26.09.2012 Aufrufe

Dezember 2010 - Caritas-Markt Reportage

Dezember 2010 - Caritas-Markt Reportage

Dezember 2010 - Caritas-Markt Reportage

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Nr.4/<strong>Dezember</strong> <strong>2010</strong><br />

Menschen<br />

Wir helfen<br />

«Ich will raus aus der Armut.»<br />

Kay (27) mit Tochter Hanna (2) kauft im <strong>Caritas</strong>-<strong>Markt</strong> ein und steht dazu.


«…DER REST<br />

IST LUXUS.»<br />

Jede zehnte Person in der Schweiz gilt als arm<br />

und kann sich nur das Allernotwendigste leisten.<br />

Eine Erleichterung für die Betroffenen ist das<br />

Angebot der 19 <strong>Caritas</strong>-Märkte. Dort erhalten sie<br />

Lebensmittel und Hygieneartikel zu Tiefstpreisen.<br />

Zu Gast im <strong>Caritas</strong>-<strong>Markt</strong> Oerlikon: Kundinnen<br />

und Kunden erzählen.


<strong>Reportage</strong>: <strong>Caritas</strong>-<strong>Markt</strong><br />

«Als Ausgesteuerter bist du abgeschrieben,<br />

einfach weg vom Fenster.»<br />

Stanislaw Stegnerski, 59 Jahre<br />

Mühsam bewegt sich Stanislaw Stegnerski an einem Stock durch den<br />

<strong>Caritas</strong>-Laden. Sichtbar angestrengt erzählt der IV-Rentner von dem Unfall,<br />

der seine Leben jäh veränderte. Nach einem Sturz 2003 auf den Rücken und<br />

mehreren Operationen war der geschäftige, dynamische Mechaniker nur<br />

noch zu 50 Prozent arbeitsfähig. Die bisherige Firma konnte ihm keinen<br />

Ausweichjob anbieten, die zermürbende Suche nach einer neuen Stelle<br />

begann. Hoffnungslos. Stanislaw Stegnerski wurde zum Sozialfall, die Jobsuche<br />

zur Farce. «Sagen Sie mir, wer will mich denn noch? Mein Alter, die<br />

lange Arbeitsunterbrechung und dann die eingeschränkte Gesundheit – da<br />

bist du abgeschrieben», erzählt er resigniert. Ein Schlaganfall 2009 verschlimmerte<br />

die gesundheitliche Situation, die ganze linke Seite ist seitdem<br />

beeinträchtigt.<br />

Finanziell kommt Stanislaw Stegnerski kaum über die Runden: «Mir<br />

bleiben knapp 480 Franken im Monat zum Leben. Das ist zu wenig», sagt<br />

er. Darum ist ihm jeder eingesparte Rappen sehr wichtig. «Ich bin wirklich<br />

dankbar, dass es den <strong>Caritas</strong>-<strong>Markt</strong> gibt. Ich kann hier sehr, sehr viel Geld<br />

sparen. Er hilft mir zu überleben.»<br />

In seinem Korb hat Stanislaw Stegnerski: Caotina, Hüttenkäse, Mozzarella,<br />

Shampoo, Butter, Sellerie, Brot, Rohschinken für 16,60 Franken.<br />

8 <strong>Caritas</strong> «Menschen» 4/10<br />

«Viele schämen sich dafür, dass sie im <strong>Caritas</strong>-<strong>Markt</strong><br />

einkaufen müssen.»<br />

Kay Rohrbach (27 Jahre), mit Hanna (2 Jahre)<br />

Berührungsängste kennt die 27-jährige Kay Rohrbach nicht: Bereitwillig<br />

gibt sie Auskunft, spricht offen an, was andere vielleicht nur denken. «Natürlich<br />

gehe ich hier einkaufen, wenn ich doch die Berechtigung dafür<br />

habe», sagt sie nachdrücklich. «Ich glaube aber, dass vielen dieser Umstand<br />

