30.01.2013 Aufrufe

Das Verhältnis zwischen der Architektur und der ... - Ehrat Architektur

Das Verhältnis zwischen der Architektur und der ... - Ehrat Architektur

Das Verhältnis zwischen der Architektur und der ... - Ehrat Architektur

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

<strong>Das</strong> <strong>Verhältnis</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>der</strong> <strong>Architektur</strong> <strong>und</strong> <strong>der</strong> Malerei im Treppenhaus<br />

<strong>der</strong> Residenz zu Würzburg<br />

1. Einführung<br />

Anlass zu dieser Arbeit gab ein Besuch in <strong>der</strong> fürstbischöflichen Residenz in Würzburg. Insbeson<strong>der</strong>e war es die bis<br />

an das Äusserste getriebene räumliche Erfahrung im Treppenhaus, die den Anreiz gab, über <strong>der</strong>en Ursachen<br />

nachzudenken. <strong>Das</strong> Interesse gilt dabei den Wechselwirkungen <strong>zwischen</strong> dem Raum <strong>und</strong> dem Deckenfresko von<br />

Tiepolo.<br />

1.1 Tiepolos Berufung nach Würzburg<br />

Als Tiepolo (Abb. 2) 1750 nach Würzburg kam, war <strong>der</strong> Bau des Residenzschlosses bereits vollendet. Die<br />

Endfassung ist das Resultat einer lange andauernden Planungs- <strong>und</strong> Baugeschichte. Mit einem kurzen Unterbruch<br />

war Balthasar Neumann (Abb. 1) während <strong>der</strong> fast dreissigjährigen Bauzeit in <strong>der</strong> Funktion des leitenden<br />

Architekten verantwortlich für die Ausführung. Er war aber nicht allein in die ganze Entwicklung involviert, son<strong>der</strong>n<br />

die Residenz entstand unter verschiedensten Einflüssen von an<strong>der</strong>en mitwirkenden Kräften, namentlich <strong>der</strong>en des<br />

Architekten Welsch aus Deutschland, Hildebrandt aus Wien <strong>und</strong> <strong>der</strong> französischen Meister de Cotte <strong>und</strong> Boffrand.<br />

Man sprach von kollektiver Planung. Es lag auch im Sinne <strong>der</strong> Zeit, dass Fürsten bei mehreren Architekten <strong>und</strong><br />

Künstlern gleichzeitig Ratschläge <strong>und</strong> konkrete Vorschläge einfor<strong>der</strong>ten. So spielten die Vorstellungen <strong>der</strong><br />

Bauherren, die während <strong>der</strong> ganzen Baugeschichte mehrmals gewechselt hatten, eine ebenso bedeutende Rolle.<br />

Neumann verstand es allerdings, aus diesen zahlreichen Vorschlägen immer wie<strong>der</strong> die Essenz herauszugreifen um<br />

sie letztendlich zu einem Resultat zusammenzufügen, das seine Handschrift trug.<br />

Die Programme für die Dekoration <strong>der</strong> Räume, mit dem man sich seit dem Jahre 1735 befasste, durchliefen mehrere<br />

Phasen mit ebenso vielen Neufassungen. Im Jahre 1740 reichte Johannes Evangelist Holzer einen illusionistischen<br />

Entwurf ein, <strong>der</strong> aber aufgr<strong>und</strong> seines frühen Todes nicht ausgeführt werden konnte (Abb. 12). Eine 1749 datierte<br />

Skizze von Anton Clemens Lünenschloss (Abb.11) zeigt einen Vorschlag, das Deckengewölbe des Treppenhauses in<br />

fünf Einzelbil<strong>der</strong> aufzuteilen, die bedeutende historische Ereignisse darstellen sollten. Kurz darauf empfahl sich ein<br />

Künstler namens Visconti für die Freskoarbeit. Seine Nominierung für diese Aufgabe erwies sich jedoch als grober<br />

Fehler, weil die Fähigkeiten des Künstlers weit unter dem lagen, was er versprochen hatte.<br />

Eine entscheidende Rolle für das heutige Erscheinungsbild <strong>der</strong> Innenräume spielte <strong>der</strong> seit 1749 amtierende<br />

Fürstbischof Carl Philipp von Greiffenclau (Abb. 3). Unter seiner Herrschaft entstanden die Ausstattungen <strong>der</strong> bis<br />

anhin noch rohen Prunkräume, dem Kaisersaal, dem Weissen Saal <strong>und</strong> dem Treppenhaus. Nach den schlechten<br />

Erfahrungen mit Visconti wurde <strong>der</strong> bereits über die Grenzen Italiens hinaus bekannt gewordene Tiepolo nach<br />

Würzburg berufen. Zuerst sollte er aber seine Fertigkeit mit <strong>der</strong> Dekoration des Kaisersaals unter Beweis stellen.<br />

Eigentlich hatte <strong>der</strong> deutsche Freskant Johannes Zick bereits die Zusprache für diese Aufgabe, doch dessen<br />

"Probearbeit" in <strong>der</strong> Sala Trerrana (Abb. 17) vermochte den Bauherrn nicht zu überzeugen. Erstaunlich war es nicht,<br />

dass man sich erst <strong>der</strong> Ausgestaltung des Treppenhauses annehmen wollte, wenn man sich <strong>der</strong> Fähigkeiten eines in<br />

Frage kommenden Künstlers sicher sein konnte. Dies belegt auch den beson<strong>der</strong>en Stellenwert dieses Raumes.<br />

Noch bevor Tiepolo die Arbeit im Kaisersaal vollendet hatte, erhielt er auch den Auftrag für das Treppenhaus.<br />

Lei<strong>der</strong> ist dafür kein Programm überliefert. Offenbar wurde beschlossen, auf die Darstellung historischer Inhalte zu<br />

verzichten, zumal die Motive <strong>der</strong> Belehnung <strong>und</strong> <strong>der</strong> Hochzeit Barbarossas nun im Kaisersaal (Abb. 20) ausgeführt<br />

worden waren. Welche Umstände zum Entschluss für das Thema des Sonnenaufgangs über den Vier Erdteilen<br />

führten, ist nicht genau bekannt (Abb. 25-30). Es ist allerdings naheliegend, dass als Referenz die Decke des<br />

Treppenhauses im Schloss Pommersfelden (Abb. 10) gedient haben könnte. Vielleicht dürfte auch Neumanns<br />

Besuch in Paris eine Rolle gespielt haben. Denn er musste zweifelsohne Kenntnis von <strong>der</strong> Version Lebruns an <strong>der</strong><br />

Decke <strong>der</strong> Gesandtentreppe in Versailles gehabt haben. Ausserdem galt in <strong>der</strong> Barockmalerei die Darstellung <strong>der</strong><br />

vier Erdteile als ein Kardinalthema, sowohl für die profane als auch für die sakrale Dekoration.<br />

1


1.2. Über das <strong>Verhältnis</strong> <strong>der</strong> Malerei zur <strong>Architektur</strong><br />

Es ist eine Beson<strong>der</strong>heit dieses Treppenhauses, dass man den Eindruck nicht los wird, dass die Grenzen <strong>zwischen</strong> <strong>der</strong><br />

<strong>Architektur</strong>, welche den Raum schafft, <strong>und</strong> <strong>der</strong> Malerei, welche ihn schmückt, fliessend zu werden scheinen. Denn<br />

das Fresko hat die eigentümliche Fähigkeit, in hohem Grade räumlich wirksam zu werden, den Raum mitzugestalten,<br />

ähnlich wie dies die <strong>Architektur</strong> tut.<br />

Zur Erforschung dieses Phänomens muss man sich die Frage nach <strong>der</strong> Beziehung <strong>zwischen</strong> <strong>der</strong> Konzeption des<br />

architektonischen Raumes <strong>und</strong> <strong>der</strong>jenigen des Freskos stellen. O<strong>der</strong> an<strong>der</strong>s gesagt interessiert, welchen Einfluss <strong>der</strong><br />

Raum auf Tiepolo bei <strong>der</strong> Erstellung des Freskos ausgeübt hatte.<br />

Allgemein gilt, dass für die Entstehung von Raum die <strong>Architektur</strong> als raumschöpferische Disziplin naturgemäss den<br />

Status des Vorherrschenden über die Künste inne hat. Den Künsten obliegt die Aufgabe <strong>der</strong> Dekoration. Als<br />

Richtschnur galt dem Künstler das vom Bauherrn festgelegte Programm. Für dessen Erstellung waren Gelehrte<br />

zuständig, die vertraut waren mit <strong>der</strong> Historie, <strong>der</strong> biblischen Geschichte, <strong>der</strong> Landesgeschichte, <strong>der</strong> Mythologie, <strong>der</strong><br />

Bildmetaphorik, <strong>der</strong> Welt <strong>der</strong> Allegorien <strong>und</strong> Personifikationen, <strong>der</strong> Embleme <strong>und</strong> Symbole. Nie war ein Raum also<br />

einfach architektonischen Raum, son<strong>der</strong>n immer auch Träger von dargestellten Inhalten, welche jeweils bestimmte<br />

Aspekte vom Weltbild des jeweiligen Auftraggebers zu repräsentieren hatten. Die <strong>Architektur</strong> liefert damit die<br />

nötigen Flächen, die Wände, die Decke <strong>und</strong> den Boden, also die Gr<strong>und</strong>substanz, um die Räume künstlerisch<br />

auszugestalten. Theoretiker postulierten immer wie<strong>der</strong>, dass Raum <strong>und</strong> Dekoration im Sinne des Gesamtkunstwerkes<br />

eine Einheit bilden sollten. Da wir es mit zwei Gattungen von gr<strong>und</strong>sätzlich verschiedener Natur zu tun haben, muss<br />

man fragen, worauf die Einheit beruht <strong>und</strong> welche Aspekte zu <strong>der</strong>en Untersuchung massgeblich sind.<br />

Einen ersten aufschlussreichen Ansatz liefert Theodor Hetzer in seinem Aufsatz "Über das <strong>Verhältnis</strong> <strong>der</strong> Malerei<br />

zur <strong>Architektur</strong>" 1 . Er begründet die Übereinstimmung bei<strong>der</strong> Gattungen auf innerer Verwandtschaft. Es fällt <strong>der</strong><br />

Begriff <strong>der</strong> ideellen Einheit, zu <strong>der</strong>en Verwirklichung Giotto das F<strong>und</strong>ament eines sich stetig weiterentwickelnden<br />

Prozesses, welcher sich bis zu Tiepolo erstreckte, gelegt hatte. Der Begriff <strong>der</strong> ideellen Einheit weist darauf hin, dass<br />

es sich um Übereinstimmung von Gr<strong>und</strong>tatsachen handelt.<br />

Die erste Übereinstimmung beruht auf <strong>der</strong> Idee <strong>der</strong> Fläche. Schon in <strong>der</strong> mittelalterlichen <strong>Architektur</strong> Italiens neigen<br />

die architektonischen Teile dazu, als gerahmte Formen, als Flächen mit Begrenzung auf einan<strong>der</strong> bezogen zu<br />

werden. Vor allem in <strong>der</strong> Renaissance sind ja die architektonischen Elemente immer Teil des Ganzen <strong>und</strong><br />

gleichzeitig aber besitzen sie eine Autonomie, eine Eigengesetzlichkeit, die es erst ermöglicht als Element mit dem<br />

Ganzen in Beziehung zu treten. Dadurch hat auch das Bild als gerahmte Fläche die Möglichkeit, mit <strong>der</strong> gerahmten<br />

Wandfläche im Einklang zu stehen. <strong>Das</strong> Bild kann wie ein architektonisches Element im Gesamten<br />

selbstverständlich eingeglie<strong>der</strong>t werden.<br />

Weiter ist nun Giotto ist <strong>der</strong>jenige, <strong>der</strong> auch die Idee des Bildes geliefert hat: <strong>Das</strong> Bild als Inbegriff eines in sich<br />

geschlossenen, durch sich selbst bestehenden, in sich selbst beziehungsreichen Ganzen. Er gibt <strong>der</strong> Malerei eine neue<br />

Selbständigkeit <strong>und</strong> löst sie aus <strong>der</strong> konkreten Abhängigkeit architektonischer Flächen. Dafür aber liefert Giotto die<br />

Vorstellung des gebauten Bildes. Hetzer bezeichnet dies als das Eindringen des Baumeisterlichen in <strong>der</strong> Malerei.<br />

<strong>Das</strong> Bild wird zu einem tektonischen Gefüge, <strong>der</strong> Boden beginnt zu tragen, die dargestellte <strong>Architektur</strong> tritt als<br />

gebauter Raum für die Figuren in Erscheinung, die Gravitas wird zum natürlichen <strong>und</strong> inszenierten Bestandteil <strong>der</strong><br />

