleitet wurde. Dort wurde deutsch<br />

gesprochen, aber auch russisch gelernt, geschrieben wurde <strong>in</strong> beiden Sprachen.<br />

Tatjana war <strong>in</strong> <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>gartenabteilung. Lydi war <strong>in</strong> <strong>der</strong> vierten, Sylvester und Gert<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> ersten Klasse. Zur Schule kamen die K<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Konjka (Pferdebahn) und<br />

dann <strong>mit</strong> <strong>der</strong> elektrischen Bahn Nr. 12. Die Schule dauerte drei bis vier Stunden.<br />

Aber dann kam <strong>der</strong> furchtbar strenge W<strong>in</strong>ter, alle K<strong>in</strong><strong>der</strong> wurden krank an Mumps<br />

und schwerer Dysenterie und konnten nicht mehr zur Schule. Papu besorgte e<strong>in</strong>en<br />

riesigen Wasserkessel, es durfte ke<strong>in</strong> rohes Wasser mehr benutzt werden. Papu<br />

hatte dort e<strong>in</strong>en Hund, <strong>der</strong> Sylvesters Katze abwürgte. Tante Magda kam aus<br />

Blaupomusch zu uns, wohl um Mamu und Tante Elli <strong>mit</strong> den kranken K<strong>in</strong><strong>der</strong>n zu<br />

helfen. Lei<strong>der</strong> hatte sie sich früher bei e<strong>in</strong>em Aufenthalt auf <strong>der</strong> Krim Malaria geholt<br />

und bekam diese immer wie<strong>der</strong>, auch <strong>in</strong> Petersburg, so schlimm, dass ihre Zähne<br />

im Schüttelfrost aufe<strong>in</strong>an<strong>der</strong>schlugen, wie Lydi sich er<strong>in</strong>nert.<br />

Inzwischen hatten die Deutschen Litauen erobert. Onkel Paul, <strong>der</strong> also se<strong>in</strong> Geld<br />

bekommen hatte - allerd<strong>in</strong>gs wurde ihm e<strong>in</strong> Teil da<strong>von</strong> gestohlen, wollte <strong>mit</strong> se<strong>in</strong>er<br />

Familie zurück auf se<strong>in</strong> Gut. Natürlich konnten sie nicht durch die Kriegsfront, und<br />

so fuhren sie Anfang 1916 per Schiff zunächst nach Schweden, dann nach<br />

Norwegen und bekamen nach e<strong>in</strong>igen Monaten <strong>mit</strong> viel Mühe und Not<br />

Passiersche<strong>in</strong>e für Deutschland, was für russische Staatsangehörige im Krieg sehr<br />

schwierig war. Sie kamen unter militärischer Bewachung nach Gamehl, dem Gut<br />

des Schwagers <strong>in</strong> Mecklenburg, und verbrachten dort e<strong>in</strong>ige Monate, bis sie die<br />

Erlaubnis bekamen, nach Eichenpomusch zurückzukehren. Gert blieb <strong>in</strong> Gamehl. In<br />

Eichenpomusch hatten die eigenen Leute beim Anrücken <strong>der</strong> Deutschen das<br />

Gutshaus geplün<strong>der</strong>t - sie wussten ja nicht, dass <strong>der</strong> Herr zurückkommt. Aber e<strong>in</strong>ige<br />

treue Angestellte haben Ropps die notwendigsten Möbel wie<strong>der</strong> zurückgegeben<br />

und zu Tante Ellis grossem Glück war auch das geliebte Klavier noch vorhanden.<br />

Onkel Paul bekam <strong>von</strong> „Oberost“ die Erlaubnis, se<strong>in</strong> Gut wie<strong>der</strong> selbst zu<br />

bewirtschaften, das zusammen <strong>mit</strong> Grenztal (Tante Ellis Mutter Alli Bistram) und<br />

Weisspomusch (Ebbo und Lulu Behr, die auch geflohen waren), <strong>von</strong> e<strong>in</strong>em<br />

deutschen Offizier, Herrn Kell<strong>in</strong>ghusen bewirtschaftet worden war. Kell<strong>in</strong>ghusen<br />

hatte die Leitung über die vier Güter, unter ihm wirtschaftete Unteroffizier Busse <strong>in</strong><br />

Eichenpomusch. Dieser wohnte zuerst noch <strong>mit</strong> im Gutshaus und beklagte sich,<br />

wenn Tante Elli Klavier spielte, aber später g<strong>in</strong>g er fort. Onkel Paul bewirtschafte<br />

auch Dauzogir, das <strong>von</strong> Onkel Friedel schon zu Anfang des Krieges verlassen<br />

worden war. Onkel Friedel hatte nach se<strong>in</strong>er Hochzeit <strong>mit</strong> Tante Lili (jetzt <strong>in</strong> Bad<br />

Godesberg) nur wenige Monate auf se<strong>in</strong>em Gut verbracht. Er hatte wohl geahnt,<br />

Familienchronik „<strong>von</strong> Wildeman“ Seite 15 <strong>von</strong> 57 Februar 1986


wie dieser schreckliche Krieg ausgehen musste. So konnten Onkel Paul, Tante Elli<br />

und Lydi <strong>von</strong> Ende 1916 an wie<strong>der</strong> auf ihrem Gut leben und wirtschaften, wenn<br />

auch unter deutscher Besetzung, die streng über allem wachte. In Blaupomusch<br />

hatten sich die Grosseltern zunächst <strong>mit</strong> dem russischen Militär und danach <strong>mit</strong><br />

„Oberost“ arrangiert, was sicher nicht ganz ohne Unannehmlichkeiten verlaufen war.<br />

Nun wie<strong>der</strong> zurück zu Petersburg, wo wir <strong>Wildemann</strong>s, nachdem Ropps<br />

weggefahren waren, aus <strong>der</strong> grossen Wohnung aus- und <strong>in</strong> e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>es Haus am<br />

Fluss e<strong>in</strong>zogen. Ueber dieses Haus war Mamu gar nicht glücklich, weil es sehr<br />

feucht und ungesund war.<br />

H<strong>in</strong>ter dem Haus war zur Strasse h<strong>in</strong> e<strong>in</strong> Garten, auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite war auch<br />

e<strong>in</strong>e Strasse. Auf dieser, so er<strong>in</strong>nert sich Sylvester, fuhren die Schlitten <strong>mit</strong> „Masut“.<br />

Das s<strong>in</strong>d Rückstände <strong>von</strong> <strong>der</strong> Erdölraff<strong>in</strong>erie. Die wurden wahrsche<strong>in</strong>lich irgendwo<br />

<strong>in</strong> den Fluss o<strong>der</strong> <strong>in</strong> die nahe Ostsee gekippt. Hier kann man noch e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>es<br />

Erlebnis <strong>von</strong> Sylvester <strong>mit</strong> Onkel Walter, <strong>der</strong> uns <strong>in</strong> <strong>der</strong> ersten Wohnung besucht<br />

hatte, e<strong>in</strong>flechten. Als e<strong>in</strong> Junge Sylvesters Brottasche wegnahm, g<strong>in</strong>g Onkel Walter<br />

<strong>mit</strong> Sylvester zu dem Haus des Jungen und sprach <strong>mit</strong> dessen Vater.<br />

Dieser gab die Tasche sofort zurück und sagte zu Onkel Walter:<br />

„Charascho, charascho, ja jewo nakashu“ (<strong>in</strong> Ordnung, <strong>in</strong> Ordnung, ich werde ihn<br />

bestrafen). Diese russischen Worte hat Sillo behalten. Durch Onkel Walters und<br />

Tante Al<strong>in</strong>es schrecklichen Tod ist wohl jede kle<strong>in</strong>ste Er<strong>in</strong>nerung an diese<br />

Verwandten beson<strong>der</strong>s im Gedächtnis haften geblieben. Sylvester und Tatjana<br />

fuhren nun wie<strong>der</strong> <strong>in</strong> die Schule, d.h. Sylvester jetzt <strong>in</strong> die französische Schule zu<br />

Madame Dubois und Tatjana <strong>in</strong> den K<strong>in</strong><strong>der</strong>garten. Im W<strong>in</strong>ter, bald nachdem wir <strong>in</strong><br />

das Haus am Fluss e<strong>in</strong>gezogen waren, spielten die drei Geschwister viel auf dem<br />

Eis, aus dem - wie auch aus <strong>der</strong> Musse - grosse Blöcke herausgesägt worden<br />

waren. An manchen Stellen waren also Löcher im Eis - ungeschützte tiefe Löcher -<br />

e<strong>in</strong> unvorstellbarer Leichts<strong>in</strong>n für heutige Begriffe. Beim Spielen fiel Roman <strong>in</strong> e<strong>in</strong><br />

solches Loch. Die Geschwister zogen ihn heraus und brachten ihn <strong>in</strong> höchster Eile<br />

nach Hause, aber se<strong>in</strong>e Klei<strong>der</strong> waren am Körper angefroren, als sie dort ankamen.<br />

Zu Tode erschrocken nahm Mamu sich se<strong>in</strong>er an <strong>mit</strong> heissem Bad und<br />

Wärmflaschen. Dennoch war er am nächsten Tag schwer krank, und die<br />

herbeigerufene Aerzt<strong>in</strong> sagte „Bjednij maltschik“, „Armer Junge“, was so viel wie<br />

hoffnungslos heissen sollte.Roman bekam Lungen- und Rippenfellentzündung und<br />

kam <strong>in</strong>s Krankenhaus, wo er auch noch <strong>mit</strong> Pocken <strong>in</strong>fiziert wurde und drei Monate<br />

schwer krank lag. Papu war, nachdem se<strong>in</strong> Be<strong>in</strong> geheilt war, <strong>in</strong>zwischen wie<strong>der</strong> an<br />

die Front gegangen. Sylvester er<strong>in</strong>nert sich, dass er Papu, <strong>der</strong> auf Urlaub<br />

gekommen war, neben Mamu sitzen und we<strong>in</strong>en sah, weil angeblich ke<strong>in</strong>e Hoffnung<br />

für Roman bestand, e<strong>in</strong> unauslöschlicher E<strong>in</strong>druck <strong>in</strong> Sylvesters Gedächtnis.<br />

Roman er<strong>in</strong>nert sich gut an diesen Krankenhausaufenthalt, <strong>von</strong> dem er die riesige<br />

Narbe zwischen den Rippen behalten hat; aus diesem Loch ist e<strong>in</strong>e Menge Eiter<br />

herausgeholt worden. Das Krankenhaus wurde <strong>von</strong> Nonnen geführt. Die K<strong>in</strong><strong>der</strong>,<br />

denen es schon besser g<strong>in</strong>g, bekamen Unterricht im Russischen. Und Roman,<br />

obwohl damals erst vier, hat die russischen Buchstaben bis heute behalten. - E<strong>in</strong><br />

an<strong>der</strong>es Mal, als Papu auch auf Urlaub kam, waren Leute bei uns zu Besuch, und<br />

er sass <strong>mit</strong> ihnen am Tisch, merkwürdig vornübergelehnt, e<strong>in</strong>en Arm unter dem<br />

Tisch. So versteckte er vor Mamu e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>gegipsten Arm, den er sich auch <strong>mit</strong><br />

dem Motorrad gebrochen hatte, wie zuvor se<strong>in</strong> Be<strong>in</strong>. Aber diese Unfälle taten se<strong>in</strong>er<br />

Liebe zum motorisierten Fahren ke<strong>in</strong>en Abbruch, im Gegenteil: dank se<strong>in</strong>er grossen<br />

Familienchronik „<strong>von</strong> Wildeman“ Seite 16 <strong>von</strong> 57 Februar 1986


technischen Begabung konnte er während dieser ersten Kriegsjahre den<br />

Motorschlitten konstruieren, den er für die Truppe für ausserordentlich nützlich hielt,<br />

da die Verluste an Pferden <strong>in</strong> <strong>der</strong> russischen Armee sehr hoch waren. Die<br />

Kavalleristen waren gegen Papus Idee, denn sie konnten ja nur Pferde aber nicht<br />

Motoren anerkennen. Doch Papu konnte sie überzeugen, dass diese Schlitten<br />

überall e<strong>in</strong>gesetzt werden und manches leisten konnten, was <strong>mit</strong> Pferden unmöglich<br />

war.<br />

Von dem kle<strong>in</strong>en Haus aus fuhren Sylvester und Tatjana <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Strassenbahn zur<br />

Schule. Sylvester er<strong>in</strong>nert sich dunkel an e<strong>in</strong> Gedränge o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e Prügelei <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Bahn, die wohl immer überfüllt war, was für die kle<strong>in</strong>en K<strong>in</strong><strong>der</strong> nicht ganz e<strong>in</strong>fach<br />

war.Die russische K<strong>in</strong><strong>der</strong>frau (die Njanja) passte auf die Kle<strong>in</strong>en, Roman und mich<br />

auf. Aber Roman war ja lange Zeit im Krankenhaus. Die Eltern fuhren <strong>mit</strong> den<br />

beiden Grossen nach Wiborg am Meer, da<strong>mit</strong> sie schwimmen lernen sollten, aber<br />

das war wohl nur für e<strong>in</strong> paar Tage während Papus Urlaub. In dem Sommer schnitt<br />

sich Roman <strong>mit</strong> e<strong>in</strong>er Glasscherbe <strong>in</strong> den Fuss, als die Geschwister am Fluss<br />

spielten. Zum Glück war Mamu dabei und hat geistesgegenwärtig die schrecklich<br />

blutende, tiefe Wunde <strong>mit</strong> e<strong>in</strong>em <strong>von</strong> ihrem Unterrock abgerissenen Streifen<br />

verbunden. Dann trugen sie Roman geme<strong>in</strong>sam <strong>in</strong>s Haus und die Wunde musste<br />

genäht werden. Er war zu dieser Zeit gerade fünf Jahre alt.<br />

Jetzt me<strong>in</strong>t er, dass sich diese Sache später <strong>in</strong> Riga zugetragen hat, aber Tatjana,<br />

die e<strong>in</strong> fabelhaftes Gedächtnis hat, besteht darauf, dass es <strong>in</strong> Petersburg war.<br />

In dem kle<strong>in</strong>en Haus müssen viele Ratten gewesen se<strong>in</strong>. Tante Magda besuchte<br />

uns auch dort (o<strong>der</strong> war sie überhaupt bei uns geblieben? Wie kann sie denn durch<br />

die Front gekommen se<strong>in</strong>, Litauen war <strong>in</strong> deutscher Hand). Tatjana hat sie e<strong>in</strong>mal<br />

bei e<strong>in</strong>em Malariaanfall bewusstlos liegend gefunden, und sah ihr die Ratten übers<br />

Gesicht laufen. E<strong>in</strong>mal, als Tatjana ihre h<strong>in</strong>ter dem Ofen vor den Geschwistern<br />

versteckte Spr<strong>in</strong>gschnur herausholte, war diese <strong>von</strong> Ratten zerfressen, so traurig<br />

und unersetzlich im Kriegs-Petersburg.<br />

Wir wurden immer dazu angehalten, nur russisch zu sprechen, sobald wir nicht<br />

ganz alle<strong>in</strong> waren, denn es war im Krieg verboten deutsch zu sprechen. Das Haus<br />

lag zwischen zwei Strassen, und wenn im Sommer die Fenster offen waren,<br />

mussten wir uns angewöhnen, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Nähe <strong>der</strong> Fenster ke<strong>in</strong> deutsch zu sprechen.<br />

Ueberhaupt sprachen wir K<strong>in</strong><strong>der</strong> auch viel russisch untere<strong>in</strong>an<strong>der</strong>, und abends im<br />

Bett beteten wir auch auf russisch für den Sieg <strong>der</strong> russischen Armee. In Tante Allis<br />

Tagebuch ist zu lesen, dass sie auch auf den Sieg <strong>der</strong> russischen Armee hofften.<br />

Wie konnte es auch an<strong>der</strong>s se<strong>in</strong>, waren doch <strong>in</strong> je<strong>der</strong> Generation die meisten<br />

Vorfahren russische Offiziere gewesen und standen auch <strong>in</strong> diesem furchtbaren<br />

Krieg als zarentreue Untertanen an <strong>der</strong> Front gegen die Deutschen; und dies aus<br />

Patriotismus und Ueberzeugung, obwohl die geistigen, religiösen und kulturellen<br />

Quellen für die meisten Balten <strong>in</strong> Deutschland lagen. Es waren auch sehr viele<br />

Balten <strong>in</strong> hohen Stellungen am Zarenhof und hatten dort grossen E<strong>in</strong>fluss. Sylvester<br />

sagt, er er<strong>in</strong>nert sich sehr deutlich, dass <strong>der</strong> deutsche Kaiser unser verhasster<br />

Fe<strong>in</strong>d war, <strong>von</strong> dem er im Bett sitzend <strong>mit</strong> Buntstiften e<strong>in</strong> Gesicht zeichnete, unter<br />

das er schrieb: „Njemetzkij Kitaetz“, d.h. deutscher Ch<strong>in</strong>ese. Die Erzfe<strong>in</strong>de,<br />

Deutsche und Ch<strong>in</strong>esen waren so geme<strong>in</strong>sam dargestellt. Es nützte nichts, dass<br />

Tante Magda ihm sagte, dass es ke<strong>in</strong>e deutschen Ch<strong>in</strong>esen gibt. Se<strong>in</strong> k<strong>in</strong>dlicher<br />

Hass hatte se<strong>in</strong>en Ausdruck gefunden.<br />

Im Frühjahr 1917 brachte Papu se<strong>in</strong>e Familie nach Riga, wo im Kaiserwald e<strong>in</strong><br />

Haus gemietet wurde. Se<strong>in</strong> Standort <strong>mit</strong> se<strong>in</strong>er Kompagnie war zu <strong>der</strong> Zeit nicht<br />

Familienchronik „<strong>von</strong> Wildeman“ Seite 17 <strong>von</strong> 57 Februar 1986


weit <strong>von</strong> Riga, sodass er uns leichter besuchen konnte, wenn er frei war. E<strong>in</strong><br />

weiterer Grund war wohl die Ueberlegung, dass Riga, an das die Deutschen schon<br />

an<strong>der</strong>thalb Jahre vorher bis auf wenige Kilometer herangekommen waren, <strong>in</strong><br />

absehbarer Zeit erobert werden würde. Und da war es besser für die Familie,<br />

zuhause <strong>in</strong> Kurland <strong>in</strong> <strong>der</strong> Nähe <strong>von</strong> Blaupomusch und nicht durch die Kampffront<br />

<strong>von</strong> <strong>der</strong> Heimat getrennt zu se<strong>in</strong>. So richteten sich Mamu und Tante Magda <strong>mit</strong> uns<br />

vier K<strong>in</strong><strong>der</strong>n <strong>in</strong> diesem Haus <strong>in</strong> Riga e<strong>in</strong>, das zunächst noch auf <strong>der</strong> russischen<br />

Seite <strong>der</strong> Frontl<strong>in</strong>ie war. Es war e<strong>in</strong> schönes zweistöckiges Haus, umgeben <strong>von</strong><br />

hohen Bäumen. Ich selbst er<strong>in</strong>nere mich an e<strong>in</strong>e hohe Tanne, <strong>der</strong>en unterste Aeste<br />

fast bis auf die Erde reichten. Diese Aeste konnte man im Kreis ganz um den<br />

Stamm biegen und sich dann daran zurückschw<strong>in</strong>gen lassen.<br />

Papu kam zu Wochenenden <strong>mit</strong> dem Motorrad o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>em Auto - e<strong>in</strong>s <strong>der</strong> ersten<br />

Autos, die wir sahen - und bat Mamu jedesmal, doch <strong>mit</strong> ihm zurückzufahren und<br />

e<strong>in</strong>e Weile bei ihm zu bleiben. Er lag zu <strong>der</strong> Zeit <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em bequemen Quartier h<strong>in</strong>ter<br />

<strong>der</strong> Front bei dem Städtchen Jakobstadt, und unter solchen Umständen war es<br />

Offizieren erlaubt, ihre Frauen e<strong>in</strong>e Zeitlang bei sich zu haben.Sylvester er<strong>in</strong>nert<br />

sich, dass Papu ihn e<strong>in</strong>mal <strong>mit</strong>genommen hat, und dass er e<strong>in</strong> paar Tage bei den<br />

vielen Soldaten war. Aber Mamu wollte immer nicht, so sehr Papu auch bat, da ja<br />

je<strong>der</strong>zeit <strong>der</strong> deutsche Sturm auf Riga erwartet werden konnte und dann beide<br />

Eltern <strong>von</strong> uns getrennt würden. Es war e<strong>in</strong>e gütige Fügung des Schicksals, dass<br />

Mamu schliesslich doch nachgab und im August auf Papus Motorrad (o<strong>der</strong> im Auto)<br />

<strong>mit</strong>fuhr. E<strong>in</strong>e gute Fügung deshalb, weil sonst unser Vater, wie zehntausende<br />

an<strong>der</strong>er russischer Offiziere e<strong>in</strong> Opfer <strong>der</strong> Revolution geworden wäre.Doch darüber<br />

später. Wir blieben also <strong>in</strong> <strong>der</strong> Obhut <strong>von</strong> Tante Magda. Sylvester bekam Diphterie<br />

und lag hoch fiebernd <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Bett im ersten Stock. Der deutsche Angriff kam<br />

Anfang September. Wir K<strong>in</strong><strong>der</strong>, ausser Sylvester, standen am Fenster, fasz<strong>in</strong>iert<br />

vom Lärm <strong>der</strong> Flugzeuge, den fallenden Bomben und den Bränden, vor denen<br />

nachts unsere Bäume als Silhouette standen.<br />

Die arme Tante versuchte vergebens, uns vom Fenster wegzukriegen, dort schien<br />

ihr die Gefahr grösser. Als <strong>der</strong> Kampf vorbei war, bemühte sich Tante Magda sofort<br />

um die Erlaubnis, <strong>mit</strong> uns nach Blaupomusch zu reisen. Zivilpersonen durften sich<br />

ja nur <strong>mit</strong> Genehmigung <strong>der</strong> militärischen Behörde <strong>von</strong> e<strong>in</strong>em Ort zum an<strong>der</strong>en<br />

begeben. Sie bekam e<strong>in</strong>en Passiersche<strong>in</strong>, datiert 10.9.17 (Gebühr 10 Mark) auf<br />

dem steht, dass sie <strong>mit</strong> den vier K<strong>in</strong><strong>der</strong>n nach Blaupomusch <strong>in</strong> Kurland reisen und<br />

dazu auch den Dampfer benutzen kann. „Zwei Pferde, e<strong>in</strong>e Kuh, e<strong>in</strong> Wagen dürfen<br />

nicht requiriert werden“. Ob wir diese Tiere im Kaiserwald wirklich hatten o<strong>der</strong> <strong>von</strong><br />

jemand an<strong>der</strong>m bekamen zum Mitnehmen?Offenbar war es möglich, e<strong>in</strong>en Teil des<br />

Weges per Schiff auf <strong>der</strong> Aa zu fahren. Es sche<strong>in</strong>t, dass Sylvester nicht <strong>mit</strong> uns<br />

reiste, vielleicht war er noch zu krank, und blieb bei irgendwelchen Verwandten <strong>in</strong><br />

Riga zurück. Er er<strong>in</strong>nert sich, dass er im Herbst, als es schon kalt war, <strong>mit</strong> e<strong>in</strong>em<br />

Kutscher alleim im Schlitten nach Blaupomusch fuhr und bei e<strong>in</strong>er „Tante“ <strong>in</strong><br />

Bauske übernachtete. Es war sehr kalt, und er wurde unter dem Mantel <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e<br />

Schicht Zeitungspapier gewickelt. So waren wir also wie<strong>der</strong> <strong>in</strong> Blaupomusch nach<br />

zweijähriger Abwesenheit, aber ohne die Eltern. Was mag man zu <strong>der</strong> Zeit, also<br />

Ende September 1917 auf den Gütern <strong>in</strong> Litauen über den Kriegsverlauf gewusst<br />

haben?Da die Deutschen nun endlich Riga genommen hatten, rechnete man<br />

vielleicht <strong>mit</strong> e<strong>in</strong>em weiteren Vormarsch und baldigen Sieg <strong>der</strong> Deutschen. Es gab<br />

wohl kaum Nachrichten <strong>von</strong> <strong>der</strong> Westfront, und die Zeitungen wurden sicher <strong>von</strong><br />

Oberost zensiert. Das Radio wurde erst e<strong>in</strong>ige Jahre später erfunden. So wusste<br />

Familienchronik „<strong>von</strong> Wildeman“ Seite 18 <strong>von</strong> 57 Februar 1986


man wenig über das Kriegsgeschehen und ahnte nichts <strong>von</strong> <strong>der</strong> direkt<br />

bevorstehenden mör<strong>der</strong>ischen russischen Revolution, die sich gegen die<br />

Provisorische Regierung richtete, die im April nach <strong>der</strong> Abdankung des Zaren<br />

gebildet worden war, und natürlich nicht nur gegen diese Regierung, die DUMA, die<br />

unter Kerenski noch hauptsächlich aus bürgerlichen Elementen bestand, son<strong>der</strong>n<br />

gegen die Oberschicht überhaupt, die Offiziere, den Adel, die besitzende Klasse.<br />

Am 25. Oktober (7. November neuer Rechnung) ergriffen die Bolschewisten die<br />

Macht und stürmten das W<strong>in</strong>terpalais <strong>in</strong> Petersburg. An dem Tag brach <strong>in</strong> Russland<br />

die Hölle los. Aber bis <strong>der</strong> Aufruf zum Aufstand gegen die Offiziere zu allen<br />

entlegenen militärischen E<strong>in</strong>heiten gelangte und bis die Soldatenräte sich gebildet<br />

und den Mut gefasst hatten, gegen ihre Offiziere vorzugehen, verg<strong>in</strong>g<br />

wahrsche<strong>in</strong>lich e<strong>in</strong>e gewisse Zeit. Und so war es wohl an e<strong>in</strong>em Tag Ende<br />

November, als Papu, <strong>der</strong> <strong>mit</strong> se<strong>in</strong>er Kompagnie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Art altem Schloss<br />

untergebracht war und <strong>mit</strong> Mamu Räume <strong>in</strong> ersten Stock bewohnte, das harte<br />

Klopfen an <strong>der</strong> Tür hörte. Es ist anzunehmen, dass er sich <strong>der</strong> drohenden Gefahr<br />

bewusst war. Aber er hatte sich ausgezeichnet <strong>mit</strong> se<strong>in</strong>er Kompagnie verstanden.<br />

Mit grosser Begeisterung hatte er ihnen den Umgang <strong>mit</strong> den Motorschlitten<br />

beigebracht, und sie bewun<strong>der</strong>ten ihn, waren ihm treue Kameraden. Aber auch sie<br />

waren jetzt <strong>in</strong> den Sog <strong>der</strong> Revolution geraten und mussten <strong>mit</strong>machen <strong>mit</strong> den<br />

Bolschewiken, e<strong>in</strong>ige sicher auch aus <strong>der</strong> Ueberzeugung, dass die Zeit <strong>der</strong><br />

Herrschaft des Volkes jetzt angebrochen sei.<br />

Mamu erzählte: Die Tür öffnete sich und here<strong>in</strong> kam se<strong>in</strong> Adjutant und sagte, dass<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Kompagnie e<strong>in</strong> Soldatenrat gebildet worden sei, dass alle Offiziere abgesetzt<br />

seien und Papu se<strong>in</strong>e Waffe und se<strong>in</strong>e Offiziers<strong>in</strong>signien ihm, dem Adjutanten,<br />

abgeben müsse. Papu wurde masslos zornig (wir wissen, dass er das werden<br />

konnte!) und zog se<strong>in</strong>e Pistole gegen den Adjutanten. Wäre er alle<strong>in</strong> gewesen, so<br />

hätte er bestimmt geschossen. Das wäre se<strong>in</strong> Ende gewesen, denn vor <strong>der</strong> Türe<br />

standen ja die Soldaten und passten auf - alle bewaffnet. Aber Mamu fiel ihm <strong>in</strong> den<br />

Arm und sagte: „Benno, wir haben vier K<strong>in</strong><strong>der</strong>“. Papu liess die Waffe s<strong>in</strong>ken und<br />

übergab sie, zusammen <strong>mit</strong> se<strong>in</strong>en Epauletten und was e<strong>in</strong> Offizier sonst noch<br />

hatte. Es war se<strong>in</strong> Glück, dass er <strong>mit</strong> den Soldaten immer e<strong>in</strong> gutes Verhältnis<br />

gehabt hatte. So hatten sie Verständnis für se<strong>in</strong>e allererste unbeherrschte Reaktion.<br />

Er war gut zu ihnen gewesen, und sie liebten ihn und wollten ihm nichts tun. Sie<br />

gaben ihm „Urlaub“ und liessen ihn <strong>mit</strong> e<strong>in</strong>em Schlitten und e<strong>in</strong>em Pferd abziehen.<br />

Mamu und Papu machten sich auf den Weg Richtung deutsche Front, wohl auch<br />

<strong>mit</strong> etwas Proviant versehen. Ich weiss nicht mehr, wie lange diese Flucht dauerte.<br />

Papu war ja nur vor se<strong>in</strong>en Soldaten sicher gewesen, aber nicht vor all den an<strong>der</strong>n,<br />

die im Land herum die Revolution feierten und jeden Offizier kaltblütig erschossen.<br />

Daher musste Mamu sich als Soldat verkleiden, und sie wan<strong>der</strong>ten als zwei<br />

e<strong>in</strong>fache Soldaten durch die kalte verschneite Landschaft gegen Westen, um<br />

irgendwie durch die deutschen L<strong>in</strong>ien zu gelangen. Es war e<strong>in</strong> mühsamer Weg, vor<br />

allem für Mamu. Das Pferd, für das bald ke<strong>in</strong> Futter mehr da war, musste getötet<br />

und wohl auch <strong>der</strong> Schlitten zurückgelassen werden. Immer musste die Verkleidung<br />

als zwei e<strong>in</strong>fache Soldaten, d.h. auch die Verstellung aufrechterhalten werden.<br />

Denn wenn Mamu als Frau <strong>in</strong> Ersche<strong>in</strong>ung getreten wäre, hätte dies Papu als<br />

Offizier entlarvt, da nur Offiziere im aktiven Militärdienst ihre Frauen bei sich haben<br />

durften.H<strong>in</strong>zu kam, dass Mamu nicht vor an<strong>der</strong>en sprechen durfte. Ihre weibliche<br />

Stimme und ihre gepflegte Sprache hätten sie ja sofort verraten. Papu h<strong>in</strong>gegen<br />

Familienchronik „<strong>von</strong> Wildeman“ Seite 19 <strong>von</strong> 57 Februar 1986


konnte sich gut als e<strong>in</strong>facher Soldat geben. Se<strong>in</strong>e Phantasie und Sprachbegabung<br />

erlaubten ihm diesen Rollenwechsel ohne Schwierigkeiten.<br />

E<strong>in</strong>es Abends, müde, hungrig und durchgefroren, kamen sie an e<strong>in</strong> Wirtshaus, <strong>in</strong><br />

dem laut und vernehmlich die Revolution gefeiert wurde. Sie mussten h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>, da<br />

Mamu nicht mehr weiterkonnte. Als sie e<strong>in</strong>getreten waren, setzte Mamu sich auf<br />

den Boden an <strong>der</strong> Türe, sche<strong>in</strong>bar krank und sehr, sehr müde. Papu g<strong>in</strong>g an den<br />

Tisch, um den die roten Soldaten sassen, setzte sich zu ihnen und wurde, <strong>mit</strong><br />

russischer Gastfreundschaft zum Mitfeiern und Mittr<strong>in</strong>ken e<strong>in</strong>geladen. Papu brachte<br />

se<strong>in</strong>em Kameraden Essen und erklärte, dass dieser sehr mšde und ziemlich schwer<br />

krank sei und daher nicht sprechen und <strong>mit</strong>feiern könne.Geme<strong>in</strong>sam liessen alle die<br />

Revolution hochleben und gaben ihrer Freude auf die kommenden goldenen Zeiten<br />

Ausdruck. Für diese e<strong>in</strong>fachen Menschen bedeutete ja die Revolution die Erfüllung<br />

all ihrer Träume. Und Papu machte kräftig <strong>mit</strong>, verleugnete Herkunft, Beruf und<br />

Ueberzeugung, um se<strong>in</strong>e Frau und sich zu retten. Aber er trank nicht alles, was<br />

man ihm e<strong>in</strong>schenkte, son<strong>der</strong>n kippte das Meiste über die Schulter und stimmte <strong>in</strong><br />

Freudengesang und Gejohle <strong>mit</strong> e<strong>in</strong>. E<strong>in</strong>er nach dem an<strong>der</strong>n sanken die Soldaten<br />

zusammen, schliefen am Tisch o<strong>der</strong> auf dem Fussboden e<strong>in</strong>. Aber e<strong>in</strong>er, <strong>der</strong> bei<br />

S<strong>in</strong>nen geblieben se<strong>in</strong> muss, stand auf und führte Papu und Mamu <strong>in</strong> e<strong>in</strong><br />

Nebenzimmer und sagte: „Towarischtschi, Ihr könnt <strong>in</strong> diesem Zimmer schlafen, da<br />

seid ihr ungestört“. Nun waren die Beiden gezwungen, anstatt sich e<strong>in</strong>fach<br />

vorsichtig zu entfernen, <strong>in</strong> das Nebenzimmer zu gehen, denn irgendwelcher Protest<br />

hätte sofort Verdacht erregt. Die Türe g<strong>in</strong>g zu, und da sahen sie sich<br />

e<strong>in</strong>geschlossen, denn <strong>in</strong>nen war ke<strong>in</strong>e Kl<strong>in</strong>ke, son<strong>der</strong>n nur e<strong>in</strong> Loch <strong>mit</strong> dem<br />

viereckigen Bolzen, für den man, wie ihn z.B. bei ltmodischen Eisenbahnabteilen<br />

<strong>der</strong> Schaffner hat, e<strong>in</strong>en speziellen Schlüssel <strong>mit</strong> dem ausgesparten viereckigen<br />

