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Volltext Prokla 43

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Paul Mattick<br />

Am 7. Februar ist Paul Mattick nach langerer Krankheit gestorben. Die Worte, die Mattick<br />

1945 in einem Nachruf auf seinen Kampfgenossen Otto Ruhle gefunden hat, charakterisieren<br />

auch ihn selbst: Matticks .Aktivitaten in der deutschen (und amerikanischen) Arbeiterbewegung<br />

waren mit der Arbeit von kleinen Gruppen innerhalb und aufierhalb der etablierten<br />

Arbeiterorganisationen verbunden. Die Gruppen, denen er direkt angehOrte, hatten<br />

zu keiner Zeit eine praktische Bedeutung. Und sogar innerhalb dieser Gruppen nahm<br />

er eine besondere Stellung ein; er konnte sich niemals vollstandig mit einer Organisation<br />

identifizieren. Br verlor niemals die Hauptinteressen def Arbeiterklasse aus den Augen,<br />

egal welche politische Strategie er im Moment gerade verteidigte. Br konnte Organisationen<br />

nicht als Gebilde betrachten, die sich selbst Ziel sind, sondern nur als Mittel zur Schaffung<br />

von konkreten sozialen Beziehungen und zur Emanzipation des Inidividuums .... Er<br />

starb wie er lebte - als Sozialist im wahren Sinne des Wortes.« (Otto Ruhle und die deutsche<br />

Arbeiterbewegung, Anhang zu O.R.: Von der burgerlichen zur proletarischen Revolution.<br />

Berlin 1970) ,<br />

Mattick gehOrte zu den Sozialisten, deren Hoffnungen sich nicht erfiillten, deren BefUrchtungen<br />

sich aber immer wieder bestatigten. Dennoch verfiel er nicht der Resignation, son­<br />

'dern orientierte sich an Liebknechts .Trotz alledem!« Einen skeptischen Interviewer beschied<br />

er 1977: .Wenn Du ein Revolutionar bist, kannst Du kein Pessimist sein.«<br />

Zu einer der nicht so erfreulichen Erfahrungen, die Mattick machte, gehOrte auch eine Diskussion<br />

uber einen Vortrag uber die Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik, den<br />

Mattick vor einigen Jahren an der Freien Universitat in West-Berlin gehalten hat. Ein<br />

neunmalkluger Student erteilte ibm die :.Belehrung«, die Probleme der deutschen Arbeiterbewegung<br />

waren mit Lenin zu losen gewesen. Mattick versprach ihm grimmig, er werde<br />

Lenin lesen. Narurlich kannte Mattick seinen Lenin. Er kannte ihn grundlicher als die studentischen<br />

Marxisten-Leninisten, weil seine Auseinandersetzung mit dem Leninismus aus<br />

der Klassenkampferfahrung selbst entsprang. Und er kritisierte den Leninismus als eine fur<br />

die Arbeiterbewegung verhangisvolle Doktrin schon zu einer Zeit, als ein Ernst Reuter<br />

noch gluhender Bolschewist war.<br />

Mattick wurde 1904 in Berlin geboren. Sein Vater war Mitglied des Spartakusbundes; er<br />

selbst schlofi sich 1918 der .Freien SozialistischenJugend« an und ging 1920 nach der Spaltung<br />

der KPD zur KAPD. Fur Mattick, der aus einer Arbeiterfamilie stammte und sich bei<br />

Siemens zum Werkzeugmacher ausbilden liefi, war Klassenkampf taglich erfahrene Realitat.<br />

1926 wanderte er in die USA aus, wo er bis 1931 die deutschsprachige »Chicagoer Arbeiterzeitung«<br />

herausgab. Von 1934 bis 19<strong>43</strong> publizierte er die Zeitschriften :.Council Correspondence«,<br />

.Living Marxism«.und .New Essays«. Seinen Lebensunterhalt verdiente er als<br />

Werkzeugmacher, politisch organisiert war er in den .Industrial Workers of the World<br />

(IWW)«.<br />

Matticks politische Grundubetzeugungen, an denen er sein ganzes Leben lang festhielt,<br />

bildeten sich in den zwanziger Jahren auf dem linksradikalen Flugel der Arbeiterbewegung,<br />

der Bolschewismus und Sozialdemokratie zugleich bekampfte und sie als verfeindete<br />

4<br />

Paul Mattick


fur diese Form gein<br />

def AFLICIO USauch<br />

ness-unions« nur unzureichend beschrieben ist. Diese Gewerkschaften vertreten - so Riund<br />

Charles Sabel namlich die<br />

7


10 »Die Grenze, an die - bisher erfolgreiche - gewerkschaftliche Intefessenvertretung unter den veranderten<br />

akonomischen Bedingungen def Krise stailt, wird gebildet von der privatwirtschaftlichen<br />

Autonomic def Unternehmen, der damit verbundenen nahezu schrankenlosen<br />

Uber Zahl und Struktm der Arbeitsplatze und damit tiber Menschen.« (Projektgruppe im WSI,<br />

1977, S. 468) Diese Arbeit zeigt - bereits 1977 -, dail sich )>tinter Berucksichtigung der ausgebauten<br />

Emsolidarisierungsstrategien def Unternehmer ( ... J das Handeln der betrieblichen Interessenvertretung<br />

notwendiger denn je an def Uberberrieblichen Solidaritat der Arbeitnehmer orientieren<br />

(mull) und ( ... ) dazu verstarkt der UnterstUtzung der Gewerkschaftsorganisation (bedarf).«<br />

({l.a.G., S. 469)<br />

11 etwa die »Vorschlage des DGB zm Wiederherstellung der Vollbeschaftigung«.<br />

12 Esser vetweist in diesem Zusammnhang zu Recht auf die von ihm zusammen mit Fach und Vath<br />

erstellte Studie Uber die Krisenbewaltigung in der saarlandischen Stahlindusrrie. (vgl. Esser u.a.,<br />

1978) Meines Erachtens kannen die jetzt in del Krise ad hoc gebildeten »Krisenkartelle« abet nicht<br />

o. w. als »Strategie« der Gewerkschaften in die Zukunft verlangert werden. Nicht zuletzt deshalb<br />

nicht, weil ja gar nicht gesagt werden kann, ob angesichts einer weiterhin fur das Kapital gUnstigen<br />

Arbeitsmarktlage sich die Kapitalvertreter uberhaupt noch in solchen Krisenkartellen einfinden.<br />

Leggewie (1979) weist im Ubrigen darauf hin, dall die klassenkampferischen franzasischen<br />

Gewerkschaften keineswegs qualitativ andere Resultate in den Kampfen in Longwy erreicht haben:<br />

»Anstelle kollektiver Strategien setzen sich also auch hier - nach anderem Beginn -<br />

. individualisierende Krisenbewaltigung, Segmentierung in Atbeitende und Arbeitslose und wohlfahrtsstaatliche<br />

Sicherung dutch ... « (1979, S. 35)<br />

13 Gewerkschaftspolitische Antworten in Form programmatischer Erklarungen (z.B. H. G.Vetter;<br />

Bekundung von der »Einheit in der Vielfalt«, 1981, S. 67) sowie die Einrichtung von speziellen<br />

»Referaten« (die, wie Heinze u.a. monieren, die tatsachlichen Probleme nur burokratisch »kleinarbeiten«)<br />

sind sicherlich nicht hinreichend angesichts des Problemdrucks.<br />

14 Gegenbeispiele zu den hier vorgetragenen Thesen finden sich im Bereich »sekundiite Fachatbeit«<br />

im Instandhaltungsbereich, in dem »nicht-tayloristische« Rationalisierungsmallnahmen wie<br />