Figuren <strong>und</strong> Objekte. Damit kann zum <strong>Verhältnis</strong> bei<strong>der</strong> Gattungen folgendes gesagt werden:<br />

"... um Übereinstimmung handelt es sich allerdings, nicht mehr um Abhängigkeit von realen <strong>und</strong> struktiven Bedingungen<br />

<strong>und</strong> auch nicht mehr um den Bann <strong>der</strong> Fläche. Zweierlei scheint uns hier von f<strong>und</strong>amentaler Bedeutung zu sein: In dem<br />

Augenblicke, da die Malerei eine neue Selbständigkeit errang, nahm sie die Baukunst als eine ihrer wichtigsten Elemente<br />

ideell in sich auf. Dies das eine; das an<strong>der</strong>e aber ist, dass die Baukunst in demselben Augenblick damit begann, ihre<br />

Mauern gleichsam in Bildfel<strong>der</strong> zu verwandeln; sie neigte zu einer Glie<strong>der</strong>ung die dem Bilde entgegen kam. Was die<br />

<strong>Architektur</strong> an realer Herrschaft verlor, gewann sie an idealer Durchdringung. <strong>Das</strong> Architektonische hielt als<br />

Gr<strong>und</strong>haltung Einzug in die Malerei." 2<br />

1 Theodor Hetzer, Bild als Bau, Elemente <strong>der</strong> Bildgestaltung von Giotto bis Tiepolo, Band 4, Stuttgart, 1996<br />

2 Theodor Hetzer, Bild als Bau, Elemente <strong>der</strong> Bildgestaltung von Giotto bis Tiepolo, Band 4, S.15, Stuttgart, 1996<br />

2


Der dritte Punkt betrifft die Organisation des Bildes in <strong>der</strong> Fläche. Da die Malerei im Gegensatz zur <strong>Architektur</strong> eine<br />

nachahmende Kunst ist, die Dreidimensionales auf <strong>der</strong> Fläche darstellt, interessiert die Beziehung <strong>zwischen</strong> <strong>der</strong><br />

Zweidimensionalität <strong>und</strong> dem dargestellten dreidimensionalen Raum, o<strong>der</strong> mit den Worten Hetzers die Beziehung<br />

<strong>zwischen</strong> <strong>der</strong> planimetrischen <strong>und</strong> <strong>der</strong> ornamentalen Form. Die planimetrische Form meint das Bild als geglie<strong>der</strong>te<br />

<strong>und</strong> gestaltete zweidimensionale Fläche mittels <strong>der</strong> <strong>der</strong> Malerei zur Verfügung stehenden Werkzeuge: die<br />

Proportionierung <strong>der</strong> Teilflächen, die Farben usw., welche sich zu einem geordneten Ganzen zusammenschliessen.<br />

Die planimetrische Form ist wie <strong>der</strong> Raum ebenfalls eine absolute Grösse. Hetzer schreibt beispielsweise über<br />

Raffaels Schule von Athen, dass die Nachahmende Form von <strong>der</strong> Absoluten getragen wird. Und wenn man sich die<br />

Hilfsmittel, <strong>der</strong>en sich Raffael bedient, vor Augen führt, wie er mittels einer ausgeklügelten Methode die<br />

perspektivische Darstellung <strong>der</strong> Bogenhalle im Hinblick auf die harmonische Organisation <strong>der</strong> zweidimensionalen<br />

Fläche konstruiert, dann ist klar was mit dem Begriff des Absoluten gemeint ist. Die planimetrische Form ist an sich<br />

gegenstandsfrei <strong>und</strong> hat ihre eigenen Gesetze. Und diese Mittel sind ja auch <strong>der</strong> <strong>Architektur</strong> geläufig. Es sind die<br />

gleichen Mittel, mit welchen eine harmonische Glie<strong>der</strong>ung bewerkstelligt wurde.<br />

Ein Weiters tritt im 16. Jh. dazu. Bei Michelangelo wurde das Plastische in <strong>der</strong> Malerei als etwas Wesenhaftes <strong>und</strong><br />

Elementares hervorgehoben. <strong>Das</strong> Plastische als ideelles Vermögen vereint sowohl die <strong>Architektur</strong> als auch die<br />

Plastik mit <strong>der</strong> Malerei. Hetzer schreibt über die von Michelangelo geplante, nicht zur Ausführung gekommene<br />

Vollendung <strong>der</strong> Medicikapelle: "Wir besässen den Inbegriff einer Raumgestaltung, in <strong>der</strong> <strong>Architektur</strong>, Plastik <strong>und</strong><br />

Malerei sich im Urerlebnis des Plastischen vereinigten."<br />

Hetzers Vorstellung von Einheit beruht auf dem Schaffen aus dem gleichen Geiste heraus. Es ist das ins Bild setzen<br />

architektonischer Wesenszüge, was letztendlich die Brücke <strong>zwischen</strong> <strong>der</strong> <strong>Architektur</strong> <strong>und</strong> <strong>der</strong> Malerei schlägt:<br />

"Nicht Anpassung also <strong>und</strong> Geschicklichkeit stehen hier zur Diskussion, son<strong>der</strong>n inneres Lebensgesetz, das in jenen<br />

Zeiten die Einheit <strong>der</strong> Künste begründete." 3<br />

<strong>Das</strong> Nichtanpassen ist denn auch die Voraussetzung für die Autonomie <strong>der</strong> beiden Gattungen. In diesem<br />

Zusammenhang kommt in <strong>der</strong> Malerei dem Rahmen eine zentrale Bedeutung zu. Er schliesst die Fläche <strong>und</strong> setzt <strong>der</strong><br />

Welt <strong>der</strong> Malerei eine Grenze in <strong>der</strong> sie sich verwirklichen <strong>und</strong> auf die sie sich beziehen kann. In <strong>der</strong> Renaissance<br />

wurde ein Bild beschrieben als gerahmtes Fenster, durch das <strong>der</strong> Betrachter aus einer gewissen Entfernung eine<br />

virtuelle Welt sieht - drei Dimensionen auf zwei reduziert - in <strong>der</strong> sich menschliche Gestalten proportional in einem<br />

erkennbaren Raum verteilt, signifikante Erzählungen darstellen (aus Albertis della Pittura). <strong>Das</strong> Gemälde weist dem<br />

Betrachter eine Position zu. Wir sind es gewohnt, inne zu halten <strong>und</strong> reglos davor stehen zu bleiben. Der Rahmen ist<br />

somit <strong>der</strong> eigentliche Träger <strong>der</strong> Illusionswirkung. Und die illusionistische Wirkung erscheint im Gegensatz zur Welt<br />

unverän<strong>der</strong>lich, weil das Bild das Licht <strong>und</strong> den Raum aus sich selbst bezieht, während die Plastik als Bestandteil <strong>der</strong><br />

Umgebung in ständiger Abhängigkeit mit dieser steht. Diese Konzeption wird auch Herrisches Bild genannt.<br />

Eine ganz an<strong>der</strong>s geartete Einheit <strong>zwischen</strong> <strong>Architektur</strong> <strong>und</strong> <strong>der</strong> Malerei bietet die Illusionistische Malerei. Es wird<br />

versucht mit perspektivischer Projektion die Eigenschaft <strong>der</strong> Malerei als nachahmende Kunst auf die Spitze zu<br />

treiben um Raum vorzutäuschen. Die Schwäche dieser Konzeption ist es allerdings, dass sich die Täuschung nur<br />

unter ganz bestimmten Bedingungen einstellt. <strong>Das</strong> illusionistische Bild verlangt vom Betrachter einen genau<br />

festgelegten Standort, <strong>und</strong> nur dort verbindet sich die reale <strong>Architektur</strong> mit <strong>der</strong> Scheinarchitektur. Hier gelten die<br />

Regeln des Herrischen Bildes noch vielmehr als bei Tafelbil<strong>der</strong>n, wo man sich allenfalls noch auf <strong>der</strong> vom Bild<br />

festgelegten Achse vorwärts o<strong>der</strong> rückwärts bewegen kann.<br />

Diese Aspekte sind aber keine ausreichenden Hilfsmittel, um das Wesen <strong>der</strong> Einheit im Würzburger Treppenhaus<br />

treffend zu begründen. Denn Tiepolo hat mit seiner Konzeption einen völlig neuen Weg einschlagen, <strong>der</strong> sich<br />

dadurch auszeichnet, dass er die Richtlinien von Albertis Bilddefinition weitgehend ausser Acht lässt, <strong>und</strong> sie durch<br />

neue ersetzt. Die Untersuchung wird zeigen, dass <strong>zwischen</strong> dem Bild <strong>und</strong> dem Raum eine ganz enge <strong>und</strong> konkrete<br />

Beziehung herrscht, so dass man nicht von einem Bild sprechen kann, welches traditionsgemäss durch sich selbst<br />

besteht.<br />

3 Theodor Hetzer, Bild als Bau, Elemente <strong>der</strong> Bildgestaltung von Giotto bis Tiepolo, Band 4, S.21/22, Stuttgart 1996<br />

3


1.3 <strong>Das</strong> modello<br />

Als Beleg für die nachfolgenden Aussagen soll uns die einzige noch erhaltene Ölskizze dienen, mit welcher Tiepolo<br />

1752 dem Fürstbischof die ersten konzeptionellen Überlegungen präsentierte (Abb. 14).<br />

Ölskizzen bildeten damals eine eigene Kategorie <strong>und</strong> können nicht als massstabsgetreue Entwürfe für ein Fresko<br />

verstanden werden, die schon Überlegungen bezüglich des Raumes, <strong>der</strong> präzisen Setzung <strong>der</strong> Figuren usw.<br />

beinhalteten. Als eigenes Medium dienten sie <strong>der</strong> Veranschaulichung <strong>und</strong> dem Verkauf einer Idee. Diese<br />

Eigengesetzlichkeit ist nun von entscheiden<strong>der</strong> Bedeutung, wenn die Ölskizze als Vergleichsgr<strong>und</strong>lage für Fresko<br />

herangezogen wird. Man kann daraus ableiten, dass Tiepolo, wenn es darum ging, ein Fresko in <strong>der</strong> konkreten<br />

räumlichen Abhängigkeit zu erstellen, ganz an<strong>der</strong>e Kriterien <strong>und</strong> Prämissen geltend gemacht hatte.<br />

Denn die Verän<strong>der</strong>ungen, welche Tiepolo im Fresko vornahm, sind recht erheblich. Rein schon aufgr<strong>und</strong> des<br />

Grössenunterschiedes ergab sich die Notwendigkeit, viele Details in kompositorischer Hinsicht zu modifizieren: die<br />

Drehung <strong>der</strong> Himmelspartie, die Anordnung <strong>der</strong> Wolken, die Plazierung einzelner Figuren, <strong>der</strong>en Proportionierung<br />

<strong>und</strong> auch ihr <strong>Verhältnis</strong> zum Umraum. Es soll nun versucht werden, diesen Verän<strong>der</strong>ungen unter dem Blickwinkel<br />

<strong>der</strong> räumlichen Gegebenheiten des Treppenhauses auf die Spur zu kommen.<br />

1.4 Die architektonische Konzeption des Treppenhauses<br />

Es ist augenfällig, dass das Treppenhaus innerhalb des Raumgefüges <strong>der</strong> Residenz schon aufgr<strong>und</strong> seiner Grösse eine<br />

Son<strong>der</strong>stellung einnimmt (Abb. 6+7). Auch <strong>der</strong> Typus <strong>der</strong> Stiegenanlage mit einem Antrittsarm <strong>und</strong> zwei parallel<br />

verlaufenden, gegenläufigen Austrittsarmen <strong>und</strong> <strong>der</strong>en Freistellung im Raum bot eine beson<strong>der</strong>e Ausgangslage. Vor<br />

allem war die Dimension des Gewölbes, welches in einem einzigen Schwung den Raum überspannt, immens (Abb.<br />

8+9). Der Gr<strong>und</strong> für den betriebenen Aufwand lag in <strong>der</strong> Bedeutung <strong>der</strong> barocken Treppenhäuser. Friedrich Mielke<br />

schreibt: "Wie zuvor die Freitreppe wurde nun die Haupttreppe barocker Schlösser zu einem Platz <strong>der</strong> Schaustellung<br />

persönlicher Geltungsansprüche <strong>und</strong> überpersönlicher Einordnung in ein ständisch geglie<strong>der</strong>tes Gemeinwesen. Die<br />

Treppe wurde zu einer Schaubühne, auf <strong>der</strong> sich das Spiel des höfischen Lebens als transitorischer Vorgang in Auf<strong>und</strong><br />