Mühe bereitet und sie sich schämen.» Dabei könne man doch nur profitieren,<br />

es sei billig, es gäbe Markenartikel und sogar Bio-Produkte. Dinge, die<br />

in normalen Läden zu teuer wären.<br />

Das Selbstbewusstsein der alleinerziehenden Mutter kommt nicht von<br />

ungefähr, denn Kay Rohrbach stehen – im Gegensatz zu anderen – alle Türen<br />

noch offen. Dass es eine gute und sichere Zukunft wird, daran arbeitet<br />

sie gerade. Sie holt die Matura nach und möchte anschliessend studieren.<br />

«Ich habe nie eine Berufslehre gemacht, mich nur mit Gelegenheitsjobs über<br />

Wasser gehalten», erzählt sie. Sie beschloss, noch mal von vorne zu beginnen,<br />

etwas Ordentliches zu machen. Tochter Hanna war dabei zwar nicht<br />

geplant, aber willkommen. Auch wenn es eine enorme Doppelbelastung ist:<br />

«Die Kopfarbeit in der Schule, mich anschliessend um meine Tochter kümmern<br />

und dann noch Hausaufgaben machen, das ist extrem anstrengend.»<br />

In ihrem Korb hat Kay Rohrbach: Blumenkohl, Brot, Mozzarella, Ovomaltine,<br />

Bohnen, Kürbis, Risotto, Bio Weichkäse, Tütensuppen, Butter, Eier, Bouillon,<br />

Ravioli für 19,50 Franken.


Text: Ulrike Seifart<br />

Bilder: Andreas Schwaiger<br />

Lautes Dröhnen empfängt uns, als wir die<br />

Türen zum <strong>Caritas</strong>-<strong>Markt</strong> in Oerlikon aufstossen.<br />

Baulärm. Das Gebäude, in dem der<br />

Laden eingemietet ist, wird saniert. «Das<br />

geht nun schon seit Monaten so», klagt eine<br />

Mitarbeiterin.<br />

Vielleicht sind deshalb gerade kaum<br />

Kunden und Kundinnen im Geschäft, denn<br />

eigentlich kommen bis zu Hundert pro Tag<br />

und kaufen hier auf zweihundert Quadratmetern<br />

ein. Wählen aus einem umfangreichen<br />

Sortiment von Lebensmitteln, Hy-<br />

gieneartikeln und Haushaltswaren. Von<br />

Joghurt über Eukalyptusbad bis hin zu<br />

Trinkgläsern ist alles vertreten. Darunter<br />

viel Markenhersteller wie Maggi, Biotta,<br />

Emmi, Weleda oder Nivea.<br />

Brot ist heiss begehrt<br />

Es ist 10.30 Uhr und schlagartig füllt sich<br />

der <strong>Markt</strong> – Brot ist gekommen. «Auf unser<br />

Brot warten die Leute mit Freude», erzählt<br />

Verkäuferin Mary Ay, während sie die<br />

Backwaren im Regal einsortiert. Sieben verschiedene<br />

Brotsorten, vier Brötliarten und<br />

Gipfeli sind heute gekommen, produziert<br />

und gratis zur Verfügung gestellt von zwei<br />

«Mit einem Kind ist es sehr schwierig, finanziell über<br />

die Runden zu kommen.»<br />

Marleny Reyes (23 Jahre), mit Jarine (5 Jahre)<br />

Marleny Reyes ist nicht nur Kundin im <strong>Caritas</strong>-<strong>Markt</strong>, sie arbeitet auch<br />

gleichzeitig hier als Verkäuferin. Die geplante Ausbildung zur Detailhandels-<br />

Fachfrau konnte sie nach der Schule durch ihre Schwangerschaft nicht antreten.<br />

Als Tochter Jarine auf der Welt war, absolvierte Marleny ein Praktikum<br />

in einem Kleidergeschäft. Dadurch wurde ihr Berufswunsch gefestigt<br />

und sie möchte baldmöglichst die Berufslehre nachholen.<br />

Die Teillohn-Stelle im <strong>Caritas</strong>-<strong>Markt</strong> hilft ihr schon mal, Erfahrungen zu<br />

sammeln. Ausserdem lässt sie sich gut mit ihrer Situation als Alleinerziehende<br />

vereinbaren: «Ich darf spontan meine Tochter mit zur Arbeit bringen,<br />

wenn sie mal nicht in den Kindergarten gehen kann. Das ist anderswo bestimmt<br />

nicht so einfach möglich.»<br />

Da Marleny keine Unterstützung vom Kindsvater bekommt, lebt sie in<br />

einem permanenten finanziellen Engpass. «Kinder kosten viel Geld», sagt<br />

sie. «Sie wachsen so schnell, ständig brauchst du neue Kleider und Schuhe<br />

und schon bald muss ich Sachen für die Schule posten.» Vielleicht, so hofft<br />