AsendorfKrings ausfuhrt - zu einer Vereinheitlichung auf Facharbeiterniveau in Grollbetrieben<br />

gefuhrt haben. Allerdings geht dies (1.) mit dnet Reduzierung des Personalumfangs Uberhaupt<br />

einher, und (2.) entwickelt sich im Rahmen der sogenannten »vorbeugenden Instandhaltung« tine<br />

Arbeitsteilung zwischen wenigen hochqualifizierten Facharbeitern« mit groilem Dispositionsspielraum<br />

und vielen geringer qualifizierten Arbeitern im Bereich der standardisierten Instandhaltungstatigkeiten.<br />

(AsendorfKrings, 1979, S. 95 ff.)<br />

LiteratuT<br />

Altvater u.a. 1980: Elmar Altvater, Jurgen Hoffman, Willi Semmler, Yom Wirtschaftswunder zur<br />

Wirtschaftskrise, Berlin 1980<br />

v.Alemann / Heinze 1979: Ulrich von Alemann, Rolf G. Heinze (Hrsg.), Verbande und Staat, Opladen<br />

1979<br />

Asendorf-Krings 1979: lnge Asendorf-Krings, Facharbeiter und Rationalisierung, Ffm 1979<br />

Baethge/ Schumann 1975: Martin Baethge, Michael Schumann, Legitimation und Staatsillusion im<br />

Bewulltsein def Arbeiter, in: Martin Gsterland (Hrsg.), Arbeitssituation, Lebenslage und Konfliktpotential,<br />

Ffm/Kaln 1975<br />

Baisch 1980: Helmut Baisch, Segmentietung am Arbeitsmarkt - eine Restriktion keynesianischer Beschaftigungspolitik?<br />

in: Baisch u.a., Alternative Wirtschaftspolitik 2, Argument Sonderband 52,<br />

Berlin 1980<br />

Bergmann u.a. 1975: Joachim Bergmann, Gtto Jacobi, Walter MUlier-Jentsch, Gewerkschaften in der<br />

Bundesrepublik, Ffm/Kaln 1975<br />

24 Jurgen Hoffmann


wendig s,heitern muBte und daB dieses Scheitern endgiiltig ist. Beides soIl hier nicht bestritten<br />

werden. Vielmehr werde ich zq.nachst Gorz' Argumente' noch zu verstarken suchen,<br />

urn dann allerdings der Frage nachzugehen, ob es keinen anderen Ausweg aus der<br />

.b.istorischen Krise des Marxismus gibt als die erwiesenen Sackgassen der »Ent-« oder »Redogmatisierung«<br />

des Marxismus.<br />

2. Gorz' Eingnff in die Krise der marxistischen, Theone<br />

und der sozialistischen Politik<br />

Ein scheinbar ganz unbeholfener Genosse sagte vor dn paar Tagen in einer Diskussion<br />

fiber die Krise des Marxismus: »Die Krise des Marxismus, das ist doch, daB Marxisten und<br />

Sozialisten in der Bundesrepublik nichts zu sagen haben!« Und in der Tat, eben darin wird<br />

die Krise des Marxismus als wissenschaftliche Begriindung sozialistischer Politik deutlich:<br />

daB dieser in der Bundesrepublik als einem der entwickeltsten kapitalistischen Lander so<br />

erfolglos ist - und zwar in allen seinen Versionen. Gorz, der die Entwicklung in Frankreich<br />

vor Augen hat, in der sowohl die neue Militanz der nach-68er Bewegungen wie die politische<br />

Offensive der Linksunion gescheitert sind, kommt hier gleich zu den Kernpunkten<br />

des Probletns 6 , wie es die historische Gestalt des Marxismus, auf die er sich (selbst-)ktitistn<br />

bezieht, reflektiert hat: Er geht den beiden Fragen nach, wer (oder was) die revolutionare<br />

Arbeiterklasse ist, die das Subjekt der sozialistischen Umwalzung sein soll, auf die sich sozialistische<br />

Politik richtet - und was rur eine gesellschaftliche Umwalzung - wenn fiberhaupt<br />

eine - heute »ansteht«.<br />

2.1 Abschied von der revolutioniiren Arbeiterklasse<br />

als Subjekt der Geschichte<br />

In einem ersten Schritt seiner Argumentation halt Goiz sich an die historischen Gestalten<br />

der Arbeiterbewegung. Der historischen Wa4rheit enrsprechend, kommt er zur Feststellung,<br />

daB sie allesamt nicht revolutionar waren. Warum fallt uns das so schwer, diese Tatsache<br />

zur Kenntnis zu nehmen? Gorz rut doch hier im Grunde nichts anderes, als den unleugbaren<br />

Umstand zu formulieren, daB die proletarischen Massen der industriellen Revolution,<br />

die Facharbeiterbewegungen des reifen Kapitalismus oder die »Massenarbeiter« des<br />

tayloristischen Kapitalismus 7 , nicht etwa aus Zufall oder aus Versehen nicht die Revolution<br />

gemacht haben, sondern daB es Ursachen damr gab, aufgrund derer sie dazu nicht in der<br />

Lage waren, und daB es sogar auf ihrer Seite immer Interessen gab, die einer sozialistischen<br />

Umwalzung durchaus entgegenstanden. die proletarische Revolution ist ebensowenig ein<br />

schlichter Tragheitseffekt der 'ungestorten' kapitalistischen Entwicklung wie die 'bestandige<br />

Reproduktion' der kapitalistischen Herrschaftsverhaltnisse sich einfach 'von seIber'<br />

macht.s<br />

So einfach es Gorz auch macht seine Argumente oberflachlich zu kontern - so undifferenziert,<br />

urn nicht zu sagen pauschal, sind sie auf der Ebene der historischen Konkretion9 una<br />

der industriesoziologischen Akrualitat lO -, sollten wir uns als Marxisten doch klar machen,<br />

daB zwei Gegenstrategien gegen seine Kritik ganz grundsatzlich nur zu Scheinantworten<br />

ruhren konnen, durch die wir bloB die eigentlichen Probleme »vor uns her schieben«:<br />

Einwilnde zu Andre Gorz , 31


handelnder kollektiver Zusammenhang, sich als Resultat, als Wirkung des historischen<br />

Prozesses herausbilden kann - und welchen Beitrag marxistische Theorie und sozialistische<br />

Politik zu diesem, offensichtlich schwierigen, mit keinen vorgangigen Garantien versehenen<br />

ProzeB leisten konnen. Denn daran festzuhalten, daB der Klassenkampf im Zentrum<br />

des historischen Prozesses steht - und daB die Herausbildung eines politisch handlungsfahigen<br />

proletarischen Pols in diesem Klassenkampfs im Zentrum jeder Umwalzung stehen<br />

muB, die darauf hoff en will, den Kapitalismus zu iiberwinden, impliziert keine Thesen<br />

uber ein .Proletariat an sich« und dessen.historische Mission«, die keiner empirischen<br />

Oberprufung oder praktischen Konkretisierung mehr zuganglich werden. Es erlaubt uns<br />

allerdings auch nicht, ohne weiteres zu entscheiden, welchen Stellenwert unterschiedliche<br />

gesellschaftliche Bewegungen - die Gewerkschaftsbewegung, die Frauenbewegung oder<br />

die Protestbewegung der jungen Generation - in der Herausbildung dieses proletarischen<br />

Pols im Klassenkampf haben werden. Oder gar von vornherein innerhalb der gesellschaftlichen<br />