Abstieg präsentierte." 4<br />

Die Entwürfe für das Treppenhaus waren schon seit dem Beginn <strong>der</strong> Residenzplanung ein zentrales Thema. Der erste<br />

Bauherr, Fürstbischof Johann Franz Philipp von Schönborn wünschte ursprünglich zwei symmetrisch angeordnete<br />

Treppenhäuser bei<strong>der</strong>seits des Vestibüls (Abb. 5). Diese Pläne wurden nach Neumanns Studienreise in Frankreich<br />

unter dem Einfluss Architekten Robert de Cotte <strong>und</strong> Germain Boffrand erheblich verän<strong>der</strong>t. Die Ratschläge zielten<br />

darauf hin, auf die symmetrische Anordnung zu verzichten <strong>und</strong> statt dessen eine einseitige Treppenanlage mit<br />

vergrössertem Gr<strong>und</strong>riss zu machen. Boffrand schlug zudem vor, einen Umgang so anzulegen, dass dieser einerseits<br />

den Statisten zum protokollarisch festgelegten Empfangszeremoniell als Bühne dienen konnte <strong>und</strong> an<strong>der</strong>erseits als<br />

Verbindungsraum in <strong>der</strong> Beletage genutzt werden konnte. Zur Ausführung kam das Treppenhauses aber erst unter<br />

dem Fürstbischof Friedrich Carl von Schönborn, welchen Neumann offenbar von einer einseitigen Anlage<br />

überzeugen konnte. Im Vergleich zur Boffrands Version vergrösserte Neumann den Raum bis an die Wand des<br />

nördlichen Innenhofes, so dass das Treppenhaus besser <strong>und</strong> ausgewogener belichtet werden konnte. Die grösste<br />

Leistung aber war es, diesen riesenhaften Saal mit einem einzigen Gewölbe zu überspannen. Dieser Entschluss<br />

wurde relativ kurz vor <strong>der</strong> Ausführung gefällt. Frühere Pläne zeigen nämlich, dass das Treppenhaus oben zu einem<br />

säulengetragenen Umgang führen sollte. Dies war mit dem damaligen technischen Wissen ein heikles konstruktives<br />

Wagnis. Aus statischen Gründen war es notwendig, die drei grossen Gewölbe des Treppenhauses, des Weissen Saals<br />

<strong>und</strong> des Kaisersaals gleichzeitig aufzubringen, denn die seitlich wirkenden Schubkräfte jedes Gewölbes bedurften<br />

<strong>der</strong> Nachbargewölbe als Wi<strong>der</strong>lager.<br />

Die einseitige Treppenhalle hatte den entscheidenden Vorteil, dass sie als eigenständiges Kompartiment im<br />

Raumgefüge eingeglie<strong>der</strong>t werden konnte. Denn die Monumentalräume, die dem zeremoniellen Empfang einen<br />

prunkvollen Rahmen bieten, bilden eine genau geplante Abfolge. Es war Neumanns Absicht, diese Raumfolge so zu<br />

gestalten, dass dem ankommenden Gast ein kontrastreiches Wechselbad unterschiedlicher Raumerfahrungen geboten<br />

4 Friedrich Mielke, Die Geschichte <strong>der</strong> deutschen Treppen, S. 214, Berlin München, 1966<br />

4


werden konnte. Beginnend in den engen Gassen <strong>der</strong> Stadt kommt <strong>der</strong> Besucher mit <strong>der</strong> Kutsche auf den sich<br />

explosionsartig ausweitenden Vorplatz des Schlosses (Abb. 4). Bei <strong>der</strong> Einfahrt durch das Gittertor in den Cour d'<br />

honneur verengt sich <strong>der</strong> Raum. Die mächtiger erscheinende Fassade des Ehrenhofes tritt dem Besucher entgegen<br />

<strong>und</strong> verlangsamt die Bewegung (Abb. 15). Mit <strong>der</strong> Karosse wird er durch das rechte Portal in das dämmrige Licht<br />

des Vestibüls gelangen (Abb. 16). Die niedrige, weitgespannte Wölbung <strong>und</strong> die schwer tragenden Atlanten<br />

erzeugen einen Eindruck des Gedrückten <strong>und</strong> Schwerlastenden. Während die Karosse eine 180 Grad Wendung<br />

vollzieht, um den Gast dann am Ansatz zur Treppe abzusetzen, kann er <strong>der</strong> Hauptachse folgend, einen Blick durch<br />

die Sala Terrana (Abb. 17) hinaus auf das lichte Gartenparterre erhaschen. <strong>Das</strong> Schwere <strong>und</strong> Breitgelagerte des<br />

Vestibüls tritt in Kontrast mit dem Spiel <strong>der</strong> Fontäne <strong>und</strong> <strong>der</strong> luftig aufsteigenden Baumkulisse.<br />

Nebst <strong>der</strong> starken Kontraste ist die Wendung ein weiteres charakteristisches Instrument dieses Entwurfes. Sie ist ein<br />

Kunstgriff, um den Betrachter immer wie<strong>der</strong> in eine neue überraschende Situation zu bringen <strong>und</strong> dient so <strong>der</strong><br />

Steigerung <strong>der</strong> räumlichen Erfahrung.<br />

Steigt <strong>der</strong> Gast nun am Treppenfusse aus, gelangt dabei in eine völlig neue räumliche Situation. In grösstem<br />

Gegensatz zum Halbdunkel des Vestibüls wird er durch die von oben herab rieselnde Lichtfülle zum Emporsteigen<br />

angeregt. Die gedrückte Decke des Vestibüls wird plötzlich aufgerissen <strong>und</strong> man hat freie Sicht auf den weit oben<br />

erscheinenden Deckenplafond. Folgt man den Stufen des Antrittsarmes, dehnt sich <strong>der</strong> Raum allmählich in<br />

unerwartete Breite. Auf dem Mittelpodest ist man dazu angehalten, die zweite Kehrtwendung zu machen. Zwei<br />

Treppen stehen nun zur Auswahl um in <strong>der</strong> entgegengesetzten Richtung, auf die beiden Türen des Weissen Saales<br />

zuschreitend, die umlaufende Galerie <strong>der</strong> Beletage zu erreichen (Abb. 18). Der Raumeindruck des sich entfaltenden<br />

Treppenhauses, welcher aufgr<strong>und</strong> des Gegensatzes des Stützenwaldes im Erdgeschoss zum völlig stützenfreien<br />

Raum erheblich gesteigert wird, muss für damalige <strong>Verhältnis</strong>se gewaltig gewesen sein. Im Weissen Saal, muss<br />

wie<strong>der</strong> eine 90 Grad Drehung nach links gemacht werden (Abb. 19). <strong>Das</strong> Dreitürenmotiv des Eingangs zum<br />

Kaisersaal deutet den Höhepunkt <strong>der</strong> Promenade an. Man betritt den Kaisersaal durch seine Längsseite (Abb. 20).<br />

Weil dadurch die Gegenseite des Raumes sich nicht allzu weit vor dem Betrachter erhebt, wird die Bewegung<br />

geschickt gebremst. Der Gast bleibt unwillkürlich stehen. Der Blick wan<strong>der</strong>t nach oben <strong>und</strong> zu den Seiten. Erst wenn<br />

er sich optisch-räumlich orientiert hat, wird er langsam weiter gehen.<br />

Als drittes architektonisches Instrument ist damit die unterschiedliche dynamische Wirkung <strong>der</strong> einzelnen Räume<br />

innerhalb des Zeremonialweges beschrieben. Denn je<strong>der</strong> Raum ist so gestaltet, dass <strong>der</strong> Bewegungsrhythmus durch<br />

die architektonische Gestaltung bewusst gesteuert wird.<br />

Krückmann vergleicht die Anordnung <strong>der</strong> Prunkräume mit dem dramatischen Aufbau einer Oper o<strong>der</strong> eines<br />

Schauspiels. Die Bewegung auf die Residenz bildet sozusagen die Ouvertüre. Der Eintritt ins Vestibül könnte als<br />

ungewisse Anfangsszene gedeutet werden. Mit dem Akt des Emporschreitens auf <strong>der</strong> Stiege beginnt die fulminante<br />

Handlung. <strong>Das</strong> Durchqueren des Weissen Saals bildet ein ruhiges, retardierendes Zwischenspiel. Der Kaisersaal<br />

schliesslich ist <strong>der</strong> Höhepunkt des Schauspiels. 5 Diese Analogie trifft den Kern von Neumanns Absicht recht<br />

präzise, weil sie alles miteinschliesst, was er dem dramatisch inszenierten Fluss dieser kontrapunktischen<br />

Raumerlebnisse mit den Instrumenten des starken Kontrastes, <strong>der</strong> unterschiedlichen Dynamik <strong>der</strong> einzelnen<br />

Raumkompartimente <strong>und</strong> den Wendungen zu Gr<strong>und</strong>e gelegt hat.<br />

5 Peter O. Krückmann, Der Himmel auf Erden, Band 1, S. 32, München 1996<br />

5


2. <strong>Das</strong> interaktive Raum-Bild<br />

2.1 Eine kinematographische Konzeption?<br />

Die Eigenschaften dieses Raumes hatten mit allem was Tiepolo bisher kannte, nichts gemeinsam. Zunächst war die<br />

Grösse des 600 m2 umfassenden Gewölbes enorm. Zweitens war dessen Form mit dem stark in die Tiefe gedrückten<br />

Plafond aussergewöhnlich. Weiter erfor<strong>der</strong>te <strong>der</strong> Umstand, dass <strong>der</strong> Raum in zwei entgegengesetzten Richtungen<br />

durchquert wird, spezifische Überlegungen. Eine Aufteilung des Gewölbes in fünf einzelne Bil<strong>der</strong>, wie sie die Skizze<br />

von Lünenschloss (Abb. 11) zeigt, wäre in dieser Hinsicht bestimmt eine plausible Lösung gewesen. Es war lange<br />

Zeit auch üblich, grosse Gewölbeflächen in einzelne, in sich geschlossene Bildfel<strong>der</strong> zu unterteilen. Offenbar war <strong>der</strong><br />

Auftraggeber schon seit Holzers Entwurf (Abb. 12) aber <strong>der</strong> Ansicht, die ganze Deckenfläche als ein<br />

zusammenhängendes Bildfeld aufzufassen. Diese Tradition war um diese Zeit noch relativ jung. Im italienischen<br />

Hochbarock gab es schon einige Beispiele (Pietro da Cartone im Mars-Saal des Palazzo Pitti, 1682 <strong>und</strong> Luca<br />

Giordano in <strong>der</strong> Galerie des Palazzo Medici-Riccardi in Florenz, 1682-85). Auch das Deckenfresko von Johannes<br />

Byss im Schloss Pommersfelden ist nicht unterteilt (Abb. 10). Weil auf kleinere Bezugsgrössen o<strong>der</strong> auf eine<br />

architektonische Glie<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Decke verzichtet wurde, bestand für den Künstler die Hauptschwierigkeit darin, die<br />

große Gewölbefläche allein mit den <strong>der</strong> Malerei zur Verfügung stehenden Mittel wie Figuren, Figurengruppen <strong>und</strong><br />

an<strong>der</strong>en Objekten zu bewältigen. Als Glie<strong>der</strong>ungsinstrument bediente man sich oft einer Quadraturmalerei. Auch<br />

Holzers Gr<strong>und</strong>ordnung besteht in einer illusionistischen Überhöhung des Raumes. Aber die räumlichen<br />

Voraussetzungen des Treppenhauses waren für einen <strong>der</strong>artigen Lösungsansatz schon von Beginn weg äusserst<br />

ungünstig. Die Hauptschwierigkeit bestand nämlich darin, dass <strong>der</strong> Raum keinen Standort bietet, von wo das<br />

gesamte Deckengewölbe angenehm überblickt werden kann. Eine Gesamtsicht auf das Fresko hätte man vielleicht,<br />

wenn man etwa auf dem ersten Zwischenpodest stehen bleibt <strong>und</strong> steil nach oben blickt. Doch die strengen Regeln<br />

des zeremoniellen Empfangs hätten es nicht erlaubt, eine gezwängte Haltung einzunehmen o<strong>der</strong> gar aus dem<br />

Zeremonialweg auszuscheren. Darin bestand auch die Schwäche von Holzers Entwurf, weil für die beabsichtigte<br />

Wirkung die Festlegung eines idealen Standortes unabdingbar gewesen wäre.<br />

Die Lösung die Tiepolo nun bot war folgende, dass er wohl ein zusammenhängendes Bild schafft, dabei aber die<br />

gesamte Komposition des Freskos auf die ständig wechselnden Blickwinkel des emporschreitenden Gastes<br />

orientierte. Sehr geschickt wählt Tiepolos fünf charakteristische Standorte für seine Bildkomposition.<br />