Loch brauchte, um ihn zu drehen und die Türe zu öffnen. Also waren sie gefangen;<br />

man hatte ihnen die roten Kameraden nicht gänzlich abgenommen, und <strong>der</strong> noch<br />

e<strong>in</strong>igermassen klar denkende Soldat wollte die Untersuchung auf den nächsten<br />

Morgen verschieben, die das Ende unserer Eltern bedeutet hätte. Nun aber kam e<strong>in</strong><br />

geradezu unglaublicher Zufall den E<strong>in</strong>gesperrten zuhilfe. Papu hatte immer solch<br />

e<strong>in</strong>en Schaffnerschlüssel gehabt, um, wie es damald den Offizieren zugestanden<br />

wurde, ungestört auf <strong>der</strong> Bahn alle<strong>in</strong>, o<strong>der</strong> nur <strong>mit</strong> erwünschten Mitreisenden,<br />

fahren zu können. Dies fiel ihm e<strong>in</strong>, und er durchsuchte se<strong>in</strong>e Taschen, und da kam<br />

<strong>der</strong> Schlüssel zum Vorsche<strong>in</strong>! Vielleicht hatte er ihn auch aus irgende<strong>in</strong>em<br />

Vorgefühl heraus auf die Flucht <strong>mit</strong>genommen. Jetzt war die unwahrsche<strong>in</strong>liche<br />

Lage entstanden, dass er nicht <strong>in</strong> <strong>der</strong> Bahn, son<strong>der</strong>n im schmutzigen Zimmer e<strong>in</strong>er<br />

Spelunke diesen Schlüssel brauchte, <strong>der</strong> ihnen das Leben rettete. Gegen drei Uhr<br />

morgens, als die grösste Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit bestand, dass alle Tr<strong>in</strong>ker fest<br />

schliefen, schlichen sie sich h<strong>in</strong>aus, über die Körper <strong>der</strong> Soldaten h<strong>in</strong>weg. Wir<br />

können uns gut vorstellen, <strong>mit</strong> welch unendlicher Angst und Vorsicht dies geschah.<br />

Denn wäre auch nur e<strong>in</strong>er aufgewacht, z.B. <strong>der</strong>jenige, <strong>der</strong> offenbar weniger<br />

gesoffen hatte, so wäre alles aus gewesen. Draussen war klirren<strong>der</strong> Frost, heller<br />

Vollmond und e<strong>in</strong>e weissleuchtende Schneedecke. Was für e<strong>in</strong> leichtes Ziel wären<br />

diese Gestalten für die bewaffneten Revolutionäre gewesen! Aber die Eltern kamen<br />

da<strong>von</strong>, schlichen sich h<strong>in</strong>weg und entg<strong>in</strong>gen dem schrecklichen Schicksal <strong>von</strong><br />

tausenden ihrer Standesgenossen. Irgendwann schloss sich ihnen e<strong>in</strong> russischer<br />

Hauptmann namens Morgenroth an. Lei<strong>der</strong> weiss ich nicht wie lange und wie sie<br />

weitergegangen s<strong>in</strong>d, auch nicht wie sie durch die Front gekommen s<strong>in</strong>d. Das<br />

grosse Risiko, als fe<strong>in</strong>dliche Soldaten <strong>von</strong> deutschen Militärs an <strong>der</strong> Front<br />

Familienchronik „<strong>von</strong> Wildeman“ Seite 20 <strong>von</strong> 57 Februar 1986


erschossen zu werden, stand ihnen ja noch bevor. Aber irgendwie hatten sie das<br />

Glück, an e<strong>in</strong>en Frontabschnitt zu kommen, <strong>der</strong> auf deutscher Seite unter dem<br />

Kommando e<strong>in</strong>es Papu bekannten Deutschen o<strong>der</strong> Deutschbalten stand. Es gelang<br />

ihm, die deutschen Soldaten da<strong>von</strong> zu überzeugen, dass sie als Freunde kamen<br />

und zu erreichen, dass man sie zu dem Kommendanten führte (<strong>in</strong>zwischen hatte<br />

Mamu sich wohl wie<strong>der</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Frau verwandeln dürfen). Sie waren beim „Fe<strong>in</strong>d“, bei<br />

jahrelang bekämpften Fe<strong>in</strong>den, die zu Freunden wurden, und <strong>mit</strong> denen man bald<br />

geme<strong>in</strong>sam gegen die zu Bolschewiken gewordenen bisherigen Kampfgenossen <strong>in</strong>s<br />

Feld ziehen sollte. Papu wurde nicht gefangen genommen, son<strong>der</strong>n als<br />

Deutschbalte <strong>in</strong>s Zivilleben entlassen.<br />

In Riga war zu <strong>der</strong> Zeit Mamus Schwager, Onkel Alfred Reiswitz als<br />

Dolmetscheroffizier dem deutschen Stabe zugeteilt. Er sass <strong>in</strong> <strong>der</strong> Offiziersmesse<br />

bei e<strong>in</strong>er Bowle als die Tür sich auftat und unsere Eltern e<strong>in</strong>traten. Welche<br />

Ueberraschung und Freude! Onkel Alfred konnte dem Schwager weiterhelfen.<br />

Durch ihn erfuhren die Familien <strong>in</strong> Deutschland per Telegramm <strong>von</strong> <strong>der</strong> Rückkehr<br />

unserer Eltern, die sich <strong>in</strong> dem sich zu <strong>der</strong> Zeit <strong>in</strong> deutschen Händen bef<strong>in</strong>dlichen<br />

Baltikum frei bewegen und zu ihren K<strong>in</strong><strong>der</strong>n und Eltern zurückkehren durften. Sie<br />

waren uns wie<strong>der</strong>geschenkt, durch e<strong>in</strong> unendlich gnädiges Schicksal vor dem<br />

Schlimmsten bewahrt. Es ist anzunehmen, dass zu dieser Zeit, also etwa Mitte<br />

Dezember Grosspapa und Grossmama gewusst haben, was sich seit Ende Oktober<br />

<strong>in</strong> Russland ereignete. In welch schrecklicher Angst um unsere Eltern müssen sie<br />

gewesen se<strong>in</strong>, und auch um Onkel Udo, <strong>der</strong> im fernen Wladiwostok lebte.Was für<br />

e<strong>in</strong>e Erleichterung und Freude war es, als kurz vor Weihnachten Onkel Walter <strong>mit</strong><br />

Mamu im Schlitten <strong>in</strong> Blaupomusch ankam. Da Waldeck direkt an <strong>der</strong> Stadtgrenze<br />

<strong>von</strong> Mitau liegt, waren die Eltern zuerst dorth<strong>in</strong> gekommen, und Papu hatte Onkel<br />

Walter gebeten, Mamu nach Blaupomusch zu br<strong>in</strong>gen, während er sich um se<strong>in</strong>e<br />

geschäftlichen D<strong>in</strong>ge <strong>in</strong> Mitau kümmerte. Onkel Walter, <strong>der</strong> ja nahe bei <strong>der</strong> Stadt<br />

über die Ereignisse <strong>in</strong> Russland besser unterrichtet war als se<strong>in</strong>e Eltern draussen<br />

auf dem Lande <strong>in</strong> Litauen, hatte vielleicht se<strong>in</strong>en Bru<strong>der</strong> und se<strong>in</strong>e Schwäger<strong>in</strong><br />

schon als verloren aufgegeben, sodass ihr Ersche<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>e wun<strong>der</strong>bare<br />

Ueberraschung für ihn war. Da er nicht Soldat war, hatten er und Tante Al<strong>in</strong>e <strong>mit</strong><br />

ihren vier grossen und zwei kle<strong>in</strong>en K<strong>in</strong><strong>der</strong>n den Krieg bisher gefahrlos<br />

überstanden. Ich weiss nur nicht, wie es möglich war, dass Onkel Walter durch die<br />

Front zu uns nach Petersburg gekommen war, sche<strong>in</strong>bar sogar zweimal, und wie<strong>der</strong><br />

nach Waldeck zurückkehren konnte. Vielleicht auch über Schweden? Papu kam zu<br />

Weihnachten auch nach Blaupomusch - wie dankbar konnten wir das Fest<br />

zusammen feiern!Der grosse Weihnachtsbaum stand im Wohnzimmer.<br />

Im nächsten Jahr, also 1918, versuchte Papu wie<strong>der</strong>, sich <strong>in</strong> Mitau zu betätigen,<br />

vielleicht erneut <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Anwaltsbüro. Mamu und wir K<strong>in</strong><strong>der</strong> lebten abwechselnd <strong>in</strong><br />

Mitau und <strong>in</strong> Blaupomusch.Es war e<strong>in</strong>e unruhige und schwere Zeit, man wusste<br />

nicht was kommt. In Russland tobte die Revolution. Im Februar hatten die<br />

deutschen Truppen das ganze Baltikum besetzt, und im Frieden <strong>von</strong> Brest-Litowsk<br />

im April erhielten die baltischen Län<strong>der</strong> und Polen die Unabhängigkeit, wobei aber<br />

vere<strong>in</strong>bart wurde, dass die deutschen Truppen solange im Baltikum bleiben sollten,<br />

bis die staatliche Ordnung hergestellt war. So regierte also weiterh<strong>in</strong> „Oberost“. Dies<br />

führte zu Spannungen <strong>mit</strong> <strong>der</strong> lettischen und estnischen Bevölkerung, die nicht<br />

deutschfreundlich gesonnen war und <strong>der</strong>en wachsen<strong>der</strong> Unmut sich gegen die<br />

deutsche Besetzung und die baltische Oberschicht richtete. Warum wohl haben die<br />

Familienchronik „<strong>von</strong> Wildeman“ Seite 21 <strong>von</strong> 57 Februar 1986


altischen Familien nicht schon im Sommer o<strong>der</strong> Herbst 1918 die Lage richtig<br />

erkannt und sich unter Mitnahme ihrer Vermögen und aller Wertgegenstände<br />

rechtzeitig nach Deutschland begeben?<br />

Aber trotz des voraussehbaren Zusammenbruchs Deutschlands hatte man wohl<br />

gehofft, dass <strong>der</strong> Uebergang zur Selbständigkeit friedlich verlaufen und die Heimat<br />

erhalten bleiben würde. Doch als Deutschland im November aufgeben musste,<br />

mussten auch die deutschen Truppen aus dem Baltikum abziehen. Die<br />

e<strong>in</strong>rückenden sowjetischen Truppenteile fanden lei<strong>der</strong> die e<strong>in</strong>heimische<br />

Bevölkerung nur zu bereit, sich gegen die Baltendeutschen zu wenden. So<br />

besetzten, <strong>von</strong> <strong>der</strong> roten Armee unterstützte lettische Schützenregimenter Anfang<br />

Januar 1919 Riga und Mitau, nachdem Estland schon Ende November 1918 <strong>von</strong><br />

den Kommunisten besetzt worden war. Im Januar drangen die sowjetischen<br />

Truppen <strong>von</strong> Norden wie <strong>von</strong> Osten her auch nach Litauen e<strong>in</strong>.<br />

Wie gesagt, waren wir im Sommer 1918 wie<strong>der</strong> nach Mitau gezogen, wo wir jetzt<br />

nicht mehr <strong>in</strong> unserem Haus an <strong>der</strong> Nikolaistrasse wohnten, das vielleicht vermietet<br />

war o<strong>der</strong> <strong>von</strong> Verwandten o<strong>der</strong> Freunden bewohnt wurde. Sylvester er<strong>in</strong>nert sich an<br />

die Hobelbank, die er zu Weihnachten geschenkt bekam. Papu hatte schwere<br />

Grippe, die er <strong>mit</strong> Wechselbä<strong>der</strong>n <strong>von</strong> sehr heissem und eiskaltem Wasser kurierte.<br />

Unten im Haus waren verwundete Soldaten e<strong>in</strong>quartiert worden. Kurz bevor wir<br />

flüchteten, sah Tatjana deutschbaltische Zivilgefangene, ane<strong>in</strong>an<strong>der</strong>gefesselt<br />

vorbeiziehen. Sigrid Recke war gerade bei uns und hoffte, vielleicht <strong>in</strong> diesem<br />

traurigen Zug ihre Eltern zu sehen, die kurz vorher gefangen genommen worden<br />

waren. Als sie im März ermordet wurden, waren wir schon längst <strong>in</strong> Deutschland.<br />

Tatjana sah Mamu am Fenster des Krankenzimmers <strong>in</strong> Wismar, <strong>in</strong> dem Roman und<br />

ich schwer krank lagen, we<strong>in</strong>en, nachdem sie die Namen <strong>von</strong> Walter und Al<strong>in</strong>e <strong>von</strong><br />

<strong>Wildemann</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Zeitung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Liste <strong>der</strong> ermordeten Balten gesehen hatte.Erst<br />

jetzt im Januar 1919 beschlossen die meisten deutschbaltischen Gutsbesitzer nach<br />

Deutschland zu fliehen und Heimat und Besitz aufzugeben. Sie hatten wohl auf die<br />

Befreiung <strong>von</strong> den Bolschewisten durch die „Baltische Landeswehr“ gehofft.<br />

Diese Baltische Landeswehr war schon im November 1918 nach <strong>der</strong> Gründung <strong>der</strong><br />

Republik Lettland unter M<strong>in</strong>isterpräsident Ulmanis durch e<strong>in</strong>en Vertrag zwischen<br />

dem deutschen Bevollmächtigten W<strong>in</strong>nig und dem lettischen Verteidigungsm<strong>in</strong>ister<br />

Zälitis vere<strong>in</strong>bart worden, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Absicht, das E<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>gen <strong>der</strong> Bolschewisten zu<br />

verh<strong>in</strong><strong>der</strong>n. Aber lei<strong>der</strong> war <strong>in</strong>zwischen <strong>der</strong> sowjettreue Stucka an die Spitze <strong>der</strong><br />

jungen Republik gelangt, und die Bevölkerung war, wie schon erwähnt, den<br />

Deutschbalten, vor allem den Gutsbesitzern gegenüber, fe<strong>in</strong>dlich e<strong>in</strong>gestellt. So<br />

mussten die baltischen Län<strong>der</strong> den Schreckensw<strong>in</strong>ter 1918/1919 erleben, <strong>in</strong> dem<br />

hun<strong>der</strong>te <strong>von</strong> Deutschbalten zunächst gefangen genommen und später, soweit sie<br />

monatelanges Hungern <strong>in</strong> den Gefängnissen überlebt hatten, ermordet o<strong>der</strong><br />

verschleppt wurden. In Lettland herrschte Hungersnot, <strong>in</strong> Riga alle<strong>in</strong> starben 8000<br />

Menschen an Hunger. 1300 Gutsbesitzer, unter ihnen auch e<strong>in</strong>e Anzahl Letten,<br />

wurden enteignet. Aber durch den Terror und Hunger zersetzte sich die Autorität<br />

<strong>der</strong> bolschewistischen Führung, und die Regierung musste nach Libau fliehen. Nun<br />

endlich, Ende Februar 1919, konnte <strong>der</strong> Gegenschlag, den die Baltische<br />

Landeswehr, geme<strong>in</strong>sam <strong>mit</strong> e<strong>in</strong>er deutschen Gardedivision unter Graf Rüdiger <strong>von</strong><br />

<strong>der</strong> Goltz und e<strong>in</strong>er lettischen E<strong>in</strong>heit unter Oberst Kalpak seit Ende Dezember<br />

vorbereitet hatten, <strong>in</strong> Angriff genommen werden. Am 18. März wurde Mitau den<br />

Bolschewisten entrissen und bald war <strong>mit</strong> Hilfe e<strong>in</strong>er lettischen E<strong>in</strong>heit <strong>der</strong> grösste<br />

Familienchronik „<strong>von</strong> Wildeman“ Seite 22 <strong>von</strong> 57 Februar 1986


Teil Kurlands befreit. Baron Hans <strong>von</strong> Manteuffel hatte eigenmächtig die lettische<br />

Regierung gestürzt, die sich auf e<strong>in</strong> englisches Kriegsschiff retten konnte. Im Mai<br />

wurde auch Riga befreit, wobei e<strong>in</strong>e lettische Brigade und e<strong>in</strong>e russische Abteilung<br />

unter Fürst Lieven <strong>mit</strong>wirkten, nachdem e<strong>in</strong> Stosstrupp unter Manteuffel die<br />

Dünabrücken gestürmt hatte. Bis Ende 1919 gab es noch viel militärisches und<br />

politisches H<strong>in</strong> und Her, wo Landeswehr und Deutsche lei<strong>der</strong>, um ihre Stellung im<br />

Osten zu behaupten, auch gegen nichtrote Esten und Letten kämpften. Aber <strong>der</strong><br />

Freiheitsdrang <strong>der</strong> baltischen Völker siegte schliesslich über die Pläne <strong>der</strong><br />

Weissrussen, <strong>der</strong> Deutschen und <strong>der</strong> Deutschbalten, und so wurde im Sommer<br />

1920 die schon im März 1918 <strong>in</strong> Brest-Litowsk vere<strong>in</strong>barte Selbständigkeit <strong>der</strong><br />

Län<strong>der</strong> Lettland, Estland und Litauen endgültig verwirklicht, und die<br />

antibolschewistischen baltischen und deutschen E<strong>in</strong>heiten wurden aufgelöst. Ich<br />

habe die politische Entwicklung ziemlich ausführlich dargestellt, da ja unser<br />

Schicksal eng da<strong>mit</strong> verwoben ist.<br />

Gegen Ende Januar 1919 war uns geraten (o<strong>der</strong> befohlen) worden, sofort das Land<br />

zu verlassen. Ob wir vor <strong>der</strong> Flucht noch e<strong>in</strong>mal nach Blaupomusch gekommen<br />

s<strong>in</strong>d, weiss ich nicht. Aber ich er<strong>in</strong>nere mich an das E<strong>in</strong>packen <strong>in</strong> Kisten. Ausser<br />

persönlichen Klei<strong>der</strong>n konnten wir nur etwas Silber, Schmuck und zwei Uhren<br />

<strong>mit</strong>nehmen. Ich fragte Mamu, warum sie so schnell macht. Mamu sagte, dass sie<br />

nur 24 Stunden Zeit zum Packen habe. Mit dem letzten Zug an e<strong>in</strong>em sehr kalten<br />

Tag, <strong>der</strong> aus Mitau fuhr, gelangten wir nach Libau und konnten auf e<strong>in</strong><br />

bereitstehendes Schiff gehen, das uns nach Stett<strong>in</strong> br<strong>in</strong>gen sollte. Vielleicht war es<br />

e<strong>in</strong> deutsches, aber es halfen auch englische Schiffe bei <strong>der</strong> Evakuierung <strong>der</strong><br />

Zivilbevölkerung. Papu, <strong>der</strong> sich ja bei <strong>der</strong> Landeswehr gemeldet hatte, blieb<br />

zurück. Die Grosseltern und Tante Magda <strong>in</strong> Blaupomusch hatten sich schon <strong>von</strong><br />

Oberost, ehe diese deutsche Behörde im November aufgelöst wurde,<br />

Passiersche<strong>in</strong>e geben lassen, um <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Bahn nach Deutschland zu fahren. So<br />

fuhren sie im Januar nach Doberan <strong>in</strong> Mecklenburg, wo sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

Flüchtl<strong>in</strong>gsheim unterkamen. Das schöne Gut, die Heimat, alles was sie besassen,<br />

blieb zurück, musste aufgegeben werden <strong>von</strong> zwei alten Menschen, die es <strong>in</strong> den<br />

ihnen noch verbliebenen Jahren sehr schwer haben sollten. - Papu blieb <strong>in</strong> Lettland<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Landeswehr und kam als Oberleutnant zum Freikorps <strong>von</strong> Brandis.<br />

Sylvester er<strong>in</strong>nert sich, dass unser Schiff auf e<strong>in</strong> Sandbank lief, aber es wurde<br />

wie<strong>der</strong> flott und kam schliesslich <strong>in</strong> Stett<strong>in</strong> an. Das Schiff war sehr überfüllt <strong>mit</strong><br />

Menschen jeden Alters, darunter natürlich auch kranke K<strong>in</strong><strong>der</strong>. In Stett<strong>in</strong> wurden<br />

zunächst alle <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Schule untergebracht. Wir verbrachten die Nacht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

grossen Saal, an den ich mich gut er<strong>in</strong>nere; l<strong>in</strong>ks <strong>von</strong> mir schnarchte e<strong>in</strong> alter Mann<br />

ganz schrecklich. Zum Glück lag Mamu auf me<strong>in</strong>er an<strong>der</strong>en Seite. Entwe<strong>der</strong> dort<br />

o<strong>der</strong> schon auf dem Schiff war me<strong>in</strong> Kopf auf Läuse untersucht worden, was mich<br />

sehr kränkte; den Geschwistern g<strong>in</strong>g es sicher ähnlich. Von dort fuhr Mamu <strong>mit</strong> uns<br />

nach Gamehl, e<strong>in</strong>em wun<strong>der</strong>schönen Gut bei Wismar <strong>in</strong> Mecklenburg, zu ihrer<br />

Schwester, unserer Tante Grete und Onkel Achim <strong>von</strong> Stralendorff. Dort waren fünf<br />

K<strong>in</strong><strong>der</strong>, ungefähr <strong>in</strong> unserem Alter, nämlich Claus, etwas älter als Sylvester, dann<br />

Ada, Gisela, Peter und Fri<strong>der</strong>un, die etwa 2 Jahre jünger ist als ich. Es war noch<br />

W<strong>in</strong>ter als wir nach Gamehl kamen. Lei<strong>der</strong> hatten Roman und ich uns auf dem<br />

Schiff angesteckt und wurden nach wenigen Tagen sehr krank an Keuchhusten,<br />

wozu bei Roman noch Scharlach und bei mir schwere Lungenentzündung kam. So<br />

wurden wir sofort <strong>in</strong>s Krankenhaus nach Wismar gebracht, schon um nicht die<br />

ganze K<strong>in</strong><strong>der</strong>schar anzustecken. An diese Fahrt <strong>in</strong> <strong>der</strong> geschlossenen Kutsche bei<br />

Familienchronik „<strong>von</strong> Wildeman“ Seite 23 <strong>von</strong> 57 Februar 1986


hohem Fieber kann ich mich sehr gut er<strong>in</strong>nern. In me<strong>in</strong>em Kopf sang und dröhnte<br />

das Fieber, die Pferdehufe klopften, die Rä<strong>der</strong> ratterten und knirschten, und zum<br />

Fenster h<strong>in</strong>aus war die weite weisse Landschaft, schon etwas dämmrig am<br />

Nach<strong>mit</strong>tag dieses kurzen nördlichen W<strong>in</strong>tertages. Aber am e<strong>in</strong>drücklichsten waren<br />

die Telefonstangen, die <strong>in</strong> gleichmässigen Abständen schwarz vor <strong>der</strong> weissen<br />

Landschaft am Fenster vorbeizogen. Roman und ich haben irgend e<strong>in</strong> Spiel <strong>mit</strong><br />

ihnen gemacht. Entwe<strong>der</strong> haben wir sie gezählt o<strong>der</strong> irgende<strong>in</strong> Wort gesagt bei<br />

je<strong>der</strong> Stange, ich weiss es nicht mehr. Im Geiste sehe ich uns noch heute so<br />

deutlich fahren:<br />

Roman auf dem Sitz mir gegenüber, Mamu neben mir, die schwarzen Stangen<br />

draussen und unsere Rufe bei je<strong>der</strong>. Wir waren lange <strong>in</strong> dem Krankenhaus. Die<br />

beiden Grossen g<strong>in</strong>gen <strong>in</strong> Wismar zur Schule und wohnten dort bei jemandem. In<br />

dieser Zeit hat wohl auch Mamu gelegentlich <strong>in</strong> Wismar gewohnt, um <strong>in</strong> unserer<br />

Nähe zu se<strong>in</strong>, denn sie kam viel zu uns. Ich muss sehr schwer krank gewesen se<strong>in</strong>,<br />

denn ich er<strong>in</strong>nere mich, wie <strong>der</strong> Arzt an me<strong>in</strong>em Bett stand und den Kopf schüttelte<br />

und etwas sagte, was wohl heissen sollte, dass es ziemlich hoffnungslos war. Aber<br />

vielleicht habe ich dies auch später, als ich wie<strong>der</strong> gesund war, <strong>von</strong> Mamu o<strong>der</strong><br />

Tatjana gehört, denn welcher Arzt würde so etwas am Bett e<strong>in</strong>es Patienten sagen?<br />

E<strong>in</strong>mal erschien Tatjana <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em roten Kleid an me<strong>in</strong>em Bett. Nun gab es zu jener<br />

Zeit nichts was ich mir mehr wünschte, als e<strong>in</strong> rotes Kleid und e<strong>in</strong>e Schere. Mamu<br />

versprach mir beides, wenn ich gesund würde. Ich wurde es, trotz <strong>der</strong> Rosskur im<br />

Krankenhaus. Mager und geschwächt wie ich war, schrie ich, wenn ich vor me<strong>in</strong><br />

Bett treten musste, um mich <strong>von</strong> <strong>der</strong> Schwester <strong>in</strong> e<strong>in</strong> grosses nasses und eiskaltes<br />

Laken e<strong>in</strong>wickeln zu lassen, <strong>in</strong> dem ich dann lange bewegungslos liegen musste.<br />

Roman wurde schneller gesund, und ich habe ihn schrecklich beneidet, wenn ich<br />

ihn auf dem Gang herumlaufen sah. Als das Schlimmste vorüber war, musste ich<br />

<strong>mit</strong> me<strong>in</strong>en fünfe<strong>in</strong>halb Jahren wie<strong>der</strong> gehen lernen. Ich sehe noch den Arzt <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Zimmerecke sitzen und mir zurufen, ich solle <strong>von</strong> me<strong>in</strong>em Bett bis zu ihm kommen.<br />

Zunächst g<strong>in</strong>g es auf allen Vieren und allmählich auch auf zwei Be<strong>in</strong>en. Es war<br />

herrlich, als es <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kutsche wie<strong>der</strong> zurück nach Gamehl g<strong>in</strong>g - man fuhr die 8 Km<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Stunde. Es wurde dann e<strong>in</strong> herrlicher Sommer <strong>in</strong> Gamehl, <strong>in</strong> dem wir dick<br />

und rund gefüttert wurden. Die Stralendorffk<strong>in</strong><strong>der</strong> hatten Hauslehrer, Sylvester und<br />

Tatjana waren <strong>in</strong> Wismar. Roman hatte durch die Krankheit den Schulanfang<br />

verpasst. Vielleicht hatte er vorher <strong>in</strong> Mitau schon Unterricht gehabt, denn er war ja<br />

schon siebene<strong>in</strong>halb Jahre alt als wir flüchteten. In den Ferien waren wir alle neun<br />

K<strong>in</strong><strong>der</strong> zusammen <strong>in</strong> Gamehl, was vielleicht für Tante Grete und Onkel Achim etwas<br />

viel war. Onkel Achim war sehr blass und sah immer etwas leidend aus. Er hatte <strong>in</strong><br />

jungen Jahren Tuberkulose gehabt und sich wohl nie ganz erholt. Er beschäftigte<br />

sich viel <strong>mit</strong> se<strong>in</strong>en Büchern und <strong>mit</strong> Ahnenforschung und war für uns sehr<br />

vornehme Repektsperson.<br />

Onkel Achim hat den E<strong>in</strong>zug <strong>der</strong> Russen am Ende des zweiten Weltkrieges nicht<br />

lange überlebt. Jetzt liegt Gamehl <strong>in</strong> <strong>der</strong> DDR, und man braucht e<strong>in</strong> Visum, um<br />

h<strong>in</strong>zukommen. Als ich 1981 dorth<strong>in</strong> kam, fand ich das schöne Gutshaus völlig<br />

verwahrlost und teilweise als Unterkunft für alte Menschen benutzt. E<strong>in</strong>e <strong>der</strong> Alten,<br />

die ehemals Stubenmädchen bei Stralendorffs gewesen war, führte mich durch die<br />

alten, nicht wie<strong>der</strong>zuerkennenden Räume im ersten Stock und zeigte mir das<br />

Schlafzimmer vom „Herrn Kammerherr“, den sie <strong>in</strong> bester Er<strong>in</strong>nerung hatte. Onkel<br />

Achim war Kammerherr beim Grossfürsten <strong>von</strong> Mecklenburg gewesen <strong>in</strong> alter<br />

Familienchronik „<strong>von</strong> Wildeman“ Seite 24 <strong>von</strong> 57 Februar 1986


feudaler Zeit. Aber ausser dass wir dort als Heimatlose aufgenommen wurden, auch<br />

manchmal später <strong>in</strong> den Sommerferien <strong>in</strong> Gamehl se<strong>in</strong> durften und unser<br />

allerletztes geme<strong>in</strong>sames Zusammense<strong>in</strong> <strong>mit</strong> beiden Eltern kurz vor Papus und<br />

Romans Ausreise nach Südafrika dort erleben durften, hat Gamehl noch e<strong>in</strong>e<br />

an<strong>der</strong>e, traurige Bedeutung für uns: <strong>Unser</strong>e Mamu erlitt dort e<strong>in</strong>en Gehirnschlag<br />

und starb im März 1939, nachdem sie nach 10 Jahren des Kummers, <strong>der</strong><br />

E<strong>in</strong>samkeit und Krankheit <strong>in</strong> Süd- und Südwestafrika nach Deutschland gekommen<br />

war, um gesund zu werden. E<strong>in</strong>en Tag vor ihrer beabsichtigten E<strong>in</strong>schiffung <strong>in</strong><br />

Hamburg ist sie <strong>mit</strong> 57 Jahren schmerzlos aus diesem Leben h<strong>in</strong>ausgeglitten,<br />

dessen Härten für sie nicht tragbar waren und das ihr <strong>in</strong> <strong>der</strong> Folge durch den<br />

zweiten Krieg noch viel Schwereres auferlegt hätte. So brennend gern wir<br />

Geschwister Mamu geholfen hätten und auch unser Möglichstes taten, ihr Leben zu<br />

erleichtern, konnten wir doch nicht wirklich helfen. Sylvester und Roman hatten<br />

Mamu die Reise nach Deutschland ermöglicht, diese Reise, <strong>der</strong>en Ende sie gnädig<br />

an das letzte Ziel führte.<br />

Im Sommer 1919 waren wir neun K<strong>in</strong><strong>der</strong> zusammen <strong>in</strong> Gamehl, und jeden Abend<br />

betete ich <strong>mit</strong> Mamu, dass Papu bald zu uns zurückkommen möge. Wir besuchten<br />

die Grosseltern <strong>in</strong> Doberan und sahen dort auch die Geschwister Recke, die nach<br />

<strong>der</strong> Beerdigung ihrer Eltern <strong>mit</strong> den kle<strong>in</strong>en Stiefbrü<strong>der</strong>n Joachim (Jochi) und Georg<br />

(Ulli) auch nach Mecklenburg gekommen waren. Die Recke-Geschwister waren:<br />

Gisela, Renee, Sigrid und Claus-Jürgen, <strong>der</strong> etwa gleich alt war wie Sylvester. Jochi<br />

starb im Oktober 1919, und <strong>der</strong> kle<strong>in</strong>e Ulli, so alt wie ich, kam im Jahr darauf <strong>in</strong><br />

unsere Familie. Ropps (Onkel Paul, Tante Elli <strong>mit</strong> Lydia und Gert) waren nach<br />

Mecklenburg gekommen und lebten <strong>in</strong> Rostock. E<strong>in</strong>e schwere Zeit des Abwartens<br />

war es für alle, wusste doch niemand, wie es im Baltikum weitergehen würde, wo<br />

jetzt noch gekämpft wurde.Wir hatten Glück, auf dem schönen Gut leben zu dürfen,<br />

bis Papu zurückkam. Dass die Stralendorff-K<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>in</strong> unserem Alter waren, war<br />

natürlich beson<strong>der</strong>s günstig für alle Spiele und Streiche, die K<strong>in</strong><strong>der</strong> sich so<br />

ausdenken. Wahrsche<strong>in</strong>lich wurde <strong>der</strong> Trubel für Tante Grete und Onkel Achim<br />

etwas viel, aber das hat uns damals kaum gekümmert. Sylvester wurde <strong>von</strong> Claus<br />

über die Herkunft <strong>der</strong> Babies aufgeklärt. Merkwürdigerweise war er ahnungslos trotz<br />

dem Landleben <strong>in</strong> Blaupomusch. Als Claus ihm nun den Vorgang erklärte, war<br />

Sylvester ganz ungläubig und me<strong>in</strong>te, dass man dann doch lullull mache. Aber<br />

Claus versicherte ihm, dass das so gemacht wird und liess ihn gleichzeitig<br />

nie<strong>der</strong>knien und schwören, dass er niemandem weitersagen würde, woher er es<br />

weiss. Claus selber hatte es vom Kutscher erfahren, also auch nichts <strong>von</strong> den<br />

Tieren auf dem Gut gelernt! Nun zu Papu, <strong>der</strong> ja zurückgeblieben war, um sich <strong>der</strong><br />

Baltischen Landeswehr im Kampf gegen die Bolschewiken anzuschliessen, welcher<br />

etwa am 20. Februar 1919 begann. Mitau wurde am 18. März den Bolschewisten<br />

entrissen. Wenige Tage vorher am 14. hatten diese die Gefängnisse geleert und die<br />

gefangenen Männer und Frauen zur Stadt h<strong>in</strong>ausmarschieren lassen, da<strong>mit</strong> sie<br />

nicht den antibolschewistischen Befreiern <strong>in</strong> die Hände fielen. 32 wurden<br />

erschossen - wohl weil sie zu verhungert waren, um gehen zu können - unter diesen<br />

waren am 14. März Tante Al<strong>in</strong>e und Onkel Walter. Papu nahm an diesen letzten<br />

Kämpfen um Mitau nicht teil und wusste daher nichts vom Schicksal <strong>von</strong> Walter und<br />

Al<strong>in</strong>e. Denn am 20. März schrieb er e<strong>in</strong>e fröhliche Karte <strong>von</strong> irgendwo (<strong>in</strong><br />

Königsberg zur Post gegeben) an Mamu, dass es ihm gut geht, dass er nicht <strong>mit</strong><br />

Friedel nach Kolberg gefahren sei, denn, so schreibt er „es geht doch nicht, dass<br />

<strong>der</strong> E<strong>in</strong>zug <strong>in</strong> Mitau ohne mich stattf<strong>in</strong>det“. Dabei hatte dieser schon am 18.<br />

