RU-heute 01/2010 - Fundamentaltheologie und ...
RU-heute 01/2010 - Fundamentaltheologie und ...
RU-heute 01/2010 - Fundamentaltheologie und ...
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
4<br />
SCHWERPUNKT<br />
Der ganze Mensch<br />
Historische Momente einer systematischen Anthropologie<br />
Von Joachim Söder<br />
Die modernen Naturwissenschaften verdanken sich einer<br />
geistesgeschichtlich einmaligen Situation: René Descartes<br />
(†1650) hatte in seinem Versuch einer kritischen Neubegründung<br />
der Philosophie die Bereiche des Materiellen<br />
(res extensa) <strong>und</strong> des Geistigen (res cogitans) strikt voneinander<br />
getrennt. Fortan<br />
existieren zwei verschiedene<br />
Zweige der Wissenschaft<br />
mit unterschiedlichen<br />
Methoden: Während<br />
die Geisteswissenschaften<br />
sich um die Erforschung<br />
des Mentalen <strong>und</strong> seiner<br />
Manifestationen bemühen,<br />
untersuchen die<br />
Naturwissenschaften die<br />
materielle Wirklichkeit<br />
unter methodisch strikter<br />
Ausklammerung all<br />
dessen, was nicht zur res extensa gehört. Sie gehen von<br />
einer kausal geschlossenen <strong>und</strong> durch Naturgesetze<br />
determinierten physikalischen Welt aus. Der Siegeszug<br />
der Naturwissenschaften lässt keinen Zweifel an ihrer<br />
Methode <strong>und</strong> ihrem Untersuchungsgegenstand aufkommen,<br />
was von den Geisteswissenschaften nicht in gleichem<br />
Maße gilt. Deshalb beanspruchen die Naturwissenschaften<br />
zunehmend das alleinige Deutungs- <strong>und</strong> Erklärungsmonopol<br />
wissenschaftlichen Wissens. Gerade an der Frage,<br />
was der Mensch eigentlich ist, zeigt sich dieser Anspruch.<br />
Schon Descartes’ Zeitgenosse Thomas Hobbes (†1679)<br />
hatte alles Geistige auf körperliche Gesetzmäßigkeiten<br />
reduziert <strong>und</strong> den Menschen rein mechanistisch interpretiert.<br />
Der franzözische Aufklärer La Mettrie (†1751)<br />
findet hierfür das passende Bild: Der Mensch „ist eine<br />
Maschine, die selbst ihre Triebfedern aufzieht“. 1 Noch die<br />
gegenwärtigen neurowissenschaftlichen Interpretationen<br />
des Menschseins stehen – ob bewusst oder unbewusst – in<br />
dieser Tradition des Reduktionismus. Demgegenüber gilt<br />
es, an einige Merkmale des Humanums zu erinnern, die<br />
in der philosophischen Anthropologie seit Jahrh<strong>und</strong>erten<br />
als zentral angesehen werden <strong>und</strong> die sich einer einfachen<br />
physikalistischen Einebnung entziehen.<br />
Descartes Thomas Hobbes La Mettrie<br />
Der Geist als Kausalität sui generis<br />
Platon lässt den im Gefängnis auf die Hinrichtung wartenden<br />
Sokrates eine Art philosophische Autobiographie<br />
erzählen. In seiner Jugend habe sich Sokrates intensiv<br />
mit Naturk<strong>und</strong>e befasst <strong>und</strong> sei auch auf ein Werk des<br />
Anaxagoras gestoßen. Dieser habe zwar den Gr<strong>und</strong>satz<br />
vertreten, dass der Geist (nous) Urheber von allem sei,<br />
in der konkreten Durchführung seiner Naturphilosophie<br />
wäre Anaxagoras aber trotz dieser Einsicht im reinen<br />
Materialismus stecken geblieben. „Welche Enttäuschung,<br />
als ich bei fortschreitender Lektüre sehe, dass der Mann<br />
vom Geist gar keinen Gebrauch macht <strong>und</strong> ihm nicht<br />
die geringste Ursächlichkeit für die Ordnung der Dinge<br />
zuschreibt. (...) Sein Verfahren schien mir ganz so, wie<br />
wenn jemand erst sagt: Sokrates tut alles, was er tut, auf<br />
Gr<strong>und</strong> des Geistes. Aber dann, wenn er sich daran macht,<br />
alles, was ich tue, im Einzelnen zu erklären, würde er sa-