Marleny, bekommt sie auch ohne Lehre einen Job, der neben einem guten<br />

Lohn echte familienfreundliche Arbeitszeiten bietet.<br />

In ihrem Korb hat Marleny Reyes:<br />

Rüebli, 3 Peperoni, Bananen, 8 Joghurt für 9,20 Franken.<br />

renommierten Zürcher Bäckereien. Das ist<br />

eher eine Ausnahme, denn die meisten Waren<br />

beziehen die <strong>Caritas</strong>-Märkte über das<br />

zentrale Warenlager in Rothenburg (siehe<br />

Kasten Seite 10). Doch natürlich gibt es<br />

auch immer wieder Sonderfälle, wie der eines<br />

Süsswarenfabrikanten, der Pralinés<br />

durch einen Verpackungsschaden nicht<br />

«Selbständig arbeiten zu können, ein aktiver Teil der Gesellschaft<br />

zu sein, ist für viele Menschen eine Erfüllung, ein Lebensinhalt.»<br />

mehr verkaufen konnte. Er stellte sie dem<br />

<strong>Markt</strong> in Oerlikon zur Verfügung. Ganze<br />

zwei Paletten waren das. Einwandfreie<br />

Ware. Wie übrigens alle Produkte in den<br />

Läden: Meist handelt es sich um Über-<br />

«Menschen» 4/10 <strong>Caritas</strong> 9


<strong>Reportage</strong>: <strong>Caritas</strong>-<strong>Markt</strong><br />

schüsse oder Fehlproduktionen, die Qualität<br />

der Lebensmittel ist dabei vollkommen<br />

in Ordnung und unterliegt den strengen Bestimmungen<br />

des Lebensmittelgesetztes.<br />

Hohe Eigenverantwortung<br />

Damit die hohe Qualität vor Ort beibehalten<br />

werden kann, wird Hygiene im <strong>Markt</strong><br />

grossgeschrieben. Täglich reinigen Mitarbeitende<br />

die Regale, kontrollieren die Temperatur<br />

der Kühlgeräte, prüfen Obst und<br />

Gemüse auf Frische, checken die Haltbarkeitsdaten<br />

der Lebensmittel. Die Arbeiten<br />

sind genauestens festgelegt und terminiert<br />

und jeder weiss, was er zu tun hat. «Unsere<br />

Angestellten haben eine grosse Selbstverantwortung.<br />

Sie müssen sich und ihre Arbeit<br />

im Sinne des <strong>Markt</strong>es selber organisieren.<br />

«WIR WOLLEN DIE ZAHL DER CARITAS-MÄRKTE VERDOPPELN.»<br />

Rolf Maurer ist Geschäftsführer der<br />

Genossenschaft <strong>Caritas</strong>-<strong>Markt</strong>.<br />

Im Interview gibt er Auskunft über<br />

die Funktionsweise und Ziele der<br />

<strong>Caritas</strong>-Märkte.<br />

Herr Maurer, wie viele <strong>Caritas</strong>-Märkte gibt es?<br />

Mittlerweile zählen wir 19 Märkte in der ganzen<br />

Schweiz. Im Kanton Thurgau läuft zudem<br />

ein Pilotprojekt. Dort kann der <strong>Caritas</strong>-<strong>Markt</strong><br />