Familienchronik „<strong>von</strong> Wildeman“ Seite 25 <strong>von</strong> 57 Februar 1986


stattgefunden, aber die Befreier kamen zu spät, um die Gefangenen zu retten. Als<br />

Papu nach Mitau kam, war alles vorüber, die Stadt befreit, die schrecklichen<br />

Gefängnisse geleert, aber lei<strong>der</strong> nicht <strong>von</strong> den eigenen Kräften, die Insassen tot<br />

o<strong>der</strong> verschleppt. Welch masslose Enttäuschung für Papu, vom Tod des Bru<strong>der</strong>s<br />

und <strong>der</strong> Schwäger<strong>in</strong> zu erfahren, nachdem ihm doch immer die Befreiung <strong>von</strong><br />

Walter und Al<strong>in</strong>e vor Augen gestanden hatte - wie hatte er sie pflegen und<br />

aufpäppeln wollen nach <strong>der</strong> furchtbaren Hungerzeit im Gefängnis. Doch nun war<br />

alles aus. Tot kamen sie <strong>in</strong> das geliebte Waldeck zurück, wo Anfang April die<br />

Beerdigung im Beise<strong>in</strong> aller K<strong>in</strong><strong>der</strong>, Papu, Frl. Krüger und wohl noch vieler an<strong>der</strong>er<br />

Verwandten und Freunde stattfand. Danach fuhr Frl. Krüger <strong>mit</strong> den vier Grossen,<br />

dem kranken Jochi und Ulli nach Mecklenburg. Man kann sich vorstellen, <strong>mit</strong> welch<br />

masslosem Zorn Papu dann gegen die Bolschewisten kämpfte. Am 22. Mai wurde<br />

Riga e<strong>in</strong>genommen. Danach war Papu, <strong>in</strong>zwischen zum Rittmeister beför<strong>der</strong>t, <strong>in</strong><br />

Salaty, e<strong>in</strong>em Kirchdorf, stationiert, das <strong>in</strong> Litauen nicht weit <strong>von</strong> Blaupomusch an<br />

<strong>der</strong> Musse liegt. Dort hatte er se<strong>in</strong> Quartier <strong>mit</strong> dem Bataillonsstab. Er schrieb am<br />

30. August an Grosspapa über se<strong>in</strong>e Tätigkeit und allerlei Unannehmlichkeiten. So<br />

zum Beispiel waren zwei se<strong>in</strong>er Leute <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Bataillonskasse abgehauen, <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

sich e<strong>in</strong>e grosse Summe Regierungs- und Privatgel<strong>der</strong> befand. Er schrieb, dass er<br />

wohl <strong>von</strong> den Vorgesetzten „e<strong>in</strong>s auf den Hut kriegen würde dafür, aber das sei ihm<br />

gleichgültig, da er ja nicht die Absicht habe, Major zu werden“. Da er e<strong>in</strong>en<br />

schlechten Adjutanten und zu wenig Offiziere hatte, hatte er sehr viel zu tun. Er<br />

schreibt recht zuversichtlich, dass es möglicherweise doch zu e<strong>in</strong>em „deutschrussischen<br />

Zusammenschluss kommen wird. Hier<strong>in</strong> sehe ich die e<strong>in</strong>zige Rettung für<br />

beide Län<strong>der</strong> und auch für unsere kle<strong>in</strong>e Heimat“. Er spricht sogar da<strong>von</strong>, „Gertrud<br />

und die K<strong>in</strong><strong>der</strong> nach Blaupomusch zu nehmen, denn wie Du selbst weisst, das<br />

Leben <strong>in</strong> Blaupomusch dünkt mir das Schönste auf <strong>der</strong> ganzen Welt“. Aber er hielt<br />

es doch für zu unsicher, da Raub und Plün<strong>der</strong>ung an <strong>der</strong> Tagesordnung waren und<br />

„so müsse man sich doch e<strong>in</strong>ige Zeit gedulden“. Manche Gutsbesitzer waren wie<strong>der</strong><br />

da, um nach dem Rechten zu sehen. Onkel Paul war auch wie<strong>der</strong> nach<br />

Eichenpomusch gekommen, um die Ernte zu verkaufen. Papu hatte auch die Ernte<br />

<strong>in</strong> Blaupomusch e<strong>in</strong>br<strong>in</strong>gen lassen, um so viel wie möglich zu verkaufen und<br />

Grosspapa Geld schicken zu können. Er hatte neben se<strong>in</strong>er Bataillonsarbeit nicht<br />

viel Zeit, sich um Blaupomusch zu kümmern, so schreibt er: „heute abend will ich<br />

wie<strong>der</strong> auf e<strong>in</strong>e Stunde nach Blaupomusch reiten, um dort nach dem Rechten zu<br />

sehen“. Er nahm im September Urlaub, um uns und se<strong>in</strong>e Eltern <strong>in</strong> Mecklenburg zu<br />

besuchen. Er nahm alles Geld <strong>mit</strong>, das er aus dem Verkauf <strong>der</strong> Ernte<br />

herausgeschlagen hatte. Mittlerweile war es für uns sehr nötig geworden, dass wir<br />

e<strong>in</strong> eigenes Heim bekamen, da wir den Verwandten <strong>in</strong> Gamehl nicht länger zur Last<br />

fallen konnten. Papu mietete <strong>in</strong> Misdroy, wo sich viele Balten e<strong>in</strong>gefunden hatten,<br />

für uns e<strong>in</strong> Haus <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gartenstrasse.<br />

Er selbst g<strong>in</strong>g noch für e<strong>in</strong>ige Monate zurück nach Salaty, denn er war noch Offizier<br />

<strong>der</strong> Baltischen Landeswehr. Mamu hat <strong>in</strong> <strong>der</strong> Zeit viel Angst um Papu<br />

ausgestanden, was nach dem Mord an Onkel Walter und Tante Al<strong>in</strong>e, allen<br />

ausgestandenen Aengsten und Schrekken und den vielen Tausenden <strong>von</strong> Toten<br />

<strong>der</strong> russischen Revolution nur zu begreiflich war. Mamu betete <strong>mit</strong> mir jeden Abend,<br />

wenn ich im Bett lag, nach dem üblichen Nachtgebet, dass <strong>der</strong> liebe Gott doch bald<br />

Papu gesund zu uns zurückbr<strong>in</strong>gen möge. Wir wurden erhört. Als es immer<br />

deutlicher wurde, dass die baltischen Län<strong>der</strong> selbständig werden würden und die<br />

Güter enteignet, wobei die Besitzer <strong>in</strong> Litauen nur 150 ha behalten durften und <strong>der</strong><br />

Familienchronik „<strong>von</strong> Wildeman“ Seite 26 <strong>von</strong> 57 Februar 1986


ganze Rest <strong>mit</strong> nur 3% des Wertes entschädigt wurde, gab Papu alle Hoffnung auf<br />

e<strong>in</strong> Leben <strong>in</strong> <strong>der</strong> Heimat auf, nahm se<strong>in</strong>en Abschied und kam zu uns, um <strong>in</strong><br />

Deutschland e<strong>in</strong>en neuen Anfang zu machen.<br />

Mamu zog also <strong>mit</strong> uns K<strong>in</strong><strong>der</strong>n im Herbst 1919 nach Misdroy.Nach e<strong>in</strong>igen<br />

Monaten kam Papu und holte auch die Grosseltern und Tante Magda nach Misdroy,<br />

wo er ihnen e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e Wohnung an <strong>der</strong> Bergstrasse mietete. Misdroy liegt <strong>in</strong><br />

Pommern an <strong>der</strong> Ostsee, nördlich <strong>von</strong> Stett<strong>in</strong>. Sylvester, Tatjana und Roman g<strong>in</strong>gen<br />

dort <strong>in</strong> die Baltenschule, die zu <strong>der</strong> Zeit unter <strong>der</strong> Leitung <strong>von</strong> Direktor Hunnius für<br />

die K<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>der</strong> geflüchteten Balten e<strong>in</strong>gerichtet worden und anfangs noch sehr kle<strong>in</strong><br />

und provisorisch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Hotel untergebracht war. Für Papu war es e<strong>in</strong>e Zeit des<br />

verzweifelten Suchens nach e<strong>in</strong>em Gel<strong>der</strong>werb.E<strong>in</strong>e schwere Aufgabe, heimat- und<br />

<strong>mit</strong>tellos e<strong>in</strong>en neuen Anfang zu f<strong>in</strong>den <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Deutschland, <strong>in</strong> dem nach dem<br />

verlorenen Krieg grosse Not und Arbeitslosigkeit herrschten. In se<strong>in</strong>em Beruf als<br />

Jurist <strong>mit</strong> e<strong>in</strong>er russischen Ausbildung bestand kaum Aussicht. Die Aufgabe, die<br />

grosse Familie durchzubr<strong>in</strong>gen und den K<strong>in</strong><strong>der</strong>n e<strong>in</strong>e gute Erziehung zu geben, war<br />

daher e<strong>in</strong>e überwältigende. Jetzt, zurückblickend können wir erfassen, <strong>mit</strong> welch<br />

wun<strong>der</strong>barem Schwung, Unternehmungsgeist und Temperament Papu an diese<br />

Aufgabe gegangen ist. Trotzdem hatte er es sehr schwer und wurde nicht vom<br />

Glück begünstigt. Aber wie haben die Eltern trotz <strong>der</strong> sie bedrückenden grossen<br />

Sorgen es verstanden, uns e<strong>in</strong> fröhliches, unbeschwertes Familienleben zu<br />

schaffen, <strong>mit</strong> Festen und Freuden, voller Wärme und Geborgenheit. Diese neun<br />

Jahre <strong>von</strong> 1920 bis 1929 <strong>mit</strong> unseren e<strong>in</strong>zigartigen, unvergesslichen Eltern s<strong>in</strong>d als<br />

unbeschwerte glückliche K<strong>in</strong>dheit <strong>in</strong> unserer Er<strong>in</strong>nerung geblieben. Mehr können<br />

auch wohlhabende Eltern ihren K<strong>in</strong><strong>der</strong>n nicht geben. Wie wenig machen die<br />

materiellen Umstände für K<strong>in</strong><strong>der</strong> aus! Das wurde mir so klar, als Sillo kürzlich sagte:<br />

„Eigentlich hat uns ja nie etwas gefehlt, wir hatten immer alles; uns wurde nichts<br />

abgeschlagen“. Das stimmt natürlich überhaupt nicht. Wir lebten sehr, sehr e<strong>in</strong>fach,<br />

was Klei<strong>der</strong>, Essen und alles An<strong>der</strong>e betraf, weil e<strong>in</strong>fach ke<strong>in</strong> Geld da war. Aber wir<br />

hatten es eben schön.<strong>Unser</strong>e Eltern waren fröhlich <strong>mit</strong> uns zusammen und zeigten<br />

uns ihre Sorgen und Nöte nicht. Kle<strong>in</strong>e Anlässe wurden zu grossen Freuden.<br />

Wieviel haben wir gesungen (auch viel russische Lie<strong>der</strong>), musiziert und gespielt,<br />

Gesellschaftsspiele und Theater gespielt. Papu konnte s<strong>in</strong>gen, nach Gehör Klavier<br />

spielen, dichten, Geschichten schreiben und wun<strong>der</strong>bar erzählen, Wahres und<br />

Erfundenes - er war e<strong>in</strong> herrlicher Unterhalter. Er dachte sich alles Mögliche für uns<br />

aus und wusste alles. Für Mamu, die eher ruhig und zurückhaltend war und, wenn<br />

ich das so sagen kann, mehr seelisch als körperlich lebte, war unser lebhafter<br />

Trubel wohl manchmal etwas viel, beson<strong>der</strong>s, wenn e<strong>in</strong>er <strong>von</strong> Papus Jagdhunden<br />

ihm abends vor dem Kam<strong>in</strong> auf den Schoss kroch und se<strong>in</strong> Gesicht leckte. Mamu,<br />

obschon e<strong>in</strong>e gute Jäger<strong>in</strong>, mochte die Berührung <strong>mit</strong> Hunden nicht sehr. Beide<br />

Eltern halfen uns oft <strong>mit</strong> den Schulaufgaben. Mamu hatte schon <strong>in</strong> Blaupomusch<br />

<strong>mit</strong> den beiden Grossen englisch gelernt - aus e<strong>in</strong>em blauen Büchle<strong>in</strong>, wie sich<br />

Tatjana er<strong>in</strong>nert, ihre und Sillos erste Begegnung <strong>mit</strong> dieser Sprache! Papu, <strong>der</strong><br />

Erzähler, half uns bei den Aufsätzen, bei Geschichte, Natur- und Erdkunde und<br />

entsetzte sich darüber, wie mangelhaft unser Unterricht war.<br />

Doch nun <strong>der</strong> Reihe nach. Im Sommer 1920 zogen wir nach Lüchenth<strong>in</strong>, e<strong>in</strong>em Dorf<br />

<strong>in</strong> Kreis Camm<strong>in</strong> <strong>in</strong> Pommern, nordöstlich <strong>von</strong> Misdroy, auch an <strong>der</strong> Ostsee<br />

gelegen. Der Grund für diese Umsiedlung war e<strong>in</strong> grosses Torfmoor, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Nähe<br />

<strong>von</strong> Lüchenth<strong>in</strong>, wo Papu <strong>mit</strong> e<strong>in</strong>er Masch<strong>in</strong>e Torf zum Verkauf stechen wollte. Die<br />

Masch<strong>in</strong>e kaufte er <strong>von</strong> dem Geld, das er als Entschädigungszahlung für<br />

Familienchronik „<strong>von</strong> Wildeman“ Seite 27 <strong>von</strong> 57 Februar 1986


Blaupomusch bekommen hatte. Die Idee war wohl gar nicht so schlecht, denn Torf<br />

war damals e<strong>in</strong> weit verbreitetes Heiz<strong>mit</strong>tel. Er wurde <strong>in</strong> Form <strong>von</strong> Ziegelste<strong>in</strong>en aus<br />

dem Moor gestochen, dann zum Trocknen aufgestapelt und schliesslich verkauft.<br />

Wir bezogen e<strong>in</strong> Haus am Waldrand ca. 1 Km ausserhalb des Bauerndorfes. Auf<br />

<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite des Waldstreifens war das Meer. Zum Haus gehörte e<strong>in</strong> Stall, e<strong>in</strong><br />

grosser Garten und natürlich e<strong>in</strong> Hundezw<strong>in</strong>ger, den wohl Papu gebaut hatte.<br />

Dieser wurde bald <strong>von</strong> dem scharfen Drahthaarrüden „Schnaps“ bewohnt, den<br />

Papu <strong>von</strong> se<strong>in</strong>em Freund, Herrn Sauerher<strong>in</strong>g kaufte. Im Stall hatten wir e<strong>in</strong> Pferd<br />

(e<strong>in</strong>en Fuchs), zwei Kühe, e<strong>in</strong> Schwe<strong>in</strong> und Hühner. Nach Möglichkeit haben wir<br />

<strong>von</strong> dem gelebt, was wir selbst produzierten, denn geldlich war unsere Lage sehr<br />

schlimm.Wir waren nun fünf K<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>mit</strong> Ulli, <strong>der</strong> genau <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Alter war und<br />

ganz zu uns gehörte. Dass dieser hellblonde liebe Junge als unser Bru<strong>der</strong> bei uns<br />

war, war für uns so selbstverständlich, das wir uns über den schrecklichen Verlust,<br />

den er erlitten hatte, ke<strong>in</strong>e Gedanken machten. Er war eben da, und unsere<br />

Elternwaren auch die se<strong>in</strong>en. Welche Trauer und Sehnsucht <strong>in</strong> dem Herzen dieses<br />

sechsjährigen Jungen waren, darüber haben wir K<strong>in</strong><strong>der</strong> nicht nachgedacht, und<br />

unsere Eltern konnten ihm kaum mehr se<strong>in</strong> als eben Mamu und Papu, genau wie<br />

uns an<strong>der</strong>n. Das Trauma dieses frühen plötzlichen Verwaistse<strong>in</strong>s kam Jahre später<br />

an die Oberfläche.<br />

Wie gesagt, war die Geldnot unendlich gross. Sylvester, Tatjana und Roman<br />

mussten e<strong>in</strong>en Hauslehrer haben, da die Stadt <strong>mit</strong> <strong>der</strong> höheren Schule unerreichbar<br />

war. Für die Wirtschaft kam das Ehepaar Ewald und Basse aus Litauen zu uns, das<br />

Stall, Hof, Garten, Haus und Küche besorgte, wobei Ewald auch beim Torfstich half.<br />

Dieses Unternehmen war e<strong>in</strong>e unglückliche Sache. Papu war <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Masch<strong>in</strong>e, die<br />

dauernd kaputt war, here<strong>in</strong>gelegt worden.Er hat <strong>mit</strong> dem Torfstich nur wenig<br />

verdient. So hat er alles mögliche probiert, um zu Geld zu kommen, z.B. versuchte<br />

er <strong>mit</strong> se<strong>in</strong>em russischen Freund Wolly Nolcken e<strong>in</strong>e Methode zu erf<strong>in</strong>den, <strong>mit</strong> <strong>der</strong><br />

man die Druckerschwärze aus dem Zeitungspapier entfernen konnte, sodass das<br />

Papier wie<strong>der</strong> verwendet werden konnte. Es war sicher ke<strong>in</strong> Erfolg, denn wir haben<br />

nie etwas da<strong>von</strong> gehört.Nur Tatjana er<strong>in</strong>nert sich heute noch an die Bottiche im<br />

Kellerraum, an denen er <strong>mit</strong> se<strong>in</strong>em Freund experimentierte. Nachts schrieb Papu -<br />

während <strong>der</strong> ganzen sorgenvollen Jahre <strong>in</strong> Deutschland - Geschichten für<br />

Zeitungen und Zeitschriften, vor allem für die Deutsche Jägerzeitung. Viele wurden<br />

gedruckt, denn diese Erzählungen, beson<strong>der</strong>s über Jag<strong>der</strong>lebnisse <strong>in</strong> Russland,<br />

waren wun<strong>der</strong>schön zu lesen. Lei<strong>der</strong> ist uns gar nichts da<strong>von</strong> erhalten geblieben.<br />

Aber obwohl die Geldnot sehr drückend war, wurde nicht darüber gesprochen. Wir<br />

K<strong>in</strong><strong>der</strong> blieben ganz unbelastet und konnten <strong>in</strong> Lüchenth<strong>in</strong> drei wun<strong>der</strong>schöne<br />

K<strong>in</strong>dheitsjahre verbr<strong>in</strong>gen. Wir hatten viel Musik, zwei Klaviere, auf denen Sillo und<br />

Tatjana (Nuschi o<strong>der</strong> Sanka) übten, manchmal gleichzeitig, was den ziemlich<br />

verrückten aber hochmusikalischen Hauslehrer Grand<strong>in</strong>ger veranlasste, die Treppe<br />

herunterzurasen, um e<strong>in</strong>en <strong>von</strong> beiden anzufahren, dass schrecklicherweise z.B. „f“<br />

statt „fis“ gespielt worden sei! Ach, dieser Grand<strong>in</strong>ger, er war wirklich ganz verdreht.<br />

Er dachte sich Blöds<strong>in</strong>nlie<strong>der</strong> aus <strong>mit</strong> s<strong>in</strong>nlosen Worten o<strong>der</strong> nur Silben. Diese<br />

wurden dann am Strand <strong>mit</strong> uns geübt. „Dess<strong>in</strong>g, Dess<strong>in</strong>g, ehrt vorbei im Bogen -<br />

dieses ist wirklich wahr, gänzlich ungelogen“ war so e<strong>in</strong> Lied. Da sassen wir und<br />

buddelten im Sand und lernten dabei Melodie und Worte <strong>von</strong> diesem Uns<strong>in</strong>n (und<br />

können sie heute noch). Grand<strong>in</strong>ger hiess Hans <strong>mit</strong> Vornamen und trug meistens<br />

grüne Kleidung. Da wir K<strong>in</strong><strong>der</strong> oft irgendetwas e<strong>in</strong>übten, was wir dann zu e<strong>in</strong>em<br />

Elterngeburtstag o<strong>der</strong> sonst e<strong>in</strong>er Gelegenheit vortrugen, -spielten o<strong>der</strong> sangen, war<br />

Familienchronik „<strong>von</strong> Wildeman“ Seite 28 <strong>von</strong> 57 Februar 1986


immer etwas los. Da gab es zum Beispiel e<strong>in</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>liebeslied <strong>von</strong> dem traurigen<br />

Hans, dessen Freund<strong>in</strong> Liesel böse <strong>mit</strong> ihm ist und schmollt. Er bittet und bettelt so<br />

lange, bis sie ihm wie<strong>der</strong> gut ist und ihm e<strong>in</strong>en Kuss gibt. Dieses Lied haben<br />

Sylvester und Tatjana sehr niedlich aufgeführt und hübsch gesungen. Aber<br />

niemand <strong>von</strong> uns wusste damals, dass Grand<strong>in</strong>ger irgendwo, wo er zuhause war,<br />

e<strong>in</strong>e Freund<strong>in</strong> Liesel hatte. Jedenfalls hat er diese Aufführung sehr übel genommen<br />

und war lange beleidigt. Er machte die verrücktesten Sachen <strong>mit</strong> Sillo und Nuschi;<br />

Sillo bekam <strong>von</strong> ihm 10 Pfennig dafür, dass er e<strong>in</strong>e Fliege am Fenster f<strong>in</strong>g und<br />

lebendig aufass. Als dann Nuschi <strong>mit</strong> schrecklicher Ueberw<strong>in</strong>dung dasselbe tat, um<br />

zu kostbaren 10 Pfennig zu kommen, kriegte sie sie nicht. Wir wissen nicht, ob<br />

Grand<strong>in</strong>ger e<strong>in</strong> guter Lehrer war. bee<strong>in</strong>druckend war wohl nur se<strong>in</strong> exzentrischer<br />

Uns<strong>in</strong>n. Er blieb auch nicht lange; nach ihm kam Tappe, an den ich mich kaum<br />

er<strong>in</strong>nere. Aber Sillo und Teddy sagen, dass er wi<strong>der</strong>lich war und bald<br />

herausgeschmissen wurde. Zuletzt hatten wir Fräule<strong>in</strong> Kamen, e<strong>in</strong>e fröhliche junge<br />

Lehrer<strong>in</strong>, die wir sehr liebten. Es muss unsern Eltern, die selbst <strong>mit</strong> ihrer<br />

vorzüglichen Schulbildung e<strong>in</strong> grosses Wissen hatten, schwer gefallen se<strong>in</strong>, ihre<br />

K<strong>in</strong><strong>der</strong> wechselnden und ungenügenden Lehrkräften anzuvertrauen. Aber e<strong>in</strong>en<br />

wirklich guten und erfahrenen Lehrer konnten sie sich nicht leisten.<br />

E<strong>in</strong>ige Monate ehe wir Lüchenth<strong>in</strong> verliessen, kam Sillo <strong>in</strong> e<strong>in</strong> strenges<br />

Jungen<strong>in</strong>ternat nach Kösl<strong>in</strong>. Lei<strong>der</strong> bestand er die Aufnahmeprüfung <strong>in</strong> die dortige<br />

Untertertia nicht und musste diese, zur grossen Enttäuschung <strong>von</strong> Fräule<strong>in</strong> Kamen<br />

wie<strong>der</strong>holen, die sehr <strong>mit</strong> ihm dafür gearbeitet hatte. Roman, Ulli und ich g<strong>in</strong>gen <strong>in</strong><br />

die 3 km entfernte Dorfschule. Roman aber nur für kurze Zeit, dann bekam auch er<br />

Hausunterricht. Natürlich g<strong>in</strong>gen wir zu Fuss, was damals selbstverständlich war.Es<br />

war e<strong>in</strong> langer Weg für die am Anfang erst sechsjährigen K<strong>in</strong><strong>der</strong>be<strong>in</strong>e. Zuerst g<strong>in</strong>gs<br />

<strong>von</strong> unserm Haus aus am Wald entlang bis auf die Strasse, dann am Dorf vorbei,<br />

wo sich oft Dorfk<strong>in</strong><strong>der</strong> anschlossen; dann weiter durch Getrei<strong>der</strong>fel<strong>der</strong> und e<strong>in</strong> Stück<br />

Wald, vor dem wir im Sommer Angst hatten, weil da oft Zigeuner <strong>mit</strong> ihrem Wagen<br />

lagerten. Es hiess, dass Zigeuner K<strong>in</strong><strong>der</strong> stehlen, daher rannten wir immer durch<br />

den Wald. Die Strassen waren Landwege für Pferdewagen, tief ausgefahren im<br />

schlechten Wetter, <strong>mit</strong> meistens e<strong>in</strong>em schmalen Fussweg an <strong>der</strong> Seite. Wir<br />

kannten jeden Baum, an dem wir vorbeikamen, das Gras, das an <strong>der</strong> Seite wuchs,<br />

die Blumen im Sommer, beson<strong>der</strong>s an den Kornfel<strong>der</strong>n, die Zäune und die Wiesen.<br />

Man wusste so genau, woran man noch vorbei musste, bis man zuhause o<strong>der</strong> <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Schule war, so vertraut waren all die kle<strong>in</strong>en Merkmale am Wege. Im W<strong>in</strong>ter<br />

war es oft schwer, wenn wir, fast noch im Dunkeln, <strong>in</strong> den Schnee h<strong>in</strong>aus mussten,<br />

<strong>in</strong> dem wir <strong>mit</strong> unsern hohen russischen Filzstiefeln, den Walenki, tief e<strong>in</strong>sanken.<br />

Ich er<strong>in</strong>nere mich so gut, wie erleichtert wir waren, wenn vom Dorf an <strong>der</strong> Schnee<br />

schon etwas e<strong>in</strong>getreten war <strong>von</strong> an<strong>der</strong>en K<strong>in</strong><strong>der</strong>n, die vor uns gegangen<br />

waren.Meistens überholte uns <strong>der</strong> Milchwagen, <strong>der</strong> frühmorgens die Milch <strong>in</strong> die<br />

Molkerei fuhr. Und manchmal wenn das Wetter ganz schlimm o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Schnee sehr<br />

hoch war, durften die Kle<strong>in</strong>sten bis Ramsberg <strong>mit</strong>fahren. Das war herrlich! Wenn wir<br />

allzu durchfroren und nass <strong>in</strong> die Schule kamen, holte uns Frau Rath, die Frau des<br />

Lehrers <strong>in</strong> ihre Küche zum Warmwerden und gab uns warme Milch - e<strong>in</strong> grosses<br />

Glück für uns! Die Schule bestand aus nur e<strong>in</strong>em Klassenzimmer, <strong>in</strong> dem 8<br />

Klassen, also K<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>von</strong> 6 bis 14 geme<strong>in</strong>sam unterrichtet wurden, etwa 30 o<strong>der</strong> 40<br />

<strong>in</strong>sgesamt. Herr Rath war sehr nett, und ich liebte ihn, auch wenn er mir im ersten<br />

Jahr me<strong>in</strong>en l<strong>in</strong>ken Arm auf dem Rücken festband, da<strong>mit</strong> ich <strong>mit</strong> <strong>der</strong> rechten Hand<br />

schreiben lernte. Aus lauter Liebe schenkte ich Herrn Rath sogar me<strong>in</strong>en eigenen<br />

Familienchronik „<strong>von</strong> Wildeman“ Seite 29 <strong>von</strong> 57 Februar 1986


weissen wun<strong>der</strong>schönen Hahn, den ich e<strong>in</strong>es Tages <strong>mit</strong> <strong>in</strong> die Schule nahm - e<strong>in</strong><br />

grosses Opfer. In <strong>der</strong> Pause sah ich ihn dann immer bei Frau Raths Hühnern. Ulli<br />

und ich wan<strong>der</strong>ten immer zusammen auf diesem langen Schulweg.Wirkliche<br />

Freundschaften <strong>mit</strong> den Dorfk<strong>in</strong><strong>der</strong>n gab es eigentlich nicht. Da war noch e<strong>in</strong>e Stelle<br />

auf dem Schulweg, wo wir im Sommer immer schrecklich rennen mussten: Auf<br />

e<strong>in</strong>er Koppel graste e<strong>in</strong>e Gänseherde <strong>mit</strong> mehreren Gantern, die uns böse zischend<br />

nachliefen. Wir fassten uns an den Händen und rannten, was wir konnten. E<strong>in</strong>e<br />

schreckliche Sache ereignete sich: Zwei K<strong>in</strong><strong>der</strong> unserer Schule, e<strong>in</strong><br />

Geschwisterpaar aus Lüchenth<strong>in</strong>, wurden, als sie während e<strong>in</strong>es Gewitters auf<br />

e<strong>in</strong>em Koppelzaun sassen, vom Blitz erschlagen. Am nächsten Tag mussten alle<br />

Lüchenth<strong>in</strong>er K<strong>in</strong><strong>der</strong> am Bett, <strong>in</strong> dem die schwarzverbrannten K<strong>in</strong><strong>der</strong>leichen lagen,<br />

e<strong>in</strong> Lied s<strong>in</strong>gen. Dieser letzte Dienst an den Mitschülern war selbstverständlich. Im<br />

W<strong>in</strong>ter veranstaltete die Schule e<strong>in</strong>e Weihnachtsaufführung, bei <strong>der</strong> wir meistens<br />

<strong>mit</strong>spielen durften, Ulli als Hirte und ich als Zwerg. Dabei wäre ich so gern e<strong>in</strong>mal<br />

e<strong>in</strong> Engel gewesen, aber das gab es nicht für mich, wohl weil ich damals noch zu<br />

kle<strong>in</strong> war. Zu diesen Proben mussten wir nach<strong>mit</strong>tags noch e<strong>in</strong>mal den langen<br />

kalten Weg nach Ramsberg gehen. E<strong>in</strong>mal, als ke<strong>in</strong>e Sicherheitsnadel zu f<strong>in</strong>den<br />

war, steckte Mamu mir me<strong>in</strong>en warmen Wollschal <strong>mit</strong> ihrer schönen kostbaren<br />

Rub<strong>in</strong>nadel fest. Abends, für den Heimweg, habe ich sie nicht richtig verschliessen<br />

können und kam ohne die Nadel nach Hause. Irgendwo war sie im tiefen Schnee<br />

verloren gegangen. Mamu war entsetzt, sagte aber ganz ruhig: „lass nur, wir gehen<br />

sie morgen suchen“. Das fand ich e<strong>in</strong>en unverständlichen, aussichtslosen<br />

Vorschlag, <strong>mit</strong> dem sie mich bestimmt nur trösten wollte. Wie sollte man e<strong>in</strong>e<br />

goldene Nadel auf e<strong>in</strong>em 3 km langen Weg im tiefen Schnee suchen? Der nächste<br />

Tag war Sonntag, und Mamu wan<strong>der</strong>te wirklich <strong>mit</strong> mir los. Zuerst g<strong>in</strong>g sie e<strong>in</strong>e<br />

ganze Zeitlang e<strong>in</strong>fach, ohne auf den Weg zu sehen. Als dann auf <strong>der</strong> l<strong>in</strong>ken Seite<br />

e<strong>in</strong>e Hecke kam, f<strong>in</strong>g sie an, <strong>in</strong>tensiv <strong>in</strong> den Schnee am Wegrand zu starren und<br />

hob unbegreiflicherweise nach kurzer Zeit die Nadel aus dem tiefen Schnee - e<strong>in</strong> für<br />

mich noch heute unfassbares Wun<strong>der</strong>. Als wir älter wurden, haben wir es noch<br />

mehrmals erfahren, und es wurde später und wird mir heute noch <strong>von</strong> Verwandten<br />

bestätigt, dass Mamu übers<strong>in</strong>nliche Kräfte besass, telepathische, hellseherische<br />

und magnetische Kräfte, wie sie auch e<strong>in</strong> gutes Medium für Hypnose und<br />

<strong>der</strong>gleichen war. Wegen dieser Veranlagungen litt Mamu ganz beson<strong>der</strong>s unter den<br />

Härten des Lebens - und wie schrecklich hart hat das Leben sie angefasst. Sie war<br />

so zart und still, liebevoll und empf<strong>in</strong>dsam.<br />

Kaum hörten wir sie je laut sprechen und nur sehr selten schimpfen. Ihr Leben und<br />

ihre ganze Liebe gehörten Papu und uns K<strong>in</strong><strong>der</strong>n. Aber das Heimweh nach<br />

Russland hat sie nie verlassen.Papu wohl auch nicht, aber durch se<strong>in</strong>e grosse<br />

Aktivität konnte er es wahrsche<strong>in</strong>lich besser verdrängen. Mamu hatte <strong>von</strong> uns<br />

K<strong>in</strong><strong>der</strong>n viel zu ertragen. Wir überfielen sie <strong>mit</strong> Zärtlichkeiten, die ihr gar nicht<br />

angenehm waren. Und weil wir wussten, dass ihr Zwiebelgeruch unerträglich war,<br />

assen wir im Garten Schnittlauch, um sie dann beson<strong>der</strong>s stürmisch zu küssen,<br />

jedenfalls tat ich das. Wie flegelhaft kann man sich benehmen, wenn man<br />

achtjährig ist und voller Dummheiten steckt!Mamu hasste Zwiebeln <strong>in</strong> je<strong>der</strong> Form,<br />

ebenso Quark und Schmand und vieles an<strong>der</strong>e, was Papu und wir K<strong>in</strong><strong>der</strong><br />

beson<strong>der</strong>s gern hatten.<br />

Wir haben viele russische Gerichte gegessen, die Papu oft selbst kochte. Mamu<br />

hatte so beson<strong>der</strong>e Passionen. Da waren die Hühner <strong>in</strong> Lüchenth<strong>in</strong> und später auch<br />

<strong>in</strong> Lüttkenhagen, die <strong>von</strong> Mamu gefüttert und versorgt - und <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em fürchterlichen<br />

Familienchronik „<strong>von</strong> Wildeman“ Seite 30 <strong>von</strong> 57 Februar 1986


Wirbel <strong>von</strong> Fe<strong>der</strong>n und Geschrei oft morgens nach zu erwartenden Eiern „getastet“<br />