1. Den ersten Standort legt er an die Schwelle <strong>zwischen</strong> Vestibül <strong>und</strong> Treppenhaus. Dort kann <strong>der</strong> Gast den ersten<br />

Blick auf das Fresko werfen. Man erblickt die Personifikation Amerikas, die auf einem mächtigen Alligator reitet<br />

<strong>und</strong> mit ausgestrecktem Arm nach rechts auf eine Fahne, welche einen Greif als Fabelwesen zeigt. Man hat von hier<br />

den besten Blick auf den Erdteil Amerika, weil die Brüstung <strong>der</strong> umlaufenden Galerie den starken Lichteinfall durch<br />

die Nordfenster dämpft. Dieser Bildausschnitt ist auf allen vier Seiten durch die <strong>Architektur</strong> gerahmt <strong>und</strong> bildet als<br />

Binnenbild eine in sich abgeschlossene Komposition. Würde man diesen Bildausschnitt ausschneiden, käme<br />

niemand auf die Idee, dass es nur ein ganz kleiner Teil eines grossen Freskos ist. Zugleich aber schafft es Tiepolo mit<br />

dem Mittel des Augenreizes, den Gast neugierig auf das Kommende zu machen. Dies bewerkstelligt in diesem Fall<br />

die schwarze aufstrebende Wolke (Abb. 21).<br />

2. Schreitet man nun weiter zum Antritt des ersten Treppenlaufes, so vervollständigt sich dieser Wolkenschweif zu<br />

einem stürmisch aufstrebenden rocailleähnlichen Gebilde <strong>und</strong> lenkt die Aufmerksamkeit weg von <strong>der</strong> Darstellung<br />

Amerikas. Man entdeckt Apoll <strong>und</strong> die aufgehende Sonne. Von hier wird man auch die schönste Farbigkeit des in<br />

blassen Tönen gehaltenen Himmels geniessen können. <strong>Das</strong> Bild ist wie<strong>der</strong>um von <strong>der</strong> <strong>Architektur</strong> auf allen vier<br />

Seiten gerahmt <strong>und</strong> auch diese Teilsicht auf das Fresko wirkt in keiner Weise ausschnitthaft (Abb. 22 ).<br />

3. Auf dem ersten Zwischenpodest entsteht wie<strong>der</strong> ein neues Bild. Der Ausschnitt ist aber nicht mehr nur durch die<br />

<strong>Architektur</strong> gerahmt, son<strong>der</strong>n auch durch die relative Enge des Sehfeldes. <strong>Das</strong> Bild erweitert sich seitlich, man<br />

erkennt die ersten Sequenzen <strong>der</strong> Afrika <strong>und</strong> Asienseite. Von hier aus ist auch <strong>der</strong> Obelisk in richtiger Perspektive zu<br />

sehen. Dies belegt, dass das Bild tatsächlich nur von bestimmten Standorten richtig gesehen werden kann. Die<br />

6


optisch bedingten Verzerrungen <strong>der</strong> seitlich ins Blickfeld tretenden Teil des Asien- <strong>und</strong> Afrikafrieses stören kaum,<br />

weil sie an den äusseren Rand des Sehfeldes erscheinen (Abb. 23).<br />

4. Wenn man sich dem Mittelpodest nähert, wird man das Fresko mehr <strong>und</strong> mehr aus den Augen verlieren. Denn an<br />

dieser Stelle wird man geradezu auf die frontale Schachtwand zuschreiten. Hier muss man die zweite Kehrtwendung<br />

machen. Man wird entwe<strong>der</strong> nach links o<strong>der</strong> nach recht umdrehen <strong>und</strong> den Gang in entgegengesetzter Richtung fort<br />

setzten. Möglicherweise wird man geneigt sein, dem Wink <strong>der</strong> Amerikaallegorie zu folgen <strong>und</strong> dabei erst Afrika<br />

erblicken. Der Gast schreitet nun frontal auf die Darstellung Europas zu, die links <strong>und</strong> rechts von Afrika <strong>und</strong> Asien<br />

eingefasst wird. Er entdeckt das Medaillon des Fürsten Greiffenclau, welches von Glorien <strong>und</strong> Famen in den Himmel<br />

getragen wird. Sofort wird man natürlich die Gegenüberstellung zu Apoll bemerken, <strong>der</strong> aus dieser Perspektive<br />

allerdings nicht mehr zu sehen ist (Abb. 24).<br />

5. Vom letzten Zwischenpodest hat man eine unverzerrte perspektivische Sicht auf Europa <strong>und</strong> kann als weiteren<br />

Hinweis darauf gelten, dass das Fresko nicht dafür bestimmt ist, etwa von <strong>der</strong> umlaufenden Galerie aus richtig<br />

gesehen zu werden. Es ist ganz auf den Akt des Hochsteigens zugeschnitten. Eine architektonische Kulisse dient als<br />

Hintergr<strong>und</strong>, vor welcher Künstler <strong>und</strong> Wissenschaftler posieren <strong>und</strong> die Hegemonie Europas über die an<strong>der</strong>n<br />

Kontinente verkünden.<br />

Mit dieser Konzeption betrat Tiepolo künstlerisches Neuland, indem er ein völlig neues <strong>Verhältnis</strong> <strong>zwischen</strong> Bild<br />

<strong>und</strong> Betrachter einführt. Er schafft für einen Raum, den man wesensgemäss durchschreitet, ein zusammenhängendes<br />

Bild, von dem allerdings immer nur bestimmte Ausschnitte erblicken kann. Diese Ausschnitte bilden eine nahtlose<br />

Abfolge von in sich schlüssigen Binnenbil<strong>der</strong>n, die nur von den jeweiligen charakteristischen Standorten aus richtig<br />

gelesen werden können. Um auffällige Bruchstellen zu verhin<strong>der</strong>n, lenkt Tiepolo den Blick des Betrachters immer<br />

auf das, was für den jeweiligen Standort bestimmt ist, sodass Darstellungen, die erst für einen späteren Zeitpunkt<br />

wesentlich sind, gar nicht auffallen. Weiter trägt auch eine übergeordnete Struktur dazu bei, dass das Bild nicht in<br />

lose Bildfragmente auseinan<strong>der</strong> fällt. Tiepolo ordnet jedem Kontinent <strong>und</strong> dem Himmel eine Hauptfigur zu, welche<br />

in einem räumlichen <strong>Verhältnis</strong> zu einan<strong>der</strong> stehen. Den ruhenden Hauptpol bildet das mittig über <strong>der</strong> Südwand<br />

platzierte Portrait des Fürstbischofs von Greiffenclau. Alle gestische Kraft wird in den Kontinenten jeweils in <strong>der</strong><br />

allegorischen Figur gebündelt <strong>und</strong> quer durch den Raum hinüber zum Medaillon geleitet. Diese Struktur bindet das<br />

Fresko wie<strong>der</strong> schlüssig zusammen <strong>und</strong> erlaubt gleichzeitig eine selbstverständliche Einordnung <strong>der</strong> restlichen<br />

Figuren <strong>und</strong> Objekte im Ganzen.<br />

Man hat es hier mit einem begehbaren Bild zu tun, das gewissermassen den Imperativ zur Bewegung, ein zentrales<br />

Thema <strong>der</strong> Neumann’schen Raumfolge, auch für die Konzeption des Bildes vereinnahmt. Es ergibt sich somit<br />

Übereinstimmung <strong>zwischen</strong> <strong>der</strong> Dynamischen Raumkonzeption im weiteren (bezogen auf den ganzen<br />

Zeremonialweg) <strong>und</strong> im engeren Sinne (bezogen auf das Treppenhaus) <strong>und</strong> <strong>der</strong> ebenfalls dynamischen<br />

Bildkonzeption. Dieses bruchlose Aneinan<strong>der</strong>reihen von Binnenbil<strong>der</strong>n ist vergleichbar mit einem Film. Man könnte<br />

von einer Kinematographischen Konzeption sprechen, obwohl sich streng genommen <strong>der</strong> Betrachter bewegt <strong>und</strong><br />

nicht das Bild. Dadurch hat das Deckenfresko während <strong>der</strong> ganzen Aufenthaltszeit im Treppenhaus fortwährend<br />

seine Gültigkeit.<br />

2.2 Die Raumform <strong>und</strong> die Ornamentale Form<br />

Den Verzicht einer herkömmlichen Bildkonzeption <strong>der</strong> Einansichtigkeit erfor<strong>der</strong>t es, dem zeremoniellen Weg zu<br />

folgen, um so von jedem Standort aus die kompositorischen Setzungen von neuem in Abhängigkeit <strong>der</strong> jeweiligen<br />

räumlichen Situation zu verstehen. Denn einerseits ist <strong>der</strong> Raum in ungewohnt hohem Masse konstitutiv für die<br />

Gestaltung des Freskos <strong>und</strong> an<strong>der</strong>erseits sind die dadurch entstehenden Wechselwirkungen <strong>zwischen</strong> <strong>der</strong> <strong>Architektur</strong><br />

<strong>und</strong> <strong>der</strong> Malerei auf einer räumlichen als auch auf inhaltlicher Ebene äusserst komplex. Erstens betrifft dies die<br />

inhaltliche Steigerung einer einzelnen Bildsequenz durch die entsprechende Setzung im Raum, so dass umgekehrt<br />

auch die räumlichen Kontraste rückwirkend zugespitzt werden. Zweitens interessiert, wie Tiepolo auf das<br />

7


architektonische Instrument <strong>der</strong> Wendung reagiert. Und drittens schliesslich soll gezeigt werden, wie sich die<br />

einzelnen Darstellungen in dynamischer Hinsicht auf den dem Raum zu Gr<strong>und</strong>e gelegten Bewegungsfluss verhalten.<br />

Die auffälligste Modifizierung bezogen auf die Ölskizze ist die Drehung <strong>der</strong> Himmelspartie. Es stellt sich natürlich<br />

die Frage, ob die Darstellung des Himmels <strong>und</strong> damit auch Asien <strong>und</strong> Afrika gedreht wurde, o<strong>der</strong> ob lediglich<br />

Europa <strong>und</strong> Amerika die Seiten abtauschen mussten. Frank Büttner vertritt die These, dass ersteres <strong>der</strong> Fall war. Er<br />

vermutet, dass die unsignierte <strong>und</strong> <strong>und</strong>atierte, 1945 verbrannte Skizze für die nicht ausgeführte Dekoration <strong>der</strong><br />

Südwand nach <strong>der</strong> Erstellung <strong>der</strong> Fresken im Kaisersaal entstanden sein muss 6 . Sie zeigt, wie <strong>der</strong> Fürstbischof <strong>und</strong><br />

sein Gehabe von einer gemalten Kanzel würdevoll das Erden- <strong>und</strong> Himmelstreiben betrachten (Abb. 13). Nach<br />

barockem Gespür für Bildrhetorik wäre es demnach äusserst unschicklich gewesen, dass ein sich geistlicher<br />

Herrscher direkt unterhalb abgeschlagener Köpfe des Amerika Frieses präsentieren würde. Daraus leitet er ab, dass<br />

schon von Anfang an geplant war, die Darstellung Europas über den Eingängen des Weissen Saals anzubringen.<br />

Diese Dekoration <strong>der</strong> Südwand wurde allerdings nicht ausgeführt. Statt dessen wurde aber das Medaillon mit dem<br />

Porträt des Greiffenclau eingeführt (Abb. 32). Konsequenterweise musste Apoll diesem Platze weichen, weil es sonst<br />

zu einer ungünstigen Konfrontation gekommen wäre. Damit musste die aufsteigende Wolke, die Sonne <strong>und</strong> die Figur<br />

Apoll gedreht werden, so dass sie über dem Erdteil Amerika zu liegen kamen (Abb. 30). Allein rhetorische Gründe<br />

dürften aber nicht ausschlaggebend gewesen sein. Angesichts <strong>der</strong> sich daraus ergebenden Vorteile vermutet man,<br />

dass die Gründe viel eher in Bestreben nach einer präziseren malerischen Reaktion auf die räumlichen Bedingungen<br />

liegen. Bezüglich <strong>der</strong> Positionierung <strong>und</strong> <strong>der</strong> Wirkung <strong>der</strong> Wolkenschlaufe muss man sich vergegenwärtigen worin<br />

die räumliche Spannung des Standortes besteht, für den dieser Ausschnitt bestimmt ist: Die Dramatik am<br />