auf Rädern, das ist ein mobiler Verkaufsladen,<br />

auch die Menschen in ländlichen Gegenden<br />

erreichen.<br />

Braucht es denn überhaupt so viele Märkte?<br />

Leider ja, denn die Armut in der Schweiz<br />

wächst. Ein Anzeichen dafür ist unser steigender<br />

Gesamt-Umsatz: Hatten wir im Jahr 2007<br />

noch rund 4,2 Millionen Franken Umsatz, waren<br />

es 2009 bereits 7,1 Millionen Franken. In<br />

diesem Jahr rechne ich mit einem Zuwachs<br />

von 12 Prozent.<br />

Ist das Angebot in den Märkten überall gleich?<br />

Ja, mehr oder weniger. Grundnahrungsmittel<br />

wie Milch, Brot, Reis und Teigwaren werden in<br />

jedem Laden geführt. Ergänzt wird das Angebot<br />

mit Frischprodukten, Obst, Gemüse und<br />

anderen Lebensmitteln sowie Hygienearti-<br />

keln und Reinigungsmitteln. Aber egal ob in<br />

St. Gallen, Lausanne oder Chur: In den <strong>Caritas</strong>-Märkten<br />

kann der tägliche Bedarf gedeckt<br />

werden, und das von Montag bis Samstag.<br />

10 <strong>Caritas</strong> «Menschen» 4/10<br />

Und es funktioniert», sagt Peter Betschart,<br />

Stellvertreter der Betriebsleitung.<br />

Das Team wird zum Familienersatz<br />

Elf Personen zählt das Team im <strong>Caritas</strong>-<br />

<strong>Markt</strong> Oerlikon. Neun davon sind in einem<br />

Teillohnprojekt beschäftigt. Dieses ermöglicht<br />

Sozialhilfebeziehenden, wieder einer<br />

Im <strong>Caritas</strong>-<strong>Markt</strong> Oerlikon arbeiten darum viele alleinerziehende<br />

Mütter, die auf dem regulären Arbeitsmarkt keine Chance haben.<br />

Erwerbstätigkeit nachzugehen und somit<br />

ein kleines Einkommen zu erzielen. «Selbständig<br />

arbeiten zu können, ein aktiver Teil<br />

der Gesellschaft zu sein, ist für viele Menschen<br />

eine Erfüllung, ein Lebensinhalt»,<br />

erklärt Marco Callegari, Projektleiter des<br />

Woher bekommen die Märkte ihre Waren?<br />

Einen Grossteil der Waren, etwa 80 Prozent,<br />

beziehen sie aus dem Zentrallager in Rothenburg<br />

bei Luzern. Bis zu 6000 Paletten werden<br />

dort jährlich verarbeitet. Für einige lokale Produkte<br />

berücksichtigen die Märkte Zulieferer<br />

aus der Region. Insgesamt beliefern uns über<br />

400 Händler und Produzenten, darunter Coop,<br />

Denner, Migros, Nestlé und Coca Cola.<br />

Und die Waren erhält <strong>Caritas</strong> gratis?<br />

Nein: Nur etwa 35 Prozent des gesamten Sortiments<br />

wird uns von den Detailhändlern und der<br />

Industrie gratis zur Verfügung gestellt. Das ist<br />

meist der Fall bei Überproduktionen, Fehllieferungen<br />

oder Verpackungsschäden. Die Ware<br />

ist dabei aber immer einwandfrei! Die restlichen<br />

65 Prozent des Sortiments werden von uns regulär<br />

eingekauft – teils zu Vorzugspreisen, teils<br />

zu <strong>Markt</strong>preisen.<br />

Wie kann denn der <strong>Caritas</strong>-<strong>Markt</strong> seine Waren<br />