- wurden. Für Mamu mussten die Eier ganz hart gekocht werden, während Papu sie<br />

gern weich o<strong>der</strong> auch ganz roh ass, also trank. So schlich er sich manchmal <strong>in</strong> den<br />

Stall und nahm e<strong>in</strong> Ei, das er dann austrank. Da die Hühner Nummern hatten und<br />

<strong>mit</strong> Fallnestern kontrolliert wurden, stimmte daher die Rechnung hier und da nicht.<br />

E<strong>in</strong>mal erg<strong>in</strong>g es Papu dabei ganz schlecht. Er hatte sich e<strong>in</strong> herrlich frisches Ei <strong>in</strong><br />

die Tasche gesteckt, um es irgendwo draussen auszutr<strong>in</strong>ken. Aber es kam gerade<br />

Besuch, man g<strong>in</strong>g h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> und unterhielt sich und Papu vergass das Ei vollständig.<br />

Plötzlich bemerkte er o<strong>der</strong> jemand an<strong>der</strong>s, dass über se<strong>in</strong>er Hosentasche e<strong>in</strong><br />

nasser, klebriger Fleck entstand.Schlimme Schwe<strong>in</strong>erei, das zerdrückte Ei <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Tasche! Wie haben wir alle und auch Mamu gelacht!<br />

E<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e Leidenschaft <strong>von</strong> Mamu war das Pilzesuchen. Sie konnte <strong>mit</strong> uns o<strong>der</strong><br />

auch alle<strong>in</strong> stundenlang <strong>in</strong> wildem Jagdfieber Pilze aufspüren und pflücken. Damals<br />

gab es noch viele Pilze <strong>in</strong> den Wäl<strong>der</strong>n. Sie waren natürlich <strong>in</strong> <strong>der</strong> knappen Zeit<br />

e<strong>in</strong>e grosse Hilfe für unsere Ernährung. Und alle zusammen suchten wir<br />

Blaubeeren, Preiselbeeren und wilde Erdbeeren im Wald, viele Stunden lang, <strong>von</strong><br />

Mücken zerstochen und <strong>mit</strong> <strong>von</strong> den Beeren gefärbten Händen, Mün<strong>der</strong>n und<br />

Zähnen. Die Beeren wurden roh <strong>mit</strong> Milch o<strong>der</strong> zu „Kissell“ gekocht gegessen, das<br />

ist e<strong>in</strong>e Art rote Grütze, aber durchsichtig und ziehig, die wir sehr liebten.<br />

„Kissell“ heisst sauer auf russisch.<br />

Auch im grossen Garten <strong>in</strong> Lüchenth<strong>in</strong> arbeitete Mamu viel. Da war viel Obst und<br />

alle Arten <strong>von</strong> Beeren, die e<strong>in</strong>gekocht wurden.E<strong>in</strong>e Plage waren die vielen wilden<br />

Kan<strong>in</strong>chen, die aus dem Wald und vom Feld <strong>in</strong> unseren Garten kamen und sich<br />

dort sattfrassen.<br />

Papu und Sillo schossen e<strong>in</strong>e Menge, daraus gab es guten Braten und Ragout.<br />

Sehr <strong>in</strong>teressant und spannend war Papus Birkensaftgew<strong>in</strong>nung. Dazu wurden<br />

e<strong>in</strong>ige <strong>der</strong> vielen Birken angebohrt, und <strong>in</strong> das Loch wurde e<strong>in</strong> dünnes Röhrchen<br />

gesteckt. Dies geschah im frühen Frühl<strong>in</strong>g, wenn <strong>der</strong> Saft <strong>in</strong> den Bäumen steigt. Der<br />

aus den Röhrchen tröpfelnde Saft wurde <strong>in</strong> Gefässen aufgefangen und zum Gären<br />

aufgestellt. Daraus entstand e<strong>in</strong> sehr erfrischendes, leicht alkoholhaltiges Getränk.<br />

Mamu spielte sehr gern und gut Karten und fuhr <strong>von</strong> Lüchenth<strong>in</strong> aus <strong>mit</strong> dem<br />

E<strong>in</strong>spännerwagen nach Schwenz, e<strong>in</strong>em Gut das <strong>von</strong> Köllers gehörte, <strong>mit</strong> denen wir<br />

befreundet waren, und wo sich die Skatdamen trafen. Die Köllerschen K<strong>in</strong><strong>der</strong> waren<br />

wohl älter als wir, jedenfalls hat die Tochter Cornelia, genannt Nechen, Tatjana aus<br />

<strong>der</strong> Ostsee vor dem Ertr<strong>in</strong>ken gerettet.<br />

Natürlich haben wir den ganzen Sommer h<strong>in</strong>durch und bis spät <strong>in</strong> den Herbst im<br />

Meer gebadet. Wir mussten nur durch e<strong>in</strong> Waldstück laufen, und da war das Meer.<br />

Wir bauten Burgen, machten Wan<strong>der</strong>ungen und suchten Bernste<strong>in</strong>, <strong>der</strong> <strong>in</strong> kle<strong>in</strong>en<br />

Stückchen angeschwemmt wurde. Wenn er sich zerbeissen liess, war er<br />

echt!Nachbarn und Freunde <strong>von</strong> uns waren <strong>von</strong> Brockhusens <strong>in</strong> Gross-Just<strong>in</strong>,<br />

e<strong>in</strong>em <strong>in</strong> <strong>der</strong> Nähe gelegenen Gut. Frau <strong>von</strong> Brockhusen war die Schwester <strong>von</strong><br />

Generalfeldmarschall <strong>von</strong> H<strong>in</strong>denburg, <strong>der</strong> sie gelegentlich besuchte. E<strong>in</strong>mal kam er<br />

<strong>mit</strong> Ludendorff zu uns zu Besuch. Uns wurde vorher e<strong>in</strong>geschärft, wie wir uns <strong>mit</strong> so<br />

hohen Gästen zu benehmen hatten. Später g<strong>in</strong>gen die Herren am Strand spazieren.<br />

Papu schickte mich zu ihnen, um sie zum Tee zu bitten. Ich hatte furchtbare Angst,<br />

aber schliesslich rannte ich h<strong>in</strong> und stotterte etwas zurecht. Natürlich war<br />

H<strong>in</strong>denburg sehr freundlich <strong>mit</strong> dem aufgeregten dummen Gör. Papu und die hohen<br />

Familienchronik „<strong>von</strong> Wildeman“ Seite 31 <strong>von</strong> 57 Februar 1986


Offiziere unterhielten sich lange darüber, wie sie im Kriege auf entgegengesetzten<br />

Seiten gekämpft hatten.<br />

In Lüchenth<strong>in</strong> wohnten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Haus am Wege zum Dorf die beiden Fräule<strong>in</strong><br />

Struck, bei denen Sylvester und Tatjana Tanzunterricht hatten. Die Bauern Zubke<br />

und Matter wohnten im Dorf. Papu sche<strong>in</strong>t <strong>mit</strong> ihnen geschäftlich zu tun gehabt zu<br />

haben, jedenfalls kamen sie gelegentlich zu irgendwelchen Besprechungen zu<br />

uns.Manchmal drehten sich diese Gespräche lei<strong>der</strong> auch um die <strong>von</strong> Sillo und<br />

Roman abgeschossenen Katzen <strong>der</strong> Bauern, was für Papu, <strong>der</strong> allerd<strong>in</strong>gs se<strong>in</strong>e<br />

Söhne zur Katzenfe<strong>in</strong>dschaft erzogen hatte, bei allen Schwierigkeiten, die er sonst<br />

schon hatte, nicht angenehm war. Dass Roman e<strong>in</strong>mal <strong>der</strong> verblüfften Frau Matter<br />

die Hand küsste, hat sicher vieles wie<strong>der</strong> gutgemacht. Als Papu e<strong>in</strong>mal verreist war,<br />

wurde Mamu e<strong>in</strong>es Nachts durch das Geräusch des Schliessens o<strong>der</strong> Oeffnens <strong>der</strong><br />

Pferdestalltür wach.Wir K<strong>in</strong><strong>der</strong> und Elferts schliefen fest. Mamu zog e<strong>in</strong>en Mantel<br />

an, setzte ihren Filzhut auf und nahm das Gewehr <strong>mit</strong>. Sche<strong>in</strong>bar hörten die beiden<br />

Diebe die Haustür, als Mamu h<strong>in</strong>ausg<strong>in</strong>g und liefen um den Stall herum. Mamu sah<br />

sie sich umdrehen und e<strong>in</strong> Gewehr auf sie richten. Sie und <strong>der</strong> Räuber schossen<br />

gleichzeitig. Der Schuss g<strong>in</strong>g oben durch ihren Hut, sie hörte e<strong>in</strong>en Aufschrei und<br />

Geschimpfe aus <strong>der</strong> Richtung <strong>der</strong> Diebe und g<strong>in</strong>g sofort zurück <strong>in</strong>s Haus. Am<br />

nächsten Tag kam e<strong>in</strong> Polizist, um die Sache zu untersuchen. Er fand menschliches<br />

Lungenblut an e<strong>in</strong>em Strauch, <strong>der</strong> etwa 20 Meter entfernt <strong>von</strong> <strong>der</strong> Stelle stand, <strong>von</strong><br />

<strong>der</strong> e<strong>in</strong> Dieb geschossen hatte. Es muss e<strong>in</strong>e helle Mondnacht gewesen se<strong>in</strong>.<br />

Dennoch ist es nicht zu fassen, wie Mamu es fertigbrachte, sekundenschnell und<br />

kaltblütig den auf sie zielenden Banditen zu treffen. Ihr Hut war direkt am Kopf<br />

vorbei durchschossen. Die Räuber wurden nie gefasst. Das Ehepaar Elfert waren<br />

die Nachfolger <strong>von</strong> Ewald und Basse, dem litauischen Paar.Ewald war Papus<br />

Bursche im Kriege gewesen. Er war 1919 <strong>in</strong> Misdroy zu uns gekommen und kam<br />

dann <strong>mit</strong> nach Lšchenth<strong>in</strong>, woh<strong>in</strong> ihm se<strong>in</strong>e Frau Basse später folgte. Doch blieben<br />

sie nur kurze Zeit und s<strong>in</strong>d bald nach Litauen zurückgekehrt. Elferts waren Letten,<br />

aber woher sie zu uns kamen, weiss ich nicht. Als wir Lüchenth<strong>in</strong> verliessen, g<strong>in</strong>gen<br />

sie zu Ropps nach Grünheide, wo sie <strong>in</strong> dem grossen Betrieb bei Onkel Friedel und<br />

Tante Lilli viele Jahre lang e<strong>in</strong>e grosse Hilfe waren. Frau Elfert hatte viel grössere<br />

Angst vor Gewitter als wir K<strong>in</strong><strong>der</strong> und wäre froh gewesen, wenn wir <strong>mit</strong> ihr still bei<br />

geschlossenem Fenster im Zimmer gesessen hätten, bis Blitz und Donner sich<br />

verzogen hatten. Aber wir s<strong>in</strong>d manchmal bei nicht zu schwerem Gewitter sogar am<br />

Strand und im Wasser geblieben, was wohl nicht ganz ungefährlich war. Nur nachts<br />

hatte ich schlimme Angst bei allzu lautem Donner und durfte manchmal <strong>in</strong> Mamus<br />

Bett kriechen.<br />

Tatjana er<strong>in</strong>nert sich, dass unser Dienstmädchen, das jeden Tag aus dem Dorf zu<br />

uns kam, immer um halb vier Uhr e<strong>in</strong>en epileptischen Anfall hatte. Manchmal kam<br />

e<strong>in</strong>e Zigeunerfrau <strong>in</strong> die Küche, wo sie am Tisch sitzend Suppe ass und uns<br />

wahrsagen wollte.E<strong>in</strong>mal hatte sie sich auf e<strong>in</strong> Huhn gesetzt, das sie bei uns<br />

geklaut und unter ihrem weiten Rock versteckt hatte. Das arme Vieh hat laut<br />

protestiert.<br />

Am Anfang unserer Lüchenth<strong>in</strong>er Zeit wollte Papu nach Blaupomusch fahren, um<br />

sich um den Verkauf des Restguts zu kümmern. Er hatte se<strong>in</strong>en Koffer schon<br />

gepackt, die Abreise stand am nächsten Tag bevor. Da kam e<strong>in</strong> Telegramm <strong>von</strong><br />

Onkel Paul, <strong>in</strong> dem dieser Papu <strong>mit</strong>teilte, dass se<strong>in</strong> Leben <strong>in</strong> Gefahr sei, wenn er<br />

Familienchronik „<strong>von</strong> Wildeman“ Seite 32 <strong>von</strong> 57 Februar 1986


nach Litauen käme. Schweren Herzens musste Papu die Reise aufgeben.E<strong>in</strong>ige<br />

Zeit später erfuhren er und Mamu folgendes:<br />

Der staatliche Verwalter des enteigneten Gutes Dauzogir, Lujam, war zu Onkel Paul<br />

gekommen, <strong>der</strong> se<strong>in</strong> Restgut Eichenpomusch bewirtschaftete und hatte ihm gesagt,<br />

dass er ihm e<strong>in</strong>en sehr grossen Gefallen tun würde, falls er die zwei Meissner<br />

Vasen, die im Teich <strong>in</strong> Dauzogir gefunden worden waren, behalten dürfe. Diese<br />

zwei beson<strong>der</strong>s wertvollen Vasen, die Onkel Friedel gehörten, waren zu Beg<strong>in</strong>n des<br />

Krieges im Teich versteckt worden. Als bei <strong>der</strong> Enteignung des Gutes das Land<br />

vermessen wurde, kamen sie zumVorsche<strong>in</strong> und zunächst <strong>in</strong> die Obhut <strong>von</strong> Herrn<br />

Lujam, <strong>der</strong> die Vasen Onkel Paul für den Besitzer zurückgeben musste. Onkel Paul<br />

merkte, dass es etwas sehr Ernstes war, was h<strong>in</strong>ter Lujams Vorschlag steckte und<br />

g<strong>in</strong>g darauf e<strong>in</strong>. Da gab dieser ihm e<strong>in</strong>e Liste <strong>von</strong> Persönlichkeiten, die, falls sie<br />

wie<strong>der</strong> litauischen Boden betreten, als Verschwörer vor Gericht gestellt und wahr<br />

sche<strong>in</strong>lich zum Tode verurteilt würden. Der erste Name auf <strong>der</strong> Liste war Bernhard<br />

<strong>von</strong> <strong>Wildemann</strong>, Rittmeister <strong>der</strong> Landeswehr, <strong>der</strong> zweite Rodrigo <strong>von</strong> Bistram<br />

(Tante Ellis Bru<strong>der</strong>), Unteroffizier <strong>der</strong> Landeswehr, <strong>der</strong> dritte Friedrich <strong>von</strong> <strong>der</strong> Ropp<br />

(Onkel Friedel) und noch mehrere an<strong>der</strong>e. Folgendes war geschehen: Auf dieser<br />

Liste waren die an <strong>der</strong> Organisation Bermont-Avaloff beteiligten Personen<br />

aufgeführt. Das Ziel dieser Organisation war, durch politische Verhandlungen <strong>mit</strong><br />

Deutschland, England und an<strong>der</strong>en Län<strong>der</strong>n die E<strong>in</strong>verleibung Litauens <strong>in</strong><br />

Deutschland zu erreichen.Die Idee stammte <strong>von</strong> Onkel Friedel und Graf Bermont-<br />

Avaloff, die auch die <strong>in</strong>ternationale Ver<strong>mit</strong>tlung übernehmen sollten. E<strong>in</strong>e Sitzung<br />

<strong>der</strong> Mitglie<strong>der</strong> hatte <strong>in</strong> Litauen Anfang 1920 stattgefunden, woraufh<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Liste <strong>der</strong><br />

Teilnehmer an dieser Sitzung durch Spionage o<strong>der</strong> Zufall <strong>in</strong> die Hände <strong>der</strong><br />

Behörden gefallen se<strong>in</strong> muss. Mit dieser Liste, auf <strong>der</strong> die Namen <strong>von</strong> Onkel Pauls<br />

Bru<strong>der</strong> und zwei se<strong>in</strong>er Schwäger waren, konnte Lujam, das wusste er wohl, leicht<br />

die zwei wertvollen Vasen erpressen. Welch unglaublicher Zufall, dass Lujam<br />

gerade <strong>in</strong> dem Moment <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Liste zu Onkel Paul kam, als Papu sich zur Reise<br />

nach Litauen aufmachen wollte, was Lujam nicht, aber Onkel Paul sehr wohl<br />

wusste. Uebrigens hat England den Plan <strong>der</strong> Bermont-Avaloff Organisation völlig<br />

abgelehnt, denn es war e<strong>in</strong> abwegiger Gedanke, dass Deutschland, das den Krieg<br />

angefangen und verloren hatte, e<strong>in</strong> Land gegen den Willen se<strong>in</strong>er Bewohner hätte<br />

h<strong>in</strong>zugew<strong>in</strong>nen sollen.<br />

Hier möchte ich noch e<strong>in</strong>iges über das Schicksal unserer Verwandten berichten: Die<br />

Grosseltern und Tante Magda lebten also <strong>in</strong> ihrer kle<strong>in</strong>en Wohnung an <strong>der</strong><br />

Bergstrasse <strong>in</strong> Misdroy. Sie waren praktisch <strong>mit</strong>tellos, nachdem alles Geld, was aus<br />

<strong>der</strong> Heimat überwiesen werden konnte, verbraucht war. Es gab e<strong>in</strong>en Hilfsfonds <strong>der</strong><br />

Baltischen Ritterschaft und e<strong>in</strong>e Art Familienstiftung des Haarenschen<br />

Familienverbandes - aus diesen Quellen und wohl auch <strong>von</strong> e<strong>in</strong>er deutschen<br />

Flüchtl<strong>in</strong>gs- und Sozialhilfe konnten die dr<strong>in</strong>gengdsten Bedürfnisse gedeckt werden,<br />

aber nur bei grösster Sparsamkeit. In e<strong>in</strong>em Brief <strong>von</strong> Grosspapa an Tante Magda,<br />

die nach Wismar und Rostock gefahren war, um noch Klei<strong>der</strong>, Silber usw. nach<br />

Misdroy zu schicken - Sachen, die sie zunächst dort gelassen hatten -, schreibt er<br />

an se<strong>in</strong>e Tochter, sie solle bitte 10 Kg Zucker, Kartoffeln, Obst und Gemüse <strong>von</strong><br />

dort <strong>mit</strong>br<strong>in</strong>gen, so viel sie schleppen kann, da diese D<strong>in</strong>ge <strong>in</strong> Misdroy teurer s<strong>in</strong>d.<br />

Auch schreibt er, dass es nötig se<strong>in</strong> werde, teures Brennholz zu kaufen, um den<br />

Torf zum Brennen zu br<strong>in</strong>gen, <strong>mit</strong> dem <strong>der</strong> Herd und <strong>der</strong> Zimmerofen geheizt<br />

werden. Wie haben die Grosseltern sich umstellen müssen, wie tapfer und klaglos<br />

Familienchronik „<strong>von</strong> Wildeman“ Seite 33 <strong>von</strong> 57 Februar 1986


haben sie es getan! Papu hat sie trotz <strong>der</strong> eigenen Schulden auch unterstützt.<br />

Tante Magda musste auch die alte Tante Emmy, die Witwe <strong>von</strong> Grosspapas Bru<strong>der</strong><br />

Wilhelm, die <strong>in</strong> Riga lebte, um Hilfe bitten. Diese verkaufte, was sie nur konnte, <strong>von</strong><br />

geretteten Möbeln und Wertsachen (vielleicht auch aus Blaupomusch) um sich<br />

selbst zu erhalten und ihrem Schwager Geld nach Misdroy zu schicken. Während<br />

<strong>der</strong> folgenden Jahre hofften die Grosseltern und unsere Eltern weiterh<strong>in</strong> auf<br />

Zahlungen, die sie noch aus Bankguthaben und Besitz <strong>in</strong> Litauen zugute hatten und<br />

„die zum Ueberleben notwendig s<strong>in</strong>d“, wie Papu an se<strong>in</strong>e Schwester schreibt. Aber<br />

es ist sicher nur sehr wenig o<strong>der</strong> gar nichts mehr aus <strong>der</strong> Heimat gekommen; über<br />

die Heimat wurde gesprochen und geschrieben, immer wie<strong>der</strong> dieses Wort, wenn<br />

an Blaupomusch, Mitau o<strong>der</strong> Riga gedacht war.Onkel Paul und Tante Elli waren <strong>mit</strong><br />

den K<strong>in</strong><strong>der</strong>n Lydi und Gerd auch 1919 nach Mecklenburg gekommen, wo Onkel<br />

Paul bei Rostock e<strong>in</strong>en ganz kle<strong>in</strong>en Bauernhof kaufte. Sillo war e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> den<br />

Ferien dort. Er selbst fuhr zurück nach Eichenpomusch. Als er im Jahr darauf<br />

wie<strong>der</strong> nach Mecklenburg kam, verkaufte er den Bauernhof und kaufte <strong>in</strong> Gehlsdorf,<br />

auch bei Rostock, e<strong>in</strong> Haus, <strong>in</strong> dem Tante Elli <strong>mit</strong> den K<strong>in</strong><strong>der</strong>n die folgenden sieben<br />

Jahre lebte, und <strong>von</strong> wo aus Lydi und Gert nach Rostock zur Schule g<strong>in</strong>gen. Tante<br />

Elli studierte weiter ihre geliebte Musik und bestand das Klavierlehrer<strong>in</strong>examen. Lydi<br />

machte nach <strong>der</strong> Schule e<strong>in</strong>e Schnei<strong>der</strong><strong>in</strong>nenlehre und g<strong>in</strong>g 1927 nach<br />

Eichenpomusch zum Vater. Onkel Paul war <strong>in</strong> diesen Jahren oft nach Mecklenburg<br />

zu se<strong>in</strong>er Familie gekommen und hat auch uns gelegentlich besucht, was immer<br />

e<strong>in</strong>e grosse Freude für uns war. Er war e<strong>in</strong> immer fröhlicher, zu Spässen<br />

aufgelegter Onkel. Se<strong>in</strong> Restgut Eichenpomusch hatte er verkauft und e<strong>in</strong>e Ziegelei<br />

gebaut, die er bis zur Umsiedlung 1941 betrieb. Tante Elli war 1929 auch nach<br />

Eichenpomusch gekommen, während Gert <strong>in</strong> Deutschland blieb. Ausserdem hatte<br />

Onkel Paul se<strong>in</strong>em Bru<strong>der</strong> Friedel das Restgut Dauzogir abgekauft. Lydi heiratete<br />

1928 den Sohn e<strong>in</strong>es Angestellten des Gutes, den Letten Adolf Landowski. Die Ehe<br />

wurde e<strong>in</strong>ige Jahre nach dem Krieg geschieden. Als Repps 1941 die Heimat<br />

verlassen musste, die <strong>in</strong>folge <strong>der</strong> Abmachung zwischen Hitler und Stal<strong>in</strong> <strong>von</strong><br />

sowjetischen Truppen besetzt wurde und alle Deutschbalten im Zuge <strong>der</strong><br />

sogenannten Umsiedlung „heim <strong>in</strong>s Reich“ geschafft wurden, wurden sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong><br />

Lager <strong>in</strong> Pommern im Dorf Wanger<strong>in</strong> e<strong>in</strong>gewiesen, wo ich sie damals besucht habe.<br />

Wenige Monate später erfolgte <strong>der</strong> Ueberfall <strong>der</strong> deutschen Truppen auf die<br />

Sowjetunion, und die baltischen Län<strong>der</strong> kamen unter deutsche militärische<br />

Verwaltung. Von dieser wurde Onkel Paul als kommissarischer Verwalter und<br />

Treuhän<strong>der</strong> auf se<strong>in</strong>em Besitz <strong>in</strong> Eichenpomusch und Dauzogir e<strong>in</strong>gesetzt bis zum<br />

endgültigen Zusammenbruch im Jahre 1944 und <strong>der</strong> Uebernahme des Baltikums<br />

durch sowjetische Truppen. Mit Pferden aus Eichenpomusch trekten Ropps nach<br />

Ostpreussen und fuhren <strong>von</strong> dort <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Bahn nach Mecklenburg, wo die Eltern <strong>in</strong><br />

Gamehl und Lydi bei e<strong>in</strong>er Freund<strong>in</strong> Unterkunft fanden. Als im Früjahr 1945 die<br />

Russen schliesslich auch nach Mecklenburg kamen, zogen Tante Elli, Onkel Paul<br />

und Lydi auf e<strong>in</strong> Gut <strong>von</strong> Freunden (Freiherr <strong>von</strong> Gebsattel, dessen Frau Lulu Behr<br />

aus Weisspomusch war) nach Bayern, wo Lydi, nachdem ihre Ehe <strong>in</strong> München<br />

geschieden worden war, als Konfektionsnäher<strong>in</strong> arbeitete.Ihr Leben gehörte ganz<br />

und gar <strong>der</strong> Fürsorge und Pflege <strong>der</strong> Eltern und nach Onkel Pauls Tod <strong>der</strong> Mutter,<br />

<strong>mit</strong> <strong>der</strong> sie 1964 e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e Wohnung <strong>in</strong> München beziehen konnte. Gert war am<br />

Tag, an dem se<strong>in</strong> Vater starb, als Spätheimkehrer aus russischer Gefangenschaft<br />

bei den Eltern angekommen. Er ist <strong>mit</strong> e<strong>in</strong>er Ostpreuss<strong>in</strong> verheiratet, hat zwei<br />

Töchter und arbeitete bis vor e<strong>in</strong>igen Jahren <strong>in</strong> <strong>der</strong> technischen Abteilung des<br />

Familienchronik „<strong>von</strong> Wildeman“ Seite 34 <strong>von</strong> 57 Februar 1986


deutschen Fernsehens. Jetzt lebt er <strong>mit</strong> se<strong>in</strong>er Frau <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Altersheim bei Köln.<br />

Nach e<strong>in</strong>em langen und friedlichen Lebensabend <strong>in</strong> <strong>der</strong> aufopfernden Pflege ihrer<br />

Tochter starb Tante Elli fast 99-jährig im Oktober 1983. In Deutschland waren e<strong>in</strong>ige<br />

Jahre nach dem Kriege die sozialen Bed<strong>in</strong>gungen durch Lastenausgleich usw. für<br />

die aus dem Osten vertriebenen Deutschen recht gut geregelt worden, sodass e<strong>in</strong><br />

Leben <strong>in</strong> bescheidenem Rahmen möglich war.<br />

Onkel Friedel und Tante Lili <strong>mit</strong> den K<strong>in</strong><strong>der</strong>n Birute (Buti) und Christoph g<strong>in</strong>gen<br />

anfangs <strong>der</strong> zwanziger Jahre nach Grünheide bei Berl<strong>in</strong>, wo sich Onkel Friedel e<strong>in</strong><br />

grosses Haus kaufte und die Christliche Kampfschar gründete. In diese wurden<br />

junge Männer, die ohne Beruf o<strong>der</strong> sonstwie ohne Lebensziel waren, aufgenommen<br />

und ihnen die Gelegenheit gegeben, sich religiös und geistig zu beschäftigen. Onkel<br />

Friedel war <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er überzeugenden und sehr lebendigen Art im Glauben verwurzelt,<br />

sodass <strong>von</strong> ihm e<strong>in</strong>e starke Ausstrahlung ausg<strong>in</strong>g. Er war <strong>mit</strong> verschiedenen<br />

bekannten Theologen se<strong>in</strong>er Zeit befreundet und schrieb u.a. die Bücher „E<strong>in</strong><br />

Mensch entdeckt das Leben“ und „Zwischen Gestern und Morgen“.Zu unserem<br />

Glück war Onkel Friedel aber ke<strong>in</strong> ernster „Frommer“, son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong> charmanter,<br />

humor- und phantasievoller Onkel, den wir sehr liebten. Se<strong>in</strong>e Zauberkünste und<br />

Geschichten und se<strong>in</strong>e verständnisvolle Art im Umgang <strong>mit</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>n machten<br />

unsere gelegentlichen Ferienaufenthalte <strong>in</strong> Grünheide unter Tante Lilis<br />

gastfreundlicher und liebevoller Betreuung zu schönen Erlebnissen. Durch den<br />

E<strong>in</strong>marsch <strong>der</strong> Russen g<strong>in</strong>g die Grünhei<strong>der</strong> Zeit für Ropps im Frühl<strong>in</strong>g 1945<br />

zuende. Onkel Friedel war auch nach dem Krieg <strong>in</strong> <strong>der</strong> christlichen Arbeit tätig und<br />

starb 1964.<br />

Tante Lili lebte seitdem bei ihrer Tochter Buti <strong>von</strong> Boehmer <strong>in</strong> Bad Godesberg und<br />

starb im März 1985 <strong>mit</strong> 95 Jahren. Butis erster Mann, Kurt Boettcher, war zu Beg<strong>in</strong>n<br />

des Krieges gefallen.Aus dieser Ehe hat Buti zwei Söhne und aus <strong>der</strong> zweiten <strong>mit</strong><br />

Henn<strong>in</strong>g <strong>von</strong> Boehmer e<strong>in</strong>e Tochter.<br />

Tante Grete <strong>von</strong> Stralendorff, die nach Onkel Achims Tod aus Gamehl geflüchtet<br />

war, starb e<strong>in</strong>ige Jahre nach dem zweiten Krieg <strong>in</strong> Westdeutschland, wo damals<br />

auch ihre K<strong>in</strong><strong>der</strong> lebten, <strong>mit</strong> Ausnahme <strong>von</strong> Claus, <strong>der</strong> bis 1953 <strong>in</strong> sowjetischer<br />

Gefangenschaft war. Er hatte sehr gut russisch gelernt, beherrschte auch englisch<br />

und französisch und hatte vor dem Krieg se<strong>in</strong> Studium <strong>mit</strong> Dr. jur. abgeschlossen.<br />

Infolgedessen bekam er e<strong>in</strong>e gute Stelle bei <strong>der</strong> EWG <strong>in</strong> Brüssel. Aber die langen<br />

Kriegs- und Gefangenschaftsjahre hatten ihm gesundheitlich doch sehr zugesetzt.<br />

Er starb 1968 plötzlich an Herzversagen, als er gerade auf dem Grundstück, das er<br />

sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Nähe <strong>von</strong> Köln gekauft hatte, das Pflanzen <strong>der</strong> Bäume <strong>mit</strong> e<strong>in</strong>em<br />

Gärtner besprach. Er h<strong>in</strong>terliess se<strong>in</strong>e Frau <strong>mit</strong> zwei kle<strong>in</strong>en Töchtern. Peter lebt<br />

seit vielen Jahren <strong>in</strong> Kanada, wo ich ihn und se<strong>in</strong>e Frau <strong>in</strong> Toronto besucht habe.<br />

Auch Ada und Gisela, beide verwitwet, leben <strong>in</strong> Kanada und zwar <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

hübschen Alterswohnheim <strong>in</strong> St. Cather<strong>in</strong>e, nicht weit <strong>von</strong> den Niagarafällen. Die<br />

jüngste, Fri<strong>der</strong>un, hat zwei Söhne und ist auch verwitwet. Als ausserordentlich<br />

begabte Künstler<strong>in</strong> schafft sie wun<strong>der</strong>schöne Tier-, vor allem Pferdeplastiken, aber<br />

auch menschliche Figuren. Sie lebt <strong>in</strong> Oberbayern.Soweit also über das Schicksal<br />

<strong>von</strong> Mamus Geschwistern und <strong>der</strong>en Nachkommen (über Reiswitzens wurde schon<br />

vorher berichtet).<br />

Im Jahre 1923 zogen wir wie<strong>der</strong> für e<strong>in</strong> Jahr nach Misdroy. Papu hatte das<br />

Torfunternehmen aufgeben müssen und musste sich nun, belastet <strong>mit</strong> Sorgen und<br />

Schulden und fünf heranwachsenden K<strong>in</strong><strong>der</strong>n e<strong>in</strong>e neue Existenz suchen. Wie<br />

wenig ahnten wir K<strong>in</strong><strong>der</strong>, die wir diese drei Jahre <strong>in</strong> grosser Freiheit und herrlicher<br />

Familienchronik „<strong>von</strong> Wildeman“ Seite 35 <strong>von</strong> 57 Februar 1986


Umgebung verbracht hatten, wie schwer die materielle Not die Eltern bedrückte. Die<br />

Zeiten <strong>in</strong> Deutschland wurden immer schlechter, die Inflation stieg und stieg. In<br />

Misdroy mieteten wir e<strong>in</strong> schönes Haus am Rande des Ortes, wo die Strasse den<br />

Berg h<strong>in</strong>auf durch den Wald führte, die Bergstrasse, an <strong>der</strong> auch <strong>in</strong>herhalb des<br />

Ortes die Grosseltern ihre Wohnung hatten. Wir besuchten sie viel, wenn auch nicht<br />

immer freiwillig, da wir <strong>in</strong> <strong>der</strong> schul- und aufgabenfreien Zeit lieber draussen spielten<br />

o<strong>der</strong> im W<strong>in</strong>ter rodelten, als <strong>der</strong> Grossmama deutsch o<strong>der</strong> französisch vorzulesen.<br />

Als Sylvester sich beim Bobfahren vom Kaffeeberg (<strong>der</strong> heute, zwar polnisch,<br />

immer noch so heisst), e<strong>in</strong> Be<strong>in</strong> brach, da me<strong>in</strong>te Grossmama, das sei die Strafe<br />

dafür, dass er nicht bei ihr geblieben sei. Auch mussten wir oft Sonntags <strong>mit</strong><br />

Grossmama <strong>in</strong> die Kirche, wo das lange Stillsitzen qualvoll war. Sillo war wie<strong>der</strong> zu<br />

uns zurückgekommen, nachdem er es <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kadettenanstalt Kösl<strong>in</strong> nur drei Monate<br />

aushalten konnte. Es war e<strong>in</strong> schreckliches Internat, <strong>in</strong> dem die Jungen auf<br />

grausame, s<strong>in</strong>nlose Art geschunden wurden, um ihnen Diszipl<strong>in</strong> beizubr<strong>in</strong>gen. Er<br />

kam recht elend und jämmerlich nach Hause, und die Diszipl<strong>in</strong>übung hat wenig<br />

genützt, wie später ersichtlich wird.In Misdroy g<strong>in</strong>gen wir alle <strong>in</strong> die Baltenschule, <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> die drei Grossen schon 1919/1920 gewesen waren. Die Schule war <strong>in</strong>zwischen<br />

gewachsen, hatte e<strong>in</strong> grosses Gebäude bekommen und e<strong>in</strong> Internat für Auswärtige<br />