Treppenanstatz gründet im Kontrast <strong>zwischen</strong> <strong>der</strong> schweren <strong>und</strong> düsteren Atmosphäre des Vestibüls <strong>und</strong> <strong>der</strong><br />

unwahrscheinlichen Vertikalsicht an die fast 20 Meter höher gelegene Deckenuntersicht. Es gäbe keinen passen<strong>der</strong>en<br />

Platz für die Darstellung <strong>der</strong> beherrschenden Gottheit. <strong>Das</strong> bildhafte Oberste entspricht aus dieser Perspektive dem<br />

realen Obersten. <strong>Das</strong> Thema des Sonnenaufgangs spielt überaus schön mit dem dämmrigen Lichtcharakter des<br />

Vestibüls. Weiter stimmt das geheimnisvolle <strong>und</strong> wilde Treiben Amerikas vortrefflich mit <strong>der</strong> relativen Dunkelheit<br />

in diesem Gewölbeabschnitt überein. Europa über dem Eingang zum Weissen Saal profitiert davon, dass dessen<br />

hegemoniales Strahlen über den Rest <strong>der</strong> Welt mit <strong>der</strong> entsprechenden Raumhelligkeit in diesem Bereiche<br />

zusammenfällt. Hätte Tiepolo den Apoll auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>n Seite über Europa plaziert, würde dort die die Bildaussage<br />

unterstützende Kraft des architektonischen Raumes eindeutig fehlen. Denn nach <strong>der</strong> Wendung ist die Distanz zum<br />

Plafond weitaus geringer, die Sicht viel weniger Steil. Die Drehung des Himmels bewirkt eine äusserst vielschichtige<br />

interaktive Wirkung mit dem Raum. Die <strong>Architektur</strong> beginnt die Bildinhalte räumlich zu illustrieren <strong>und</strong> umgekehrt<br />

werden auch die räumlichen Absichten von Neumann selbst in unerwarteter Weise gesteigert.<br />

Weiter erhält das Fresko durch das Vis-à-vis von Apoll mit dem Medaillon des Greiffenclau die Eigenschaft einer<br />

bipolaren Darstellung. Diese unmissverständliche Beziehung ist natürlich höchste politische Rhetorik. Strukturell<br />

aber ist dies ein äusserst effizient eingesetztes Mittel, um damit eine malerische Reaktion auf eine <strong>der</strong> wichtigsten<br />

Gr<strong>und</strong>eigenschaften dieses Raumes, nämlich dass man ihn in zwei gegenläufigen Richtungen durchschreitet, zu<br />

geben. Zudem leitet Apoll die Kehrtwendung auf dem Mittelpodest dadurch vor, dass er in Gegenrichtung zum<br />

Emporsteigenden in Richtung Europa fliegt. Um nach <strong>der</strong> Kehrtwendung die Hauptfiguren Afrika <strong>und</strong> Asia gut zur<br />

Geltung zu bringen, mussten sie näher zu Europa gerückt werden. Auf beiden Seiten entstand dadurch eine relativ<br />

grosse Lücke, die Tiepolo auf <strong>der</strong> Afrikaseite mit dieser fast 17 Meter langen Holzstange, die ein Zelttuch trägt, <strong>und</strong><br />

auf <strong>der</strong> Asien Seite mit dem Hügel Golgatha überbrücken musste. Durch diese Manipulation entstanden in beiden<br />

Erteilen zwei Gruppen, von denen die nördlichen nur vom ersten Zwischenpodest aus perspektivisch richtig zu lesen<br />

ist, <strong>und</strong> die südlicheren für den zweiten Treppenabschnitt gedacht sind.<br />

Ausserordentlich kohärent zum dynamischen Aufbau des Raumes verhalten sich auch die bildinternen<br />

Bewegungskräfte. Am Ansatz <strong>der</strong> ersten Treppe hat <strong>der</strong> Wolkenansatz, <strong>der</strong> sich beim Fortschreiten, erst zögernd,<br />

dann plötzlich rasant aufbaut, die Aufgabe, den Besucher stürmisch zu empfangen, den Beginn <strong>der</strong> Handlung<br />

einzuleiten <strong>und</strong> aufwärts zu ziehen. Der wuchtige Schwung <strong>der</strong> Wolkenschlaufe ergreift kontinuierlich Besitz vom<br />

Himmel <strong>und</strong> reisst das Auge mit grösster Wachsamkeit auf ihre beschwingte Bahn mit. Die starke Aufwärtstendenz<br />

wird zusätzlich davon unterstützt, dass Amerika aufgr<strong>und</strong> des starken Gegenlichtes immer dunkler <strong>und</strong><br />

6 Frank Büttner, Giovanni Battista Tiepolo, Die Fresken in <strong>der</strong> Residenz zu Würzburg, S. 108, 1. Auflage, Würzburg<br />

1980<br />

8


silhouettenhafter wird. Der hernie<strong>der</strong> schwebende Apoll, welcher zum allmorgendlichen Flug über seine<br />

Herrschaftsgebiete ansetzt, kontrastiert mit dem Erlebnis des Hochschreitens. Scheinbar nähert man sich dadurch<br />

schneller dem oberen Etage (Dies ist vergleichbar mit dem Effekt, wenn man auf einer Rolltreppe aktiv<br />

hochschreitet). Die Wolkenansätze <strong>der</strong> Erdteile Afrika <strong>und</strong> Asien, die man bei stetigem Weiterschreiten entdeckt,<br />

deuten schon an, dass sich dramaturgische Funktion dieser beiden Kontinente stark von Amerika unterscheiden. Es<br />

fällt sofort auf, dass die seitlichen Erdteile eine ausgeprägte horizontale Ordnung haben. Sie haben das Auge<br />

horizontal führen <strong>und</strong> verbinden so die beiden Schmalseiten. Der horizontale Bewegungsfluss wird davon<br />

unterstützt, dass die Figuren meist zur Seitenansicht tendieren. Im modello war dies noch nicht <strong>der</strong> Fall. Ein gutes<br />

Beispiel ist das liegende Kamel, auf welchem die Afrika posiert (Abb.33+34). Es wurde wesentlich gedreht, so dass<br />

es annähernd entlang <strong>der</strong> Bildebene zu liegen kam. Die langgestreckten Wolken folgen über den Figuren <strong>der</strong><br />

horizontalen Linie des Frieses. Himmel <strong>und</strong> Erde zeigen sich als zwei weitgehend voneinan<strong>der</strong> getrennte Bereiche.<br />

Die Kontinente über den Längsseiten <strong>und</strong> Europa verhalten sich wie die Seitenwände eines Ehrenhofes zur<br />

Hauptfassade. Europa bildet eine Schlusslunette <strong>der</strong> Reise <strong>und</strong> ist in dem Sinne sowohl formal als auch inhaltlich<br />

ruhen<strong>der</strong> Natur. Die meisten Figuren sind annähernd frontal dargestellt sind. Auch die horizontal angelegte<br />

architektonische Kulisse im Hintergr<strong>und</strong> <strong>und</strong> die vorherrschende rote Farbigkeit unterstützen diesen Eindruck. <strong>Das</strong><br />

aufwärtsstrebende Zickzackmotiv, in welches auch das Medaillon eingebettet ist, stellt im Vergleich zum Vis-à-vis<br />

eine äusserst mo<strong>der</strong>ate Aufwärtstendenz dar.<br />

Mit solchen Kräften führt Tiepolo den Betrachter durch seine Bildfläche, so dass man von <strong>der</strong> <strong>Architektur</strong> <strong>und</strong> vom<br />

Bild in adäquater Weise durch diesen Parcours geführt wird. Die Bewegung durch diesen Raum erhält durch die<br />

Bildwirkung ihre vollste Unterstützung.<br />

2.3 Tektonische Aspekte<br />

Die Wechselwirkungen <strong>zwischen</strong> <strong>der</strong> <strong>Architektur</strong> <strong>und</strong> <strong>der</strong> Malerei im Treppenhaus sind auch in tektonischer Hinsicht<br />

vorhanden. Bekanntlich ist das Spiegelgewölbe im Würzburger Treppenhaus eine zusammenhängende Fläche ohne<br />

tektonische Glie<strong>der</strong>ung. Eine Veranschaulichung des Kräfteflusses finden wir nur in den umschliessenden Mauern<br />

des Raumes. Eine klassizistische Pilastrierung scheint einen reich ausgebildeten umlaufenden Fries zu tragen. Es gibt<br />

nun verschieden Stellen, wo eine direkte Beziehung <strong>zwischen</strong> Figuren <strong>und</strong> <strong>der</strong> Pilastrierung besteht. Wichtige<br />

Personen werden durch diese Son<strong>der</strong>stellung hervor gehoben. In den Erdteilen Amerika, Afrika <strong>und</strong> Europa sind die<br />

allegorischen Hauptfiguren jeweils in gera<strong>der</strong> Fortsetzung des Pilasters positioniert. Gleiches gilt für den heimlichen<br />

Beobachter in <strong>der</strong> Amerikadarstellung <strong>und</strong> beispielsweise für Balthasar Neumann (Abb. 35), <strong>der</strong> sich in lässiger<br />

Haltung direkt auf dem architektonischen Fries auszuruhen <strong>und</strong> gelassen seine eigene Schöpfung zu betrachten<br />

scheint.<br />

Die Asia selbst profitiert nicht von dieser Steigerungsmöglichkeit. In direkter Umgebung tritt dafür ein an<strong>der</strong>es,<br />

äusserst son<strong>der</strong>bares Phänomen auf. Direkt über dem aufstrebenden Pilaster links <strong>der</strong> Asia befindet sich <strong>der</strong> in<br />

seltsamer Verkürzung dargestellte Spinnenmann, wie er in <strong>der</strong> Literatur genannt wird (Abb. 36). Baxandall & Alpers<br />

sehen in seiner wohl absichtlich falschen Verkürzung ein Steigerungsmittel seiner Qual, welche auf <strong>der</strong> Spannung<br />

<strong>zwischen</strong> <strong>der</strong> zweidimensionalen Form <strong>und</strong> <strong>der</strong> dreidimensionalen Darstellung beruht. Berücksichtigt man nun<br />

zudem noch die aufstrebende Energie im Pilaster, so wird seine leidende Stellung noch gequälter. Wie ein Atlant<br />

leitet er den Kraftfluss weiter <strong>und</strong> wird ständig nahe am zerreissen sein. Dies wird dann noch gesteigert durch die<br />

Figur direkt hinter ihm, welche quasi im Kraftschatten scheinbar mühelos diesen leicht empf<strong>und</strong>enen Teller hält,<br />

welcher in mittiger Fortsetzung <strong>der</strong> Pilasterlinie positioniert ist. Diese optischen Verbindungen haben immer zwei<br />

Aspekte. Erstens wird natürlich eine inhaltliche Steigerung <strong>der</strong> jeweiligen Figuren erzeugt, aber man kann sie auch<br />

tektonisch lesen. Tiepolo nutzt die durch die Pilastrierung veranschaulichten aufsteigenden Kräfte um sie in<br />

gestische Kraft <strong>der</strong> Figuren zu transformieren. Die Kräfte scheinen im Bilde aufgenommen <strong>und</strong> leben weiter in Form<br />

von bildhafter Energie, welche er bald beschleunigt, bald seitwärts ausklingen o<strong>der</strong> in den Weiten des Himmels<br />

entfliehen lässt. Diese Figuren werden dann gewissermassen zu Bildpfeilern, verbinden das Bild optisch mit <strong>der</strong><br />

<strong>Architektur</strong> <strong>und</strong> geben dem Fresko einen Halt.<br />

9


2.4 <strong>Das</strong> <strong>Verhältnis</strong> <strong>zwischen</strong> dem Bildlicht <strong>und</strong> dem Raumlicht<br />

Im modello ist es ja so, dass das Bild das Licht aus sich selber bezieht <strong>und</strong> somit die Sonne als einzige Lichtquelle<br />

für die Beleuchtung <strong>der</strong> am Rande liegenden Erdteildarstellungen gelten kann. Im Fresko allerdings ist diese<br />

Kausalität nicht mehr vorhanden.<br />

<strong>Das</strong> Licht im Treppenhaus stammt von fünf Nordfenstern, drei Westfenstern <strong>und</strong> zwei Ostfenstern (Abb. 31). Die<br />

wichtigste Lichtquelle ist die nördliche. Der quadratische Innenhof wirkt wie ein Lichtreservoir, welches das Licht<br />

aus allen Richtungen sammelt <strong>und</strong> grösstenteils nach Süden, also durch die Nordfenster des Treppenhauses<br />

reflektiert. Die Aussenwände sind in einem hellen Ocker gestrichen, so dass dieses Licht einen warmen <strong>und</strong> zahmen<br />