so günstig abgeben?<br />

Es ist tatsächlich so, dass wir gezielt die Produkte<br />

in unseren Läden zwischen 30 und 50<br />

Prozent unter den <strong>Markt</strong>preisen verkaufen. Neben<br />

den Waren, die wir selbst gratis oder günstig<br />

beziehen, leisten die Produkte-Paten einen<br />

grossen Beitrag an unsere tiefen Verkaufspreise.<br />

Produkte-Paten können Einzelpersonen,<br />

Institutionen und Firmen sein, die mittels einer<br />

Jahrespatenschaft Grundnahrungsmittel wie<br />

Zucker, Milch oder Mehl finanzieren.<br />

<strong>Caritas</strong>-<strong>Markt</strong>s Oerlikon. Häufig müsse<br />

man neue Angestellte aber erst einmal aufbauen.<br />

Marco Callegari: «Einige waren anfangs<br />

am Boden zerstört. Niemand hat sie<br />

bisher als Arbeitskraft gewollt, viele sind<br />

schüchtern, trauen sich nichts zu. In erster<br />

Linie geht es also darum, sie aus der Isolation<br />

zu holen und ihnen eine Tagesstruktur<br />

zu geben.» Schon nach wenigen Wochen<br />

Arbeit seien die meisten wie umgewandelt<br />

und für den einen oder anderen werde das<br />

Team zum Familienersatz, ergänzt er.<br />

Bei der Rekrutierung von neuen Mitarbeitern<br />

und Mitarbeiterinnen wird auch<br />

Erzielen die <strong>Caritas</strong>-Märkte Gewinne?<br />

Nein. Der <strong>Caritas</strong>-<strong>Markt</strong> ist immer noch ein<br />

Projekt, das uns Geld kostet. Die einzelnen<br />

Märkte werden von den selbständigen regionalen<br />

<strong>Caritas</strong>-Stellen geführt und diese finanzieren<br />

die Betriebskosten der Läden mit eigenen<br />

Mitteln.<br />

Der <strong>Caritas</strong>-<strong>Markt</strong> ist auch ein Arbeitgeber.<br />

Wer arbeitet im <strong>Markt</strong>?<br />

Die Zusammensetzung des Personals ist in<br />

den einzelnen Läden recht individuell. Grundsätzlich<br />

hat es immer ein bis zwei Festangestellte.<br />

Ausserdem können wir auf die Mitarbeit<br />

zahlreicher Freiwilliger bauen und wir<br />

bieten Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern<br />

und Sozialhilfeempfängerinnen eine sinnvolle<br />

Beschäftigung. Auch Zivildienstleistende<br />

kommen zum Einsatz.<br />

Hat die Genossenschaft <strong>Caritas</strong>-<strong>Markt</strong> ein Ziel,<br />

eine Vision?<br />

Ja! Innerhalb der <strong>Caritas</strong> Kampagne «Armut<br />

halbieren» wollen wir bis 2020 die Zahl der<br />

<strong>Caritas</strong>-Märkte verdoppeln.<br />

www.caritas-markt.ch


«Beim Einkauf achte ich auf saisonale und regionale<br />

Produkte. Eine gesunde Ernährung ist mir wichtig»<br />

Jörg W. Lauber, 45 Jahre<br />

«Natürlich kaufe ich hier vor allem wegen der günstigen Preise ein», sagt<br />

Jörg W. Lauber. Aber er schätze auch die herzliche Quartier-Laden-Atmosphäre,<br />

das freundliche Personal und das vielfältige Gemüseangebot. Ein- bis<br />

zweimal die Woche kommt der studierte Volkswirtschafter und Soziologe<br />

in den <strong>Caritas</strong>-<strong>Markt</strong> nach Oerlikon. 2007 verlor er durch Restrukturierungsmassnahmen<br />

seinen Job und konnte trotz zahlreicher Bewerbungen<br />

bisher keine neue Anstellung finden. «Ich falle aus dem Raster. Vielleicht<br />

ist es das Alter, vielleicht auch meine Spezialisierung.» Jörg W. Lauber nutzt<br />

die Zeit, er lernt, bildet sich weiter, liest viel. Momentan ist er im Rahmen<br />

eines zeitlich begrenzten Beschäftigungsprogramms Projektleiter des Qualitätsmanagements.<br />

«Ich habe mich selbst für dieses Projekt beworben, denn<br />

ich kann mich dort mit modernster Software in Betriebswirtschaft weiterbilden»,<br />

erläutert er.<br />

Er glaubt fest daran, schon bald wieder in das Berufsleben einsteigen zu<br />

können: «Ich bin gesund, ich habe einen grossen fachlichen Background und<br />

technisches Verständnis. Ich kann Reisen und ich bin flexibel in Lohnfragen»,<br />