(das sogenannten Dünenschloss). Die Klassen g<strong>in</strong>gen <strong>von</strong> <strong>der</strong> Sexta (das vierte<br />

Schuljahr nach drei Grundschuljahren) bis zur Oberprima, nach <strong>der</strong> als Abschluss<br />

das Abitur kam. Ich kam <strong>in</strong> die Sexta, Roman <strong>in</strong> die Quarta, Tatjana und Sylvester<br />

<strong>in</strong> die Untertertia. Der Direktor, Herr Hunnius, war e<strong>in</strong> sehr tüchtiger und beliebter<br />

Balte. Obwohl unsere Eltern viel Verständnis für uns hatten, hoffe ich, dass sie nicht<br />

<strong>von</strong> allen Dummheiten und Streichen erfahren haben, die wir <strong>in</strong> <strong>der</strong> Schule<br />

ausheckten. Aber e<strong>in</strong>ige haben ihnen ziemliche Sorgen bereitet.<br />

So stach Sylvester dem vor ihm sitzenden Mädchen Edith Bieneck e<strong>in</strong>e Stecknadel<br />

<strong>in</strong> den Po. Edith, nicht faul, verfolgte Sillo <strong>in</strong> <strong>der</strong> folgenden Pause <strong>mit</strong> dieser Nadel,<br />

<strong>der</strong> sie den Kopf abgebrochen und die sie dann <strong>in</strong> das Ende e<strong>in</strong>es L<strong>in</strong>eals gesteckt<br />

hatte. Sillo drehte sich beim Laufen um, und die Nadel stach <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Arm, wo sie<br />

stecken blieb und herausoperiert werden musste. E<strong>in</strong>mal hat Sillo e<strong>in</strong>en grossen<br />

Schneeball <strong>in</strong> die Klasse gebracht und ihn <strong>mit</strong> grosser Wucht an die Decke über<br />

dem Kopf <strong>der</strong> Lehrer<strong>in</strong> geballert, wo er kleben blieb und <strong>der</strong> Musiklehrer<strong>in</strong> Fräule<strong>in</strong><br />

Gramkau (Gram kaut mir am Herzen) ziemlich regelmässig auf den Kopf tropfte, bis<br />

ihr die Quelle dieser Nässe bewusst wurde. E<strong>in</strong> an<strong>der</strong>mal haben Stryck und<br />

Sylvester e<strong>in</strong>e verfaulte und schon st<strong>in</strong>kende Maus während <strong>der</strong> Pause h<strong>in</strong>ter den<br />

Ofen getan, und dann <strong>mit</strong> <strong>der</strong> ganzen Klasse das Zimmer verlassen. Als <strong>der</strong><br />

Englischlehrer zur Stunde kam, war da nichts ausser schrecklichem Gestank. Es<br />

gab noch das dünne Fräule<strong>in</strong> <strong>von</strong> Mickwitz, die Lehrer Schliebs und Arnold, die sich<br />

<strong>mit</strong> Sillo und se<strong>in</strong>er Klasse herumschlagen mussten. Warum müssen wohl Schüler<br />

ihre Lehrer plagen?<br />

Ich schrieb auf den Deckel me<strong>in</strong>es Diktathefts, bevor die Hefte vom Klassen- und<br />

Deutschlehrer e<strong>in</strong>gesammel wurden „Lieber Herr Liedtke, Sie s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong> dummes<br />

Schaf“ und zeigte diesen Satz me<strong>in</strong>er Nachbar<strong>in</strong> Olga Woronowitsch. Das sollte e<strong>in</strong><br />

„Witz“ se<strong>in</strong>, den ich sofort ausradieren wollte. Doch als dann die Hefte<br />

e<strong>in</strong>gesammelt wurden, hatte ich den Quatsch vergessen. Die Sache hatte<br />

schreckliche Folgen und führte fast zu me<strong>in</strong>em H<strong>in</strong>auswurf aus <strong>der</strong> Schule. Es<br />

folgten Lehrerkonferenz, Besprechung <strong>mit</strong> den Eltern und kummervolle Vorwürfe -<br />

ich war völlig geknickt, da ich ja diesen Lehrer eigentlich sehr gern mochte und e<strong>in</strong>e<br />

sehr gute Schüler<strong>in</strong> bei ihm war. Ich liebte die Deutschstunden. Es endete<br />

Familienchronik „<strong>von</strong> Wildeman“ Seite 36 <strong>von</strong> 57 Februar 1986


schliesslich da<strong>mit</strong>, dass ich mich beim Direktor und dann unter Tränen bei Herrn<br />

Liedtke, <strong>der</strong> schrecklicherweise auch <strong>in</strong> Tränen war, entschuldigte und Papu mich<br />

noch lange „dummes Schäfchen“ nannte. E<strong>in</strong> wirklich ganz böser Streich war<br />

<strong>der</strong>,dass ich <strong>mit</strong> e<strong>in</strong>igen an<strong>der</strong>en unserer Klasse unserer dicken Late<strong>in</strong>lehrer<strong>in</strong> den<br />

Stuhlsitz <strong>mit</strong> Syndetikon beschmierte, sodass dieser an ihr kleben blieb, als sie<br />

aufstand. Ich sehe noch heute ihr hilfloses und verzweifeltes Gesicht vor mir. Sie<br />

rief mich, um sie zu befreien, wobei <strong>der</strong> Rock kaputt g<strong>in</strong>g, denn ablösen und<br />

abwischen lässt sich Syndetikon nicht, schon gar nicht, wenn er e<strong>in</strong>e halbe Stunde<br />

lang unter Druck getrocknet ist. Allerd<strong>in</strong>gs hatten wir 10-jährigen uns sicher nicht die<br />

schrecklichen Folgen dieses teuflischen Spasses überlegt und nicht da<strong>mit</strong><br />

gerechnet, dass <strong>der</strong> Rock vollständig unbrauchbar würde. In e<strong>in</strong>e so schlimme Lage<br />

wollten wir Frl. Szymanski, die zwar e<strong>in</strong>e langweilige aber wohlwollende Lehrer<strong>in</strong><br />

war, nicht br<strong>in</strong>gen. Für uns alle armen Flüchtl<strong>in</strong>ge war <strong>in</strong> dieser Inflationszeit, <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

die Preise <strong>in</strong>s Unermessliche stiegen, die Anschaffung neuer Kleidungsstücke fast<br />

unmöglich. Wir wurden für diese Untat nie bestraft, da nie herauskam, wer sie sich<br />

ausgedacht und ausgeführt hatte. Die Klasse hielt zusammen. Aber wir wurden vor<br />

<strong>der</strong> ganzen Schule getadelt und haben uns sehr geschämt.In <strong>der</strong> Schule waren<br />

natürlich vor allem baltische Schüler und e<strong>in</strong>ige russische Emigrantenk<strong>in</strong><strong>der</strong> (ich<br />

hatte <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er Klasse die schon erwähnte Olga Woronowitsch und Kira Bibikow)<br />

aber auch e<strong>in</strong>ige deutsche Schüler. Diese wurden - e<strong>in</strong> bischen verächtlich -<br />

Reichsdeutsche genannt. Wir Balten hielten uns für e<strong>in</strong>e beson<strong>der</strong>e Kaste, was<br />

ke<strong>in</strong>eswegs nur die adligen, son<strong>der</strong>n die Deutschbalten überhaupt betraf. Zu unsern<br />

engen Freunden gehörte die Familie <strong>von</strong> Gruenewaldt, die aus Frau <strong>von</strong><br />

Gruenewaldt <strong>mit</strong> ihren vier K<strong>in</strong><strong>der</strong>n Rolf, Dagmar, Ursula und He<strong>in</strong>z bestand.<br />

He<strong>in</strong>z war Ullis grosser Freund, Ursula me<strong>in</strong>e Freund<strong>in</strong>, beide <strong>in</strong> unserer Klasse.<br />

Sie wohnten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Haus, etwas höher als <strong>der</strong> Ort, am Waldrand, und waren<br />

auch <strong>mit</strong> den Grosseltern sehr befreundet. Dagmar starb noch vor dem zweiten<br />

Krieg, He<strong>in</strong>z fiel bald nach Ulli. Frau <strong>von</strong> Gruenewaldt lebte nach dem Krieg <strong>mit</strong> Rolf<br />

<strong>in</strong> Greifswald <strong>in</strong> <strong>der</strong> DDR, während Ursula <strong>in</strong> den Westen g<strong>in</strong>g.<br />

Papu versuchte während diesem Jahr <strong>in</strong> Misdroy wie auch dem folgenden <strong>in</strong><br />

Stargard Grosshandel <strong>mit</strong> Saatgut zu betreiben, aber ohne viel Erfolg. Vielleicht<br />

bekam er auch noch etwas Geld aus <strong>der</strong> Heimat, aber sicher hat er <strong>in</strong> diesen<br />

Jahren grosse Schulden machen müssen. In Misdroy erlebten wir den ganzen<br />

Schock <strong>der</strong> schweren Inflation. Die Mark verlor täglich an Wert. Milch, Brot und<br />

Kartoffeln kosteten schliesslich tausende, dann zehntausende und dann millionen<br />

Mark. Nuschi und Römi standen Schlange, um Milch zu kaufen, <strong>mit</strong> e<strong>in</strong>er Rolle <strong>von</strong><br />

1000-Mark Sche<strong>in</strong>en <strong>in</strong> <strong>der</strong> Hand. Ich er<strong>in</strong>nere micht gut, dass Ulli und ich bei den<br />

Tabakläden leere Zigarrenschachteln erbettelten. Diese verkauften wir an Freunde<br />

o<strong>der</strong> an irgendwelche freundlichen Menschen auf <strong>der</strong> Strasse. Dann rasten wir <strong>mit</strong><br />

dem Erlös - 1000 o<strong>der</strong> 10 000 o<strong>der</strong> noch mehr Mark - <strong>in</strong> den nächsten Laden, um<br />

e<strong>in</strong> paar Bonbons zu kaufen. Es musste sehr schnell gehen, denn schon am<br />

nächsten Tag war dieses Geld nichts mehr wert.Schliesslich kam e<strong>in</strong>e Umwertung,<br />

es entstand für kurze Zeit <strong>der</strong> deutsche Dollar im Wert <strong>von</strong> 4,20 Mark, und darauf<br />

folgte die Rentenmark im nächsten Jahr, als wir schon <strong>in</strong> Stargard waren.<br />

Für uns K<strong>in</strong><strong>der</strong> war das Jahr <strong>in</strong> Misdroy e<strong>in</strong>e schöne Zeit trotzgrösster Sparsamkeit<br />

und e<strong>in</strong>fachstem Essen. Auch <strong>in</strong> Misdroy hatten wir e<strong>in</strong>en Garten <strong>mit</strong> Obst und<br />

Gemüse, <strong>der</strong> uns viel geholfen hat. Ich er<strong>in</strong>nere mich an die dicken<br />

Schwarzbrotscheiben, die, bis wir sie <strong>in</strong> <strong>der</strong> Schulpause assen, ganz <strong>von</strong> <strong>der</strong><br />

hausgemachten Marmelade durchtränkt waren. Nie gab es Butter o<strong>der</strong> Margar<strong>in</strong>e<br />

Familienchronik „<strong>von</strong> Wildeman“ Seite 37 <strong>von</strong> 57 Februar 1986


unter <strong>der</strong> Marmelade, Butter sowieso kaum jemals. Ganz selten mal e<strong>in</strong> Stückchen<br />

Wurst, e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>es dünnes Scheibchen auf e<strong>in</strong>er grossen Scheibe Brot. Das wurde<br />

dann vom ersten Bissen an <strong>mit</strong> dem Mund auf dem Brot weitergeschoben und erst<br />

zusammen <strong>mit</strong> dem letzten Bissen Brot <strong>mit</strong> Hochgenuss aufgegessen - so hatte<br />

man doch e<strong>in</strong>e ganze Brotscheibe <strong>mit</strong> Wurstgeschmack und -gefühl. Es muss sehr<br />

schwer gewesen se<strong>in</strong>, die grosse Familie satt zu kriegen. Aber dieses e<strong>in</strong>fache<br />

sparsame Leben haben wir K<strong>in</strong><strong>der</strong> nie beson<strong>der</strong>s bemerkt, es war irgendwie<br />

selbstverständlich, und es g<strong>in</strong>g ja auch allen unseren Bekannten gleich. Wir hatten<br />

die Grosseltern, und wir hatten viele Freunde unter den Balten und <strong>in</strong> <strong>der</strong> Schule.<br />

Grosspapa starb 73-jährig am 26. November 1923. Wir standen alle um se<strong>in</strong> Bett, <strong>in</strong><br />

dem er so schön und friedlich aussehend lag. Es war me<strong>in</strong> zehnter Geburtstag, und<br />

ich war so glücklich, als Grossmama mir sagte, dass ich die Buntstifte, die sie mir<br />

versprochen hatte, trotzdem bekommen würde. So lebten fortan Grossmama und<br />

Tante Magda alle<strong>in</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Wohnung, bis Ulli zu ihnen kam. <strong>Unser</strong>e liebe Tante<br />

Magda, wie war sie immer freundlich und gleichmässig lieb, die Güte <strong>in</strong> Person,<br />

ohne sich je anmerken zu lassen, wie schwer sie es oft hatte. Sie hatte um <strong>der</strong><br />

Eltern willen auf e<strong>in</strong>e Heirat verzichtet.Nach Grosspapas Tod lebte Tante Magda<br />

ganz für die Mutter, die <strong>in</strong>zwischen fast ganz bl<strong>in</strong>d und sehr abhängig geworden<br />

war, wobei sie auch recht anspruchsvoll war. Tante Magda h<strong>in</strong>g sehr an ihrem<br />

Bru<strong>der</strong>, also Papu, Mamu und uns K<strong>in</strong><strong>der</strong>n, und unser Fortziehen aus Misdroy und<br />

e<strong>in</strong>ige Jahre später nach Südafrika ist ihr furchtbar schwer geworden. Zum Glück<br />

hatten Grossmama und Tante Magda <strong>in</strong> Misdroy viele gute Freunde, beson<strong>der</strong>s<br />

Frau <strong>von</strong> Gruenewaldt stand ihnen treu zur Seite. Für Ulli, <strong>der</strong> <strong>in</strong> Misdroy bei Tante<br />

Magda blieb, als wir nach Afrika g<strong>in</strong>gen, um dort die Schule bis zum Abitur zu<br />

beenden, war die Familie se<strong>in</strong>es besten Freundes e<strong>in</strong>e grosse Hilfe. Immer war er<br />

dort willkommen - <strong>der</strong> grosse Geschwisterkreis war ihm vielleicht e<strong>in</strong> wenig Ersatz<br />

für uns. 1934 entschlossen sich beide, He<strong>in</strong>z und Ulli, Berufsoffiziere zu werden.<br />

Tante Magda starb 1934 60-jährig an Lungenkrebs. So blieb die arme Grossmama<br />

alle<strong>in</strong> zurück und starb zwei Jahre später im Altersheim <strong>in</strong> Sw<strong>in</strong>emünde im Alter <strong>von</strong><br />

90 Jahren. Selbstverständlich hat sich Frau <strong>von</strong> Gruenewaldt bis zuletzt um sie<br />

gekümmert, und auch Ulli besuchte sie, soweit ihm dies möglich war.Die für uns<br />

K<strong>in</strong><strong>der</strong> glückliche Zeit g<strong>in</strong>g nach e<strong>in</strong>em Jahr zuende, denn wir zogen im April 1924<br />

nach Stargard, wo Papu bessere Aussichten hatte, geschäftliche Verb<strong>in</strong>dungen<br />

aufzunehmen. Von Misdroy aus war dies sehr schwierig, obwohl er e<strong>in</strong> Motorrad<br />

besass. Hier folgt Sillos Beschreibung <strong>der</strong> Motorrä<strong>der</strong>, die Papu <strong>in</strong> Deutschland<br />

gehabt hat:<br />

„In Lüchenth<strong>in</strong> e<strong>in</strong> Eichler Motorrad <strong>mit</strong> 200 ccm Zweitaktmotor und<br />

Gummiriemenantrieb zum H<strong>in</strong>terrad <strong>mit</strong> stufenloser Gangschaltung, d.h. die<br />

Antriebsscheibe am Motor wurde <strong>mit</strong>tels Handhebel weiter auf- und zugemacht,<br />

dadurch wurde <strong>der</strong> Riemen schlapp o<strong>der</strong> straff, das funktionierte gut. Dann <strong>in</strong><br />

Misdroy hatte Papu e<strong>in</strong>e 350 ccm Ardie Zweitakt <strong>mit</strong> Kettenantrieb, das erste<br />

Motorrad, das ich je fuhr, und zwar im Garten, wenn er weg war. Hergestellt war<br />

dieses Rad <strong>von</strong> Arnold Dietrich <strong>in</strong> Nürnberg und war sehr gut. In Stargard und<br />

Lüttkenhagen hatte Papu e<strong>in</strong>en MAUSER EINSPURWAGEN (hergestellt <strong>von</strong> <strong>der</strong><br />

Mauser Waffenfabrik, die bis 1933 ke<strong>in</strong>e Waffen herstellen durfte). Dieser war e<strong>in</strong><br />

verkleidetes o<strong>der</strong> wetterfestes Motorrad. Es hatte zwei kle<strong>in</strong>e Seitenrä<strong>der</strong>, die <strong>mit</strong><br />

e<strong>in</strong>em Hebel vom Fahrersitz aus heruntergelassen wurden, sobald man langsam<br />

fuhr, sodass die Rä<strong>der</strong> fest standen.In Fahrt waren sie <strong>in</strong> Höhe <strong>der</strong> Karosserie<br />

hochgeschoben; kam man <strong>in</strong>s Schleu<strong>der</strong>n, legte sich <strong>der</strong> „Wagen“ auf die Seite,<br />

Familienchronik „<strong>von</strong> Wildeman“ Seite 38 <strong>von</strong> 57 Februar 1986


und die Seitenrä<strong>der</strong> stützten ihn wie<strong>der</strong>, sodass man ziemlich sicher fuhr.Das<br />

Vor<strong>der</strong>rad war <strong>mit</strong>tels e<strong>in</strong>es fussballähnlichen Gummikissens <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gabel<br />

abgefe<strong>der</strong>t. Diese E<strong>in</strong>richtung war sehr unglücklich, Papu hatte dauernd Pannen<br />

da<strong>mit</strong>, da das Kissen bei Schlaglöchern e<strong>in</strong>fach platzte. Gesteuert wurde <strong>der</strong><br />

Wagen <strong>mit</strong> e<strong>in</strong>er Lenkstange, die drei Gänge wurden <strong>mit</strong> e<strong>in</strong>em Hebel an <strong>der</strong><br />

rechten Seite geschaltet, Gas <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Hand, Fusskupplung, 500 ccm Motor,<br />

wassergekühlter E<strong>in</strong>zyl<strong>in</strong><strong>der</strong>, Kühler vorne, zwei Sche<strong>in</strong>werfer, zwei recht bequeme<br />

Sitze h<strong>in</strong>tere<strong>in</strong>an<strong>der</strong>. Mamu sass gerne h<strong>in</strong>ten. Bei Regen wurde e<strong>in</strong> Verdeck <strong>von</strong><br />

h<strong>in</strong>ten aufgezogen bis zur W<strong>in</strong>dschutzscheibe. Das Ersatzrad war an <strong>der</strong> Seite. Der<br />

Radwechsel war e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>malige Sauerei (aufbocken, auf <strong>der</strong> Erde knien, murksen,<br />

fluchen, usw. usw.) Aber das D<strong>in</strong>g lief herrlich, man schwenkte da<strong>mit</strong> um die Kurven<br />

wie auf e<strong>in</strong>em Motorrad, und das konnte Papu ja.“<br />

Der Briefkopf <strong>von</strong> Papus Büro <strong>in</strong> Stargard lautete: „Bernhard <strong>von</strong> <strong>Wildemann</strong>,<br />

Landwirtschaftliche Erzeugnisse, Futter<strong>mit</strong>tel, Wolle, Kunstdünger, Kohlen, Benz<strong>in</strong>,<br />

Benzol“. Noch e<strong>in</strong> Jahr lang hat <strong>der</strong> Versuch gedauert, <strong>mit</strong> diesem Handel den<br />

Lebensunterhalt zu verdienen, aber er war nicht erfolgreich. Die allgeme<strong>in</strong>e<br />

Geldknappheit war gross, je<strong>der</strong> kaufte nur das Notwendigste, und auch dieses oft<br />

auf Schulden. Es war e<strong>in</strong>e jämmerliche Zeit <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>der</strong> Aufbau e<strong>in</strong>es solchen<br />

Handels scheitern musste, selbst bei Papus Tatkraft und Phantasie. Das Positivste<br />

dieser schwierigen Periode war wohl, dass Papu Verb<strong>in</strong>dungen zu Landwirten<br />

bekam, vor allem zu den Gutsbesitzern <strong>der</strong> Umgebung, woraus sich schliesslich die<br />

Anstellung <strong>in</strong> Lüttkenhagen ergab und viele gesellschaftliche Beziehungen, so<br />

willkommen für unsere an das rege gesellschaftliche Leben auf dem Lande im<br />

Baltikum gewöhnten Eltern, wobei die E<strong>in</strong>ladungen zur Jagd e<strong>in</strong>e grosse Rolle<br />

spielten.<br />

In Stargard zogen wir <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e w<strong>in</strong>zige Dachwohnung, <strong>in</strong> <strong>der</strong> nur für die Eltern,<br />

Roman und mich Platz war. Ulli musste <strong>in</strong> Misdroy bleiben, Sillo kam zu e<strong>in</strong>er<br />

Familie <strong>von</strong> Seckendorf <strong>in</strong> Klitz<strong>in</strong>g, ausserhalb <strong>der</strong> Stadt und Teddy (etwa zu dieser<br />

Zeit erfand Onkel Friedel diesen Namen für sie) zu e<strong>in</strong>er Familie Buchholz <strong>in</strong><br />

Stargard. Sillo und Römi g<strong>in</strong>gen <strong>in</strong>s Realgymnasium, Teddy und ich <strong>in</strong>s Lyzeum. So<br />

trafen Römi und ich unsere Geschwister <strong>in</strong> <strong>der</strong> Schule, nachdem Sillo <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Bahn<br />

aus Klitz<strong>in</strong>g und Teddy zu Fuss <strong>von</strong> Buchholzens gekommen waren. <strong>Unser</strong>e<br />

Wohnung lag <strong>in</strong> <strong>der</strong> Nähe des Lyzeums und auch <strong>der</strong> Marienkirche an e<strong>in</strong>er etwas<br />

abschüssigen Strasse, auf <strong>der</strong> ich <strong>mit</strong> me<strong>in</strong>em Tretroller, dessen Besitz mir<br />

unendliche Freude machte, immer h<strong>in</strong>unterfuhr. Sillo und Römi hatten schon<br />

Fahrrä<strong>der</strong>, wahrsche<strong>in</strong>lich alte geschenkte. Der Schulwechsel war schwierig,<br />

jedenfalls für mich. Ich hatte <strong>in</strong> Misdroy <strong>in</strong> <strong>der</strong> Sexta <strong>mit</strong> Late<strong>in</strong> angefangen,<br />

während im Stargar<strong>der</strong> Lyzeum französisch als erste Fremdsprache gegeben<br />

wurde. So musste ich e<strong>in</strong> ganzes Jahr französisch nachlernen, wobei Mamu mir <strong>mit</strong><br />

rühren<strong>der</strong> Geduld geholfen hat. Wir machten lange Spaziergänge zusammen,<br />

Mamu <strong>mit</strong> dem Vokabelheft <strong>in</strong> <strong>der</strong> Hand. Ich sehe noch den Graben vor mir, an dem<br />

wir entlang g<strong>in</strong>gen und über den es sich so schön spr<strong>in</strong>gen liess. Ich durfte nur<br />

spr<strong>in</strong>gen, wenn ich die französische Vokabel konnte, die Mamu abfragte. Abends<br />

las und schrieb sie <strong>mit</strong> mir. Das viele Lernen hat genützt, denn ich bestand die<br />

Qu<strong>in</strong>ta <strong>in</strong> Stargard. Sylvester wurde <strong>in</strong> dem Jahr e<strong>in</strong>mal sehr krank und lag <strong>mit</strong><br />

hohem Fieber bei uns <strong>in</strong> <strong>der</strong> Wohnung, um <strong>von</strong> Mamu gepflegt zu werden. Zu<br />

Mamus Beunruhigung träumte er laut <strong>von</strong> „Helli“, nämlich Frl. Hellwig, dem<br />

hübschen K<strong>in</strong><strong>der</strong>mädchen bei Seckendorfs. Sie war e<strong>in</strong>er <strong>von</strong> Sillos<br />

Jugendschwärmen, <strong>der</strong>en es e<strong>in</strong>ige gab!<br />

Familienchronik „<strong>von</strong> Wildeman“ Seite 39 <strong>von</strong> 57 Februar 1986


Zu den Verb<strong>in</strong>dungen, die Papu <strong>in</strong> Stargard angeknüpft hatte, gehörte die <strong>mit</strong> Herrn<br />

Friedrich <strong>von</strong> Petersdorff, Besitzer <strong>der</strong> Güter Grossenhagen, Lüttkenhagen und<br />

Puddenzig im Kreis Naugard.Herr <strong>von</strong> Petersdorff suchte damals gerade e<strong>in</strong>en<br />

Verwalter für se<strong>in</strong> Gut Lüttkenhagen, das etwas 25 km <strong>von</strong> Stargard entfernt an <strong>der</strong><br />

Chaussee Stargard - Gollnow liegt. Er bot Papu diese Stelle an, <strong>der</strong> sie unter den<br />

Umständen gerne annahm, obwohl die Bezahlung sehr niedrig war. Die Aussicht,<br />

Landwirt zu se<strong>in</strong>, <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Familie auf dem Lande zu leben, war für ihn und natürlich<br />

für uns sehr verlockend. Papu g<strong>in</strong>g schon im Februar o<strong>der</strong> März 1925 nach<br />

Lüttkenhagen, während Mamu <strong>mit</strong> uns bis zum Abschluss des Schuljahres <strong>in</strong><br />

Stargard blieb. Sylvester fuhr e<strong>in</strong>mal die ganze lange Strecke <strong>mit</strong> dem Fahrrad nach<br />

Lüttkenhagen, um Papu zu besuchen.Zu Ostern wurden Sylvester und Tatjana<br />

konfimiert. Nach <strong>der</strong> Konfirmation <strong>in</strong> <strong>der</strong> schönen Marienkirche gab es e<strong>in</strong>e nette<br />

Feier bei Buchholzens, bei denen Teddy wohnte. Wir tranken Johannesbeerwe<strong>in</strong>,<br />

ich war sehr stolz, auch e<strong>in</strong> Glas zu bekommen. Zu Papus Belustigung trank ich mir<br />

<strong>mit</strong> dem nicht ganz harmlosen We<strong>in</strong> e<strong>in</strong>en kle<strong>in</strong>en Schwips an, was ich natürlich<br />

nicht zugeben wollte. Papu liess mich auf e<strong>in</strong>er Diele durchs Zimmer gehen, ohne<br />

daneben zu treten. Ich weiss nicht mehr, wie gut dies gelang, und als Papu mich<br />

fragte, wieviele Zöpfe ich habe, war ich im Moment etwas unsicher, denn er neckte<br />

mich später noch lange <strong>mit</strong> „zwei Zöpfchen vorne, zwei Zöpfchen h<strong>in</strong>ten“. - An den<br />

eigentlichen Umzug können wir uns nicht er<strong>in</strong>nern; er war im Frühl<strong>in</strong>g, sodass wir<br />

zum neuen Schulanfang nach Gollnow <strong>in</strong> die Schule gehen, d.h. fahren konnten,<br />

die Brü<strong>der</strong> und ich <strong>mit</strong> dem Fahrrad. Teddy blieb <strong>in</strong> Stargard, da sie bis zum<br />

Abschluss (Untersekunda) nur noch e<strong>in</strong> Jahr hatte und nicht mehr wechseln sollte.<br />

Sie blieb <strong>in</strong> Pension bei Buchholzens und kam zum Wochenende <strong>mit</strong> dem Postauto<br />

nach Hause. Ulli war <strong>in</strong> Misdroy bei Grossmama und Tante Magda geblieben, kam<br />

aber zu allen Ferien nach Hause. Für Tante Magda, die ohne uns sehr e<strong>in</strong>sam<br />

wurde, war es e<strong>in</strong> grosser Trost, Ulli bei sich zu haben, und sie konnte gut <strong>mit</strong><br />

K<strong>in</strong><strong>der</strong>n umgehen.Ulli hatte, wie gesagt, auch die Familie se<strong>in</strong>es Freundes He<strong>in</strong>z<br />

Gruenewaldt, die ihm sehr viel bedeutete und bei <strong>der</strong> er sich oft aufhielt. Er brachte<br />

He<strong>in</strong>z m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>mal, vielleicht auch öfters, zu den Ferien <strong>mit</strong> zu uns nach<br />

Hause.<br />

In Lüttkenhagen hatten wir <strong>von</strong> Ostern 1925 bis November 1928 schöne Jahre<br />

zusammen. Nachdem Teddy ihr letztes Schuljahr <strong>in</strong> Stargard beendet hatte, war sie<br />

zuhause, wo sie bei allem half, vor allem Papu im Büro, auch beim Tippen se<strong>in</strong>er<br />

Geschichten, etwas worum ich sie damals sehr beneidet habe. Zwischendurch g<strong>in</strong>g<br />

sie zu längeren Besuchen zu Ropps (Onkel Friedel) nach Grünheide und zu<br />

Reiswitzens (Tante Helene) nach Podelwitz.<br />

Ueber ihre Erlebnisse <strong>in</strong> dem alten Schloss Podelwitz <strong>in</strong> Sachsen, wo sie den<br />

Sommer 1926 verbrachte, erzählt sie etwas später <strong>in</strong> diesem Bericht.<br />

Obschon auch dies wie<strong>der</strong>um für Papu e<strong>in</strong>e f<strong>in</strong>anziell schwierige Zeit war, waren es<br />

für uns K<strong>in</strong><strong>der</strong> - jedenfalls rückblickend - sehr glückliche Jahre und für die Eltern <strong>in</strong><br />

vieler H<strong>in</strong>sicht auch. Gesellschaftlich war es vor allem durch die Nachbarn, <strong>mit</strong><br />

denen wir viel verkehrten, sehr nett. Zunächst war da Grossenhagen, wo<br />

Petersdorffs wohnten, etwa zwei Kilometer <strong>von</strong> Lüttkenhagen entfernt. Dorth<strong>in</strong><br />

führte die Eichallee, auf <strong>der</strong> wir so oft gelaufen und gefahren s<strong>in</strong>d, <strong>mit</strong> Fahrrad o<strong>der</strong><br />

Wagen. Dort lebten die Eltern Petersdorff, etwas 10 - 15 Jahre älter als Mamu und<br />

Papu, die Tochter Liesel (Elisabeth), verheiratet <strong>mit</strong> Karl-Henn<strong>in</strong>g <strong>von</strong> Kameke und<br />

Erika, damals unverheiratet und 25-jährig (sie sagte <strong>von</strong> sich, sie sei Klo-Jahrgang,<br />

also 00).Bei Kamekes waren zwei kle<strong>in</strong>e Söhne, Friedrich-Karl und Hans-Henn<strong>in</strong>g.<br />

Familienchronik „<strong>von</strong> Wildeman“ Seite 40 <strong>von</strong> 57 Februar 1986


Ihr Vater, Karl-Henn<strong>in</strong>g, war Offizier im ersten Weltkrieg gewesen und leitete wohl<br />

Herrn <strong>von</strong> Petersdorffs Pferdezucht. Er fiel, ebenso wie se<strong>in</strong> Sohn Hans-Henn<strong>in</strong>g,<br />

im zweiten Krieg. Als wir schon <strong>in</strong> Afrika waren, kam bei Kamekes noch die Tochter<br />

Rosemarie zur Welt. Liesel hatte <strong>von</strong> Jugend auf schweren Gelenkrheumatismus,<br />

und wir kannten sie nur schwerbeh<strong>in</strong><strong>der</strong>t an zwei Stöcken gehend. Sie hatte<br />

enorme Pferdepassion und ritt im Damensattel, <strong>in</strong> den sie gehoben wurde. Sie fuhr<br />

auch viel <strong>mit</strong> e<strong>in</strong>er wun<strong>der</strong>schönen Traberstute. Auch Rosemarie wurde e<strong>in</strong>e<br />

passionierte Reiter<strong>in</strong>.<br />

In Grossenhagen lebte ausserdem e<strong>in</strong>e Kus<strong>in</strong>e <strong>der</strong> Familie, die verwitwete Gretel<br />

<strong>von</strong> Petersdorff, die kurz nach unserer Ankunft <strong>in</strong> Lüttkenhagen <strong>mit</strong> ihren fünf<br />

Töchtern <strong>in</strong> die für sie ausgebaute Wohnung im Grossenhagener Gutshaus e<strong>in</strong>zog.<br />

Nach Liesel und Echen (o<strong>der</strong> Eka) kam noch <strong>der</strong> Bru<strong>der</strong> Hans-Jürgen, <strong>der</strong> <strong>in</strong><br />

Sylvesters Alter war und <strong>mit</strong> ihm <strong>in</strong> die gleiche Klasse <strong>in</strong> Gollnow g<strong>in</strong>g. Er fiel im<br />

Krieg auf <strong>der</strong> Krim. Me<strong>in</strong>e grosse Feund<strong>in</strong> war Gretels älteste Tochter Carola. Die<br />

Nachbarschaft und Freund-schaft <strong>mit</strong> diesen lieben und gastfreien Menschen war<br />

sehr eng und herzlich und e<strong>in</strong> bedeuten<strong>der</strong> Bestandteil unserer Lüttkenhagener<br />

