Kolumne - maria weininger ma
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Der neue Klingelton<br />
„Weißt Du was?“, sagt Roberta am siebten Regentag unseres Urlaubs zu mir, „Ich könnte mir eigentlich<br />
einen neuen Klingelton auf mein Handy speichern. „Mach das“, antworte ich, „ich nehme in der<br />
Zwischenzeit ein kleines Bad“.<br />
Summend gehe ich ins Badezimmer, stelle mir genussvoll Cremes und Düfte zurecht. Ich steige in die<br />
Badewanne, während vor der Badezimmertüre House-Music zu hören ist, und lasse das Wasser einlaufen,<br />
nicht zu kalt und nicht zu warm, genau wie ich es liebe.<br />
Nach sechzig Sekunden, das sind umgerechnet etwa zehn Liter Wasser, klopft Roberta an die<br />
Badezimmertüre. „Wie soll ich denn da die Aufnahme hinkriegen, bei diesem Geplätscher? Kannst du<br />
nicht <strong>ma</strong>l für ein paar Minuten das Wasser abdrehen?“. Man soll Heranwachsende in ihrer Kreativität<br />
nicht bremsen. Ich stelle das Wasser also ab. Zehn Liter Wasser sind in Badewannen-Raumvolumen<br />
umgerechnet etwa sieben Zentimeter oder anders ausgedrückt: bodenbedeckt. Das heißt, der gesamte<br />
Rauminhalt der Wanne ist in sieben Zentimetern Höhe warm, der Rest kalt.<br />
Im Nebenzimmer höre ich Roberta fluchen, die Aufnahme scheint nicht so recht zu klappen. Vielleicht<br />
sollte ich in der Zwischenzeit wieder aus der überwiegend kalten Badewanne steigen? Dann würde ich<br />
vermutlich mit meinen Füßen das Wasser auf dem Fußboden verteilen. Ein<strong>ma</strong>l mehr Bad putzen?<br />
Keinesfalls! Ich überlege wie es wäre, das Wasser auszulassen und das Bad später zu nehmen. Sofort fallen<br />
mir die Worte meiner Mutter – Kriegsgeneration – ein. Hatte sie nicht immer und immer wieder gesagt,<br />
<strong>ma</strong>n solle nichts wegwerfen, vielleicht könne <strong>ma</strong>n es in Notzeiten noch brauchen. Das teure Badesalz mit<br />
dem feinen Pfirsichduft ungenutzt durch den Abfluss laufen lassen? Nie<strong>ma</strong>ls! Wenn Notzeiten kommen,<br />
denke ich, dann habe ich immerhin noch ein Duftbad mehr zur Verfügung. Ich entscheide also, einfach<br />
noch ein wenig in meinen sieben Zentimetern Badewasser zu warten. Vierviertel-Takt der House-Music,<br />
dazwischen die monotone Stimme eines Mannes, der sich unentwegt fragt, was ihm der Tag nach der<br />
durchzechten Nacht wohl bringen werde. „Wie schön“, denke ich, „die Jugend heutzutage hat so viele<br />
Möglichkeiten, um sich zu verwirklichen“. Wie konnte aus meiner Generation überhaupt was werden. Es<br />
gab nur die Beatles, die Rolling Stones und Roy Black, kein Handy, keinen Klingelton. „Hausmusik“ gab<br />
es zwar auch, die hatte aber einen Dreiviertel-Takt.<br />
Ich habe eine Gänsehaut, muss husten. „Sag <strong>ma</strong>l, willst du, dass ich noch<strong>ma</strong>l von vorne anfangen muss?“,<br />
höre ich durch die Tür. Keinesfalls will ich das, und ich verhalte mich ganz ruhig, mucksmäuschenstill.<br />
Draußen durchdringt der Bass im „Dummdummdummdumm“ die gesamte Wohnanlage. Der Mann, der<br />
nicht weiß, was der Tag bringen würde, hat nun endlich aufgehört zu singen, statt dessen höre ich schrilles<br />
Synthesizergekratze und ich denke an die Einstein’sche Relativitätstheorie. Wie ist es möglich, dass sanft<br />
laufendes Wasser zu laut und die dröhnende House-Music immer noch zu leise für die Aufnahme zu sein<br />