Arbeitsbevolkerung bestimmtePersonengruppen als den .eigentlichen Trager«<br />

eines erst noch zu bildenden proletarischen Pols im Klassenkampf zu identifizieren.<br />

2.2 Abschied von der sozialistischen Umwalzung als Ziel der Geschichte<br />

Nachdem er seine Argumetne vorgetragen hat, warum das revolutionare Proletariat nicht<br />

nur faktisch historisch nicht als wirkliche Tendenz der kapitalistischen Entwicklung auszumachen<br />

ist, sondern aufgrund der inneren GesetzmiiBigkeiten dieser Entwicklung unmoglich<br />

entstehen kann, wirft Gorz konsequenterweise die Frage auf, was dann die gesellschaftliche<br />

Umwiilzung ist, auf die hin der Kapitalismusin seiner gegenwartigen weltweiten<br />

Krise drangt - denn die offensichtlich realitatsferne Vorstellung einer schlichten Bestandigkeit<br />

der gegenwartigen gesellschaftlichen Verhiiltnisse liegt Gorz immer noch ganzlich<br />

fern.<br />

Zunachst einmal erganzt er seine Ausfiihrungen uber die Unmoglichkeit der Entstehung<br />

eines revolutionaren Proletariats als historisches Subjekt durch eine Argumentation, die es<br />

auschlieBt, daB ein anderes historisches Subjekt anstelle des Proletariats zum Trager einer<br />

sozialistischen Umwiilzung wird: Gorz behauptet die objektive Unmoglichkeit einer kollektiven<br />

Aneignung des gesellschaftlichen Produktionsprozesses auf seiner industriellen<br />

Entwicklungsstufe ebenso wie die objektive Unmoglichkeit einer Ersetzung der von der kapitalistischen<br />

Produktionsweise hervorgebrachten groBen Industrie durch andere, gesellschaftlich<br />

kontrollierbarere Gestalten des kollektiven Arbeitsprozesses.<br />

Wiederum 1st die von ibm dafiir gegebene Begrundung eher skizzenhaft und dunn - aber<br />

wiederum waren wir Marxisten schlecht beraten, wenn wir uns diese Schwachen der Gorzschen<br />

Argumentation zunutze machten, um uns das zugrundeliegende Problem yom Leibe<br />

zu halten. Denn jenseits aller Differenzierungen konnen wir doch nicht bestreiten, daB<br />

zum einen der ProzeB des sozialistischen Obergangs sich uberall als sehr viel gefahrdeter<br />

und - zumindest - umwegiger und schwieriger erwiesen hat, als dies die marxistische Theorie<br />

.hat voraussehen .konnen. Zum anderen mag es zwar stimmen, was insbesondere von<br />

eurokommunistischer Seite mehrfach herausgearbeitet worden ist, daB namlich dieser ProzeB<br />

des sozialistischen Obergangs in den entwickeltsten kapitalistischen Liindern, wenn er<br />

einmal eingeleitet ware, sich leichter und rascher vollziehen konnte, als dies in der Sowjetunion<br />

oder in China der Fall sein konnte. Davon aber, einen solchen Obergang einzulei-<br />

34 Frieder O. Wolf


h1l1elugest:olSen werden vorausgesetzt es HUh<br />

okonomischen Mittel "'''1,''''''-'' diese Freiheit auch zu ge-<br />

Sie UH'''''"U, konnte dann dochnur noch im Namen<br />

sehr die oie zunachst noch<br />

zu erfUllen hatten!<br />

36 Frieder 0, Wolf


den, daB dann eben doch der Wille eines Subjektes zur gesellschaftlichen Richtschnur ge.<br />

macht witd. Und unter den Bedingungen kultureller Subalternitat, wie sie im Nichtar·<br />

beitsbereich (im Wortsinne) hemchen, ist nicht einmal zu erwarten, daB sich ein besonders<br />

emanzipatorisch gesonnenes Subjekt in diese Position, in die Machtstellung des Diktators,<br />

zu bringen vermag.<br />

3. Jenseits der symmetrischen Krise von »Marxismus-Leninismus« und »kritischem Marxis·<br />

mus«<br />

Gorz Kritik des Marxismus-Leninismus trifft bei naherer Untersuchung auch den 'kriti·<br />

schen Marxismus' , dem Gorz selbst zugehort hat - indem er ihn beim Wort nimmt und an·<br />

seinen Konsequenzen mnk<br />

Gorz radikalisiert den Anspruch dieses kritischen Marxismus, die allgemeine Emanzipation<br />

des Menschen zum Leitstern der theoretischen Untersuchung und zum letzten Kriterium<br />

politischer Praxis zu erheben. Dabei kommt er konsequenterweise zueiner Konzeption der<br />

Moralisierung, die es unternimmt, die eigene, gegenwartige Praxis miinchhausenhaft<br />

durch die bohrend beschworende Frage nach dem, was ich eigentlich will, von Grund auf<br />

erneuern zu konnen, Theoretisch verstrickt er sich damitin eine .ausweglose Siruation: Die·<br />

se Frage kann niemand radikal stellen, ohne zwei weitere Fragen zu stellen, die das in sic;h<br />

selbst zuruckgehende Subjekt aus sich selbst herauseben nicht beantworten kann - die<br />

Fragen .Wer bin ich?c und .Wer sind wit?«. So wiederholt Gorz nur - scheinbar ganz radio<br />

kal auf das Subjekt setzend - in spiegelbildlicher Weise die Selbstvergessenheit, die er dem<br />

.Objektivismus« durchaus mit Recht vorwirft. Er reproduziert so ein strukturelles Problem<br />

individueller Subjektivitat in der biirgerlichen Gesellschaft, die zugleich darauf verwiesen<br />

ist, sich als Ursprung ihrer selbst, als autor sui, zu imaginieren, zugleich aber in ihrer gesellschaftlich<br />

bestimmten Praxis immer wieder die Erfahrung macht, nicht einmal selbst<br />

der Schmied des eigenen Gliickes zu sein. Und in diesem Widerspruch schwankt das Subjekt<br />

- wie schon Hegel es gegen Fichte gezeigt hat - so lange zwischen dem Postulat seiner<br />

Selbstsetzung und der Erfahrung seiner Gesetztheit durch etwas ihm ganzlich AuBeres hin<br />

und her, bis es eine Grundlage auBerhalb dieser Reflexionsfalle gefunden hat. Nach Marx<br />

und Freud kann diese Grundlage -'und auch darin ist Gorz durchaus Recht zu geben -<br />

nicht mehr in der Identiflkation mit dem GroBen Subjekt gefunden werden, das als Auflo·<br />

sung, :.Aufhebunge dieses Widerspruchs imaginiert witd - in Gott oder seinen metaphysischen<br />

Derivaten: in :.der Vernunft«, in :.der Menschheit« oder auch in einem messianisch<br />

begriffenen :.Proletariate. Und Gorz verbaut sich den einzigen Ausweg aus seinem spezifl.<br />

schen Dilemma, daB aus der Verbindung von Befangenheit in den gegebenen Strukturen<br />

des Subjektes mit der klaren Erkenntnis der Unhaltbarkeit metaphysischer .Auswegec, die<br />

politisch immer auf die Unterwerfung unter die Staatsmacht, unter den weltlichen Arm<br />

des GroBen Subjekts, hinauslaufen: Indem er Althussers Begriff des historischen Prozesses<br />

der Klassenkampfe als einen ProzeB ohne Ziel und ohne Subjekt zuruckweist, wei! er darin<br />

den Gipfel des Stalinismus sieht, weist er nicht nur Althussers speziflsche theoretische Un·<br />

tetsuchungen zuruck, iiber die erst noch naher zu debattieren ware. Er lehnt es bereits ab,<br />

iiberhaupt der Frage naher zu treten, ob es fur Materialisten richtig ist, die Reflexion des<br />