Zeit. Ich glaube auch, dass „Pappi“ Petersdorff unseren Papu sehr anerkannt und<br />

geschätzt hat und ihm e<strong>in</strong> angenehmer Vorgesetzter war. Wieviele schöne und<br />

fröhliche Stunden haben wir doch <strong>mit</strong> den „Grossenhagenern“ verbracht, bei ihnen<br />

o<strong>der</strong> bei uns.Durch die Eichallee g<strong>in</strong>gs zunächst bergauf, dann e<strong>in</strong>e Biegung und<br />

dann sah man dort das Gut liegen, das 600 Jahre <strong>in</strong> Petersdorff schem Besitz<br />

gewesen war, als sie am Ende des zweiten Krieges fliehen mussten.<br />

Vor dem grossen Tor zum Gutshof lag rechts das kle<strong>in</strong>e Kamekesche Haus. Kam<br />

man dann durch das Tor, lag l<strong>in</strong>ks das schöne grosse Gutshaus, aus dessen Türe,<br />

den Vorfahrtsweg herunter e<strong>in</strong>em immer die kläffende Meute Rauhaardackel<br />

entgegenkam, <strong>mit</strong> dem laut schimpfenden Echen h<strong>in</strong>terher. Herr <strong>von</strong> Petersdorff<br />

war sehr freundlich <strong>mit</strong> uns K<strong>in</strong><strong>der</strong>n und immer zu Spässen aufgelegt, se<strong>in</strong>e Frau<br />

e<strong>in</strong> bisschen zurückhalten<strong>der</strong>. Ich war viel oben bei Carola und ihren Schwestern<br />

und habe <strong>mit</strong> ihr manch dummen Streich ausgeheckt. Sie kam auch oft zu uns auf<br />

ihrem dicken Pony, das ich auch manchmal reiten durfte. Carola ist genau gleich alt<br />

wie ich und g<strong>in</strong>g <strong>mit</strong> mir <strong>in</strong> dieselbe Klasse nach Gollnow. Roman schwärmte sehr<br />

für me<strong>in</strong>e hübsche lustige Freund<strong>in</strong>. H<strong>in</strong>ter dem Grossenhagener Gutshaus war e<strong>in</strong><br />

herrlicher grosser Park, <strong>in</strong> dem wir viel spielten.<br />

Wir drei, Sylvester, Roman und ich fuhren jeden Tag nach Gollnow 9 km zur<br />

Schule, nachdem ich <strong>in</strong> aller Eile radfahren gelernt hatte. Wenn es im W<strong>in</strong>ter <strong>mit</strong><br />

Schnee und Kälte allzu schlimm wurde, durften wir auf halbem Wege, <strong>in</strong> Puddenzig,<br />

<strong>in</strong> die Kle<strong>in</strong>bahn, die aus Massow kam, die sogenannte Klüt, e<strong>in</strong>steigen. Dann<br />

liessen wir unsere Rä<strong>der</strong> <strong>in</strong> Puddenzig beim Gutshaus stehen, wo Karli und Hanni<br />

<strong>von</strong> Alten, die auch zu unseren engen und lieben nachbarlichen Freunden gehörten<br />

und drei kle<strong>in</strong>e K<strong>in</strong><strong>der</strong> hatten, wohnten. Von dort waren es 10 M<strong>in</strong>uten zu Fuss bis<br />

zur kle<strong>in</strong>en Bahnhaltestelle, bei <strong>der</strong> dann irgendwann die Klüt, langsam und <strong>mit</strong> viel<br />

Dampf, angeschnauft kam. Grosses Hallo beim Wie<strong>der</strong>sehen <strong>der</strong> Schulkameraden<br />

aus Grossenhagen and an<strong>der</strong>en. Im Zug haben wir auch viel Uns<strong>in</strong>n gemacht und<br />

erwachsene Passagiere geärgert.Daran muss ich jetzt oft denken, wenn ich hier <strong>mit</strong><br />

<strong>der</strong> Bahn nach Zürich fahre und übermütige, nicht so brave K<strong>in</strong><strong>der</strong> im Abteil s<strong>in</strong>d -<br />

genau so waren wir auch. Nur war Sillo schon fast 17, Roman fast 14, Carola und<br />

ich erst 11 Jahre alt, daher benahmen sich die Brü<strong>der</strong> viel „erwachsener“ als wir<br />

zwei Mädchen. In Gollnow mussten wir noch e<strong>in</strong> gutes Stück bis zur Schule laufen,<br />

d.h. bis zu den Schulen, denn die Brü<strong>der</strong> und Hans-Jürgen g<strong>in</strong>gen <strong>in</strong> das<br />

Familienchronik „<strong>von</strong> Wildeman“ Seite 41 <strong>von</strong> 57 Februar 1986


Jungensgymnasium, während Carola und ich im Mädchenrealgymnasium waren.<br />

Die Schulen waren nur durch e<strong>in</strong>en Zaun getrennt. Merkwürdigerweise kann ich<br />

mich an wenig er<strong>in</strong>nern, was die eigentliche Schule betrifft, so war sie wohl ziemlich<br />

ereignislos. Nur an die geme<strong>in</strong>e Mathematiklehrer<strong>in</strong>, die, <strong>von</strong> h<strong>in</strong>ten kommend, uns<br />

<strong>mit</strong> <strong>der</strong> L<strong>in</strong>ealkante über die F<strong>in</strong>ger schlug, wenn sie uns bei e<strong>in</strong>em Fehler ertappte.<br />

Ich war <strong>von</strong> <strong>der</strong> Qu<strong>in</strong>ta bis zur Obertertia <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gollnower Schule, Roman <strong>von</strong> <strong>der</strong><br />

Untertertia bis zur Obersekunda, Sillo kam <strong>in</strong> die Untersekunda. Er blieb aber nicht<br />

bis zum Schluss <strong>in</strong> Gollnow, doch darüber später.<br />

Am besten er<strong>in</strong>nere ich mich an den Schulweg. Zuerst zuhause das Frühstück, zu<br />

dem wir immer Haferflockenbrei essen, d.h aufessen mussten. Die Pausenbrote<br />

wurden e<strong>in</strong>gepackt, und dann g<strong>in</strong>gs los.Anfangs fand ich das nicht so leicht, da ich<br />

das Radeln ja gerade erst gelernt hatte. Also vom Hof herunter, an <strong>der</strong> Stärkefabrik<br />

vorbei, e<strong>in</strong> Stück Birkenallee aufwärts und dann auf die Chaussee, an <strong>der</strong>en rechter<br />

Seite e<strong>in</strong> schmaler Weg war, auf dem man radeln konnte. In <strong>der</strong> Mitte fuhren<br />

Pferdewagen und die wenigen Autos und Postautos auf e<strong>in</strong>er Art harter<br />

Kiesstrasse, während auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite <strong>der</strong> „Sommerweg“, e<strong>in</strong>fach e<strong>in</strong>e weiche<br />

Erdstrasse war, auf <strong>der</strong> man die Pferdefüsse schonen konnte. Zu beiden Seiten<br />

Bäume, aber ke<strong>in</strong>e geschlossene Allee wie die Eichallee. Auf halbem Wege, wie<br />

gesagt, Dorf und Gut Puddenzig, das auch Petersdorffs gehörte und <strong>von</strong> Herrn <strong>von</strong><br />

Alten bewirtschaftet wurde, und dann g<strong>in</strong>gs weiter <strong>in</strong> den Wald, durch den man so<br />

herrlich leise zwischen den Bäumen h<strong>in</strong>durch auf e<strong>in</strong>em schmalen Nadelteppich-<br />

Weg radeln konnte, und wo die Vögel sangen, manchmal sogar die Nachtigall. Am<br />

Ausgang des Waldes kam man zur Ihna, dem Fluss, an dem Gollnow liegt. Dann<br />

g<strong>in</strong>gs durch die kle<strong>in</strong>e Stadt zur Schule, <strong>in</strong> <strong>der</strong> wir meistens <strong>von</strong> 8 bis e<strong>in</strong> Uhr<br />

sassen. Manchmal gab es auch nach<strong>mit</strong>tags noch e<strong>in</strong>e Stunde, z.B. Turnen o<strong>der</strong><br />

S<strong>in</strong>gen. Dann konnte ich über Mittag zusammen <strong>mit</strong> Carola bei irgendjemandem <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Stadt bleiben. Später bekamen Teddy und ich noch Klavierstunden, ich dazu<br />

noch Geigenunterricht beim Ehepaar Scheutzow. Lei<strong>der</strong> ereignete sich 1927 e<strong>in</strong>e<br />

ziemlich dramatische Sache, die durch Scheutzow, <strong>der</strong> auch <strong>in</strong> Sillos Klasse<br />

französisch unterrichtete, ausgelöst wurde.Unglücklicherweise waren er und Sillo <strong>in</strong><br />

das gleiche Mädchen verliebt, die sehr anziehende Gertrud Schirmer, Sillos<br />

Klassenkamerad<strong>in</strong>, was für Sillo nicht nur Piesackerei durch den Lehrer und<br />

schlechte Noten zur Folge hatte, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> „alte (45!) Kerl“ schlich Sillo e<strong>in</strong>es<br />

Abends nach, als dieser nach e<strong>in</strong>er Schulfeier bei Gertrud <strong>in</strong>s Fenster stieg.<br />

Scheutzow wartete draussen im Schnee, bis Sillo um halb zwölf herauskam und<br />

meldete die Geschichte dam Schuldirektor Täuber. An sich war das Ganze wohl<br />

e<strong>in</strong>e harmlose Sache, aber <strong>der</strong> sehr l<strong>in</strong>ks e<strong>in</strong>gestellte Klassenlehrer benutzte sie,<br />

um diesen „<strong>von</strong>“ <strong>Wildemann</strong>, <strong>der</strong> vielleicht ke<strong>in</strong> ganz gefügiger Schüler war,<br />

loszuwerden. Es gab ziemliche Aufregungen und Unannehmlichkeiten für Papu, <strong>der</strong><br />

selbst zum Direktor gehen musste. Sillo me<strong>in</strong>t, Papu habe im Grunde viel<br />

Verständnis gehabt und eigentlich gelacht. Darauf kam Sylvester wie<strong>der</strong> <strong>in</strong> die<br />

Baltenschule nach Misdroy und zwar <strong>in</strong>s Internat Dünenschloss, wo er bis zum<br />

Abitur, also bis zu se<strong>in</strong>er Ausreise nach Südwestafrika blieb und wo er sehr gern<br />

war. Wie ist es möglich, dass sich e<strong>in</strong> Lehrer wie <strong>der</strong> Scheutzow so wi<strong>der</strong>lich<br />

benimmt? Sillo kam <strong>von</strong> Misdroy <strong>mit</strong> Ulli zu den Ferien nach Hause.<br />

Wenn wir vier K<strong>in</strong><strong>der</strong> jetzt an unser Elternhaus denken, so s<strong>in</strong>d es vor allem die<br />

Jahre <strong>in</strong> Lüttkenhagen, die Bil<strong>der</strong> dieses schönen Landlebens, die wir vor Augen<br />

haben. <strong>Unser</strong> Haus war nicht gross und sehr gemütlich. Unten das Wohnzimmer <strong>mit</strong><br />

Familienchronik „<strong>von</strong> Wildeman“ Seite 42 <strong>von</strong> 57 Februar 1986


dem sehr wichtigen Kam<strong>in</strong>, das Esszimmer <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Küche dah<strong>in</strong>ter und <strong>der</strong> Tür zum<br />

Garten und Papus Büro <strong>mit</strong> dem Hund unter dem Schreibtisch. Auch das<br />

Schlafzimmer <strong>der</strong> Eltern und das geme<strong>in</strong>same <strong>von</strong> Teddy und mir waren unten.<br />

Oben war das Schlafzimmer <strong>der</strong> Brü<strong>der</strong>, ebenso das des landwirtschaftlichen<br />

Eleven und das Gastzimmer. Klo und Badezimmer waren unten. Vor dem Haus<br />

standen zwei Reihen schöner grosser Kastanienbäume, l<strong>in</strong>ks die grosse Scheune<br />

<strong>mit</strong> dem Storchennest, rechts <strong>der</strong> Pferdestall, geradeaus weiter unten Kuh- und<br />

Schafställe. An <strong>der</strong> Strasse unten lagen l<strong>in</strong>ks die Leutehäuser, auf <strong>der</strong> rechten Seite<br />

die Kirche. Diese Strasse führte vom Gutshof aus nach l<strong>in</strong>ks quer durchs Dorf am<br />

Haus des Lehrers vorbei auf die Chaussee und auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite an <strong>der</strong><br />

Stärkefabrik vorbei auch zurück auf die Chaussee, die <strong>von</strong> Stargard über<br />

Pribbernow und Priemhausen kommt, an Lüttkenhagen vorbei, durch Puddenzig<br />

nach Gollnow führt. Rückblickend überlege ich, ob nicht Ulli während unseres<br />

ersten Jahres o<strong>der</strong> <strong>der</strong> ersten Monate <strong>in</strong> Lüttkenhagen doch bei uns war. Denn er<br />

hat Teddy, die er beson<strong>der</strong>s liebte, oft an <strong>der</strong> Postauto-Haltestelle beim Lehrerhaus<br />

erwartet, wenn sie zum Wochenende aus Stargard kam. Ich glaube, dass er im<br />

ersten halben o<strong>der</strong> ganzen Jahr <strong>mit</strong> uns nach Gollnow <strong>in</strong> die Schule fuhr und erst<br />

später zurück nach Misdroy g<strong>in</strong>g, vielleicht weil die Umschulung zu schwierig war<br />

o<strong>der</strong> er den langen Schulweg nicht vertrug; er war ke<strong>in</strong> robustes K<strong>in</strong>d, vor allem<br />

seelisch nicht, wie sich später erwies. Er war so sehr zu uns gehörig, dass die<br />

Zeiten se<strong>in</strong>er An- o<strong>der</strong> Abwesenheit <strong>in</strong> <strong>der</strong> Er<strong>in</strong>nerung verschwimmen.Direkt neben<br />

unserem Haus war, vom Hause aus gesehen, l<strong>in</strong>ks <strong>der</strong> Hühnerstall, Mamus Reich<br />

und an <strong>der</strong> gleichen Seite im Hausgiebel <strong>der</strong> Taubenschlag. Der schöne grosse<br />

Garten lag h<strong>in</strong>ter dem Haus, <strong>mit</strong> viel Gemüse, Obstbäumen und Beeren. Wie oft<br />

haben wir dar<strong>in</strong> gespielt und auch gearbeitet, wieviel geerntet, und gegessen.Zur<br />

Esszimmertür heraus kam man zur grossblättrigen L<strong>in</strong>de, unter<strong>der</strong> wir so viel im<br />

Sommer gesessen, gegessen und gespielt, musiziert und aufgeführt haben. Am 15.<br />

und 17. Juli s<strong>in</strong>d die Geburtstage <strong>der</strong> Eltern, die bei schönem Wetter immer<br />

geme<strong>in</strong>sam abends unter <strong>der</strong> L<strong>in</strong>de gefeiert wurden. Da h<strong>in</strong>gen Lampions im Baum<br />

und es wurde <strong>von</strong> uns Theater gespielt, Lie<strong>der</strong> und Gedichte vorgetragen.<br />

E<strong>in</strong>zigartig war es, wie die Eltern <strong>mit</strong> uns Feste feiern konnten. An den Garten<br />

schloss sich <strong>der</strong> Hundezw<strong>in</strong>ger an, <strong>in</strong> dem die Drahthaarhünd<strong>in</strong> „Rega“ ihre grossen<br />

Würfe aufzog und <strong>der</strong> <strong>mit</strong> dem Namen „Teddys Freude“ e<strong>in</strong>getragen war. Auch<br />

e<strong>in</strong>en o<strong>der</strong> zwei Dackel hatten wir aus Grossenhagen, und ich hatte Kan<strong>in</strong>chen und<br />

Meerschwe<strong>in</strong>chen h<strong>in</strong>ten im Garten. Dort hatten Teddy und ich auch e<strong>in</strong><br />

Gartenhäuschen, <strong>von</strong> dessen Dach aus die Jungens uns manchmal ärgerten. Sie<br />

waren beide, wie Papu, passionierte Jäger und durften <strong>in</strong> den Ferien <strong>mit</strong> auf die<br />

Jagd . Auf den Schnepfenstrich im Frühl<strong>in</strong>g im Alten Hagen wurden sogar wir<br />

Mädchen <strong>mit</strong>genommen. Vor allem zur Treibjagd taten sich immer e<strong>in</strong>ige Nachbarn<br />

zusammen. Als e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>e Treibjagd angesetzt war, auf die die Brü<strong>der</strong> <strong>mit</strong>gehen<br />

sollten, musste Roman am Tag vorher <strong>mit</strong> e<strong>in</strong>er fieberhaften Erkältung <strong>in</strong>s Bett. E<strong>in</strong><br />

Heil<strong>mit</strong>tel hierfür war bei uns abends e<strong>in</strong> Becher heisse Milch <strong>mit</strong> e<strong>in</strong>em Teelöffel<br />

Schnaps dr<strong>in</strong>. Nachdem Mamu Roman dieses Getränk gegeben hatte, stellte sie die<br />

Schnapsflasche für den nächsten Tag im Jungenzimmer <strong>in</strong> den Schrank. Am<br />

nächsten Morgen hörte Mamu oben merkwürdige Geräusche. Als sie h<strong>in</strong>aufkam,<br />

sass <strong>der</strong> arme Römi wie e<strong>in</strong> Häufchen Elend auf se<strong>in</strong>em Bettrand, schrecklich<br />

jammernd, wie elend ihm sei. Es kam heraus, dass er im Lauf <strong>der</strong> Nacht den Rest<br />

<strong>der</strong> Flasche ausgetrunken hatte, um unbed<strong>in</strong>gt für die Jagd gesund zu se<strong>in</strong>. Jetzt<br />

bekam er zur Entgiftung literweise Milch und war nach paar Tagen gesund. Bei so<br />

Familienchronik „<strong>von</strong> Wildeman“ Seite 43 <strong>von</strong> 57 Februar 1986


schlimmer Uebelkeit war es wohl nur e<strong>in</strong> schwacher Trost, dass er sowieso nicht <strong>mit</strong><br />

auf die Jagd hätte gehen können!<br />

Als kle<strong>in</strong>e Schwester und als Jüngste <strong>von</strong> den Eltern sicher verwöhnt, wurde ich <strong>von</strong><br />

den Brü<strong>der</strong>n viel geneckt und gehänselt und vor allem an den Zöpfen gezogen, was<br />

ich hasste. E<strong>in</strong>mal, als ich mich gegen Roman wehren wollte, habe ich auf ihn<br />

losgeboxt, was ihn im allgeme<strong>in</strong>en wenig bee<strong>in</strong>druckte, aber diesmal traf ich ihn<br />

genau <strong>in</strong> die Magengrube. Ich sehe noch, wie er da sass, zusammengekrümmt und<br />

ganz weiss im Gesicht. Es war entsetzlich, ich habe mich schrecklich erschrocken,<br />

es tat mir so masslos leid. Solche E<strong>in</strong>drücke vergisst man nicht.<br />

Natürlich kam es auch vor, dass wir <strong>mit</strong> irgende<strong>in</strong>er Ausrede die Schule<br />

schwänzten, kaputtes Fahrrad war sehr beliebt! Papu, <strong>der</strong> die Schule sowieso<br />

miserabel fand, <strong>in</strong> <strong>der</strong> wir nur wenig lernten, war immer froh, e<strong>in</strong>en <strong>von</strong> uns, vor<br />

allem e<strong>in</strong>en <strong>der</strong> Jungens zuhause zu haben und ihn aufs Feld o<strong>der</strong> sonstwoh<strong>in</strong><br />

<strong>mit</strong>nehmen zu können. E<strong>in</strong>mal habe ich <strong>mit</strong> unsäglicher Mühe <strong>mit</strong> me<strong>in</strong>er Stahlfe<strong>der</strong><br />

(die zum Schreiben <strong>in</strong> T<strong>in</strong>te getaucht wurde) e<strong>in</strong>en Reifen und Schlauch am<br />

Fahrrad durchstochen - auf <strong>der</strong> Chaussee, immer <strong>in</strong> Angst, beobachtet zu werden,<br />

falls jemand vorbeikommt. Schliesslich glückte es, und ich marschierte <strong>mit</strong> me<strong>in</strong>er<br />

Reifenpanne nach Hause. Papu stand auf dem Hof und sah mir me<strong>in</strong> Geflunker<br />

natürlich gleich an, <strong>der</strong> verräterische T<strong>in</strong>tenfleck auf dem Reifen wäre gar nicht<br />

nötig gewesen. Ich gab me<strong>in</strong>e Untat auch gleich zu. Er me<strong>in</strong>te nur, dann müsste ich<br />

jetzt eben <strong>mit</strong> ihm aufs Feld fahren. E<strong>in</strong>mal hatte ich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Schule wegen Erkältung<br />

gefehlt. Papu schrieb mir e<strong>in</strong>en Entschuldigungszettel: „Mar<strong>in</strong>a hatte gestern<br />

Schnupfen, heut kann sie wie<strong>der</strong> fröhlich hupfen“. Ich habe am Morgen vor <strong>der</strong><br />

Schlafzimmertür <strong>der</strong> Eltern solange gewe<strong>in</strong>t und gebettelt, bis Mamu mir e<strong>in</strong>en<br />

„normalen“ Zettel schrieb. Zu dumm, dieses Angst, nicht ernst genommen zu<br />

werden. In <strong>der</strong> Küche waltete e<strong>in</strong>e Köch<strong>in</strong>, aber ich kann mich gar nicht an sie<br />

er<strong>in</strong>nern.<br />

Die Brü<strong>der</strong> wurden manchmal vom Essen ausgeschlossen, wenn sie sich etwas<br />

allzu Schlimmes hatten zuschulden kommen lassen o<strong>der</strong> viel zu spät kamen. Aber<br />

die Köch<strong>in</strong> gab ihnen dann heimlich etwas. E<strong>in</strong> schlimmer Streich waz z.B. die<br />

schreckliche Geschichte <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Blaubeersuppe: Der Esstisch stand festlich<br />

gedeckt, weil die Grossenhagener und Puddenziger zum Abendessen kommen<br />

sollten. Die kalte Blaubeersuppe, e<strong>in</strong> typisch baltisches Gericht, stand schon auf<br />

dem Tisch. Sillo und Römi kamen zum Tisch im noch leeren Esszimmer und nach<br />

e<strong>in</strong>em Blick <strong>in</strong> die klare blaue Suppe sagte Sillo: „Kuck mal, wie man sich <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Suppe spiegeln kann“. Römi hält se<strong>in</strong> Gesicht dicht über <strong>der</strong> Suppe, sieht se<strong>in</strong><br />

Spiegelbild und schon ist er auch bis <strong>in</strong> die Ohren dr<strong>in</strong> und die Suppe über das<br />

ganze weisse Damasttuch verspritzt, e<strong>in</strong>e unbeschreibliche Ferkelei. Sillo hatte ihm<br />

e<strong>in</strong>en Klaps auf den H<strong>in</strong>terkopf gegeben, die Versuchung dazu war zu gross. Auch<br />

<strong>der</strong> Kissell eignete sich gut für solche Spielereien, es klatschte sich so schön <strong>mit</strong><br />

dem Löffel drauf, bis es nach allen Seiten spritzte.<br />

Papus natürliche Begabung als Landwirt und Techniker brachte ihm grosse Erfolge<br />

und Bewun<strong>der</strong>ung. Woher konnte er wohl alles?Zwar war er e<strong>in</strong> Gutsbesitzersohn,<br />

aber doch stets nur <strong>in</strong> den Ferien zuhause gewesen. Nach dem Jurastudium hatte<br />

sofort geheiratet und war als Semskij Natschalnik (Landrat) nach Simbirsk<br />

gegangen. Mit <strong>der</strong> väterlichen Landwirtschaft hatte er höchstens <strong>in</strong> den Ferien zu<br />

tun. Doch <strong>in</strong> Lüttkenhagen kamen die Gutsbesitzer aus <strong>der</strong> Nachbarschaft um zu<br />

erfahren, wie er die hohen Milchleistungen <strong>der</strong> Kühe zustande brachte. Unermüdlich<br />

experimentierte und verbesserte er an allem. Als erster <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gegend setzte er die<br />

Familienchronik „<strong>von</strong> Wildeman“ Seite 44 <strong>von</strong> 57 Februar 1986


Kartoffelbuddelmasch<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>, h<strong>in</strong>ter <strong>der</strong> die Kartoffeln schön <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Reihe<br />

aufgehäuft lagen statt verstreut herumzuliegen, um mühsam aufgesammelt zu<br />

werden. Hierbei haben wir K<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>in</strong> den Herbstferien (sogenannte Kartoffelferien)<br />

im ersten Jahr <strong>mit</strong>geholfen und uns etwas Geld verdient, 20 Pfennig pro Kiepe,<br />

glaube ich. Alle Geräte und Masch<strong>in</strong>en auf dem Hof wurden repariert und wenn<br />

möglich mo<strong>der</strong>nisiert. Für die Stärkefabrik hat Papu e<strong>in</strong>e neue Masch<strong>in</strong>e erfunden.<br />

Dort roch es immer so gut, unvergesslich s<strong>in</strong>d die riesigen Bottiche <strong>mit</strong> dem<br />

Stärkemehl. Im sogenannten Ackerpferdestall standen 10 Gespanne zu je drei<br />

Pferden, <strong>von</strong> denen jedes se<strong>in</strong>en bestimmten Pferdeknecht hatte, <strong>der</strong> <strong>mit</strong> diesen<br />

drei Pferden arbeitete und sie betreute.Die Dreschmasch<strong>in</strong>e stand <strong>in</strong> <strong>der</strong> grossen<br />

Scheune auf <strong>der</strong> l<strong>in</strong>ken Seite, wenn man aus dem Hause trat. Vielleicht wurde <strong>mit</strong><br />

dieser auch draussen gedroschen. Stroh und Heu g<strong>in</strong>gen auf dem langen<br />

„Höhenför<strong>der</strong>er“ <strong>von</strong> draussen durch e<strong>in</strong>e Luke im Dach <strong>in</strong> die Scheune, um dort<br />

gestapelt zu werden. Die Scheune war auch e<strong>in</strong> herrlicher Spielplatz zum Spr<strong>in</strong>gen<br />

und Toben für uns.<br />

Natürlich hatte <strong>der</strong> vielseitige Gutsbetrieb auch e<strong>in</strong>en „Inspektor“, <strong>der</strong> die Arbeit <strong>der</strong><br />

Leute im e<strong>in</strong>zelnen anzuordnen und zu überwachen hatte. Dies war Herr Zieske,<br />

<strong>der</strong> <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er Er<strong>in</strong>nerung gross, breit und rosig war und <strong>mit</strong> dem Papu, glaube ich,<br />

gut auskam. Lüttkenhagen wurde unter Papus Leitung als Lehrbetrieb anerkannt,<br />

sodass landwirtschaftliche Eleven bei uns ihre praktische e<strong>in</strong>jährige Lehrzeit<br />

absolvieren konnten. Es kamen und g<strong>in</strong>gen verschiedene im Lauf <strong>der</strong> Jahre. Da war<br />

zunächst Bobby Holtz, <strong>der</strong> sehr nett war und sich <strong>in</strong> Teddy verliebte. Dann van<br />

Cappellen, <strong>der</strong> Hollän<strong>der</strong>, <strong>der</strong> nicht mehr jung, ganz lustig und e<strong>in</strong> ziemlicher<br />

Schwerenöter war. Als ihm beim P<strong>in</strong>gpongspielen <strong>mit</strong> Gretel Petersdorff im<br />

Weihnachtszimmer <strong>in</strong> Grossenhagen e<strong>in</strong>e Tannennadel <strong>in</strong>s Auge geriet, dichtete<br />

Papu:<br />

„O Tannenbaum, man glaubt es kaum, wie spitz s<strong>in</strong>d de<strong>in</strong>e Nadeln;wenn man nach<br />

schönen Frauen kiekt, man sich leicht <strong>in</strong> die Au-gen piekt,<br />

o Tannenbaum man glaubt es kaum, wie spitz s<strong>in</strong>d de<strong>in</strong>e Nadeln“.<br />

Allerd<strong>in</strong>gs „kiekte“ van Cappellen lei<strong>der</strong> nicht nur, son<strong>der</strong>n konnte auch viel<br />

deutlicher werden und brachte sogar mich 14-jährige <strong>mit</strong> se<strong>in</strong>en Albernheiten <strong>in</strong><br />

Verlegenheit. Papu riet ihm: „Cappelle, sei helle, bleib Junggeselle“. Aber er war<br />

nett und lustig und brachte schönen Käse <strong>von</strong> den Ferien aus Holland <strong>mit</strong>. An<br />

se<strong>in</strong>er Sprache hatten wir viel Spass: „Kartofflen buddlen“ usw. Dann gab es Georg<br />

Heye aus Hamburg o<strong>der</strong> Bremen, <strong>von</strong> dessen grosser Harley-Davidson Sillo, <strong>der</strong><br />

schon längst Motorrad-versessen war, entzückt war. Aber wir mochten Heye nicht<br />

sehr. Ich er<strong>in</strong>nere mich nur an se<strong>in</strong> etwas hochnäsiges Gesicht und an se<strong>in</strong>e<br />

Sprache. Er war nur kurz bei uns. Später hat er <strong>in</strong> Südwest gelebt, wo er auch<br />

gestorben ist. Herr Remagen vom Rhe<strong>in</strong>land (<strong>von</strong> Papu heimlich „Hirschbauch“<br />

genannt) war e<strong>in</strong> netter Eleve, fröhlich wie die Rhe<strong>in</strong>län<strong>der</strong> s<strong>in</strong>d. Nicht lange<br />

nachdem er <strong>von</strong> uns wegg<strong>in</strong>g, ist er durch e<strong>in</strong>en Sturz vom Pferd gestorben.<br />

Natürlich hatten wir viel Besuch, vor allem <strong>von</strong> Verwandten.<br />

Ullis Stiefschwestern Recke, den Kus<strong>in</strong>en aus Podelwitz, Tante D<strong>in</strong>a Bistram, Onkel<br />

Paul <strong>mit</strong> Tante Elli und an<strong>der</strong>en. Alek Sollogub, <strong>der</strong> jüngere Sohn <strong>von</strong> Graf<br />

<strong>Alex</strong>an<strong>der</strong> Sollogub, Papus engem russischem Freund, <strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Revolution<br />

ermordet wurde, war lange bei uns. Er kam zu uns aus Paris, wo se<strong>in</strong>e Mutter Edja<br />

<strong>mit</strong> ihren Söhnen Wladimir und Alek, wie so viele Russen damals, als Emigranten<br />

lebten. Wladimir sah blendend aus und war E<strong>in</strong>tänzer <strong>in</strong> Paris, d.h. er brachte den<br />

Familienchronik „<strong>von</strong> Wildeman“ Seite 45 <strong>von</strong> 57 Februar 1986


französischen Mädchen <strong>der</strong> Gesellschaft das Tanzen bei. Auch er, damal 26- jährig,<br />

und se<strong>in</strong>e Mutter, Tante Edja, besuchten uns <strong>in</strong> Lüttkenhagen. Aber vor allem war<br />

Alek unser Freund, <strong>der</strong> monatelang bei uns war. Mit se<strong>in</strong>en 22 Jahren passte er gut<br />

zu uns und war sehr anhänglich an unsere Eltern. Ich höre noch se<strong>in</strong> „Djadja“ und<br />

„Tjotja“ (Onkel und Tante), wie er sie nannte. Er sprach recht gut deutsch. Wo<strong>mit</strong> er<br />

uns am meisten begeisterte, war se<strong>in</strong> unglaubliches Zeichen- und Maltalent.<br />

Russische Landschaften, Menschen und Tiere zauberte er <strong>in</strong> kurzer Zeit <strong>in</strong><br />

Wasserfarben aufs Papier, so entstanden zum Beispiel wun<strong>der</strong>schöne Tischkarten,<br />

<strong>von</strong> denen wir noch e<strong>in</strong>ige haben. <strong>Unser</strong>e Eltern erzählten uns <strong>von</strong> <strong>der</strong> Armut <strong>der</strong><br />

Sollogubs, die e<strong>in</strong>st <strong>in</strong> ihrer Heimat sehr reich gewesen waren und durch die<br />

Revolution alles, vor allem den Vater verloren hatten. Tante Edja hatte Schmuck<br />

retten können, den sie allmählich verkaufte.<br />

Am schönsten waren die langen Sommerferien, wenn auch Ulli, e<strong>in</strong>mal auch <strong>mit</strong><br />

se<strong>in</strong>em Freund He<strong>in</strong>z Gruenewaldt, nach Hause kam.<br />

Was haben wir uns alles ausgedacht, vor allem an Dummheiten!<br />

Zum Beispiel haben Ulli und ich uns aus trocknen Kartoffelblättern Zigaretten<br />

gedreht und diese, <strong>in</strong> den Furchen liegend, da<strong>mit</strong> uns niemand sieht, geraucht, bis<br />

uns schlecht wurde. Lei<strong>der</strong> haben wir e<strong>in</strong>mal aus dem silbernen Kasten auf dem<br />

Kam<strong>in</strong> zwei richtige Zigaretten geklaut und diese draussen auf dem Feld geraucht,<br />

weit weg, wo wir überzeugt waren, dass uns niemand entdecken würde.<br />

Seltsamerweise haben wir Papus Kommen we<strong>der</strong> gesehen noch gehört, er war<br />

plötzlich ganz nahe. Ich schmiss me<strong>in</strong>e Zigarette weg, sie lag brennend neben wir<br />

auf <strong>der</strong> Erde. Aber Ulli steckte se<strong>in</strong>e vorsichtig <strong>in</strong> die Hosentasche und hielt sie dort<br />

- e<strong>in</strong>e heisse ungemütliche Lage. Papu tat, als ob er den aus <strong>der</strong> Tasche<br />

aufsteigenden Rauch nicht sähe und liess den armen Ulli <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Klemme. Er<br />

fragte uns nur, wo wir gewesen seien und was wir vorhätten. Schliesslich musste<br />