Charakter hat. Die westliche Lichtquelle ist die grellste <strong>und</strong> direkteste. Die drei Fenster in <strong>der</strong> Hauptfront <strong>der</strong><br />

Residenz erhalten am Morgen Licht durch die Reflexion des Sonnenlichtes an <strong>der</strong> Seitenfassade des Ehrenhofes. Am<br />

Nachmittag hingegen fällt das Licht direkt ein. Dadurch wird vor allem die Ostseite des Deckengewölbes, wo sich<br />

die Darstellung Afrikas befindet, <strong>und</strong> mit geringerer Intensität auch die Südwand mit Europa beleuchtet. Einen recht<br />

bescheidenen Einfluss hat die Ostquelle, weil <strong>der</strong> schachtartige Brunnenhof zu klein ist, um ständig Licht zu<br />

reflektieren. <strong>Das</strong> durch die Ostfenster eindringende Licht ist daher diffus <strong>und</strong> sek<strong>und</strong>är. Nur eine kurze Zeit kann an<br />

einem späten Sommernachmittag das Sonnenlicht in den Schacht einfallen <strong>und</strong> die Westwand ein wenig erhellen.<br />

Betrachtet man den Schattenwurf <strong>der</strong> Figuren im Kontinent Europa (Abb. 29), welcher grösstenteils vom schräg<br />

einfallenden Westlicht beleuchtet wird, stellt man fest, dass die Richtung das Bildlichtes annähernd identisch ist mit<br />

dem wirklichen Lichteinfall. Wären die Figuren plastisch modelliert, würde <strong>der</strong> Schattenwurf genau in die gleiche<br />

Richtung projiziert. Wie noch im modello ist damit nicht mehr die gemalte Sonne die Lichtquelle, son<strong>der</strong>n Tiepolo<br />

passt das Bildlicht subtil an die real existierenden Lichtverhältnisse an. Der Lichteinfall durch die Westfenster hat<br />

bedingt durch die architektonische Formulierung des Raumes auch zur Folge, dass die westlichere Hälfte <strong>der</strong><br />

Europadarstellung schattiger ist als die östlichere. Auch dies berücksichtigt er, indem er dem Raumlicht<br />

entsprechend diese beiden Hälften dunkler bzw. heller darstellt.<br />

Im Erdteil Asien (Abb. 28) entspricht die Richtung des Bildlichtes <strong>der</strong>jenigen des diffusen Nordlichts. Die südlichere<br />

Hälfte <strong>der</strong> Asiengruppe liegt am weitesten von <strong>der</strong> Lichtquelle weg <strong>und</strong> erhält manchmal ein wenig Licht durch die<br />

beiden Ostfenster. Sie ist denn auch blasser gehalten als die Partien direkt in <strong>der</strong> Nähe <strong>der</strong> tatsächlichen Lichtquelle.<br />

Afrika erhält das meiste Licht direkt von den drei Westfenstern. In den am intensivsten beleuchteten Abschnitt fällt<br />

die Hauptgruppe mit <strong>der</strong> Allegorie Afrikas (Abb. 27). Diese Figuren sind präziser ausgearbeitet, die Farbigkeit ist<br />

intensiver <strong>und</strong> kontrastreicher. Der linke Teil wird zusätzlich vom schwächeren, schräg auffallenden Nordlicht<br />

beleuchtet. Daher hat sich Tiepolo dort mit den Farben zurückgehalten, die Figuren bleiben blasser <strong>und</strong> weniger<br />

Kontraste sind vorhanden. Insgesamt gilt für die Afrikadarstellung die primäre Bildlichtquelle von ungefähr vorne<br />

rechts, was <strong>der</strong> reellen Lichtsituation sehr nahe kommt. Bei genauerem Hinsehen wird man aber feststellen, dass die<br />

Lichtrichtung im rechten Teil Afrikas, welcher im Einflussbereich des Nordlichtes steht, nicht mehr ganz so<br />

eindeutig ist. Der Schatten wird reduzierter <strong>und</strong> verkleinert. Geht man von <strong>der</strong> alleinigen Lichtquelle <strong>der</strong> Westfenster<br />

aus, so müsste dieser genaugenommen langgezogener <strong>und</strong> grösser werden. Irritierend sind insbeson<strong>der</strong>e die<br />

Helligkeitswerte <strong>der</strong> beiden beleibten Händler, welche eindeutig auf einen Lichteinfall von links hinweisen.<br />

Während sich die primäre Richtung des Bildlichtes <strong>der</strong>jenigen des westlichen Lichteinfalls entspricht, führt Tiepolo<br />

lokal eine sek<strong>und</strong>äre ein, um auf die unkonstanten Lichtverhältnisse dieser 32 Meter langen Darstellung zu reagieren.<br />

Der Pfeifenraucher ist noch unter den Einfluss <strong>der</strong> Hauptbildlichtrichtung. Beim schreibenden Händler können<br />

sowohl <strong>der</strong> Einfluss des Hauptlichtes, als auch <strong>der</strong>jenige des sek<strong>und</strong>ären Lichts gelten. <strong>Das</strong> sek<strong>und</strong>äre Licht ist ein<br />

von unten links kommendes Streiflicht, das dem am Boden <strong>der</strong> umlaufenden Galerie reflektierten Nordlicht<br />

entspricht. Dies erklärt auch, weshalb das über den architektonischen Fries „hinausragende“ Holzstück an <strong>der</strong><br />

Unterseite heller ist als an <strong>der</strong> Stirn- <strong>und</strong> Seitenfläche. Auch an den Fässern erkennt man, dass hier schräges<br />

Streiflicht von unten auf diese Bildpartie einwirkt.<br />

Noch kühner <strong>und</strong> weiter treibt Tiepolo diese Adaptionsversuche im Erdteil Amerika (Abb. 26). Diese Partie war<br />

lichttechnisch wohl mit Abstand die heikelste Angelegenheit, weil dieser Gewölbeausschnitt kein direktes Licht<br />

erhält. <strong>Das</strong> an <strong>der</strong> Südwand <strong>und</strong> am Boden <strong>der</strong> umlaufenden Galerie reflektierte Nordlicht bewirkt eine<br />

ausgesprochen schwache <strong>und</strong> diffuse Ausleuchtung. Um diesen relativ dunklen Bildort zu bewältigen, benutzt<br />

Tiepolo einen Trick. Mit einer mächtigen schwarzen Wolke hüllt er die Figuren im Bildvor<strong>der</strong>gr<strong>und</strong> in Schatten. Die<br />

Hintergr<strong>und</strong>figuren hingegen werden durch eine gleissende Lichtquelle, die etwa auf <strong>der</strong> 2-Uhr Achse positioniert ist<br />

10


<strong>und</strong> von vorne nach hinten scheint, hervorgehoben. Auch hier kann man keine einzig mögliche Position für die<br />

Bildlichtquelle bestimmen. Vor allem stellt sich die Frage, weshalb sich <strong>der</strong> Schatten <strong>der</strong> Rocaillewolke weiter nach<br />

rechts erstreckt als <strong>der</strong>en rechtes Ende. Schliesslich, zieht man die Eckpartien heran, führt Tiepolo gar eine dritte<br />

Beleuchtungsrichtung ein. Wie die Eckpartien von Afrika <strong>und</strong> Asien fallen diese Ausschnitte in den Einflussbereich<br />

des am Boden reflektierten Nordlichtes. Wie die Fusssohlen von Bossis Eckgiganten haben das Holzbündel, die<br />

obere Kante des gemalten Frieses sowie das Innenfutter des versteckten Beobachters die grössten Helligkeitswerte<br />

dort, wo unter <strong>der</strong> Voraussetzung einer alleinigen oberen Lichtquelle, eigentlich nur Schatten sein dürfte. Die<br />

Einführung einer sek<strong>und</strong>ären Lichtquelle bewirkt in dieser Zone, dass die Eckfiguren, <strong>der</strong> ebenfalls von unten<br />

angestrahlte Fries <strong>und</strong> das Bild fast unbemerkt auf einan<strong>der</strong> abgestimmt wurden.<br />

Schwierig zu beantworten ist, warum <strong>der</strong> Schatten <strong>der</strong> schwarzen Wolke in die „falsche“ Richtung weist. Eine<br />

plausible Antwort wäre, dass als sek<strong>und</strong>äre Lichtquelle die Sonne diente. Dies würde auch die helle Untersicht des<br />

Alligators, mit welchem ein Mann rechts von <strong>der</strong> Palme in erbittertem Überlebenskampf steht, erklären. Offenbar<br />

muss man sich auch hier die Frage nach Wirkung stellen, die am Standort, für den dieser Bildausschnitt gedacht ist,<br />

erreicht werden sollte. Am Treppenanfang, wo die aufgehende Sonne <strong>und</strong> die Wolke das beherrschende Motiv dieses<br />

Ausschnittes bilden, wäre es demnach bestimmt irritierend gewesen, wenn die Bildlichtquelle nicht mit <strong>der</strong> Sonne<br />

übereingestimmt hätte. Zudem wird auch die aufstrebende Wirkung dadurch verstärkt, dass <strong>der</strong> Schatten <strong>und</strong> die<br />

rocailleähnliche Wolke ein zusammenhängendes dynamisches Motiv bildet, das sich vom Erdboden bis in die<br />

höchsten Himmelshöhen windet. <strong>Das</strong> steigert insbeson<strong>der</strong>e Wichtigkeit Apolls auf dem ersten Treppenviertel <strong>und</strong><br />

belegt aber auch die These von den Binnenbil<strong>der</strong>n im Bilde. Ausserdem ergibt sich dadurch den Vorteil, den<br />

Schatten bis über die Ecke in Richtung Afrika zu ziehen um damit gut an den ebenfalls schattigen Bereich dieses<br />

Erdteiles anzuschliessen. Der Übergang zum Erdteil Asien wie<strong>der</strong>um reflektiert die tatsächlichen Lichtverhältnisse<br />

im Gewölbe. <strong>Das</strong> durch die Nordfenster einfallende Licht hat noch keinen Einfluss auf die Eckpartie. Tiepolo kommt<br />

diesem Umstand entgegen, indem er <strong>der</strong> ersten Figur einen Schirm in die Hand drückt <strong>und</strong> so diesen Bereich in<br />

Schatten hüllt (Abb. 28).<br />

Oft verflechtet Tiepolo also auf seltsame Weise die Lichtstränge zusammen, um das Bild den tatsächlichen<br />

Lichtverhältnissen des Raumes anzupassen. Für die interne Führung des Bildlichtes ist also nicht mehr nur das Licht,<br />

welches das Bild aus sich selber zieht massgeblich, son<strong>der</strong>n auch das Raumlicht.<br />

Im weiteren weisen Baxandall <strong>und</strong> Alpers darauf hin, dass das Fresko im Treppenhaus nicht an eine bestimmte<br />

Beleuchtungssituation geb<strong>und</strong>en ist. Sie beschreiben die Wirkung des Freskos an einem stark bewölkten Tag, wo die<br />

Lichtwerte nahe am Nullpunkt sind. Unter dieser Bedingung wird <strong>der</strong> blass gemalte Himmel die schönste Farbigkeit<br />

erhalten. Unter normalen Lichtverhältnissen wirkt er dagegen eher überbelichtet. Es gibt also keine schlechten<br />

Lichtbedingungen, die die Wirkung des Freskos in irgendeiner Form schmälern würden. Eine an<strong>der</strong>e Beleuchtung<br />

bewirkt lediglich einen an<strong>der</strong>en Ausdruck. <strong>Das</strong> Fresko hat dadurch die Kapazität, nicht nur unter idealen<br />

Bedingungen seine vollste Wirkung zu erzielen, son<strong>der</strong>n wie ein Chamäleon auf verschiedene mögliche<br />

Lichtstimmungen zu reagieren. Einen weiteren Hinweis, dass sich das Fresko beispielsweise auch an einem späten<br />

Sommernachmittag anpassungsfähig bleibt, ist vielleicht auch <strong>der</strong> „falsche“ Schatten des am gemalten Fries<br />

angelehnten Hutes direkt unterhalb <strong>der</strong> Personifikation Asiens (Abb. 36). Möglicherweise ist er für den selten<br />

eintretenden Fall gedacht, wenn das Nachmittagslicht durch die zwei Ostfenster eintritt.<br />

Der Vollständigkeit halber soll nicht unerwähnt bleiben, dass die Lichtverhältnisse zum Zeitpunkt, als Tiepolo das<br />

Fresko erstellte, ein wenig an<strong>der</strong>s ausgesehen haben dürften. Die klassizistische Wandverkleidung wurde später<br />

angebracht. Dabei wurden, so vermutet man (die Quellen geben keine genauen Hinweise darauf) die Oberfenster<br />