Subjektes auf sich selbst, seine Erfahrung und sein SelbstbewuBtsein zum Ausgangspunkt<br />

dergesamten theoretischen Anstrengung zu machen. Und nur so ist nach Marx und Freud<br />

Einwiinde zu Andre Gorz 39


2.<br />

welcher Art bestimmen sich nun hier »soziales Wissen« und »soziale<br />

Das gerissene Band 45


den ""-'J11IO""llVC;.u<br />

zungen<br />

wovon die dutch das Ins·Leere-StoBen dieser wissenschafltichen Marxismus·Diskussion<br />

ais Versuch eine! wirklichen EinfluBnahme markiert<br />

48 Adalbert Evers I Zoltan


stattf'indet.<br />

schdnt<br />

don auch de! »alternativen Listen« werden unter<br />

verschwinden hinter dieser alldn noch thematisierten<br />

Das gerissene Band 49


deutlich wird das bei Huber, der einerseits nahe:w alles, was da an Widerstand sich regt in<br />

einen breitgefaBten Alternativ-Begriff einbringen will (op. cit. S. 26), dann aber im weiteren<br />

nur noch von der »Alternativbewegung def Projekte« S. 28) Insoweit nun<br />

andere Existenzformen zur bloBen »Begleitmusik« der eigentlichen Wirklichkeitsdimension<br />

des »Projektes« kehrt auch die Macht-Politik ais etwas den Bewegungen<br />

Berliches wieder: Sie bleibt Sache des Staates, def Parteien und der etablierten Okonomie,<br />

mithin ein meh! oder minder widriger auBerer Rahmen, nicht aber Bestandteil ihres eigenen<br />

Gegenentwurfs. Diese These ist aUerdings nur solange Politik noch<br />

ais eine besondere Tatigkeit und Aufgabe innerhalb des wdten Feldes gesellschaftlicher<br />

Autonomiebestrebungen identifizierbar bleibt. Dort, wo schlechthin aUes »Politik« ist,<br />

gibt es per definitionem weder das Problem der Bezogenheit von »Projekten« und Politik,<br />

noch unpolitische Projekte.<br />

3.2 Macht und Ohnmacht, oder:<br />

Wenn aus der praktischen Regression eine theoretische Verleugnung wird<br />

Es ist - ieider .,. unschwer zu sehen, warum diese Diskurse gerade bei "Projekten«, den Varianten<br />

neue! sozialerGestalten ansetzen, deren Spannungsverhiiltnis mit def staatlich vefmittelten<br />

oder groBwirtschaftlichen Macht noch am ehesten durch dn technischinstrumentelles<br />

Fach-oder Strategiewissen vermittelbar und regelbar erscheint. In der Tat<br />

funktioniert bei diesen Varianten der Austausch zwischen Projekt - Theoretikern auf der<br />

einen Seite und den entsprechenden Projekttragern am besten. Dabei ist auch hier klarzustellen,<br />

daB nicht diese Projekte selbst uns hier vor Augen sind, sondern ihre speziflsche<br />

Rationalisierung, ihre Hochstilisierung zum eigentlichen Kern einer »Gegengesellschaftlichkeit«<br />

(Hirsch), zu den Orten, wo man Alternativbewegung »definitiv zu fassen bekommt«<br />

(Huber 1980, S. 27). Die Projekttheoretiker tun ihr gutes Werk, indem sie den<br />

manifesten, sozialleichter artikulierbaren Tei! dieser »neuen sozialen Figuren« noch bei jener<br />

Betriebsamkdt untersrutzen, die, haargenau, die eigenen »verdeckten Hiilften« derselben,<br />

ihre Beklommenheit, ihr auf die »groBe Politik« bezogenes Macht/Ohnmachtssensorium<br />

noch weiter verdeckt und verschUttet. Nicht daB diese Art def »Projektberatung«, die<br />

wir damit meinen, per sie unnotig oder falsch ware - daB sie unausgesprochen an die Stelle<br />

dner politischen Verstandigung uber die latemen Macht/Ohnmachtsfragen tritt, das<br />

scheint uns hier das Entscheidende. An Stelle dec Entwicklung dieses eigenen Sensoriums<br />

werden diesen provisorischen Subjekten dann namlich instrumentell konstruierte Vermittlungen<br />

zur »Machtsphare«, Modelle und Techniken fUr dn taktisch-strategisches Verhalten<br />

zu dem ansonsten 50 fremden Bereich von Sozialstaat oder »Stellvertreterdemokratie« angeboten.<br />

Kein guter Tausch, meinen wir, fUr die Projekttrager selbst, abet ein ebenso unguter<br />

fUr die Anbieter solcher ",Projektberatung«, ihre Moglichkeiten dnes Ausbruchs aus einem<br />

von instrumentellem und fachwissenschaftlichem Wissen gepragten Verhaltnis zu den<br />

neuen 50zialen Gestalten.<br />

Das »Heraushalten« der eher polt'tischen MachtlOhnmachtsfragen aus dem theoretischen<br />

Diskurs def Projekt-Theorien kann sich zunachst in sehr einfacher Weise auch dort ergeben,<br />

wo, wie in den Sektoren-Theorien Matzners, oder auch der »zwei-Kulturen«-These<br />

von Glotz (1979) in der Art def Hineinnahme von Wirtschaftskorporationen und Staat das<br />

immense Machtgefalle :wm »autonomen Sektor« oder def »zweiten Kultur« in den jeweili-<br />

50 Adalbert Evers / Zoltan Szankay


4 So z.B.: »Wenn es geiange, das gesamte intellektuelle Potential, das aus dem Gesamtarbeiter herauswachst,<br />

mit den Einsichten (unsere Hervorhebung, A.E. ! Z. s. z.), die aus unserer (sic) Kapitalismuskritik<br />

stammen, vertraut zu machen ... « (1980 1, S. 216)<br />

Literatur<br />

Bahro, Rudolf, 1978: Die Alternative. Frankfurt a.M.: Europaische Verlagsanstalt<br />

Bahro, Rudolf, 1980: Elemente einer neuen Politik. Zum Verhaltnis von Okologie und Sozialismus.<br />

Westberlin: Olle und Wolter<br />

Bahro, Rudolf; Mandel, Ernest; von Oertzen, Peter, 1980 1 : Was da alles auf uns zukommt ... Perspektiven<br />

def 80erJahre. Westberlin: Olle und Wolter<br />

Editorial, 1980: Okologiebewegung und Arbeiterbewegung - ein Widerspruch? PROKLA Heft 39, S.<br />

1-14<br />

Evers, Adalbert, 1980: Die politische Bedeutung der sozialen Bewegungen. Zur Ortsbestimmung einer<br />

Kontroverse. Osterreichische Zeitschrift fUr Politikwissenschaft 1 (1980), S. 7-22<br />

Evers, Adalbert, 1981: Dber Selbsthilfe, lwei Kulturen und Alternativbewegung. In: Kickbusch, Ilona;<br />

Trojan, Alf (Hrsg.): Gemeinsam sind wit starker - Selbsthilfe im Gesundheitswesen. Frankfurt<br />

a.M.: Fischer<br />

Glotz, Peter, 1979: Auf diesem Stern wollen sie nicht !eben. Junge Generation, alternative Bewegungen<br />

und die Aufgaben def Sozialdemokratie. Frankfurter Rundschau, 6. September 1979<br />

