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Arme Kinder in der Schweiz - Caritas Luzern

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Ich habe<br />

ke<strong>in</strong>e<br />

Ahnung<br />

«Sie haben ja ke<strong>in</strong>e Ahnung!» Das<br />

hören wir oft. Wir, die Geld haben.<br />

Dass wir ke<strong>in</strong>e Ahnung hätten, was<br />

es heisst, arm zu se<strong>in</strong>. Und uns darum<br />

nicht e<strong>in</strong>mischen sollen. Aber<br />

spenden sollen wir trotzdem, am<br />

besten viel. Ke<strong>in</strong> Problem, das mache<br />

ich gerne. Nicht e<strong>in</strong>mischen,<br />

me<strong>in</strong>e ich.<br />

Aber e<strong>in</strong>iges müsste mir wirklich<br />

erklärt werden. Warum man zum<br />

Beispiel <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong> <strong>in</strong> die Welt setzt,<br />

wenn man ke<strong>in</strong> Geld hat. Ohne<br />

me<strong>in</strong> Vermögen hätte ich ke<strong>in</strong>e<br />

Familie gegründet. Die Ausbildung<br />

<strong>der</strong> vier <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong> ist teuer. Aber jemand<br />

muss ja e<strong>in</strong>es Tages die Firma<br />

übernehmen. Lange dachte ich<br />

an unsern Jüngsten, Carl. Er ist<br />

zehn. Aber jetzt enttäuscht er mich.<br />

Er gibt sich mit dieser Angela ab.<br />

Ich weiss nicht, wo er die kennengelernt<br />

hat. Sicher nicht an <strong>der</strong> Privatschule.<br />

Sie ist aus schlechtem<br />

Haus: zwei Geschwister, die Mutter<br />

alle<strong>in</strong>erziehend, arbeitslos, arm<br />

und offenbar dumm.<br />

Nachbarn 1 / 12<br />

Auf se<strong>in</strong> Drängen h<strong>in</strong> habe ich Carl<br />

erlaubt, das Mädchen zum Lunch<br />

e<strong>in</strong>zuladen. Beim Essen erzählte<br />

sie tatsächlich, dass sie e<strong>in</strong> Handy<br />

hat! So e<strong>in</strong> Mädchen vertelefoniert<br />

doch Unsummen! Und zuhause<br />

hätten sie sogar e<strong>in</strong>en Computer.<br />

Als ich Carl auf diesen lie<strong>der</strong>lichen<br />

Umgang mit Geld h<strong>in</strong>wies, erwi<strong>der</strong>te<br />

er: «Sie braucht e<strong>in</strong> Handy und<br />

e<strong>in</strong>en Compi, um mit an<strong>der</strong>n Menschen<br />

<strong>in</strong> Kontakt zu se<strong>in</strong>, so wie<br />

wir alle, das gehört auch zur Chancengleichheit,<br />

das haben wir <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Schule durchgenommen!» Chancengleichheit!<br />

So e<strong>in</strong> Blöds<strong>in</strong>n.<br />

Ob es auch mit Chancengleichheit<br />

zu tun hat, dass sich Angela unanständig<br />

gierig auf alles gestürzt hat<br />

– egal, ob Fleisch, Gemüse o<strong>der</strong> Kartoffeln<br />

–, was beim Lunch angeboten<br />

wurde? «Ke<strong>in</strong> Wun<strong>der</strong>», sagte<br />

ich zu Carl, «die Mutter sitzt sicher<br />

den ganzen Tag vor dem Fernseher<br />

und kocht nie etwas Anständiges!»<br />

«Ne<strong>in</strong>», entgegnete Carl, «sie sucht<br />

unter an<strong>der</strong>em gutes, billiges Ge-<br />

Gedankenstrich<br />

müse. Du hast e<strong>in</strong>fach ke<strong>in</strong>e Ahnung!»<br />

Ke<strong>in</strong>e Ahnung, so so. Ich<br />

wette, dass er nichts dagegen hätte,<br />

wenn ich se<strong>in</strong>er Freund<strong>in</strong> Geld geben<br />

würde. Doch ich habe ja ke<strong>in</strong>e<br />

Ahnung und darum halte ich mich<br />

da raus.<br />

Tanja Kummer ist Schriftsteller<strong>in</strong>.<br />

Ihr Erzählband «Wäre doch gelacht» und<br />

an<strong>der</strong>e Bücher s<strong>in</strong>d im Zytglogge-Verlag<br />

erschienen. 2010 leitete die Autor<strong>in</strong> die<br />

Schreibwerkstatt «wir s<strong>in</strong>d arm» <strong>der</strong> <strong>Caritas</strong>.<br />

Die so entstandenen Texte können Sie<br />

nachlesen auf www.wir-s<strong>in</strong>d-arm.ch.<br />

Illustration: Christoph Fischer<br />

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