scheint? Und was ist mit dem Nachbarn über uns? Entweder ist er relativ lärmunempfindlich oder einfach<br />
nur relativ froh, dass Roberta keinen Klingelton mit Heavy Metal braucht.<br />
House-Music kann stunden- oder gar tagelang dauern, habe ich ein<strong>ma</strong>l gehört, House-Music ist ohne<br />
Anfang und ohne Ende. Vor allem das „ohne Ende“ beunruhigt mich etwas. In der Zeitung habe ich
ein<strong>ma</strong>l gelesen, wie eine dicke Frau befreit werden musste, weil sie in der Badewanne eingeklemmt war.<br />
Man stelle sich ein<strong>ma</strong>l vor, in der Badewanne eingeklemmt zu sein. Ein Feuerwehr<strong>ma</strong>nn entfernt die<br />
Badewannenverkleidung, um von unten mit dem Schweißbrenner die Wanne in Stücke zu schneiden.<br />
Dann natürlich noch der Schreiner, der den Türrahmen herausreißen muss und die Rettungskräfte für den<br />
Abtransport der Frau. Das Badezimmer voller Handwerker, Nothelfer und Sanitäter.<br />
Da konnte ich mich relativ glücklich schätzen, ich würde in der Badewanne lediglich verhungern oder<br />
erfrieren. Ich unterdrücke mein Husten, meine Beine sind blau. Roberta ruft: „Soll ich lieber was von<br />
Fedde le Grand oder von Al<strong>ma</strong>nd van Helden aufnehmen?“. Ich bin mir nicht sicher, ob die Frage mir<br />
gilt. Vielleicht ist sie nur als Spezial-Effekt gedacht, für die Aufnahme. Vorsichtshalber antworte ich nicht.<br />
Scheinbar war die Entscheidung richtig, denn Roberta fragt nicht noch ein<strong>ma</strong>l.<br />
Ich sehe die Zeitung mit den neuesten Schlagzeilen bereits vor meinem inneren Auge: „Mutter erfroren in<br />
der Badewanne, Tochter wochenlang vertieft in Musik“. Wann würde Roberta anfangen, mich zu<br />
vermissen? Wenn sie Hunger hat? Die Chips und der To<strong>ma</strong>tenketchup werden noch eine Weile reichen.<br />
Vielleicht wenn an der Kleidung etwas zerrissen ist und ich flicken muss? Kann ich vergessen. Roberta<br />
hält die Löcher ihrer Kleidung mit Sicherheitsnadeln zusammen. Auch in diesem Fall kam sie scheinbar<br />
ohne mich zurecht.<br />
Da kommt mir der rettende Gedanke!<br />
Und schon bekommt die dunkle Wolke, die seit Tagen das gesamte Tessin in Schwarz-Grau taucht, eine<br />
völlig neue Bedeutung für mich: Die Regenwolke wächst in meinen Gedanken weiter und weiter, trifft auf<br />
die warmen Schichten des Hochdruckwetters, das zu Hause schon seit einer Woche herrscht, und<br />
irgendwann entlädt sie sich mit einer ungeheuerlichen Naturgewalt. Blitze sausen hernieder und legen die<br />
gesamte Schweizer Infrastruktur südlich des Alpenhauptkamms lahm.<br />
Ich schließe die Augen. Lehne mich zurück an die kalte Badewannenwand. Entspanne mich. Konzentriere<br />
mich auf all jene Körperstellen, die bereits Erfrierungen zweiten und dritten Grades aufweisen. Atme tief<br />
ein. Versuche den Rhythmus von Universum und House nicht zu stören. Schwimme nicht mehr gegen die<br />
Gezeiten des Lebens an und finde meine innere Mitte. Das Wasser unter mir verdunstet allmählich, ich<br />
fühle mich von der kalten Badewanne getragen, während Raum und Zeit um mich herum verschwimmen.<br />
Der Moment kommt, ganz sicher – der Moment wird kommen. In meiner Fantasie kann ich schon die<br />
ersehnten Rufe hören: „Ma<strong>ma</strong>, wo bist du? Der Strom ist weg!“<br />
© Maria Weininger – Traxl 12 – 85560 Ebersberg