Gorz, Andre, 1980: Abschied vom Proletariat, Frankfurt a.M.: Europaische Verlagsanstalt<br />

Hirsch,Joachim, 1980: Der Sicherheitsstaat. Das 'Modell Deutschland', seine Krise und die neuen 50zialen<br />

Bewegungen. Frankfurt a.M.: Europaische Verlagsanstalt<br />

Huber, Joseph, 1980: Wet soH das alles iindern. Die Alternativen der Alternativbewegung. Westberlin:<br />

Rotbuch<br />

Jungk, Robert, 1981: Haben die Alternativen cine Zukunft? Joseph Hubers Bestandsaufnahme. In:<br />

Frankfurter Rundschau, 14. Miirz 1981<br />

Kaufmann, Franz-Xaver, 1980: Soziale Dienste und affentliche Verwaltung. In: SPD-Forum »Burger<br />

und Verwaltung«, Kaln, Oktober 1979. Bonn<br />

Matzner, Egon, 1979: Zur Enrwicklung des autonomen Sektors. In: International Institute of Management<br />

(Hrsg.) discussion paper lIM! dp 79-89. Westberlin<br />

Novy, Klaus, 1980: Alternative Okonomie - Vorwarts oder Ruckwarts? Zur Geschichte dnes aktuellen<br />

Problems. Spuren. Zeitschrift fUr Kunst und Gesellschaft, Heft 4, S. 19-23<br />

Novy, Klaus, 1981: Selbsthilfe als Reformbewegung. Der Kampf der Wiener Siedler nach dem l.<br />

Weltkrieg. ARCH + ,Heft 55, S. 26-40<br />

Redaktion '<strong>Prokla</strong>', 1979: Was hemt Krise des Marxismus? PROKLA Heft 36, S. 1-10<br />

Redaktion '<strong>Prokla</strong>', 1980: 'Modell Deutschland' - Anatomie und Alternativen. PROKLA Heft 40, S.<br />

1-13<br />

Schwendter, Rolf (Hrsg.), 1979: Zur Alternativen Okonomie, .Band II. Westberlin: Sozialpolitischer<br />

Verlag SPY<br />

Szankay, Zoltan, 1980: Die Politiken der Dritten Welt und die der Gewerkschaften in den lndustrieliindern.<br />

Diskurs. Bremer Beitriige zu Wissenschaft und Gesellschaft. Heft 3, S. 110-140<br />

Touraine, Alain, 1967: Krise ode! Mutation? In: Touraine, Alain u.a. (Hrsg.):Jenseits def Krise. Wider<br />

das politische Defizit def Okologie. Frankfurt a.M.:<br />

ders., 1978: La voix et Ie regard. Paris: editions du seuil<br />

ders., 1980: L'apres - socialisme. Paris: editions Grasser & Fasquelle<br />

defs., 1980 1 : Die post-industrielle Gesellschaft und die Alternativbewegung. Interview mit<br />

Alain Touraine. In: die Tageszeitung, 6. Januar 1981<br />

Das gerissene Band 59


DM 12 ,


am;zubr(:chen, und def dadurch Infragestdlung der Politikvorstellungen def altefen<br />

Neuen Linken, wurde dann 1962/3 P. Anderson als Venreter der jungen Generation<br />

der Neuen aus der trotzkistischen Bewegung herkommend, zum neuen Herausgeber<br />

def New Left Review bestimmt. Er wollte vor aHem durch eine marxistische Analyse der<br />

Geschichte hierzu als Voraussetzung, dutch eine breite des kontinentaleuropaischen<br />

Marxismus die sozialistische Politik fundieren. 1963 erschien Thompsons<br />

inzwlschen legendare sozialhistorische Rekonstruktion der fruhen englischen Arbeiterbewegung<br />

»The Making of English Working Class«) als Vergegenwartigung der spezifischen<br />

Klassentradition def Arbciterbewegung in in deren Kontext slch auch jede<br />

sozialistische Politik seines Erachtens nach zu bewegen habe. Anderson reagierte mit einem<br />

Abrill def Klassenanalyse der englischen Geschichte »The Origins of the Present Crisis«6, in<br />

det er den grundsatzlich nicht-sozialistischen Charakter derselben fruhen englischen At·<br />

beiterbewegung und die anschlieBend sich herausbildende und bis in die Zeit nach dem<br />

2. Weltkrieg andauernde Integration der Arbeiterbewegung in die biirgerliche Gesellschaft<br />

hervorhob; dabei erklarte er den seines Erachtens nicht-hegemonialen und intellekruell-provinziellen<br />

Charakter def englischen Arbeiterbewegung aus der im Vergleich zu<br />

Frankreich unvollstandigen burgerlichen Revolution in England, die sich im Klassenkompromill<br />

zwischen Bourgeoisie und Feudalaristokratie 1688 und 1832 manifestiere und sich<br />

in de! relativen Umerentwicklung des revolutionaren KlassenbewuBtseins def englischen<br />

Arbeiterklasse fortsetze; MaBstab dieses Uneils war die 1m Unterschied wr kontinentaleuropaischen<br />

Arbeiterbewegung fehlende marxistische Theorie. Thompson polemisierte daraufhin<br />

in »The Pecularities of the English«7 scharf gegen diese klassenanalytischen Thesen,<br />

indem er nicht nur bemitt, daB es in England seit 1688 eine Aristokratie 1m feudalen Sinne<br />

noch gegeben habe, sondern gerade die Vollstandigkeit def biirgerlichen Revolution betome<br />

und auf die spezifischen Starken def englischen burgerlichen Kultur - ihee rationale,<br />

empirische und demokratische Tradition - hinwies, an die die englische Arbeiterbewegung<br />

ankniipfte und cine eigene autonome, in vielen Stromungen demokratische und sozialistische<br />

Klassenkulrur entwickelte, selbst wenn sie nicht fmmell marxistisch sci. Thompson war<br />

sichtlich alarmiert durch cinen Marxismus, def im Gewand def Wissenschaftlichkeit einem<br />

neoleninistischen Revolutionsbegriff anhing, def das Wesen def sozialistischen Revolution<br />

hauptsachlich in der Zerschlagung des burgerlichen Staats sah und den er in scinen stalinistischen<br />

Konsequenzen fUr cine Politikkonzeption de! Neuen Linken gerade ais Uberwunden<br />

ansah. Anderson konterte seinerseits mit ciner Replik »Socialism and Pseudo-Empiricism«8<br />

gegen die Mytben des E.P. Thompson - so der Untertitel-, in der er unter Vetweis<br />

auf die Vorlaufigkeit seiner Thesen grundsatzlich an def Behauptung de! relativen Unterentwicklung<br />

def englischen Arbeiterbewegung festhielt, Thompson eines orientierungslosen<br />

moralischen Populismus bezichtigte und somit deudich die Notwendigkeit ciner revolutionar-marxistischen<br />

Fundierung ciner sozialistischen Politik herausstellte. Damit endete<br />

vodaufig die offen ausgettagene Kontroverse. Angesichts des durch die Publikationsstrategie<br />

der New Left Review geforderten, regelrechten Booms des Marxismus in England, dem<br />

er zutiefst skeptisch gegenuberstand, zog sich Thompson politisch starker wruck und widmete<br />

sich intensiv der sozialgeschichtlichen Analyse der soziokulturellen Transformationsprozesse<br />