über den zwei Ostfenstern <strong>und</strong> den drei Westfenstern geschlossen. Die Oberfenster an <strong>der</strong> Nordseite blieben jedoch<br />

erhalten. Es lässt sich heute schwer rekonstruieren, wie die Treppenhausbeleuchtung damals war. Jedenfalls ist<br />

sicher, dass vor allem die Ostfenster dadurch einen stärkeren Lichteinfall über eine längere Zeit hinweg gebracht<br />

hätten.<br />

11


2.5. Kommentar: <strong>Das</strong> <strong>Verhältnis</strong> <strong>zwischen</strong> Raum <strong>und</strong> Bild im Treppenhaus<br />

Die Betrachtung von Tiepolos Treppenhausfresko vor diesem Hintergr<strong>und</strong> belegt, dass sich Tiepolo sehr genau mit<br />

<strong>der</strong> architektonischen Struktur des Raumes vertraut gemacht hat. Es war ihm bewusst, auf welchen Gr<strong>und</strong>elementen<br />

diese Struktur aufbaut <strong>und</strong> dass er die Dekoration <strong>der</strong> immensen Deckenfläche nur meistern konnte, wenn er sich<br />

diese ganz zu eigen machte. Ausgehend von den gemachten Beobachtungen soll nun <strong>der</strong> Eindruck, dass die Grenzen<br />

<strong>zwischen</strong> <strong>der</strong> <strong>Architektur</strong> <strong>und</strong> <strong>der</strong> Malerei fliessend zu werden scheinen, präziser eingegangen werden. Es soll<br />

versucht werden, mögliche Ursachen für diesen Effekt zu skizzieren.<br />

Eine erste Komponente ist zunächst sicher einmal die einfache Tatsache, dass die Bildebene im Gegensatz zum<br />

modello eine gekrümmte Fläche ist, so dass die Figuren untereinan<strong>der</strong> in eine konkrete räumliche Beziehung treten<br />

können. Vor allem bauen die jeweiligen Hauptfiguren <strong>der</strong> Kontinente ein Beziehungsgeflecht auf, das quer durch<br />

den Gewölberaum gespannt ist. <strong>Das</strong> Bild beansprucht so den architektonischen Raum quasi als erweiterten Bildraum.<br />

Fiktiver Raum <strong>und</strong> absoluter Raum beginnen sich zu durchdringen <strong>und</strong> das Fresko wird zu einem Raumbild im<br />

wahrsten Sinne des Wortes<br />

Die entscheidendste Ursache liegt aber im Entscheid, ein Bild zu schaffen, das von mehreren Standorten aus richtig<br />

gelesen werden kann. <strong>Das</strong>s man immer nur einen bestimmten Ausschnitt von einem zusammenhängenden Bild<br />

immensen Ausmasses erblicken kann, hat die Konsequenz, dass es sich beim Deckenfresko nicht mehr um ein<br />

gerahmtes Bild handelt. Dem Betrachter wird damit die Möglichkeit genommen, von einem geschützten Standort die<br />

Illusion des Bildes zu betrachten. Auf seltsame Weise wird er selbst zum Akteur des Theaters. Damit verän<strong>der</strong>t sich<br />

das <strong>Verhältnis</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>der</strong> <strong>Architektur</strong> <strong>und</strong> <strong>der</strong> Malerei insofern, als es nicht mehr so einfach ist, die Grenze<br />

<strong>zwischen</strong> Bildraum <strong>und</strong> dem Betrachterraum zu ziehen. Der Bildraum <strong>und</strong> <strong>der</strong> Betrachterraum beginnen ineinan<strong>der</strong><br />

zu greifen.<br />

Man könnte nun die These aufstellen, dass Tiepolo den Verlust eines festen Haltes, den ein Rahmen einem Bild gibt,<br />

durch eine sorgfältige Anpassung an die räumlichen Rahmenbedingungen zu kompensieren versucht. Dies erreicht er<br />

dadurch, dass er die bildinterne Lichtführung mit <strong>der</strong> natürlichen Raumbeleuchtung annähernd in Übereinstimmung<br />

bringt. Auch <strong>der</strong> Versuch, die in den Pilastern evozierten Kraftflüsse malerisch zu übersetzen <strong>und</strong> bildhaft<br />

weiterzuführen hat so gesehen die Funktion, das Bild in seiner räumlichen Abhängigkeit zu fixieren. Die räumlichen<br />

Gegebenheiten bilden also ein externes Bezugs- <strong>und</strong> Glie<strong>der</strong>ungssystem, welches das Bild in ungewohnt hohem<br />

Masse mitformt. Im Vergleich zu einem herrischen Tafelbild geht Tiepolo also erhebliche Konzessionen ein, indem<br />

<strong>der</strong> den Bedingungen des Raumes eine konstitutive Bedeutung beimisst. Dafür aber wird die <strong>Architektur</strong> zum Partner<br />

<strong>der</strong> Malerei, in dem sie die inhaltlichen Bedeutungen räumlich zu illustrieren beginnt. An<strong>der</strong>s ausgedrückt wird das<br />

Bild gewissermassen zum Parasiten des Raumes, weil es nur wirklich existiert in <strong>der</strong> konkreten Abhängigkeit des<br />

Raumes. Es ist rein räumlich gesehen nicht mehr vorstellbar, das Bild in einer an<strong>der</strong>en architektonischen Umgebung<br />

zu situieren. Und weiter wird, wenn wir das Bild richtig lesen <strong>der</strong> Raum zum Parasiten des Bildes, weil das Fresko<br />

die räumliche Absicht Neumanns in den wesentlichen Punkten steigert <strong>und</strong> unterstützt. Der Raum <strong>und</strong> das Bild<br />

bestehen somit in einer symbiotischen Beziehung, einer symbiotischen Form von Einheit. Letztendlich kann man<br />

nämlich die Frage nicht mehr beantworten, ob nun <strong>der</strong> Raum für das Fresko, o<strong>der</strong> das Fresko für den Raum<br />

geschaffen worden ist. Man ist daher geneigt zu denken, dass sich das Fresko in dieser Konstellation von seiner<br />

herkömmlichen Rolle als applizierte Dekoration löst <strong>und</strong> zu einem strukturellen Bestandteil des Raumes wird.<br />

Hetzers Aspekte für die Darlegung von Einheit <strong>zwischen</strong> <strong>der</strong> Malerei können im Treppenhaus höchstens auf die<br />

jeweiligen Binnenbil<strong>der</strong> angewandt werden, nicht aber auf das Fresko als Ganzes. Dies hauptsächlich deshalb, weil<br />

die Übereinstimmungen <strong>zwischen</strong> <strong>der</strong> <strong>Architektur</strong> <strong>und</strong> <strong>der</strong> Malerei nicht ausschliesslich ideeller Natur sind, son<strong>der</strong>n<br />

ganz konkret, konkret auf einer optisch-räumlichen Ebene.<br />

12


3. Tiepolos malerische Neigungen<br />

Abschliessend sollen noch einige spezifische Merkmale <strong>der</strong> Malerei Tiepolos im Bezug auf die Konzeption des<br />

Freskos untersucht werden. Tiepolo neigt dazu, seine Figuren, die Schatten <strong>und</strong> die perspektivischen Darstellungen<br />

oft recht „unpräzise“ <strong>und</strong> nicht bis ins genauste Detail auszuarbeiten.<br />

3.1 Der Tiepolo’sche Schatten<br />

<strong>Das</strong> natürliche Licht besitzt je nach Tageszeit, Jahreszeit <strong>und</strong> Wetter an<strong>der</strong>e Farbwerte. Um das Fresko an die<br />

wechselnden Lichtverhältnisse anzupassen, ist demzufolge nicht nur die bildinterne Lichtführung entscheidend,<br />

son<strong>der</strong>n auch die Farbe des Bildlichtes. Die grauen <strong>und</strong> farblosen Schatten <strong>der</strong> Figuren lassen nun darauf schliessen,<br />

dass Tiepolo für das Fresko von einem neutralen weissen Licht ausging. Dies hat den Vorteil, dass es keine<br />

Verstärkung o<strong>der</strong> unliebsame Verän<strong>der</strong>ung einzelner Farben durch die Farbskala des Raumlichtes gibt, weil die<br />

Farbigkeit des Raumlichtes das ganze Bild gleichermassen beeinflusst.<br />

Für die bildinterne Beleuchtung nimmt er diffuses aber konsistentes Licht. Damit werden die Schlagschatten <strong>der</strong><br />

Figuren nicht allzu scharf umrissen sind <strong>und</strong> werden dadurch sowohl bei strahlendem Sonnenlicht als auch bei<br />

bewölktem Wetter als relativ richtig erscheinen.<br />

Weiter sei noch die Tatsache zu erwähnen, dass in <strong>der</strong> Realität <strong>der</strong> Schatten mit zunehmen<strong>der</strong> Distanz zu einem<br />

Objekt <strong>und</strong>ifferenzierter <strong>und</strong> weniger transparent wird. Nun ist es so dass <strong>der</strong> unspezifische Charakter <strong>der</strong> Schatten in<br />

Tiepolos Fresko wohl die Entfernung bestätigt, aber die aussergewöhnliche Transparenz diese wie<strong>der</strong>um ignoriert.<br />

Dadurch erhalten die Figuren die Tendenz, dem Betrachter entgegenzukommen. <strong>Das</strong> Gefühl für die reale Entfernung<br />

zur Bildebene wird gestört <strong>und</strong> man erhält den Eindruck, dass alle Darstellungen viel unmittelbarer <strong>und</strong> präsenter<br />

sind.<br />

3.2 Die Figuren<br />

Die Figuren sind wie die Schatten ebenso nie klar umrissen, manchmal sogar falsch o<strong>der</strong> manchmal das Resultat<br />

wild zusammengewürfelter Körperbestandteile, so dass des öfteren ein Arm dieser o<strong>der</strong> jener Figur zugeordnet<br />

werden kann. Dadurch wird eine eindeutige Lesart verhin<strong>der</strong>t. Man betrachte beispielsweise die Szene links <strong>der</strong><br />

Asia. Der Mann mit stark gekrümmtem Rücken <strong>und</strong> die betend verschränkten Arme gehören eindeutig nicht<br />

zusammen (Abb. 36). Baxandall <strong>und</strong> Alpers erkennen darin eine bedrohliche Gespaltenheit des Mannes. Der<br />

irritierte Betrachter beginnt sich nach dem Eigentümer dieser beiden Hände fragen, o<strong>der</strong> wird neugierig, den Gr<strong>und</strong><br />

seiner flehenden Haltung zu wissen. Dieses malerische Mittel kann zweifelsohne seine Sinnhaltigkeit auf<br />

erzählerischer Ebene haben. Noch wichtiger aber scheint die versteckte For<strong>der</strong>ung an den Betrachter zu sein, dass er<br />

die Dinge immer wie<strong>der</strong> neu zusammen muss. Häufig sind denn nur bestimmte Teile von Figuren präziser<br />

ausgearbeitet <strong>und</strong> akzentuiert, so dass sie in eine bestimmte Richtung zeigen, welcher <strong>der</strong> Leser aufgefor<strong>der</strong>t wird zu<br />

folgen. Die Figuren wollen nicht Figur sein, son<strong>der</strong>n sie sind ein Instrument den Rhythmus des Bewegungsflusses<br />

hoch zu halten.<br />

Die Disjunktion <strong>der</strong> Figuren erinnert etwa an kubistische Bil<strong>der</strong> o<strong>der</strong> solche Postkartenbil<strong>der</strong>, die man kippen muss,<br />

um einen neckischen Augenaufschlag einer Schönheit zu entdecken. Es ist ein malerisches Mittel, den Figuren eine<br />

Lebendigkeit zu geben <strong>und</strong> sie zu animieren.<br />

3.3 Die Perspektivische Darstellung<br />

Nicht nur im Treppenhaus, son<strong>der</strong>n auch in an<strong>der</strong>n Fresken tat sich Tiepolo offenbar schwer mit hohen<br />

Präzisionsgraden in <strong>der</strong> perspektivischen Konstruktion. Im Würzburger Treppenhaus aber kommt dies <strong>der</strong><br />

Konzeption des Bildes in unerwarteter Weise entgegen. Denn aufgr<strong>und</strong> <strong>der</strong> relativen perspektivischen Unpräzision<br />

bleibt beispielsweise die Stimmigkeit <strong>der</strong> architektonischen Kulisse im Erdteil Europa unter verschiedenen<br />

13


Blickwinkel mehr o<strong>der</strong> weniger erhalten. Ob es nun „mangelhafte“ Beherrschung <strong>der</strong> perspektivischen Darstellung<br />

sei o<strong>der</strong> ein bewusster malerischer Entscheid war, sei dahin gestellt.<br />