Ulli, tief beschämt, die Hand <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Zigarette aus <strong>der</strong> Tasche nehmen.Papu sagte<br />

nicht viel, denn wir waren ja genug gestraft.<br />

Wir hatten zwei Kutschpferde, „Taifun“ und „Agnes“ und e<strong>in</strong>en leichten Wagen.<br />

Taifun war wild und schwer zu regieren, aber Papu wurde natürlich gut <strong>mit</strong> ihm<br />

fertig. Roman konnte auch sehr gut <strong>mit</strong> den Pferden umgehen und fuhr sie e<strong>in</strong>- und<br />

zweispännig.Agnes war sanft, und auf ihr lernten wir reiten; zuerst an <strong>der</strong> Le<strong>in</strong>e<br />

(Longe) im Kreis und später draussen. Roman, geschickt im Umgang <strong>mit</strong> Pferden<br />

und <strong>mit</strong> angeborener landwirtschaflticher Begabung, arbeitete <strong>in</strong> <strong>der</strong> Erntezeit viel<br />

auf <strong>der</strong> „Hungerharke“. Diese besteht aus e<strong>in</strong>em hohen Sitz auf zwei Rä<strong>der</strong>n, <strong>der</strong><br />

<strong>von</strong> e<strong>in</strong>em Pferd gezogen wird und an den h<strong>in</strong>ten e<strong>in</strong> grosser, vielz<strong>in</strong>kiger run<strong>der</strong><br />

Rechen angebracht ist. Wo das <strong>in</strong> Garben gebundene Korn auf die Erntewagen<br />

geladen worden war, blieb immer zwischen den Stoppeln e<strong>in</strong>e Menge loser Halme<br />

zurück.Diese harkte die Hungerharke zusammen. Am Ende je<strong>der</strong> Reihe wurde sie<br />

<strong>mit</strong> e<strong>in</strong>em Griff gehoben und liess die Halme (<strong>mit</strong> den vollen Aehren) aufgehäuft<br />

liegen. Dann wurde die Harke wie<strong>der</strong> gesenkt und es g<strong>in</strong>g an die nächste Reihe.<br />

Auf diese Art kam noch viel verstreutes Getreide <strong>in</strong> die Dreschmasch<strong>in</strong>e. Roman<br />

hat viele Stunden <strong>in</strong> den Ferien so gearbeitet und sich da<strong>mit</strong> etwas Geld verdient.<br />

In e<strong>in</strong>em Sommer hat Sylvester bei e<strong>in</strong>em Mann <strong>in</strong> Gollnow e<strong>in</strong>enRadioapparat<br />

gekauft, den er und Roman aus ihren Ferienlöhnen bezahlen wollten. Es war die<br />

Zeit <strong>der</strong> allerersten Radios - natürlich e<strong>in</strong>e ungeheure Versuchung für die Brü<strong>der</strong>.<br />

Sylvester war <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Funktion dieses Apparates schon vertraut, und bei manchen<br />

Bekannten gab es auch schon so e<strong>in</strong> Wun<strong>der</strong>d<strong>in</strong>g. Es war e<strong>in</strong> riesiger komplizierter<br />

Familienchronik „<strong>von</strong> Wildeman“ Seite 46 <strong>von</strong> 57 Februar 1986


Apparat aus vielen Teilen, <strong>in</strong> drei Kästen. Da das Geld ja erst langsam<br />

zusammengespart werden musste, hatte Sylvester den Händler <strong>in</strong> Gollnow<br />

beschwatzt, ihm das Radio auf Pump zu geben und ihm irgendetwas <strong>von</strong> e<strong>in</strong>em Gut<br />

im Baltikum vorgefaselt. Der Apparat kam also und wurde im Wohnzimmer<br />

aufgestellt. Papu sagte nichts dazu. Die Jungens bauten draussen e<strong>in</strong>e Antenne zur<br />

Scheune und sassen <strong>mit</strong> Kopfhörern und hörten vor allem Pfeifen und Rauschen<br />

und hier und da etwas Musik. Aber es musste gearbeitet und das D<strong>in</strong>g bezahlt<br />

werden. Gerade da brach sich Sillo, als er wie immer die Treppe heruntersprang,<br />

den Knöchel und musste lange liegen. Da war es aus <strong>mit</strong> Arbeiten für das Radio.<br />

Roman, <strong>der</strong> nicht so schrecklich begeistert <strong>von</strong> <strong>der</strong> ganzen Idee gewesen war,<br />

konnte das Geld natürlich nicht alle<strong>in</strong> aufbr<strong>in</strong>gen. E<strong>in</strong>es Tages kam <strong>der</strong><br />

Radioverkäufer aus Gollnow und for<strong>der</strong>te se<strong>in</strong>en Apparat zurück o<strong>der</strong> se<strong>in</strong> Geld.<br />

Papu sagte ihm, er solle nur das Radio wie<strong>der</strong> wegnehmen. Se<strong>in</strong> m<strong>in</strong><strong>der</strong>jähriger<br />

Sohn habe sich auf diese dumme Sache e<strong>in</strong>gelassen, und man hätte ihm das teure<br />

D<strong>in</strong>g gar nicht verkaufen sollen. So zog <strong>der</strong> arme Mann <strong>mit</strong> se<strong>in</strong>em Radio wie<strong>der</strong><br />

ab. Ich kann mich gut an die Töne er<strong>in</strong>nern, die durch den Kopfhörer kamen - es<br />

war e<strong>in</strong> grosses Wun<strong>der</strong>, dass Musik und Sprache e<strong>in</strong>fach durch die Luft <strong>von</strong> Berl<strong>in</strong><br />

bis zu uns durch diesen Kasten kam, auch wenn sie undeutlich und verzerrt war.<br />

Im Alten Hagen, dem etwa zwei km entfernten kle<strong>in</strong>en Gehölz, gab es e<strong>in</strong>e schöne<br />

Quelle. Dort wollten Teddy und ich an e<strong>in</strong>em schönen Ostersonntagmorgen den<br />

alten deutschen Brauch des „Osterwasserholens“ erleben. Wir g<strong>in</strong>gen also früh am<br />

Morgen <strong>mit</strong> zwei Eimern los. Um schön zu werden, durfte man während des ganzen<br />

Vorganges we<strong>der</strong> sprechen noch lachen, noch sich umdrehen und auch ke<strong>in</strong><br />

Wasser verschütten. Wir kamen zur Quelle, wuschen uns dort das Gesicht, füllten<br />

unsere Eimer und machten uns auf dem Heimweg. Nach kurzer Zeit hörten wir<br />

h<strong>in</strong>ter uns die Stimmen <strong>von</strong> Echen, Gretel und Karl-Henn<strong>in</strong>g. Sie waren auf e<strong>in</strong>em<br />

Morgenspaziergang und wollten <strong>Wildemann</strong>s beim russischen Osterfrühstück<br />

überraschen. Natürlich wussten sie sofort, warum Teddy und ich unterwegs waren<br />

und versuchten alles, um uns zum Lachen und Umdrehen zu reizen. Aber wir haben<br />

es doch geschafft und s<strong>in</strong>d sogar <strong>mit</strong> den Eimern über e<strong>in</strong>en Zaun gestiegen, ohne<br />

zu lachen o<strong>der</strong> etwas zu verschütten. An diesen Gang <strong>mit</strong> Teddy zur Quelle am<br />

strahlenden Ostermorgen denke ich seitdem an jedem Ostersonntag. <strong>Unser</strong><br />

Osterfrühstück war sehr beliebt bei <strong>der</strong> Nachbarschaft, <strong>der</strong> so etwas ja vollkommen<br />

unbekannt war. Da waren die Berge gefärbter Eier, an denen wir tagelang vorher<br />

gearbeitet hatten, und <strong>von</strong> denen man am Ostersonntag unbegrenzt viele essen<br />

durfte. Die Brü<strong>der</strong> brachten es auf 10 - 12. Die Hauptsache aber war die Pas-cha,<br />

die russische Ostertorte.(Pas-cha heisst e<strong>in</strong>fach Ostern). Diese besteht aus e<strong>in</strong>er <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>er speziellen Holzform gepressten Quarkmischung, die aus Quark, Eiern, Butter,<br />

Zucker, Ros<strong>in</strong>en, Zitronenschale und saurem „Schmand“ hergestellt wird. Diese<br />

Pas-cha steht als Mittelpunkt des Osterfrühstücks etwa 30 cm hoch, viereckig, nach<br />

oben etwas spitz zulaufend und <strong>mit</strong> e<strong>in</strong>er roten Papierrose drauf <strong>mit</strong>ten auf dem<br />

Tisch, sozusagen als Inbegriff des Osterfestes. Es war immer schade, sie<br />

anzuschneiden, aber sie schmeckte vorzüglich.Dann gab es noch <strong>in</strong> Brotteig<br />

gebackenen Sch<strong>in</strong>ken, Piroggen (Pasteten) und an<strong>der</strong>e Köstlichkeiten. Der<br />

Ostertisch war farbig und festlich, und wir freuten uns lange vorher darauf. Der<br />

ganze Tag war voller Freude und Aufregung, vor allem, wenn das Wetter schön war<br />

und Papu und Mamu die bunten Eier draussen verstecken konnten. Papus<br />

Erf<strong>in</strong>dungsreichtum war dabei unendlich; er kletterte auf Dächer und Bäume, um es<br />

Familienchronik „<strong>von</strong> Wildeman“ Seite 47 <strong>von</strong> 57 Februar 1986


den Jungens schwer zu machen, während Mamu für uns Mädchen im Garten<br />

versteckte.Manche Eier wurden gar nicht zu Ostern, son<strong>der</strong>n erst später im Lauf<br />

des Jahres gefunden. Gelegentlich stöberten wir beim Suchen auch wildbrütende<br />

Hennen auf. Jetzt muss noch über etwas sehr Trauriges aus <strong>der</strong> Lüttkenhagener<br />

Zeit berichtet werden: Es war im Sommer 1926, als Ulli anf<strong>in</strong>g, sehr unruhig zu<br />

schlafen und im Schlaf umherzuwan<strong>der</strong>n.Er schlief dabei ganz fest und g<strong>in</strong>g <strong>mit</strong><br />

geschlossenen Augen durch die Zimmer, als suche er etwas. Er machte Türen, und<br />

als die Schlüssel versteckt wurde, Fenster auf und g<strong>in</strong>g im Dunklen, manchmal <strong>mit</strong><br />

e<strong>in</strong>em Besen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Hand, im Nachthemd über den Hof.Papu, die Brü<strong>der</strong> und Bobby<br />

Holtz konnten ihn nur <strong>mit</strong> Gewalt wie-<strong>der</strong> <strong>in</strong>s Bett br<strong>in</strong>gen, da er <strong>in</strong> dem Zustand<br />

ganz übernatürliche Kräfte hatte. Ihn dabei zu wecken, war ganz unmöglich, we<strong>der</strong><br />

Anschreien noch Klapse weckten ihn. Er g<strong>in</strong>g e<strong>in</strong>fach unbeirrt und wäre, hätte man<br />

ihn gelassen, durchs Dorf auf die Chaussee gegangen, dorth<strong>in</strong>, wo er immer<br />

wartete, wenn Teddy zum Wochenende <strong>mit</strong> dem Postauto aus Stargard kam. Er<br />

liebte ja Teddy über alles. Die nächtlichen Vorgänge wie<strong>der</strong>holten sich mehrere<br />

Wochen lang, was vor allem für die Eltern, aber auch für Ulli selbst ganz schlimm<br />

war, er wurde immer blasser und nervöser.Mamu und Papu wagten nicht, ihm zu<br />

sagen, was er nachts tat, er selbst hatte ke<strong>in</strong>e Ahnung und verstand nicht, warum<br />

er morgens ganz zerschlagen aufwachte. Er wurde dann e<strong>in</strong>e Zeitlang zu Ropps<br />

nach Rostock geschickt, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Hoffnung, dass diese Abwechslung ihm guttun<br />

würde. Aber auch dort schlief er sehr unruhig, allerd<strong>in</strong>gs ohne umherzuwan<strong>der</strong>n,<br />

wohl weil er die Umgebung nicht kannte. Aber er war unglücklich und elend. Darauf<br />

kam er für kurze Zeit <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Art Krankenhaus o<strong>der</strong> Heim, wo er taktvoll beobachtet<br />

und behandelt werden sollte. Aber dort war er so unglücklich, dass Mamu ihn<br />

zurückholen musste. Es hatte nichts geholfen, Ulli war nur trauriger geworden und<br />

er wan<strong>der</strong>te wie<strong>der</strong> nachts. Auch dass Mamu ihm e<strong>in</strong>e Schüssel <strong>mit</strong> kaltem Wasser<br />

vors Bett stellte <strong>in</strong> <strong>der</strong> Hoffnung, dass dies ihn wecken würde, wenn er h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>trat,<br />

half nichts. Er g<strong>in</strong>g unbeirrt <strong>mit</strong> nassen Füssen zur Türe o<strong>der</strong> zum Fenster, h<strong>in</strong>aus<br />

wollte er.<br />

Schliesslich entschloss sich Mamu schweren Herzens, als gar nichts half, <strong>mit</strong> Ulli zu<br />

sprechen. Es war e<strong>in</strong> schwerer Schritt, denn die Gefahr, ihn <strong>mit</strong> Schuldgefühlen zu<br />

belasten und ihn sich als nicht normaler Aussenseiter <strong>in</strong> unserer Familie fühlen zu<br />

lassen, war bei diesem sensiblen K<strong>in</strong>d sehr gross. Aber Mamu war verzweifelt, und<br />

es musste etwas geschehen. (Lei<strong>der</strong> gab es damals noch ke<strong>in</strong>e psychoanalytische<br />

Behandlung). So fragte Mamu ihn schliesslich, ob er denn gar nicht wisse, warum er<br />

morgens oft so zerschlagen und kalt sei. Er war vollkommen ahnungslos und<br />

ausser sich vor Kummer und Reue, als er alles erfuhr. Dass er den Eltern und vor<br />

allem Mamu soviel Unruhe und Sorgen bereitet hatte, machte ihn ganz verzweifelt.<br />

Es kam e<strong>in</strong>e schreckliche Zeit für ihn, <strong>in</strong> <strong>der</strong> er nicht mehr wagte, e<strong>in</strong>zuschlafen. Er<br />

schreckte alle halbe Stunde auf und fragte, ob er schon wie<strong>der</strong> etwas angestellt<br />

habe. Ganz allmählich überwand er die Krankheit aus eigener Kraft und <strong>mit</strong> Mamus<br />

Hilfe und wurde gesund. Dass Ulli verschlossen war und nicht <strong>mit</strong> uns über die<br />

grosse Trauer <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Herzen über den Verlust <strong>von</strong> Eltern, Bru<strong>der</strong> (Jochi) und die<br />

dauernde Trennung <strong>von</strong> se<strong>in</strong>en Stiefschwestern, an denen er sehr h<strong>in</strong>g und die er<br />

nur sehr selten sah, sprechen konnte, ist auf diese eigenartige Weise aus se<strong>in</strong>em<br />

Unterbewusstse<strong>in</strong> hervorgebrochen. Wie falsch war es <strong>von</strong> uns zu denken, dass er<br />

vergessen und unbeschwert unser Leben teilen konnte. Möglicherweise wäre es<br />

besser gewesen, wir hätten versucht, se<strong>in</strong>en Kummer <strong>mit</strong> ihm zu teilen, ihn dazu<br />

gebracht, über alles zu sprechen. Sillo me<strong>in</strong>t jetzt, er habe Ulli nie lachen gesehen.<br />

Familienchronik „<strong>von</strong> Wildeman“ Seite 48 <strong>von</strong> 57 Februar 1986


Und obwohl das nicht ganz stimmt, denn er hat doch lustig und ausgelassen unsere<br />

Spiele und sonstige Freuden geteilt, ist dieser E<strong>in</strong>druck doch sehr bezeichnend. Als<br />

Ulli gesund, aber doch ziemlich geschwächt war, beschlossen die Eltern, ihn wie<strong>der</strong><br />

zu Tante Magda nach Misdroy zu geben, da die Belastung des langen täglichen<br />

Schulwegs ihm nicht zugemutet werden sollte. Dort, unter Tante Magdas liebevoller<br />

Betreuung g<strong>in</strong>g es ihm nach anfänglichen kle<strong>in</strong>en Rückfällen gut, und er und wir<br />

konnten uns immer auf die Ferien freuen, wenn er nach Hause kam. Er hat sich <strong>in</strong><br />

Misdroy wie<strong>der</strong> ganz wohl gefühlt, wenn auch für den halbwüchsigen Jungen die<br />

etwas schwierige Grossmutter nicht immer leicht zu ertragen war, wie er mir später<br />

erzählte.Dass er <strong>in</strong> Misdroy se<strong>in</strong>en engen Freund He<strong>in</strong>z Gruenewaldt hatte, hat ihm<br />

sehr viel bedeutet. Ulli blieb is Misdroy, auch als wir 1929 nach Südafrika<br />

auswan<strong>der</strong>ten. Er wollte bis zum Abitur <strong>in</strong> <strong>der</strong> Baltenschule bleiben und uns dann<br />

nachkommen. Das tat er jedoch nicht, son<strong>der</strong>n er trat sofort nach dem Abitur <strong>in</strong> die<br />

Wehrmacht e<strong>in</strong>, zusammen <strong>mit</strong> He<strong>in</strong>z Gruenewaldt. Er war gerne Soldat und hatte<br />

auch viele Freunde, aber ihm fehlte unsere Familie doch sehr. Nachdem ich 1937<br />

nach Deutschland zurückkam und bei unseren alten Freunden Wedemeyers <strong>in</strong><br />

Schönrade lebte und arbeitete, kam Ulli oft zum Urlaub dorth<strong>in</strong> und später auch<br />

nach Grossenhagen, wo ich e<strong>in</strong>ige Jahre während des Krieges als Gutssekretär<strong>in</strong><br />

arbeitete.Ulli g<strong>in</strong>g, als <strong>der</strong> Krieg ausbrach, als Leutnant nach Frankreich und schrieb<br />

ganz lustige Feldpostkarten <strong>von</strong> dort, kam auch zwischendurch zum Urlaub nach<br />

Pommern. Kurz nachdem die Wehrmacht <strong>in</strong> Russland e<strong>in</strong>marschiert war, schrieb<br />

mir Ulli, <strong>der</strong> nun Oberleutnant und Kompagniechef war, dass se<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>heit nach<br />

Osten verlegt wird und ob ich ihn <strong>in</strong> Stett<strong>in</strong> auf dem Bahnhof treffen könnte. Dort<br />

sah ich ihn Anfang Juli 1941 zum letzten Mal. Er war ganz gefasst und ruhig und<br />

irgendwie glücklich, dass er nach Russland gehen konnte. Er sagte: „Ich weiss,<br />

dass ich nicht zurückkommen werde. Wie me<strong>in</strong>e Eltern, so werde auch ich <strong>von</strong> den<br />

Bolschewiken getötet werden“. Natürlich konnte ich das nicht so h<strong>in</strong>nehmen und<br />

freute mich auf das Wie<strong>der</strong>sehen <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em nächsten Urlaub. Danach bekam ich<br />

noch drei Postkarten, vom 26. Juli, 19. August und 14. September, letztere<br />

gestempelt am 17. September, als Ulli schon tot war. In <strong>der</strong> schrieb er: „Liebes<br />

Babs, Für De<strong>in</strong>e Briefe und Zigaretten vielen Dank, ich habe mich über beides sehr<br />

gefreut. Ich stehe dicht vor <strong>der</strong> ehemaligen Hauptstadt, man sieht sie schon. B<strong>in</strong><br />

bisher überall e<strong>in</strong>igermassen heil durchgekommen. Wenn Du kannst, dann schicke<br />

mir e<strong>in</strong>ige Postkarten, ich bekomme hier ke<strong>in</strong>e, und Briefpapier kann ich nicht<br />

<strong>mit</strong>schleppen, abgesehen da<strong>von</strong> fehlt die Zeit zum Schreiben, und bei den Russen<br />

kleben die Umschläge schon vorher zusammen. Wie geht es Astrid? Dass Teddy<br />

alle<strong>in</strong> ist, ist ja furchtbar. Schreib bald und sei sehr herzlich gegrüsst und geküsst<br />

De<strong>in</strong> Ulli“.<br />

E<strong>in</strong>e Woche später kam dann <strong>der</strong> Brief <strong>von</strong> e<strong>in</strong>em Leutnant (Name unleserlich):<br />

„Am 16. September 1941 um 14.30 Uhr hat <strong>der</strong> Oberleutnant und Kompagniechef<br />

Georg <strong>von</strong> <strong>Wildemann</strong> im Kampf um e<strong>in</strong>e Vorstadt <strong>von</strong> Petersburg den Heldentod<br />

durch e<strong>in</strong>e russische Granate gefunden. Wir haben ihn an <strong>der</strong> Hauptstrasse dieses<br />

Ortes, e<strong>in</strong>er Villenkolonie, begraben, die auf me<strong>in</strong>en Befehl <strong>in</strong> „<strong>Wildemann</strong>sdorf“<br />

umbenannt worden ist.<br />

Das Regiment verliert <strong>in</strong> ihm e<strong>in</strong>en se<strong>in</strong>er bewährtesten Chefs, <strong>der</strong> Mitte August<br />

wegen se<strong>in</strong>es unermüdlichen vorbildlichen E<strong>in</strong>satzes <strong>mit</strong> dem Eisernen Kreuz 1.<br />

Klasse ausgezeichnet worden war, ich selbst me<strong>in</strong>en besten Kameraden, <strong>mit</strong> dem<br />

ich vom ersten Kriegstag an zusammen war. Se<strong>in</strong> Tod hat uns alle aufs Schwerste<br />

betroffen.“<br />

Familienchronik „<strong>von</strong> Wildeman“ Seite 49 <strong>von</strong> 57 Februar 1986


Frau <strong>von</strong> Gruenewaldt schrieb mir über Ullis Tod u.a.<br />

„Ich habe so oft Angst um ihn gehabt, nicht nur, weil er immer <strong>in</strong> Gefahr war,<br />

son<strong>der</strong>n auch, weil se<strong>in</strong> Leben ihm so schwer war - aber die Tatsache kann man<br />

doch noch nicht richtig fassen. Ich glaube, er ist <strong>von</strong> sehr sehr vielen geliebt<br />

worden, für Sie war er e<strong>in</strong> Bru<strong>der</strong>. Ich liebte ihn wie me<strong>in</strong>e eigenen K<strong>in</strong><strong>der</strong>“.<br />

Ihr eigener Sohn He<strong>in</strong>z, Ullis liebster Kamerad, war e<strong>in</strong>ige Monate vorher gefallen.<br />

Nun wie<strong>der</strong> zurück nach Lüttkenhagen. Ueber die lieben Freunde und Nachbarn<br />

Hanni und Karli <strong>von</strong> Alten <strong>in</strong> Puddenzig muss noch berichtet werden. Karli war<br />

immer voller Humor und Lustigkeit, Hanni recht zart und kränklich, beide waren sehr<br />

nett zu uns.Herr <strong>von</strong> Alten ritt gern, und zwar kam <strong>der</strong> kle<strong>in</strong>e schmächtige Mann<br />

immer auf e<strong>in</strong>em beson<strong>der</strong>s grossen Pferd daher, was sehr komisch aussah.<br />

E<strong>in</strong>mal, als er bei uns absteigen wollte, guckte er so <strong>von</strong> oben <strong>von</strong> se<strong>in</strong>em grossen<br />

Ross herunter und sagte (<strong>in</strong> Anlehnung an den alten Schlager vom Himalaya):<br />

„Rauf, ja das kunnt er, aber wie kommt er runter“. Ich mochte ihn so gerne, weil er<br />

immer so lustig und witzig war. E<strong>in</strong>mal hat er mich <strong>in</strong> schreckliche Verlegenheit<br />

gebracht. Petersdorffs und Altens waren bei uns zum Essen e<strong>in</strong>geladen. Ich war<br />

schrecklich stolz, weil ich Herrn <strong>von</strong> Alten als Tischherrn hatte. Als ich an se<strong>in</strong>em<br />

Arm zum Tisch g<strong>in</strong>g, trat ich ihm vor lauter Verlegenheit auf den Fuss, worauf er<br />

laut und vergnügt sagte: „Sag, wenn Du mich liebst, aber tritt mir nicht auf die<br />

Füsse“.<br />

Altens lebten nach dem Krieg im Ruhrgebiet. Er starb schon anfangs <strong>der</strong> sechziger<br />

Jahre an Herzversagen, Hanni überlebte ihn lange.<br />

Sillo hat ausser <strong>der</strong> unglücklichen Geschichte <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Schüler<strong>in</strong> <strong>in</strong> Gollnow,<br />

<strong>der</strong>entwegen er dann wie<strong>der</strong> <strong>in</strong> die Baltenschule nach Misdroy musste, noch an<strong>der</strong>e<br />

Jüngl<strong>in</strong>gs-Herzenssachen erlebt, z.B. den nächtlichen Sturz vom Fahrrad <strong>in</strong> den<br />

Kieshaufen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Eichallee, als er das hübsche Kamekesche K<strong>in</strong><strong>der</strong>mädchen Elise<br />

besuchen wollte. Teddy wurde <strong>von</strong> e<strong>in</strong>igen jungen Männern angeschwärmt, <strong>in</strong><br />

Lüttkenhagen beson<strong>der</strong>s <strong>von</strong> Bobby Holtz, dessen unerwi<strong>der</strong>te Liebe ganz<br />

dramatisch zu werden drohte. Papu hat ihn zur Vernunft gebracht.<br />

Wir haben allerschönste Er<strong>in</strong>nerungen an Sommerferien bei Verwandten, vor allem<br />

<strong>in</strong> Podelwitz, dem wun<strong>der</strong>schönen alten Schloss an <strong>der</strong> Mulde <strong>in</strong> Sachsen. Wie<br />

erwähnt, war Onkel Alfred schon 1923 gestorben. Die Kus<strong>in</strong>en waren älter als wir<br />

und ausser Waldtraut (Wallau) nicht mehr zuhause. Wenzel, <strong>der</strong> Jüngste, gleich alt<br />

wie Sylvester, kam <strong>in</strong> den Sommerferien nach Hause. Wir haben alle vier bei Tante<br />

Helene Ferien verbracht, und ausser uns waren auch oft an<strong>der</strong>e Gäste im Haus, so<br />

Baby und Amy Behr, Peter Nettelhorst, e<strong>in</strong> Russe und noch an<strong>der</strong>e. Das Schloss ist<br />

sehr alt <strong>mit</strong> dicken Mauern, e<strong>in</strong>er Wendeltreppe und e<strong>in</strong>em Turm, <strong>in</strong> dem es spukte.<br />

Wir spielten Krokett auf <strong>der</strong> grossen Wiese im Park und durften auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Mulde<br />

an bestimmten Stellen baden, aber man musste auf die gefährlichen Strudel<br />

aufpassen. Tante Helene war sehr lieb und warmherzig und verstand sich beson<strong>der</strong><br />

gut <strong>mit</strong> Mamu. Die beiden Schwestern haben oft Spass zusammen gemacht und<br />

viel gelacht, wie junge Mädchen. Von <strong>der</strong> Wiese aus sah man im<br />

Turmzimmerfenster e<strong>in</strong> weisses Etwas, wie e<strong>in</strong> Gesicht o<strong>der</strong> Kopf. Das, so glaubten<br />

wir, war <strong>der</strong> Geist, <strong>der</strong> dort oben lebte.Ganz fest glaubten wir nicht daran, aber das<br />

D<strong>in</strong>g war uns doch unheimlich, und wir trauten uns nicht, nachzusehen. Auch Tante<br />

Helene sagte uns, dass oben im Schloss e<strong>in</strong> Geist lebte. Sylvester hatte 1926 zu<br />

den Sommerferien alle<strong>in</strong> <strong>mit</strong> dem Rad <strong>in</strong> zwei Tagen die ganze lange Fahrt nach<br />

Familienchronik „<strong>von</strong> Wildeman“ Seite 50 <strong>von</strong> 57 Februar 1986


Podelwitz unternommen, e<strong>in</strong>e tolle Leistung für den damals 18-jährigen. Er und<br />

Peter Nettelhorst wollten natürlich <strong>in</strong> jugendlicher Selbstsicherheit und<br />

„Grossmäuligkeit“, wie Sillo jetzt sagt, nichts <strong>von</strong> e<strong>in</strong>em Geist wissen und<br />

beschlossen, die Sache zu untersuchen. Im Turm gab es e<strong>in</strong> Zimmer, und <strong>in</strong><br />

diesem wollten sie schlafen, allen Geistergerüchten zum Trotz. Es war e<strong>in</strong>e<br />

mondhelle Nacht, das Fenster stand offen, und sie schliefen e<strong>in</strong>. Plötzlich weckte<br />

Peter Sillo auf. Da hörten sie beide deutliche harte Schritte auf dem Gang. Die<br />

Schritte hörten auf, da sagte Peter: „Die Tür ist ja offen“. Nun wussten sie beide<br />

ganz genau, dass sie die Tür zugemacht hatten, als sie <strong>in</strong>s Bett g<strong>in</strong>gen. Sie<br />

flüsterten sich zu „was machen wir jetzt?“, da hörten sie wie<strong>der</strong> ganz klar auf dem<br />

Holzfussboden die Schritte auf dem Gang, dessen Dielen knarrten. E<strong>in</strong> wenig<br />

später hörten sie am Ende des Ganges e<strong>in</strong>e Tür zufallen. Mit <strong>der</strong> Fassung <strong>der</strong><br />

beiden tapferen Jüngl<strong>in</strong>ge war es vorbei. Sie sausten aus ihren Bette, durch die<br />

offene Tür und unter grossem Gepolter die Treppe h<strong>in</strong>unter. Tante Helene, durch<br />

den Lärm aufgeweckt, stand unten und fragte, was denn los sei. Auf die stotternde<br />

Antwort „da oben ist etwas“ sagte sie nur ruhig: „Ich hatte es Euch ja gesagt, wir<br />

wissen das.Geht ihr wie<strong>der</strong> nach oben schlafen?“ Die Antwort war e<strong>in</strong> entsetzter<br />

Aufschrei: „Ne<strong>in</strong>!!“ Am nächsten Morgen g<strong>in</strong>gen Sillo und Peter h<strong>in</strong>auf, da war die<br />

Tür zum Zimmer zu, und dabei wussten die Jungen ganz genau, dass sie sie bei<br />

ihrer hastigen Flucht offen gelassen hatten. Darauf fragten sie überall herum, ob<br />

jemand seit <strong>der</strong> Nacht oben gewesen sei. Aber ke<strong>in</strong> Mensch war h<strong>in</strong>auf gegangen.<br />

Sillo kann schwören, dass alles genau so war, wie er es erzählt, und doch kann er<br />

es nicht glauben, dass es Geister gibt. Viele alte englische Schlösser und<br />

Landhäuser zum Beispiel haben ihre Geister, <strong>mit</strong> denen sie ganz e<strong>in</strong>trächtig leben.<br />

Und warum soll es ke<strong>in</strong>e geben können? Warum muss alles <strong>mit</strong> dem menschlichen<br />

Verstand erfassbar se<strong>in</strong>? Natürlich war <strong>der</strong> weisse Kopf, den wir <strong>von</strong> draussen oben<br />

im Turmfenster sahen, nicht <strong>der</strong> des Geistes, son<strong>der</strong>n <strong>von</strong> jemandem aufgebaut,<br />

e<strong>in</strong> H<strong>in</strong>weis auf die Existenz des Schlossgeistes. Aber die Russen werden 1945<br />

auch ihn vertrieben haben. Tatjana hat im Sommer 1926 e<strong>in</strong>ige Monate <strong>in</strong> Podelwitz<br />

verbracht und gibt uns im Folgenden ihre Beschreibung dieser Zeit, <strong>in</strong> <strong>der</strong> übrigens<br />

auch übernatürliche Kräfte am Werk waren:<br />

„Ich möchte gern etwas über e<strong>in</strong>en langen Sommeraufenthalt 1926 <strong>in</strong> Podelwitz<br />

erzählen. Dies war das prächtige Gut unserer Tante Helene <strong>in</strong> Sachsen. Waldtraut<br />

war dort, zeitweise Marjutta und Wenzel nur kurz während se<strong>in</strong>er Schulferien.<br />

Waldtraut, die ausgebildete Heilgymnast<strong>in</strong> war, gab, - trotz vieler Verpflichtungen<br />

als Hilfe ihrer Mutter bei <strong>der</strong> Gutswirtschaft - oft an Nach<strong>mit</strong>tagen den Arbeiter- und<br />

vielen an<strong>der</strong>en Dorfk<strong>in</strong><strong>der</strong>n Gymnastikunterricht. Ich hatte sportlich wenig Begabung<br />

aber machte e<strong>in</strong>mal zum Spass Handstand <strong>mit</strong> diesen K<strong>in</strong><strong>der</strong>n. E<strong>in</strong>mal fiel ich<br />

ungeschickt und konnte dann <strong>mit</strong> e<strong>in</strong>em wehen Be<strong>in</strong> nicht mehr aufstehen.<br />

Waldtraut half mir vom Park zurück zum Schloss und e<strong>in</strong>e Treppe h<strong>in</strong>auf <strong>in</strong> me<strong>in</strong><br />

Schlafzimmer. Nachdem das Be<strong>in</strong> etwas abgeschwollen war, stellte e<strong>in</strong> Arzt <strong>in</strong><br />

Colditz e<strong>in</strong>en Bruch fest und gipste es für e<strong>in</strong> paar Wochen e<strong>in</strong>. Danach war es<br />

durch Waldtrauts 2 mal tägliche Massage, lei<strong>der</strong> für sie <strong>mit</strong> viel Zeitaufwand, schnell<br />

geheilt. All die Liebe und Sorge, beson<strong>der</strong>s <strong>von</strong> Tante Helenes Seite, trugen e<strong>in</strong>e<br />

Menge zur Heilung bei.<br />

Jetzt e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>es, für mich grosses Erlebnis. E<strong>in</strong>mal kamen viele Freunde <strong>der</strong><br />

Familie für längere Zeit nach Podelwitz. Marjutta und Wenzel waren da, e<strong>in</strong>e<br />

entfernt verwandte Kus<strong>in</strong>e Erica und Baby Behr. Wir waren 10 o<strong>der</strong> 12 junge Leute.<br />