1m Obergang ZUI Industrialisierung im England des 18. und 19. Jhdts.9 . Anderson<br />

verwirklichte neben seiner Publikationsstrategie eine! brciten Rezeption des kontinental-europaischen<br />

Marxismus, die sich schlieBlich 1976 in seinem Text "Considerations on<br />

Western Marxism«10 dokumentierte, das Programm einer marxistischen Geschichtsschrci-<br />

62 Willfried Spohn


ung in Form umfassender historisch-vergleichender Studien zur Entstehung des modernen<br />

kapitalistischen und sozialistischen Staats, wovon 1974 die beidenTeile "Passages from<br />

Antiquity to Feudalism« und of the Absolutist State«l1 erschienen. Die Radikalisierung<br />

def sozialen Kampfe in England fUhrte Thompson wieder in die Arena der Politik<br />

zuruck. So er sich vor aHem im den Abbau def civil in<br />

land und gegen allgemeine Forcierung der atomaren Aufrustung12 . In diesem Zusammenhang<br />

veroffentlichte ex auch seine Abrechnung mit Althusser: »The of<br />

Theory«13, die auf jenen, nicht zuletzt dutch Anderson und seine Generation Vf'r'hu'ltf'tf'1'l<br />

Marxismus gemUuzt ist. Anderson schrieb daraufhin kUrzlich seine schon erwahnte<br />

Thompson-Wurdigung »Arguments Within English Marxism«14, in def er wohl dem historischen<br />

und dem politischen Engagement Thompsons seine Reverenz erweist, zugleich<br />

abet in sachlich kaum modifizierter Weise auf der N otwendigkeit ciner marxistisch<br />

fundierten sozialistischen Strategie zur Zerschlagung der burgerlichen Klassenherrschaft<br />

beharrt.<br />

Sowcit in Stichworten def historische Verlauf und die wesendichen Dimensionen der Kontraverse<br />

zwischen Thompson und Anderson. Seide Namen stehen paradigmatisch fur zwei<br />

alternative Politik-, Geschichts-, und Theoriekonzeptionen innerhalb des englischen Marxismus.<br />

Die Grenzlinie verlauft dabei grob zwischen der aiteren Generation der Neuen<br />

Linken(neben Thompson etwa E.Hobsbawm, R.Hilton, R.Williams, R.Miliband, J.Savil­<br />

Ie, S.Hall, R.Samuel), die sich in sozialistischer Perspektive gegen den orthodoxen Parteikommunismus<br />

und Marxismus-Leninismus wendet, und der jungeren Generation der<br />

Neuen Linken (neben Anderson etwa T.Nairn, N.Geras, G.S,Jones, F.Halliday), die - ohne<br />

diese Loslosung selbst vollzogen zu haben - in Reaktion auf inn ere Schwierigkeiten dieses<br />

humanistisch-sozialistischen Prajekts im AnschluE an Althusser einen wissenschaftlichen<br />

Marxismus fordern. Am deutlichsten sind diese unterschiedlichen Konzeptionen in der<br />

Thompson! Anderson-Kontroverse zutage getreten. Die Alternative hellit schlagwonartig<br />

zugespitzt: kultureller vs. strukruraler Marxismus auf der Ebene der Interpretation des historischen<br />

Materialismus, Sozialgeschichte vs. Strukturgeschichte auf der Ebene der Historiographie<br />

und sozialemanzipatorische vs. wissenschaftliche Revolutionstheorie auf def<br />

Ebene des Sozialismusverstandnisses. Nun ware es faisch, diese Alternativen als Beschreibung<br />

des Konflikts zwischen alterer und jungerer Neuer Linken zu prinzipialisieren, dazu<br />

sind die Gemeinsamkeiten hinsichtlich dner empirisch-historischen Ausrichtung des<br />

Marxismus zwischen den Generationen und wiederum die Differenzen im theoretischen<br />

Marxismusverstandnis innerhalb der jeweiligen Generationen zu graB. Doch in def Akzentuierung<br />

der Gegensatze bei Thompson und Anderson lassen sich die Probleme des Verhaltnisses<br />

von Geschichte und Marxismus praziser diskutieren. In diesem Sinne sind dann<br />

auch in England in den letztenJahren auEerst konstruktive Debatten sozialistischer Historike!<br />

Uber das Verhaltnis von Theorie und Geschichte im History Workshop ode! uber das<br />

Politikverstandnis im englischen Marxismus in der New Left Review in Gang gekommen.<br />

In der Bundesrepublik dagegen laBt die konstruktive Aufnahme und FortfUhrung dieser<br />

Debatte noch weitgehend auf sich warten. Wohl erfreut sich die Thompsonsche Methode<br />

der Sozialgeschichtsschreibung inzwlschen zunehmender Beliebtheit innerhalb def Geschichtswissenschaft,<br />

abet ohne Diskussl0nen ihrer politischen und theoretischenlmplikationen.<br />

So hat M.Vester die politische Diskussion uber den kulturmarxistischen Ansatz<br />

Thompsons teotz seiner schon 1970 erschienenen Arbeit »Die Entstehung des Proletariats<br />

als LernprazeB« und instruktiver EinfUhrungstexte in das Thompsonsche Werk kaum in Be-<br />

Geschichte und Marxismus 63


5ie es dann nut auBeren AnstoBes mit<br />

Krise des Marxismus dutch L.Althusser 17 , War sie bei ihm auch ehef als orthodoxe Reakauf<br />

eurokommunistischen Parteien<br />

vel:nf.aIl!;elJlnen Abkehr a\s xur kritischen<br />

Rede<br />

yom Marxismus von ihm benannten Subwechselt<br />

und identiftkatorischen ohne die<br />

Grundstruktur der Nun ist<br />

bek:anntHch Krise Marxismus nicht nell, wenn auch ihre Formen wechselrrl. Die<br />

Geschichte des Marxismus laBt sich als die Revolutionstheorien<br />

und deren Kritik Rekurs auf Ambivalenzen im Marxschen<br />

Werk zwischen Revolutionstheorie2 2 ,<br />

64 Willfried Spohn


Geschichte und Marxismus 65


tschattsg,::sdl1cb:te des<br />

IhOITlps:on den Wert dieser historisch -theoretischen und AtsteHr<br />

- sind sie doch ais kollektives sozialistischer Historiker zu se-<br />

PUUH"'''WeJlH Erkenntnisinteresse bewuBt der<br />

zu, nicht nur urn ein von der traditionellen Geschichtswissenund<br />

dazuhin okonomistisch und verengtes Feld<br />

Schein dner<br />

gegen diese nlcht zu verstehen ist. In einer bahnbrechenden<br />

Art und W dse rekonstruiert er die der<br />

land 1790 - 1832, die - aus einem von Ha.ndwerkern. aH.Lalj'l';1l.LUlC1l1<br />

"''''J''-L'''L'''', und Landarbeitem sich zusammensetzend und die Gewalt des zur<br />

erfahrend - sich tiber einen okonomischer und<br />

Das heillt nun Th


inwieweit Anderson seinem einer<br />

Revolution wirklich ist, Zweifel er se!bst lU wenn er sich<br />

die nach historisch-materialistischen Geschichtstheorie als Problem des Verhaltnisses<br />

von Geschichtswissenschaft und stellt: »Politisch<br />

ist das Schicksal def lebenden Manner und Frauen in der aktuellen<br />

hersehbaren f.1r einen Sozialisten unendlich vie!<br />

gung, Wissenschaftlich betrachtet<br />

tdnden Wissens Toten. Die<br />

und nichts<br />

deren n.,UUlu.,jLLl>';U<br />

denklbat'en Geschichtswissenschaft wird es daher eine inharente<br />

n.LHULI::l1!, Theorie und Praxis Ein<br />

versetzte,<br />

sie materiel! zu transformieren. Versuchen zum Trotz ist die marxistische<br />

Theorie also nicht mit revolutionarer Diese leicht<br />

.,,,;nUlH!> m1ch soleh UUjlUU'!>"Ul..!!,;L<br />

wart auch<br />

bei Anderson was eine revolutionare .:JU,


Arnason anerkennt zunachst grundsatzlkh das theoriestrategische Projekt der Althusser.<br />

