NM 2011/92 - Stellenmarkt von sueddeutsche.de
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einem ganz an<strong>de</strong>ren Ansatz rangegangen. Je<strong>de</strong>r wur<strong>de</strong> einzeln geför<strong>de</strong>rt.<br />
Ich habe mich in Mathe und auch in allen an<strong>de</strong>ren Fächern verbessert.<br />
(Was natürlich leicht war, ich kannte ja schon alles.) Mein<br />
Abitur habe ich mit 2,1 gemacht, danach bin ich nach Berlin gezogen<br />
und habe angefangen, Soziologie zu studieren. Es musste Berlin sein,<br />
weil ich die Schulzeit und Südbayern ganz weit hinter mir lassen wollte.<br />
Das Durchfallen an sich hatte ich nach meinem Abitur einigermaßen<br />
verarbeitet, aber nicht diese Wut in mir. Die hat mich noch min<strong>de</strong>stens<br />
fünf Jahre verfolgt, vielleicht verfolgt sie mich sogar bis heute.<br />
Es ist eine Wut auf mich selbst, auf meine Eigenschaften. Noch heute<br />
erledige ich viele Sachen erst auf <strong>de</strong>n letzten Drücker o<strong>de</strong>r mache<br />
manchmal nur das gera<strong>de</strong> Nötige. Ich bin mir <strong>de</strong>swegen selbst böse<br />
und mache mir kon stant Selbstvorwürfe: Warum kriegst du das nicht<br />
hin? Hast du nicht aus <strong>de</strong>m Abitur gelernt?<br />
Es gibt aber auch die an<strong>de</strong>ren Gedanken: Manchmal schaue ich mir<br />
die Leute an, die ich in Berlin kennenlernen durfte. Die Liebe, die ich<br />
hier gefun<strong>de</strong>n habe. Ich hätte all diese Menschen nicht kennengelernt,<br />
wenn ich ein Jahr früher hier gewesen wäre. Ich bin hier, abgesehen<br />
<strong>von</strong> meinen Selbstvorwürfen, ein glücklicher und ausgeglichener<br />
Mensch gewor<strong>de</strong>n. (Und auch mit meiner Familie ist wie<strong>de</strong>r alles in<br />
Ordnung.) Manchmal <strong>de</strong>nke ich, dass meine Zurückstufung in <strong>de</strong>r<br />
Schule mit dieser Zufrie<strong>de</strong>nheit zu tun hat. An<strong>de</strong>rerseits: Wären die<br />
Dinge nach <strong>de</strong>m Abitur schiefgelaufen, hätte ich <strong>de</strong>n Grund vielleicht<br />
auch im Sitzenbleiben gesucht. Das Nach<strong>de</strong>nken über die Grenze, die<br />
ich damals nicht überschritten habe, ist also nie aus meinem Leben<br />
verschwun<strong>de</strong>n. Im Gegenteil, heute muss ich im Beruf selbst solche<br />
Grenzen ziehen. Ich bin Sozialwissenschaftlerin und forsche zur Integration<br />
<strong>von</strong> Migranten in Deutschland. In meiner Arbeit geht es häuflg<br />
um Rankings. Es geht um die Frage, ab welcher Grenze jemand<br />
gut integriert ist und wann nicht – eine Frage <strong>de</strong>r wissenschaftlichen<br />
Methodik. Mir fällt es wahnsinnig schwer, diese Grenzen zu ziehen.<br />
Aber es geht nicht an<strong>de</strong>rs, ich kann sonst nicht arbeiten. Es ist, immer<br />
noch, ein komisches Gefühl.