Durch Peter <strong>von</strong> Nettelhorst hatten wir viel An- und Aufregung bei nächtlichen<br />

Familienchronik „<strong>von</strong> Wildeman“ Seite 51 <strong>von</strong> 57 Februar 1986


Spiritismussitzungen. Peter gab die Anweisungen, wie wir unsere Hände halten<br />

sollten: gespreizt, die Daumen e<strong>in</strong>an<strong>der</strong> und die kle<strong>in</strong>en F<strong>in</strong>ger die des Nachbarn<br />

berührend. Dieses rund um e<strong>in</strong>en schweren Marmortisch. Nun wollten wir <strong>mit</strong> dem<br />

Geist e<strong>in</strong>es Verstorbenen sprechen und entschieden uns für Kyrill Orloff, <strong>der</strong> kurz<br />

vorher bei e<strong>in</strong>em Duell erschossen wurde, e<strong>in</strong> paar Tage nachdem er <strong>in</strong> Podelwitz<br />

zu Besuch war, ich erlebte ihn da. Ich glaube, er war <strong>der</strong> Enkel des Bru<strong>der</strong>s<br />

(Sylvester) unserer Grossmutter Lydia. Peter bat nun den Geist auf Fragen zu<br />

antworten. Dies geschah folger<strong>der</strong>massen: <strong>der</strong> Tisch klopfte auf den Fussboden,<br />

<strong>in</strong>dem er sich <strong>in</strong> kurzen Abständen leicht hob und wie<strong>der</strong> zurückfiel. Die Buchstaben<br />

des Alphabets wurden an diesen Klopftönen abgezählt, sodass e<strong>in</strong>mal Klopfen A<br />

hiess, zweimal B, viermal D , etc. Nachdem Peter den Tisch gesagt hatte, er wolle<br />

<strong>mit</strong> Orloff sprechen, klopfte <strong>der</strong> Tisch dessen Namen und Ereignisse aus se<strong>in</strong>em<br />

Leben heraus. Die Teilnehmer sassen alle schweigend und ganz auf die Fragen<br />

konzentriert, angestrengt darauf bedacht, die Berührungskette nicht zu<br />

unterbrechen. Ich bückte mich oft und konnte gut sehen, dass niemand <strong>mit</strong> den<br />

Be<strong>in</strong>en den Tisch anhob. - Peter hypnotisierte gerne und probierte es an e<strong>in</strong>em<br />

Abend aus. Erica war am empfänglichsten, trotzdem sie sich sträubte und Angst<br />

hatte. Er schläferte sie an dem Abend e<strong>in</strong>, worauf sie <strong>in</strong> den Park rannte und wir<br />

alle im Dunklen herum irrten um sie zu f<strong>in</strong>den, weil Peter sie so schnell wie möglich<br />

wecken wollte, was erst nach längerer Zeit gelang.Tante Helene erfuhr <strong>von</strong> unserer<br />

Tätigkeit erst e<strong>in</strong>ige Tage später, als ich nachts im Schlaf sprach und schrie.<br />

Waldtraut me<strong>in</strong>te dann, ich sollte nicht wie<strong>der</strong> an diesen Sitzungen teilnehmen.<br />

Me<strong>in</strong>e schönen Ferien waren dann auch zu Ende, nachdem noch me<strong>in</strong> 17.<br />

Geburtstag wun<strong>der</strong>schön gefeiert wurde.“<br />

Ueber die Schicksale und das heutige Leben <strong>der</strong> Kus<strong>in</strong>en Ursula, Marjutta und<br />

Wenzel ist schon an an<strong>der</strong>er Stelle berichtet worden; Leonie, die uns <strong>in</strong> Lüchenth<strong>in</strong><br />

auch besucht hatte, heiratete als erste unserer Generation sehr jung den Landwirt<br />

Werner Caesar. Ihr ältester Sohn, jetzt 61, den Roman und Ille auch kennen, ist<br />

Professor für Landwirtschaft <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>. Er hat fünf Geschwister, die ausser e<strong>in</strong>er<br />

Schwester (<strong>in</strong> Oregon, USA) jetzt alle <strong>in</strong> Deutschland leben. Leonie starb<br />

traurigerweise 1977 an Knochenkrebs, zehn Jahre nach ihrem Mann, nachdem sie<br />

mehrere Jahre lang <strong>mit</strong> Ursula e<strong>in</strong>e Wohnung <strong>in</strong> Tutz<strong>in</strong>g geteilt hatte.<br />

Teddy war auch längere Zeit <strong>in</strong> Grünheide bei Onkel Friedel und Tante Lilli, wo sie<br />

Onkel Friedels religiöse Jugendarbeit erlebte.<br />

Wie schon erwähnt, er<strong>in</strong>nern wir uns an drei Jahre <strong>in</strong> Lüchenth<strong>in</strong> und die<br />

dreie<strong>in</strong>halb Jahre <strong>in</strong> Lüttkenhagen als an die Zeit unseres Familienlebens im<br />

Elternhaus schlechth<strong>in</strong>, <strong>in</strong> <strong>der</strong> irgendwie alles Glück, alle schönen und traurigen<br />

Erlebnisse unserer K<strong>in</strong>dheit zusammengefasst s<strong>in</strong>d. So geht es mir als Jüngster<br />

jedenfalls. Die e<strong>in</strong>jährigen Aufenthalte <strong>in</strong> Misdroy und Stargard waren, wenn auch<br />

erlebnisreich, nur Uebergänge, Zwischenzeiten.Vorher <strong>in</strong> Lüchenth<strong>in</strong> und nachher<br />

<strong>in</strong> Lüttkenhagen, und hier vor allem, war für uns K<strong>in</strong><strong>der</strong> e<strong>in</strong>e neue Heimat<br />

entstanden.Aber kaum für die Eltern, dazu waren die Geldsorgen zu drückend.Papu<br />

musste Schulden machen; es galt ja nicht nur für Mamu und uns fünf K<strong>in</strong><strong>der</strong> zu<br />

sorgen, er unterstützte natürlich auch se<strong>in</strong>e Schwester und Mutter <strong>in</strong> Misdroy. Bei<br />

dem sehr ger<strong>in</strong>gen Gehalt wurde die Lage immer bedrohlicher und aussichtsloser,<br />

sodass ihm schliesslich das Angebot se<strong>in</strong>es Freundes Gustav Engelbrecht als<br />

retten<strong>der</strong> Ausweg erschien. Engelbrecht war e<strong>in</strong> wohlhaben<strong>der</strong> Gutsbesitzer, <strong>der</strong><br />

e<strong>in</strong>ige Zeit vorher e<strong>in</strong>e Reise nach Angola gemacht hatte. Ob diese schon <strong>mit</strong> dem<br />

Ziel e<strong>in</strong>er möglichen Uebersiedlung unternommen wurde, weiss ich nicht. Er kam<br />

Familienchronik „<strong>von</strong> Wildeman“ Seite 52 <strong>von</strong> 57 Februar 1986


sehr begeistert <strong>von</strong> dort zurück, und als ihn se<strong>in</strong>e Frau verliess, beschloss er, selbst<br />

nach Afrika auszuwan<strong>der</strong>n, nach Angola, Rhodesien o<strong>der</strong> Südafrika. Engelbrecht<br />

hatte uns öfters besucht.Er kam <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em schönen Auto und fuhr <strong>mit</strong> uns nach<br />

Lüchenth<strong>in</strong>, das wir voller Freude wie<strong>der</strong>sahen. Er beschloss also, se<strong>in</strong>en grossen<br />

Besitz zu verkaufen und sich e<strong>in</strong>e Farm zu kaufen. Er schlug Papu vor, <strong>mit</strong> <strong>der</strong><br />

Familie <strong>mit</strong>zukommen. Die Idee war glänzend: Engelbrecht wusste gut, was Papu<br />

<strong>mit</strong> se<strong>in</strong>er Tatkraft, Begabung und Begeisterungsfähigkeit leisten konnte. Mit e<strong>in</strong>em<br />

besseren Partner hätte er se<strong>in</strong> Geld nicht anlegen können, umso mehr als Papu <strong>mit</strong><br />

se<strong>in</strong>en Söhnen auch tüchtige junge Hilfskräfte <strong>mit</strong>brachte. Engelbrecht selbst war<br />

<strong>von</strong> Natur ke<strong>in</strong> Landwirt, was <strong>in</strong> Pommern <strong>mit</strong> guten Verwaltern nicht nötig gewesen<br />

war. So wurde also die Uebersiedlung nach Afrika beschlossen. Wie schwer uns<br />

<strong>der</strong> Abschied aus Lüchenth<strong>in</strong> fiel, weiss ich nicht.Es versank wohl alles h<strong>in</strong>ter <strong>der</strong><br />

Aussicht auf das Neue, Grosse, Fremde, das uns bevorstand. In damaliger Zeit<br />

bedeutete e<strong>in</strong>e Auswan<strong>der</strong>ung etwas ganz an<strong>der</strong>es als heute. Afrika war damals<br />

unendlich weit weg, man reiste wochenlang <strong>mit</strong> dem Schiff, alle Brücken wurden<br />

abgebrochen, man g<strong>in</strong>g für immer. Es war e<strong>in</strong> Aufbruch <strong>in</strong> die unbekannte Ferne,<br />

die Angst und Hoffnung weckte.Petersdorffs liessen uns sehr ungern ziehen. Jahre<br />

später haben mir Herr <strong>von</strong> Petersdorff und se<strong>in</strong>e Töchter gesagt, <strong>mit</strong> wieviel<br />

Sehnsucht sie an die Jahre zurückdenken, als <strong>Wildemann</strong>s <strong>in</strong> Lüttkenhagen waren,<br />

nicht nur, weil Papu so tüchtig war, son<strong>der</strong>n weil die Freundschaft <strong>mit</strong> uns echt und<br />

tief war. Aber Herr <strong>von</strong> Petersdorff konnte wohl Papu nicht genügend gut bezahlen.<br />

Es waren schwere Zeiten, die zwanziger Jahre, und aus dem verhältnismässig<br />

kle<strong>in</strong>en Gut Lüttkenhagen gab es wohl ke<strong>in</strong>en bedeutenden Re<strong>in</strong>ertrag. E<strong>in</strong> grossen<br />

Abschiedsessen bei uns war <strong>der</strong> Abschluss.<br />

An das, was dann folgte, habe ich ke<strong>in</strong>e klaren Er<strong>in</strong>nerungen.Ich weiss nichts mehr<br />

vom E<strong>in</strong>packen und <strong>von</strong> <strong>der</strong> Auflösung unseres Haushaltes. Vielleicht, weil <strong>der</strong><br />

Schock des e<strong>in</strong> Jahr später e<strong>in</strong>tretendes Ereignisses diese Er<strong>in</strong>nerung verdrängt<br />

hat. Im Dezember 1928 fuhren wir alle <strong>von</strong> Lüttkenhagen nach Gamehl zu<br />

Stralendorffs, wo unsere Familie zum letzten Mal zusammen war, allerd<strong>in</strong>gs ohne<br />

Ulli, <strong>der</strong> Weihnachten <strong>mit</strong> Tante Magda, Grossmama und Gruenewaldts feierte. Es<br />

war beschlossen worden, dass Papu, Engelbrecht und Roman e<strong>in</strong>e<br />

Erkundungsfahrt durch die Südafrikanische Union, Süd- und Nordrhodesien und<br />

Angola machen sollten, um das Land kennenzulernen und e<strong>in</strong>e geeignete Farm zu<br />

f<strong>in</strong>den. Dass auch ausgiebig gejagt werden würde, war selbstverständlich. Gustav<br />

Engelbrecht und Papu reisten im Januar auf <strong>der</strong> „Njassa“ ab, während Roman, <strong>der</strong><br />

die Schule <strong>in</strong> <strong>der</strong> Obersekunda abgebrochen hatte, im Februar auf <strong>der</strong> „Muansa“<br />

die Westküste entlang fuhr. Am 11. März holten Engelbrecht und Papu Roman vom<br />

Schiff ab.<br />

Ueber die ganze Reise, die <strong>mit</strong> den Erlebnissen <strong>der</strong> Landschaft und <strong>der</strong> Jagd nach<br />

den sorgenreichen Jahren <strong>in</strong> Deutschland e<strong>in</strong>en traumhaften Höhepunkt <strong>in</strong> Papus<br />

Leben bildete, an <strong>der</strong>en Schluss das Wie<strong>der</strong>sehen <strong>in</strong> Südwestafrika <strong>mit</strong> Mamu und<br />

den K<strong>in</strong><strong>der</strong>n und die neue Zukunft <strong>in</strong> dem vielversprechenden jungen Land w<strong>in</strong>kte,<br />

hat Papu e<strong>in</strong>en wun<strong>der</strong>schönen Reisebericht geschrieben, den jedes <strong>von</strong> uns<br />

Geschwistern hat, und <strong>der</strong> <strong>mit</strong> Engelbrechts Beschreibung <strong>von</strong> Papus Tod endet.<br />

Hier Papus letzte E<strong>in</strong>tragung vom 12. Oktober 1929:<br />

„Gestern kam <strong>der</strong> Postenchef an, wir trafen ihn abends beim Essen bei Watsons. Er<br />

will heute zum Morgenkaffee (es ist eben 7 Uhr), zu uns kommen, um unsere<br />

Familienchronik „<strong>von</strong> Wildeman“ Seite 53 <strong>von</strong> 57 Februar 1986


Lizenzen zu prüfen; dann entscheidet sich unser Schicksal. Der Mann machte<br />

gestern e<strong>in</strong>en guten E<strong>in</strong>druck, sche<strong>in</strong>t Jäger zu se<strong>in</strong>, erzählt viel <strong>von</strong> Jagd -.abends.<br />

Nun liegen alle Schwierigkeiten sche<strong>in</strong>bar h<strong>in</strong>ter uns, und morgen früh um 5 Uhr<br />

brechen wir zum Rio Somba auf. Postenchef war sehr liebenswürdig, hat alle<br />

unsere Wünsche erfüllt und uns auf <strong>der</strong> Karte die besten Jagdreviere gezeigt.<br />

Erzählt <strong>von</strong> unglaublichen Wildmengen. Tagsüber alles fertig gepackt. Abends bei<br />

den Missionaren, <strong>von</strong> denen herzlich Abschied genommen. Wirklich liebe Leute, die<br />

uns sehr verwöhnt haben und uns ständig die schönsten Sachen wie Milch, Brot,<br />

Gemüse, Beeren, Kuchen und süsse Speisen <strong>in</strong>s Lager schickten. Das Yatren hat<br />

dem Baby gut geholfen, und die Eltern s<strong>in</strong>d glückselig und danken immerzu.“Und<br />

hier Romans Er<strong>in</strong>nerung an die damaligen Geschehnisse, wie er sie vor kurzem auf<br />

Tonband gesprochen hat:<br />

„Wir waren auf <strong>der</strong> Missionsstation bei den netten Kanadiern, Watsons, <strong>in</strong><br />

Kunjamba. Deren K<strong>in</strong>d war sehr krank, und wir hatten zufälligerweise die neue<br />

Mediz<strong>in</strong> aus Deutschland, <strong>mit</strong> <strong>der</strong> wir das Leben dieses K<strong>in</strong>des retten konnten. Die<br />

Schwester des Missionars war aus Kanada zu Besuch da, sie war<br />

Krankenschwester.Dort waren wir e<strong>in</strong>ige Tage. Dann brachen wir <strong>mit</strong> unserer<br />

grossen Trägerkolonne auf nach Süden, um auf die Jagd zu gehen. Soweit ich mich<br />

er<strong>in</strong>nere, s<strong>in</strong>d wir zwei Tage lang gezogen, haben e<strong>in</strong>mal übernachtet, und dann<br />

kamen wir an den Fluss Somba, wo es wun<strong>der</strong>schön war. Dort haben wir am Ufer<br />

das Kamp aufgeschlagen.Es waren gegen 70 Träger dabei, die immer verpflegt<br />

werden mussten. Am Morgen ist Papu losgegangen auf Jagd <strong>mit</strong> e<strong>in</strong>em<br />

ausgesuchten Träger als Jagdführer. Er g<strong>in</strong>g nach l<strong>in</strong>ks, während Engelbrecht <strong>mit</strong><br />

e<strong>in</strong>em an<strong>der</strong>en Führer flussaufwärts nach rechts g<strong>in</strong>g. Ich b<strong>in</strong> im Kamp geblieben.<br />

Ich hatte schon recht gut portugiesisch gelernt, das ich mir im Gespräch <strong>mit</strong> dem<br />

„Capitao“, dem Führer <strong>der</strong> ganzen Kolonne angeeignet hatte. Ich sollte im Lager<br />

Lebens<strong>mit</strong>tel e<strong>in</strong>kaufen <strong>von</strong> den E<strong>in</strong>geborenen, die <strong>von</strong> den umliegenden Dörfern<br />

<strong>mit</strong> schönem frischem Gemüse und Früchten und Hühnern kamen, das wir ihnen<br />

spottbillig abkauften.Nachdem ich zwei Stunden lang im Lager gesessen hatte, kam<br />

plötzlich <strong>der</strong> Junge, <strong>der</strong> <strong>mit</strong> Papu <strong>mit</strong>gegangen war, schrecklich aufgeregt angerannt<br />

und schrie, ich solle schnell kommen, da Papu <strong>von</strong> e<strong>in</strong>em Leoparden angefallen<br />

und verletzt worden sei.Ich nahm die Tragbahre, die wir für Krankheitsfälle hatten<br />

und die Reiseapotheke <strong>mit</strong> und 6 o<strong>der</strong> 8 Jungens, und wir rannten los.Nach 3 - 4<br />

Kilometern kam ich dah<strong>in</strong>, wo Papu blutüberströmt an e<strong>in</strong>em kle<strong>in</strong>en Hang lag. Er<br />

war vollkommen bei Bewusstse<strong>in</strong> und sagte: „Hast Du Jod?“ Ich sagte „Ja“, und er<br />

sagte: „Nimm die Jodflasche und giesse mir sämtliche Wunden, die Du siehst, <strong>mit</strong><br />

Jod aus“. Es waren schreckliche Wunden, grosse Kratzwunden auf <strong>der</strong> Brust, auf<br />

den Ober- und Unterarmen, am Körper, auf den Oberschenkeln. Der l<strong>in</strong>ke Arm war<br />

fast völlig durchgebissen, er h<strong>in</strong>g nur noch an Fleischfetzen. Es war e<strong>in</strong>fach<br />

furchtbar. Ich weiss gar nicht, wie ich es übers Herz gebracht habe, <strong>in</strong> diese<br />

Wunden Jod zu tun - es muss masslos weh getan haben. Der Leopard macht<br />

immer <strong>mit</strong> se<strong>in</strong>en scharfen Krallen tiefe Schnitte, wie <strong>von</strong> Rasierkl<strong>in</strong>gen, e<strong>in</strong>en<br />

neben dem an<strong>der</strong>n. Ich habe zunächst den Arm abgebunden, aus dem soviel Blut<br />

strömte, dass ich nicht verstehe, warum Papu nicht schon verblutet war. Ich habe<br />

ihm den Arm an den Körper gebunden und die ganzen Wunden <strong>mit</strong><br />

Jodwattebäuschen ausgetupft, giessen konnte ich e<strong>in</strong>fach nicht. Jod war das<br />

e<strong>in</strong>zige Des<strong>in</strong>fektions<strong>mit</strong>tel, das man damals hatte, es musste <strong>in</strong> jede Wunde<br />

h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>. Dann erzählte Papu mir, was passiert war. Unbegreiflicherweise war er die<br />

ganze Zeit bei Bewusstse<strong>in</strong>, ich kann dies auch heute noch überhaupt nicht<br />

Familienchronik „<strong>von</strong> Wildeman“ Seite 54 <strong>von</strong> 57 Februar 1986


verstehen. Er hatte also auf den Leoparden geschossen, <strong>der</strong> auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite<br />

<strong>der</strong> Talsenke h<strong>in</strong>aufzog, nachdem er kurz gepfiffen hatte, da<strong>mit</strong> <strong>der</strong> Leopard stehen<br />

blieb. Nach dem Schuss ist <strong>der</strong> Leopard <strong>mit</strong> e<strong>in</strong>em Satz <strong>in</strong>s hohe Gras gesprungen.<br />

Danach passierte nichts weiter. Wir hatten <strong>von</strong> e<strong>in</strong>em Herrn <strong>von</strong> Flotow, e<strong>in</strong>em<br />

Farmer, Hunde <strong>mit</strong>genommen, die, so sagte Flotow, wahns<strong>in</strong>nig scharf und angriffig<br />

s<strong>in</strong>d und jeden Leoparden o<strong>der</strong> Löwen sofort <strong>in</strong> Stücke reissen. Papu hat ganz<br />

richtig gehandelt. Er hat e<strong>in</strong>e Stunde gesessen, <strong>in</strong> <strong>der</strong> sich gar nichts tat. Dann hat<br />

er die Hunde losgelassen, die sofort zum Leoparden rannten, um die Stelle, wo das<br />

Tier lag, herumsprangen, e<strong>in</strong> paar mal bellten und dann zu ihm zurückkamen. Dann<br />

musste Papu annehmen. dass <strong>der</strong> Leopard verendet war. Er hatte die 9,3<br />

Doppelbüchse, die ich heute noch habe. Er g<strong>in</strong>g auf die Stelle zu und als er 4-5<br />

Meter herangekommen war, machte <strong>der</strong> Leopard e<strong>in</strong>en Satz auf ihn zu. Papu hat<br />

noch zweimal geschossen und getroffen, aber nicht so, dass <strong>der</strong> Angriff des Tieres<br />

aufgehalten worden wäre. Der Leopard sprang auf ihn drauf, biss ihm den Arm<br />

durch und zerkratzte ihm den ganzen Körper. Dann hat e<strong>in</strong> E<strong>in</strong>geborener <strong>mit</strong> e<strong>in</strong>er<br />

Keule den Leoparden totgeschlagen, aber das war zu spät, es war schon alles<br />

geschehen. Wir haben ihn vorsichtig auf die Tragbahre gehoben und ihn zum Lager<br />

getragen. Er muss schreckliche Schmerzen gehabt haben.Dann habe ich gleich<br />

zwei Jungen losgeschickt, Engelbrecht zu suchen, <strong>der</strong> nach zwei Stunden kam. Wir<br />

kontrollierten nochmal alle Wunden. Heute würde man sofort Tetanusspritzen<br />

geben, aber die gab es damals noch nicht. Papu lag auf <strong>der</strong> Tragbahre, die<br />

zwischen zwei Bäumen im Schatten h<strong>in</strong>g. Wir gaben ihm zu tr<strong>in</strong>ken. Es war für mich<br />

als 18-jährigem Sohn e<strong>in</strong> unsagbar furchtbares Erlebnis. Wir konnten ja Papu gar<br />

nicht helfen, nichts für ihn tun. Wir schickten zwei Jungens <strong>mit</strong> e<strong>in</strong>em Brief zu<br />

Watsons auf <strong>der</strong> Missionsstation, um zu berichten, was passiert war. Kurz vor<br />

Sonnenuntergang s<strong>in</strong>d wir losgezogen. Wir nahmen Träger <strong>mit</strong> für die Bahre, die<br />

wie e<strong>in</strong>e Hängematte an e<strong>in</strong>em Baum <strong>mit</strong> zwei Querhölzern h<strong>in</strong>g. Wir mussten so<br />

schnell wie möglich zur Missionsstation gelangen, da<strong>mit</strong> dort noch alles, was<br />

möglich war, für Papu getan werden konnte. Dieser nächtliche Zug war e<strong>in</strong>e<br />

schreckliche Sache, an die ich mich er<strong>in</strong>nere, als ob sie gestern gewesen wäre. Die<br />

Bahre konnte ja immer nur <strong>von</strong> zwei Menschen getragen werden, die abwechselnd<br />

auf <strong>der</strong> e<strong>in</strong>en Schulter, auf dem Kopf und auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>n Schulter trugen, und so<br />

h<strong>in</strong> und her. Solange es hell war, g<strong>in</strong>g es e<strong>in</strong>igermassen, da waren die Jungens<br />

auch noch frisch. Ich g<strong>in</strong>g direkt h<strong>in</strong>ter <strong>der</strong> Bahre, Engelbrecht h<strong>in</strong>ter mir, und<br />

dah<strong>in</strong>ter die Ablösungen.Alle 2 Stunden haben wir Rast gemacht, die Bahre<br />

zwischen Bäumen aufgehängt, so vorsichtig wie möglich, um jede unerträgliche<br />

Schmerzen auslösende Bewegung zu vermeiden. Ich hörte das Stöhnen - es war<br />

schrecklich. Allmählich wurde das Vorwärtskommen immer langsamer, die<br />

Schwarzen wurden immer mü<strong>der</strong>. Plötzlich gegen Mitternacht merkte ich, dass die<br />

Träger immer weniger wurden und nur noch 6 o<strong>der</strong> 7 da waren. Auf me<strong>in</strong>e Frage<br />

nach den an<strong>der</strong>n sagten diese: „Die können nicht mehr und s<strong>in</strong>d zurückgeblieben“.<br />

Darauf sagte ich: „Wer <strong>von</strong> Euch noch zurückbleibt, wird <strong>von</strong> mir erschossen“. Dann<br />

g<strong>in</strong>g es wie<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e Zeitlang.Dann f<strong>in</strong>gen die müden Träger an zu stolpern, was<br />

natürlich furchtbar war. E<strong>in</strong> Mann g<strong>in</strong>g <strong>mit</strong> e<strong>in</strong>er Laterne vorneweg, aber ich habe<br />

nachher die Laterne vorne an den ziemlich langen Baum gebunden, da<strong>mit</strong> <strong>der</strong><br />

vorne gehende Träger sehen konnte. Und immer wenn e<strong>in</strong>e Wurzel kam, dann hat<br />

er dem h<strong>in</strong>teren zugerufen: „Vorsicht, e<strong>in</strong>e Wurzel“, um das entsetzliche Stolpern zu<br />

vermeiden. So g<strong>in</strong>g es Stunde um Stunde, und die Nacht und <strong>der</strong> Weg nahmen<br />

ke<strong>in</strong> Ende, er wurde immer länger. Die armen Kerle konnten kaum noch tragen, die<br />

Familienchronik „<strong>von</strong> Wildeman“ Seite 55 <strong>von</strong> 57 Februar 1986


Bahre war sehr schwer. Ich weiss nicht, wie es kam, aber auf e<strong>in</strong>mal war ich nur<br />

noch <strong>mit</strong> drei E<strong>in</strong>geborenen alle<strong>in</strong>, auch Engelbrecht war nicht mehr da. Morgens,<br />

kurz vor Sonnenaufgang war ich alle<strong>in</strong> übrig <strong>mit</strong> e<strong>in</strong>em e<strong>in</strong>zigen Jungen. Da<br />

schleppten wir die Bahre das letzte Stück, zum Schluss noch die Anhöhe bergauf,<br />

auf <strong>der</strong> die Missionsstation lag. Dort empf<strong>in</strong>g man uns sehr liebevoll. Es war alles<br />

vorbereitet. E<strong>in</strong> extra Haus war leer gemacht worden, es wurde <strong>mit</strong> Wasser gekühlt,<br />

alles wurde für Papu so bequem wie möglich gemacht, Watsons taten alles, was sie<br />

nur konnten. Aber ich weiss nicht, wie es weiterg<strong>in</strong>g. Ich kann mich <strong>von</strong> dem<br />

Augenblick an, als wir die Bahre h<strong>in</strong>setzten, eigentlich an nichts mehr er<strong>in</strong>nern. Das<br />

ist mir so schrecklich, dass ich nicht mehr bei ihm war.<br />

Als ich an e<strong>in</strong>em Morgen gegen 10 Uhr wach wurde, da sass Engelbrecht an<br />

me<strong>in</strong>em Bett, und ich sagte zu ihm: „Ja, bist Du denn auch schon angekommen?“<br />

Er sagte: „Du warst viele Tage nicht bei Dir, Du hast ganz schwere Malaria. Du<br />

warst bewusstlos“.<br />

Ich fragte: „Und wie gehts Papu?“ Er sagte: „Wir haben ihn gestern begraben“.<br />

E<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zige Stelle am Oberschenkel, e<strong>in</strong> Stich <strong>von</strong> e<strong>in</strong>er Leopardenkralle war<br />

tetanus-<strong>in</strong>fiziert, wie mir nachher die Schwester erzählte. Alle an<strong>der</strong>en Wunden<br />

hatten sich durch das starke Bluten gere<strong>in</strong>igt. Nur dieser tiefe Stich hatte nicht<br />

geblutet.<br />

Papu muss unter schrecklichen Qualen gestorben se<strong>in</strong>, Tetanus ist unsagbar<br />

schmerzhaft.<br />

Wir s<strong>in</strong>d dann weitergezogen, zurück zu Flotows und an die Küste.Ich musste<br />

zuerst <strong>in</strong>s Hospital nach Quemba, wo es sich herausstellte, dass ich gar nicht<br />

Malaria hatte, son<strong>der</strong>n Rückfallfieber, also Zeckenfieber, das damals noch nicht so<br />

bekannt war.In Quemba, wo wir schon vorher gewesen waren, war e<strong>in</strong><br />

ausgebildeter Tropenarzt, <strong>der</strong> gleich erkannt hat, was ich hatte und mich dan kuriert<br />

hat. Als ich aus dem Krankenhaus kam, war ich durch das Schwere, das ich<br />

durchgemacht hatte, so heruntergekommen, dass ich schielte und stotterte und 40<br />

Pfund Gewicht verloren hatte. Als ich zu Goedeckes kam, bei denen wir vorher<br />

längere Zeit gewesen waren, haben sie mich gar nicht erkannt und gefragt, wer ich<br />

b<strong>in</strong>. Dann s<strong>in</strong>d wir <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Bahn nach Luanda gefahren, <strong>von</strong> dort <strong>mit</strong> dem Schiff<br />

nach Kapstadt. Vielleicht fuhr auch Engelbrecht zuerst nach Deutschland, ich weiss<br />

das alles gar nicht mehr. Ich war so betäubt und so <strong>mit</strong>genommen <strong>von</strong> dem<br />

Geschehen, dass ich das, was folgte, gar nicht aufnahm.<br />

Das ist eigentlich alles, was ich Euch erzählen kann. So schrecklich, wie es wirklich<br />

war, kann ich es gar nicht beschreiben.<br />

Ich kann den Jagdunfall gar nicht verstehen. Papu war e<strong>in</strong> sehr guter und ruhiger<br />

Schütze, <strong>der</strong> ke<strong>in</strong> Jagdfieber kannte. Ich b<strong>in</strong> so oft <strong>mit</strong> ihm auf Jagd gewesen auf<br />

dieser Reise, niemals hatte er Jagdfieber. Immer war er ruhig und überlegt. Se<strong>in</strong><br />

Gewehr schoss phantastisch, das tut es immer noch. Me<strong>in</strong> Gott, wie oft hat es mir<br />

das Leben gerettet, nie hat es mich im Stich gelassen. Wie konnte das Papu<br />

passieren? Aber e<strong>in</strong> Leopard ist eben <strong>der</strong>massen schnell, blitzschnell und sehr<br />

stark, wie man es e<strong>in</strong>em so kle<strong>in</strong>en Tier gar nicht zutrauen sollte. Was ich nicht<br />

verstehen kann, ist dass <strong>der</strong> Leopard nicht die Hunde angenommen, son<strong>der</strong>n nur<br />

lautlos gelegen hat; das ist mir unbegreiflich, und dass diese verfluchten Hunde ihn<br />

nicht gewürgt haben. Me<strong>in</strong> Bully, den ich <strong>in</strong> Vergenoeg hatte, hat e<strong>in</strong>mal alle<strong>in</strong> e<strong>in</strong>en<br />

angeschossenen Leoparden so langgezogen, dass ich ihn bis auf e<strong>in</strong>en Schritt<br />

Familienchronik „<strong>von</strong> Wildeman“ Seite 56 <strong>von</strong> 57 Februar 1986


angehen und ihm den Fangschuss geben konnte. Der Leopard konnte gegen den<br />

ziemlich kle<strong>in</strong>en Bully gar nichts machen.Und diese Hunde, die Papu damals<br />

<strong>mit</strong>hatte, waren viel grösser.Das war das schreckliche Ende e<strong>in</strong>er sonst so<br />

wun<strong>der</strong>schönen Reise, die für mich durch dieses Erlebnis alles Schöne verloren<br />

hat. Ich weiss gar nicht, wieviele Tage ich nicht bei Bewusstse<strong>in</strong> war. Papu starb am<br />

20. Oktober. Aber ich weiss gar nicht, an welchem Tag <strong>der</strong> Unfall passierte. Lei<strong>der</strong><br />

habe ich diese letzten Seiten <strong>von</strong> Papus Tagebuch, die Engelbrecht aufgeschrieben<br />

hat, nicht. Bitte schick sie mir, Mar<strong>in</strong>a“.<br />

Ich hatte ke<strong>in</strong>e Ahnung da<strong>von</strong>, dass Roman den Schluss des Tagebuches nicht<br />

besitzt und werde ihm diesen gleich schicken. Ich b<strong>in</strong> ihm sehr dankbar, dass er uns<br />

diesen Bericht auf e<strong>in</strong> Tonband sprach; ich weiss, wie schwer ihm dies wurde, hat<br />

er doch nie o<strong>der</strong> kaum je über das Erlebnis sprechen können, was uns<br />

Geschwistern ganz bewusst war. Roman war 17 Jahre alt, als er <strong>mit</strong> Papu und<br />

Engelbrecht auf die Reise g<strong>in</strong>g, war jedoch, wie aus Papus Bericht hervorgeht,<br />

durch se<strong>in</strong>e überlegte und ruhige Art (er fuhr den Lastwagen) e<strong>in</strong>e grosse Hilfe und<br />

Stütze; und doch fast noch e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d, das alle<strong>in</strong> zum tödlich verletzten Vater kam und<br />

ihm Jod <strong>in</strong> die Wunden giessen sollte.<br />

Familienchronik „<strong>von</strong> Wildeman“ Seite 57 <strong>von</strong> 57 Februar 1986

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