zählt er auf. «Es lohnt sich, mich einzustellen.»<br />

In seinem Korb hat Jörg W. Lauber: Tomaten, Zucchini, Shampoo, Reis,<br />

Joghurt, 750 ml Olivenöl, 3 Packungen Rohschinken, Zwiebeln, Peperoni<br />

für 18,40 Franken.<br />

«Dank dem <strong>Caritas</strong>-Laden können wir Sozialhilfe-<br />

empfänger überhaupt existieren. Denn das normale<br />

Leben ist einfach zu teuer für uns.»<br />

Vreni Blum*, 57 Jahre<br />

Als Alleinerziehende mit zwei Kindern hatte es Vreni Blum nie einfach. Als<br />

sie dann aber mit 53 Jahren auch noch ihre Stelle im Büro verlor, erreichte<br />

sie den Tiefpunkt. Die Aussicht auf einen neuen Job war aufgrund des Alters<br />

gleich Null. «Das ist die Diskrepanz: Bis 64 sollte man arbeiten, aber ab 45<br />

ist man zu alt auf dem Arbeitsmarkt. Das passt doch einfach nicht zusammen»,<br />

sagt sie voller Empörung.<br />

Das Leben, der Alltag ist teuer und gewisse Investitionen müssen einfach<br />

sein: «Wir brauchen zu essen, wir brauchen Kleider, ein Dach über dem<br />

Kopf.» Deshalb ist Vreni Blum für jede noch so kleine Sparmöglichkeit<br />

dankbar. «Ich bin sehr froh, dass es den <strong>Caritas</strong>-Laden gibt. Hier kann ich<br />

den grössten Teil an Grundnahrungsmitteln posten und ich finde zudem<br />

auch noch viele Markenartikel.» Seit 2008 kommt sie hier nun schon einkaufen<br />

und freut sich über die gute Qualität der Ware. Schliesslich fordert<br />

sie einen Ausbau des Angebots: «Ein Laden für ganz Zürich ist viel zu<br />

wenig», meint sie.<br />

In ihrem Korb hat Vreni Blum: 12 Cola, Joghurt, Brot, medizinische Körperlotion,<br />

Zucker, Salami, Cappeletti für 19,25 Franken.<br />

*Name geändert<br />

«Menschen» 4/10 <strong>Caritas</strong> 11


<strong>Reportage</strong>: <strong>Caritas</strong>-<strong>Markt</strong><br />