3.4 Kommentar: Mehrfachlesbarkeit <strong>und</strong> Aggregatzustände<br />

Es lag Tiepolo nicht an <strong>der</strong> exakten Nachahmung natürlicher Phänomene. Vielmehr kann man seine Unpräzision als<br />

ein Mittel bezeichnen, Dinge nicht genau festzuhalten um so eine eindeutige Lesart des Dargestellten bewusst zu<br />

verhin<strong>der</strong>n. <strong>Das</strong> Mehrfachlesbare liegt schon <strong>der</strong> kinematographischen Konzeption zu Gr<strong>und</strong>e. Auch die Beziehung<br />

<strong>zwischen</strong> Raumlicht <strong>und</strong> Bildlicht zeigt, dass Tiepolo versucht, das gesamte Fresko gewissermassen als<br />

Ansammlung mehrerer unterschiedlicher interner Zustände zu konzipieren, so dass es dadurch adaptionsfähig wird<br />

auf dynamische externe Verän<strong>der</strong>ungen wie <strong>der</strong> kontinuierliche Wechsel <strong>der</strong> perspektivischen Sicht des gehenden<br />

Betrachters <strong>und</strong> die unterschiedlichen Lichtstimmungen. Die Unpräzision kann somit als Instrument bezeichnet<br />

werden, dass das Fresko als ein offenes System die Möglichkeit hat, verschiedene, den jeweiligen Umständen<br />

entsprechende Aggregatzustände einzunehmen.<br />

4. Schlussbemerkungen<br />

4.1 Der illusionistische Raum<br />

Die Wucht mit welcher Tiepolos Welt auf uns einwirkt, ist <strong>der</strong>art stark, dass man richtiggehend vergisst, dass es sich<br />

in Wahrheit eigentlich nur um ein Bild handelt. Ähnlich wie illusionistische Bil<strong>der</strong> hat das Fresko die suggestive<br />

Kraft unsere Sinne zu täuschen, so dass man hat den Eindruck erhält, das ganze Welttheater würde wirklich von<br />

statten gehen. Im Gegensatz aber zu einem illusionistischen Bild, wo sich die räumliche Täuschung nur an einem<br />

ganz bestimmten Standort einstellt, erzeugt das raumgreifende Deckenfresko aufgr<strong>und</strong> seiner Auslegung auf mehrere<br />

Betrachterstandorte gewissermassen eine Dauerillusion, die wegen des nahtlosen Ineinan<strong>der</strong>greifens <strong>der</strong> jeweiligen<br />

Binnenbil<strong>der</strong> an keinem Standort des zeremoniellen Weges unterbrochen wird. Ähnlich nah an ein reales Phänomen<br />

kommt auch <strong>der</strong> Gestaltwandel <strong>der</strong> Figuren während <strong>der</strong> Betrachter die Treppe hinaufsteigt. Durch die sich<br />

kontinuierlich än<strong>der</strong>nde perspektivische Sicht auf die gekrümmte Bildfläche werden die Figuren im Fresko animiert.<br />

Sie beginnen sich unwillkürlich zu regen <strong>und</strong> zu drehen. <strong>Das</strong> auf Bewegung konzipierte Fresko wird durch die<br />

Gewölbeform mit einem zusätzlichen, sonst eher unerwünschten Effekt angereichert. Beson<strong>der</strong>s stark reagieren die<br />

Erdteilallegorien, weil sie als Hauptfiguren am weitesten in die stärker gekrümmte Zone des Gewölbes ansteigen.<br />

Gerade bei <strong>der</strong> Asienallegorie, eine ohnehin schon unter höchster Spannung stehende Figur, spitzt sich <strong>der</strong> Eindruck<br />

des Verdrehten bis zum letzten zu (Abb. 37+38). Diese interaktive Wirkung <strong>zwischen</strong> dem Betrachter <strong>und</strong> dem Bild<br />

haucht dem Fresko Leben ein, die Figuren beginnen zu atmen <strong>und</strong> die Wolken scheinen fast natürlich über die weite<br />

Gewölbefläche zu ziehen. Stellt man sich die Statisten vor, welche gemäss den zeremoniellen Vorschriften r<strong>und</strong> um<br />

den Treppenaufgang standen, dann mussten die ebenfalls r<strong>und</strong>herum stehenden Figuren des Freskos als wahrhaftige<br />

Teilnehmer in <strong>der</strong> „zweiten Reihe“ empf<strong>und</strong>en worden sein. Durch die spezifische Form des Gewölbes scheinen sich<br />

die Figuren nicht nur zu bewegen, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> mit fast gleichmässiger Krümmung aus dem Fries aufsteigende<br />

Kehlbereich bewirkt, dass Tiepolos Figuren ganz natürlich auf dem Fries zu stehen scheinen. Die Bildgravitation<br />

stimmt mit <strong>der</strong> reellen Gravitation annähernd überein. Auf selbstverständliche bringen die Figuren ihre körperhafte<br />

Schwere <strong>und</strong> Präsenz zum Ausdruck. Bei einer Gewölbeform wie die <strong>der</strong> Sala Terrana, eine flach ansetzende <strong>und</strong><br />

gleichmässig gekrümmte Schale, bleibt ein solcher Effekt aus.<br />

Eine wesentliche Rolle zur Aufrechterhaltung <strong>der</strong> illusionistischen Wirkung spielt auch Tiepolos Umgang mit dem<br />

Bildlicht <strong>und</strong> dem nicht genau festgelegten Schattenumrissen <strong>der</strong> Figuren. <strong>Das</strong> Fresko kann mit unterschiedlichen<br />

Beuleuchtungssituationen spielend umgehen. Eine Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Lichtstimmung im Raum erzeugen nicht den<br />

Eindruck, dass die Darstellungen darunter leiden würden. Es ist vielmehr so, dass man dadurch immer wie<strong>der</strong> einen<br />

neuen <strong>und</strong> an<strong>der</strong>en Ausdruck des Freskos geniessen kann.<br />

In unerwarteter Weise wird die Konzeption dieses Freskos auch von den spezifischen malerischen Neigungen<br />

Tiepolos unterstützt. Vielleicht war ihm selber dies nicht mal bewusst. Insbeson<strong>der</strong>e wirken sich nicht ganz<br />

14


einwandfreien Verkürzungen im Hinblick auf die illusionistische Wirkung in dieser Raumkonstellation äussertst<br />

positiv aus. Er setzt nichts wirklich präzise fest <strong>und</strong> belässt vieles offen. Aber er geht aber nie so weit, dass es<br />

abstrakt wirken könnte. Selbst die Erzählung bleibt offen. Vergeblich wird man nämlich auch <strong>der</strong><br />

gewohnheitsmässigen Suche nach einem narrativen Höhepunkt nachgehen. Es herrscht eine Zeitlosigkeit <strong>und</strong> es gibt<br />

keinen fixierten Moment. Man hat das Gefühl das sich Wichtiges gerade abgespielt hat o<strong>der</strong> erst passieren wird. Der<br />

Zustand des Dargestellten entzieht sich je<strong>der</strong> klaren Fassbarkeit <strong>und</strong> wird zu einem ständig weiterlebenden<br />

erzählerischen Gefüge.<br />

Alle diese Umstände tragen dazu bei, <strong>der</strong> ganze Kosmos des Freskos als Dauerillusion eine täuschend echte<br />

räumliche Erscheinung ist <strong>und</strong> dem Wesen <strong>der</strong> <strong>Architektur</strong> als dreidimensionale Kunst in einem konkreten Sinn sehr<br />

nahe kommt. Für die räumliche Erfahrung im Treppenhaus leistet die Malerei durch die Konstanz <strong>der</strong> Täuschung<br />

einen ebenso wichtigen Beitrag wie die <strong>Architektur</strong> selbst.<br />

Die letztendliche Einheit <strong>zwischen</strong> <strong>der</strong> <strong>Architektur</strong> <strong>und</strong> <strong>der</strong> Malerei im Treppenhaus muss demnach auf einer<br />

optisch-perzeptiven Ebene begründet werden. Man sieht nicht mehr ein Bild, das an einer bestimmten Stelle im<br />

Raum positioniert ist, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Raumeindruck entsteht durch die synchrone Wahrnehmung des Freskos <strong>und</strong> dem<br />

Raum. Die beiden Medien überlagern sich <strong>der</strong>art geschickt, dass sich die Grenze <strong>zwischen</strong> Bild <strong>und</strong> Raum beinahe<br />

auflöst. Was die Illusionisten mit akribischer Präzision <strong>und</strong> <strong>der</strong> Vollendung <strong>der</strong> Prinzipien des Herrischen Bildes<br />

erreichen wollten, erreicht Tiepolo mit einer präzisen Unpräzision <strong>und</strong> <strong>der</strong> bewussten Missachtung <strong>der</strong><br />

herkömmlichen Regeln. Tiepolo verhält sich wie ein raumschöpfen<strong>der</strong> Maler indem er das Fresko bedingungslos in<br />

den Raum mit allen seinen Wesenseigenschaften einpasst <strong>und</strong> erzeugt dadurch eine Raumillusion, welche trotz <strong>der</strong><br />

entschieden nicht illusionistischen Konzeption paradoxerweise um so stärker ist.<br />

4.2. Die Auflösung von Zeit <strong>und</strong> Raum<br />

Gibt man sich <strong>der</strong> inhaltlichen Welt Tiepolos voll hin, so ergibt sich auch die Möglichkeit, sich <strong>der</strong> wirklichen Zeit<br />

<strong>und</strong> dem Ort zu entziehen. <strong>Das</strong> Treppenhaus erlaubt die Schau auf eine anwesende Welt. Diese Welt wie<strong>der</strong>um<br />

befindet sich in einem kontinuierlichen kulturellen Wachstum. Amerika nimmt auf dieser Skala den untersten Rang<br />

ein. Kriegerische Wildheit <strong>und</strong> orgiastische Tänze kennzeichnen das Land. <strong>Das</strong> Feuer als Voraussetzung aller<br />

Kulturentwicklung wissen die Einwohner bereits zu beherrschen. Doch von höherer Zivilisation ist noch keine Spur<br />

zu entdecken. Afrika steht auf <strong>der</strong> nächsten Stufe. Hier hat sich, wie die ehrerbietig vor <strong>der</strong> allegorischen Figur<br />

knienden Männer bezeugen, schon so etwas wie ein monarchisches Regime etabliert. Die Menschen wohnen in<br />

Zelten, <strong>und</strong> Handel blüht. <strong>Das</strong> gegenüberliegende Asien scheint kurz vor dem entscheidenden Schritt zur höheren<br />

Kultur angelangt zu sein. Der an Vitruvs Urhütte erinnernde Bretterverschlag deutet die Fortschritte in <strong>der</strong><br />

<strong>Architektur</strong> an. Die Inschrift auf dem Stein zeigt, dass hier die Schrift erf<strong>und</strong>en wurde. Die Statue <strong>der</strong> ephesischen<br />

Diana verweist auf den Anfang <strong>der</strong> heidnischen Religionen <strong>und</strong> die Kreuze im Hintergr<strong>und</strong> erinnern daran, dass auch<br />

das Christentum seinen Ursprung in Asien hatte. Auf <strong>der</strong> höchsten Stufe <strong>der</strong> Kulturentwicklung steht jedoch Europa.<br />

Die Religion <strong>und</strong> alle schönen Künste haben hier ihre Vollendung erreicht. Es wird also <strong>der</strong> gesamte Zeitraum<br />

menschlicher Existenz abgeschritten. Fast könnte man glauben, dass <strong>der</strong> Raum mit seinem Bild die Wirkung<br />

Zeitmaschine hat, wo man sich frei durch Zeit <strong>und</strong> Raum bewegen kann. Und dies ist natürlich die beson<strong>der</strong>e<br />

Leistung <strong>der</strong> Malerei, weil sie durch ihre Inhalte dem Raum eine geistige Realitätsebene aufoktruieren kann, die im<br />

Würzburger Treppenhaus aufgr<strong>und</strong> des grossartigen Zusammenwirkens <strong>zwischen</strong> dem Raum <strong>und</strong> dem Fresko um so<br />

wirkungsvoller wird. Der Raum <strong>und</strong> die Zeit lösen sich auf, ganz im Sinne des barocken Strebens nach<br />

Unendlichkeit. Selbst wenn man diesen Raum verlassen hat, wird man sich bewusst sein, dass die Erzählung noch<br />

lange im Gange bleiben wird.<br />

Lukas <strong>Ehrat</strong>, 1997<br />

15

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!