Schule, die Kategorien des historischen Materialismus in Absetzung ,yom marxistischen<br />

und leninistischen Okonomismus strukturtheoretisch zu prazisieren, und zwar deshalb,<br />

weil er gegen Thompson und mit Marx die kapitalistische Struktur nicht lediglich als begriffliche<br />

Approximation an die Realitat, sondern als begriffliche Formulierung einer teal<br />

sich verallgemeinernden Gesellschaftsstruktur fafit. Doeh wiederum in Ubereinstimmung<br />

mit Thompson kritisiert er die geschichtsphilosophische Reiflkation der Strukmrkategorien<br />

im strukturalen Marxismus. Arnason nennt dieses Grundmuster dec orthodoxen Interpretationstradition<br />

Produktionsmodell im Unterschied zu dem von ihm selbst vorgeschlagenen<br />

Subsumtionsmode1l 80 • Nach dem Produktionsmodell wird der Doppelcharakter von<br />

Gebrauchswert und Tauschwert, konkreter und abstrakter Arbeiter und alle weiteren'die<br />

Dimensionen der kapitalistischen Produktionsweise durehziehenden Kategorien in der<br />

Weise gedacht, dafi die Wertstruktur die Gebrauchswertdimension letztlich luckenlos determiniert.<br />

Damit werden aIle gesellschaftlichen Erscheinungen als durch die kapitalitische<br />

Struktur produzierte konzipierbar. Dies fUhet in der Konsequenz zu einer ableitungslogischen<br />

Kapitalinterpretation, in der die geschichtsemanzipatorische Subjektdimension Iediglich<br />

in Form einer metaphysischen Geschichtsteleologie gerettet werden kann. Demgegenuber<br />

skizziert Arnasonein Subsumtionsmodell, in dem der gesellschaftliche LebensprozeB<br />

wohl durch das Kapitalverhaltnis strukturiert und transforrriiert wird, allerdings oniie<br />

subsumtionslogisch in der kapitalistischen Struktur schlicht aufzugehen. Der kapitalistischen<br />

Struktur liegt Arnason zufolge eine im strengen Sinne widerspruchliche Gesellschaftlichkeit<br />

zugrunde, die einerseits in Form abstrakter Arbeit konkrete Arbeit, in Form von<br />

Tauschwerten Gebrauchswerte, in Form von Kapital gesellschaftliche Arbeit, etc, produzien,<br />

deren negatorische Komponente andererseits weder historisch-empirisch noch als Po.<br />

tenz verdrangt werden kann. Die fUr das Produktionsmodell - und die damit gekennzeichnete<br />

burgerliche politische Okonomie und marxistische Orthodoxie - charakteristische Verdinglichung<br />

des Kapitalbegriffs zum Subjekt der Gesehichte wird im Subsumtionsmodell<br />

in der Weise unterlaufen, dafi die gesellschaftliche Arbeit sowohl das Kapital produziert<br />

und damit den gesellschaftlichen LebensprozeB in speziftscher Weise strukturiert, als auch<br />

gleichermafien unter dadurch strukturell und historisch transformierten Bedingungen die<br />

kapitaltranszendierende und -negierende Realitat und Potenz darstellt.<br />

Diese dialektisch-kritische Leseart des Kapitals hat zwei entscheidende Vorzuge: sie halt an<br />

dem methodisch-theoretischen Status der Marxschen Kritik dee politischen Okonomie als<br />

Theorie der allgemeinen Strukturmechanismen des Kapitals fest, ohne diese ontologisch<br />

als Gesetze der Geschichte zu hypostasieren, und sie verfallt nicht de! umgekehrten Tendenz,<br />

diesem Geschichtsobjektivismus durch eine emphatische Ontologisierung des Subjekts<br />

urn den Preis einer entgegengesetzten Hypostasierung zu entgehen Bl • Die Mensehen<br />

produzieren ihre Geschichte in einer speziftschen Strukmr und transformieren dadurch ihre<br />

Lebensbedingungen, und sie sind zugleich die strukturtranszendierende Subjektivitat,<br />

in Negation dieser Struktur eine neue gesellschaftliche Synthese herzustelien. Diese Leseart<br />

hat offenkundige Konsequenzen fUr die Konstitutionsproblematik. Das KlassenverhaIlTIis<br />

zwischen Lohnarbeit und Kapital ist nicht auf ein Ausbeutungsverhaltnis und dessen politische<br />

Aufhebung durch den proletarischen Klassenkampf reduzierbar, sondern ist eingebunden<br />

in eine speziftsche Form der Vergesellschafmng, d.h. in ein speziflsches Verhaltnis<br />

von Gesellsehaft und Natur, so dafi die Aufhebung des Klassengegensatzes zwischen Lohnarbeit<br />

und Kapital ineinsgeht mit der revolutionaren Aneignung des menschlichen Le-<br />

Geschichte una Marxismus 77


die Kontroverse. in ihren ;;UUL1.'I-!!Cll,<br />

uu'-u»vu'"u kritisch rp7 ")lPft<br />

Theorie- und Praxisverstandnisses def Neuen Linken Pf()dL!ktJ[v s,-m,,,,-,,c<br />

Diese Thesen basieren auf cinem<br />

.Elemente einer kritischen Theorie def Geschichte def - Anmerkullgen<br />

Kontroverse zwischen E.P. und P.Anderson« verfa!!t habe.<br />

2 Ubcr die Geschichte det Neuen Zusammenhange<br />

informieren M.Vestcr: Edward als Theoretiker def 'New Left' und als historischer<br />

Forscher - Notizen zu in: Asthetik 33, Berlin 1978,<br />

S.33-45; ders.: Edward zuE.P.Thompson:<br />

Theone, New York 1980,<br />

und H.Gustav-Klaus: (1945-1973),<br />

9, Berlin 1976, S.161-192<br />

3 B.P.Thompson: Revolution, in: dets., u.a., Out of Apathy, London 1960, S.287-308<br />

4 Dets.: William Moms - Romantic to Revolutionary, London 1955, 1977 und ders.: Romanticism,<br />

Moralism and Utopianism: the Case of William Moms, in: New Left Review 99, 1976, S.83-111,<br />

deutsch: Romanlik, Moral und utopisches Denken: Der Fall William Morris, in.: E.P. Thompson,<br />