deren persönliche Situation berücksichtigt.<br />

Im <strong>Caritas</strong>-<strong>Markt</strong> Oerlikon arbeiten darum<br />

viele alleinerziehende Mütter, die finanziell<br />

auf sich gestellt sind und auf dem regulären<br />

Arbeitsmarkt keine Chance haben.<br />

Ausschlaggebend für die Wahl des neuen<br />

Teammitglieds sei aber immer noch die Mo-<br />

tivation der Person. Marco Callegari: «Für<br />

mich ist entscheidend, ob der Mann, die<br />

Frau Lust hat zum Arbeiten. Und natürlich<br />

muss er, sie in das Team passen.» Übrigens<br />

sind Erfahrungen im Verkauf zwar hilfreich,<br />

aber absolut kein Muss. Und auch<br />

12 <strong>Caritas</strong> «Menschen» 4/10<br />

das Alter spielt keine Rolle: Die jüngste<br />

Mitarbeiterin ist 21, die älteste 60 Jahre alt.<br />

«Ich liebe den Job»<br />

Es ist 14 Uhr. Der Baulärm ist verebbt. Es<br />

herrscht eine ruhige, entspannte Atmosphäre<br />

im Geschäft.<br />

«Mittlerweile kenne ich die meisten, die hier einkaufen kommen,<br />

mit vielen mache ich Duzis und einige sagen Mueteli zu mir.»<br />

Vier Kunden und Kundinnen sind konzentriert<br />

am Einkaufen, nehmen die Produkte<br />

einzeln in die Hand, prüfen genau.<br />

Die 60-jährige Mitarbeiterin Levy Mechani-<br />

Wyss ist soeben am Auffüllen der Regale.<br />

Ganz akkurat und fast penibel sortiert sie<br />

die Waren ein: «Eine schöne Warenpräsentation<br />

ist mir sehr wichtig», sagt sie. Gelernt<br />

ist eben gelernt. Mechani-Wyss arbeitete<br />

über 18 Jahre bei Coop, das Verkaufen<br />

liegt ihr im Blut und sie hofft, noch bis zur<br />

Pensionierung im <strong>Markt</strong> bleiben zu können.<br />

«Ich liebe den Job. Mittlerweile kenne ich<br />

die meisten, die hier einkaufen kommen,<br />

mit vielen mache ich Duzis und einige sagen<br />

Mueteli zu mir», erzählt sie lachend. Anders<br />

die 21-jährige Senada Ibrisevic, die trotz<br />

gutem Schulabschluss keine Lehrstelle fand<br />

und sich bisher mit Praktika über Wasser<br />

hielt: «Ich möchte gerne richtig arbeiten gehen,<br />

am liebsten Kleider oder Schmuck verkaufen»,<br />

sagt sie. Und auch Elke Dossow,<br />

47, hat noch anderes vor. Die ehemalige<br />

«Im <strong>Caritas</strong>-<strong>Markt</strong> kann ich einen grossen Teil meines<br />

täglichen Bedarfs decken – der Rest ist Luxus.»<br />

Beat Schmid, 47 Jahre<br />

«Brot, Butter, Eier, Milch», zählt Beat Schmid die Produkte auf, die er bevorzugt<br />

im <strong>Caritas</strong>-<strong>Markt</strong> postet. «Ohne den <strong>Markt</strong> müsste ich noch bescheidener<br />

leben. Er hilft mir, einen guten Lebensstandard zu halten.»<br />

Obst und Gemüse kann der agile Sozialhilfeempfänger gratis im Schülergarten<br />

beziehen. Dort bringt er den Kindern wöchentlich die Natur näher<br />

und das Gärtnern bei. «Dass mich die Arbeit mit Kindern so erfüllt, hätte<br />

ich nie gedacht. Ausserdem liege ich dem Amt weniger auf der Tasche.»<br />

Schmid macht sich gerne nützlich, pflegt den Kontakt zu anderen, möchte<br />

gebraucht werden. Darum ist er auch öfters in Sachen «Nachbarschaftshilfe»<br />

unterwegs: «Wenn etwas kaputt ist, dann helfe ich.» Als erfahrener<br />

Haustechniker ist er mit diesen Arbeiten vertraut. Eine Scheidung liess ihn<br />

vor sechs Jahren in ein tiefes Loch fallen, die Arbeit vernachlässigen. «Mit<br />

47 gibt dir niemand mehr einen Job», so sein trockenes Resümee. Er hat sich<br />

zurechtgefunden in seinem neuen, bescheidenen Leben. Nur ab und zu ein<br />

gutes Stück Fleisch auf dem Teller, das vermisst er.<br />

In seinem Korb hat Beat Schmid:<br />

Penne, Butter, Brot, Ketchup, Konfitüre, 4 Liter Milch, Eier, Gewürzgurken, Birnen<br />

für 14,95 Franken.


Lehrerin, die durch einen Burnout zum Sozialfall<br />

wurde, möchte so schnell wie möglich<br />

vom Sozialamt weg und wieder unterrichten.<br />

Bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt<br />

Und das ist letztendlich auch das prioritäre<br />

Ziel der <strong>Caritas</strong>-Märkte als Arbeitgeber:<br />

Die Überführung der Angestellten in den<br />

regulären Arbeitsmarkt. «Wir wollen unsere<br />

Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen auf<br />

den Wiedereinstieg draussen vorbereiten.<br />

Eine Tätigkeit im <strong>Caritas</strong>-<strong>Markt</strong> ist eine<br />

gute Grundlage, denn damit können sie eine<br />

kontinuierliche Beschäftigung nachweisen,<br />

was ihre Chancen enorm verbessert», erklärt<br />

Marco Callegari. Bereits sechs ehemalige<br />

Mitarbeitende konnten seit Bestehen<br />

des Ladens eine Stelle draussen finden –<br />

eine Bilanz, die Callegari zufrieden stimmt:<br />

«Für mich ist es immer eine Riesenfreude,<br />

wenn eine Mitarbeiterin oder ein Mitarbeiter<br />

den Wiedereinstieg in den regulären Arbeitsmarkt<br />

schafft. Das ist die schönste Belohnung<br />

für alle Bemühungen und es zeigt,<br />

dass wir auf dem richtigen Weg sind.»<br />

Ein <strong>Markt</strong> für 36 000 Bedürftige<br />

17 Uhr – im Laden herrscht Hochbetrieb.<br />

Familien, Alleinstehende, Schweizer und<br />

Schweizerinnen, Migranten und Migrantinnen,<br />

Alte, Junge. Sie kaufen Obst und Gemüse,<br />

Pasta, Brot und Milch, Waschpulver<br />

und Windeln. Und das zu Beträgen, die bis<br />

50 Prozent unter den handelsüblichen Preisen<br />

liegen: Ein Kilo Brot kostet 1,20 Franken,<br />

die Packung Risotto ist für 2 Franken<br />

zu haben, ein Liter Milch für 90 Rappen<br />

und für ein Kilo Äpfel müssen 1,40 Franken<br />

bezahlt werden.<br />

Es gibt nicht den typischen Kunden, die<br />

typische Kundin im <strong>Caritas</strong>-<strong>Markt</strong>. Was sie<br />

aber alle brauchen, um dort einkaufen zu<br />

können, ist die Einkaufskarte oder die KulturLegi.<br />

Beide werden von der <strong>Caritas</strong> oder<br />

von Sozialstellen an Personen ausgegeben,<br />

die nachweislich am oder unter dem Existenzminimum<br />

leben. In der Stadt Zürich<br />

sind das allein 36 000 Personen. Und für die<br />

gibt es diesen einen Laden in Oerlikon.<<br />

«CARITAS-MARKT – GESUND!»<br />

Nicht alle Menschen haben gleich gute<br />

Chancen auf ein gesundes Leben. Das<br />

junge Projekt «<strong>Caritas</strong>-<strong>Markt</strong> – gesund!»<br />

geht innovative Wege zur gesundheitlichen<br />

Chancengleichheit.<br />

Im September <strong>2010</strong> lancierte <strong>Caritas</strong> gemeinsam<br />

mit Gesundheitsförderung Schweiz das<br />

Projekt «<strong>Caritas</strong>-<strong>Markt</strong> – gesund!». Damit erhalten<br />

Armutsbetroffene gezielt Anreize, sich<br />

gesünder zu ernähren und mehr zu bewegen.<br />

Zahlreiche Forschungsergebnisse haben nämlich<br />

gezeigt, dass Gesundheit zu einem beträchtlichen<br />

Teil vom sozioökonomischen Status<br />

abhängig ist. Je tiefer der Bildungsgrad,<br />

die berufliche Stellung und das Einkommen<br />

eines Menschen, desto grösser ist sein Risiko<br />

zu erkranken. So leiden Armutsbetroffene<br />

nachweislich häufiger an Rücken-, Kopf- und<br />

Gelenkschmerzen, an schweren Schlafstörungen<br />

und psychischen Krankheiten.<br />

Das eigene Verhalten prägt dabei den Gesundheitszustand<br />

nur zu maximal 20 Prozent.<br />

Wesentlich wirken sich dagegen die Lebens-<br />

bedingungen aus, so etwa die Wohnsituation,<br />

berufliche Tätigkeit und mögliche Erholungsfaktoren,<br />

zum Beispiel Ferien.<br />

Passende Kochrezepte<br />

Mit dem Projekt «<strong>Caritas</strong>-<strong>Markt</strong> – gesund!»<br />

bieten die 19 <strong>Caritas</strong>-Märkte frisches Gemüse<br />

und Obst zu besonders günstigen Preisen an.<br />

Zudem erhalten die Kundinnen und Kunden<br />

beim Einkauf Kochrezepte, Informationen zur<br />

gesunden Ernährung und Ideen für Bewegung<br />

im Alltag. Und das Projekt trägt wortwörtlich<br />

Früchte! Rolf Maurer, Geschäftsführer der Genossenschaft<br />

<strong>Caritas</strong>-<strong>Markt</strong>: «Dank der Vergünstigung<br />

konnten wir bereits im September<br />

und Oktober doppelt so viel Obst und Gemüse<br />

verkaufen, im Monatsvergleich zum Vorjahr.»<br />

www.caritas-markt.ch/gesundheit<br />

www.gesundheitsfoerderung.ch<br />

«Menschen» 4/10 <strong>Caritas</strong> 13

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!