Plebeische Kultur und moralische Okonomie, Aujsiitze zur englischen Sozialgeschichte des 18.<br />

und 19. Frankfurt/M., Berlin, Wien 1980, S.202·246<br />

5 Ders.: Making of the Working Class, London 1963ff.<br />

6 P.Anderson: Ongins of the Present Crisis, in: New Left Review 23, London 1965, S.26-53<br />

7 B.P .Thompson: The Pecularities of the in: defs., The Poverty London 1978,<br />

S.35-98<br />

8 P.Anderson: Socialism The in: New Left<br />

Review 35, London 1966, S.2-42<br />

9 Die wichtigsten sozialhistorischen Aufsatze wurden von D.Groh B.P.<br />

Plebeische Kultur und moralische a.a.O,<br />

10 P.Anderson: Crber den westlichen Marxismus, Frankfurt/M. 1978<br />

Ders.: Von del" Antike zum Feudalismus, Spuren der Frankfurt/M.<br />

1978 und defs.: Die Entstehung des absulutistischen Staats, 1979<br />

12 by Candlelight, London 1980 und dets.: Notes on Exterminism, the Last<br />

Stage New Left Review 121, London 1980, S.3-31<br />

13 Dets.: Das Blend der Theorte, a.a.O.<br />

14 P.Anderson: Arguments Within Marxism, London 1980<br />

15 M.Vester: Die Entstehung des Proletariats als LernprozejS, Frankfurt/M. 1970 und seine Einfiihrungen<br />

in Thompson, s.Anm. 2<br />

16 D.Groh: Einleitung zu E.P.Thompson: Plebeische Kultur und moralische Okonomie, a.a.O.<br />

17 L.Althusser: Krise des Marxismus, 1978<br />

18 S,Breuer: Stalinismuskrttik von links? - Materia/fen zur Kontroverse fiber die Diktatur des Proletariats<br />

in der Kommunistischen Partei Frankreichs, In: Leviathan H 3, Dusseldorf 1977, S.378ft.<br />

19 U.J aeggi: Drinnen und draujSen, in: J. Habermas (Hg.), Stichworte zm 'Geistigen Situation def<br />

Zeit', Bd.2, Frankfurt/M. 1979<br />

Geschichte und Marxismus 81


20 S.Breuer: Die Krise der Revolutionstheorie, Negative Vergesellschaftung und Arbeitsmetaphysik<br />

bei Herbert Marcuse, Frankfurt/M. 1978 bringt sie sehr pragnant auf den Begriff.<br />

21 W.Spohn: Thesen zum historischen Verha/tnis von Marxismus und Arbeiterbewegung, in: Probleme<br />

des Klassenkampfs 36, Berlin 1979, S.49-.60<br />

22 A.Mohl: Wissenschaftlicher Sozia/ismus«, was ist das?, in: Probleme des Klassenkampfs 36, Berlin<br />

1979, S.77-109<br />

23 B.Gustafsson: Marxismus und Revisionismus, Eduards Bernsteins Kritik des Marxismus und seine<br />

ideengeschichtlichen Voraussetzungen, FrankfurtlM. 1972; marxismuskritisch: A.Arato, The Second<br />

International, A Reexamination, in: Telos 18, St. Louis 1973/74, 5.2ff.<br />

24 X.Korsch hat sie explizit so benannt: Krise des Marxismus, in: ders., Die materialstische Geschichtsauffassung,<br />

Frankfurt/M. 1971, S.167-172 und aIs aktuelles Problem sehr radikal gestellt:<br />

ders., Zehn Thesen uber Marxismus heute, in ders., Politische Texte, Frankfurt/Koln 1974,<br />

S.385-387<br />

25 P.Anderson: Oberden westlichen Marxismus, a.a.O. und a1s kritische Gegenposition: M.Merleau­<br />

Ponty, Die Abenteuer der Dialektik, Frankfurt/M. 1974<br />

26 E.Hobsbawm: Revolution und Revolte, Frankfurt/M. 1977, S.24ff. und R.Samuel: British Marxist<br />

Historians, 1880-1980, Part One, in: New Left Review 120, London 1980, S.21-96<br />

27 M.Dohb: Die Entwicklung des Kapitalismus, Koln, Berlin 1970<br />

28 P.Sweezy, u.a.: Der Obergang vom Feudalismus zum Kapitalismus, Frankfurt/M. 1978; R.Hilton:<br />

Bond Men Made Free, London 1973<br />

29 C.HiIl: Von der Re/ormationzur industriel/en Revolution, Frankfurt/M. 1977<br />

30 E.Hobsbawm: Labouring Men, Studies in the History o/Labour, London 1964ff. und ders.: Industrie<br />

und Empire I und II, Frankfurt/M. 1969<br />

31 Mit der Analyse dieser religiosen, subpolitisch-rcbellischen und demokratischen Traditionen beginnt<br />

deshalb auch .The Making of the English Working Class«, Teil I: .The Liberty Tree«<br />

32 So auch im Tite! die von D.Groh herausgegebene Aufsatzsammlung: E.P. Thompson, Plebeische<br />

Kultur und rftoralische Okonomie,a.a.O.<br />

33 Dies der polemische Gesichtspunkt des 2. Teils von »The Making of the English Working Class«:<br />

»The Curse of Adam«<br />

34 Das Thema von .The Making of the English Working Class«, Teil III: .The Working Class Presence«<br />

35 E.P.Thompson: The Pecularities o/the English, S.85<br />

36 Ibid., S.78ff.<br />

37 Ibid., S.84<br />

38 V gl. R.WiIliams: Zur Basis-O berbau- These in der marxistischen Kulturtheorie, in: ders., Innovationen,<br />

tiber den ProzeBcharakter von Literatur und Kultur, Frankfurt 1 M. 1977, S.183-201 und<br />

die insttuktive Einfiihtung im selben Band von H.Gustav-Klaus: 'Obcr Raymond Williams, S.203-<br />

224<br />

39 So D.Groh in seiner Einleitung zu Thompsons sozialbistorischen Aufsatzen, a.a.O., S.24ff. und<br />

vorherR.Johnson: Edward Thompson, Eugene Genovese, and Socialist-Humanist History , in: Hi·<br />

story Workshop H 6, 1976, S.79-100, der die spannende Debatte in dieser Zeitschrift sozialistischer<br />

Historiker in den folgenden Heften 8,9 und 10 eroffnete.<br />

40 M.Vester: Edward Thompson und die 'Krise des Marxismus', S.16<br />

41 M.Vester: Die Entstehung des Proletariats als LernprozejS, a.a.O. hat diese beiden Ebenen: die<br />

Entstehung der kapitalistischen Industrialisietung in England und die Theoriegeschichte im Kontext<br />

des KlassenbewuBtseins def englischen Arbeiterbewegung nachgetragen und bis 1848 ver-<br />

42 P.Anderson: Arguments Within English Marxism, S.<strong>43</strong><br />

<strong>43</strong> L.Althusser: Fur Marx, Frankfurt/M. 1968; ders., E.Balibar: Das Kapitallesen, Reinbek bei Hamburg<br />

1972; als zusammenfassende Interpretation Saul Karsz: Theorie und Politik: Louis Althusser,<br />

vgl. auch A.Honneth: Geschichte und InteraktionJverhaltnisse, Zur strukturalistischen Deutung<br />

82 Willfried Spohn


des Historischen Materialismus, in: U.Jaeggi, A.Honneth, Theorien des Historischen Materialismus,<br />

Frankfurt/M. S.405ff.<br />

44 P.Anderson: Arguments Within English Marxism, S.5ff. und S.194<br />

45 N.Poulantzas: Politische Macht und gese/Ischaftliche Klassen, Frankfurt/M. 1974<br />

46 Ibid., S.35ff.<br />

47 P.Anderson: ()ber den westlichen Marxismus, S.155f.<br />

48 Ibid., S.162ff.<br />

49 Dets.: Die Entstehung des absolutistischen Staats, S.514ff., insb.S.521 und 548. Die Anhange<br />

zum Feudalismus in Japan und zur asiatischen Produktionsweise fehlen in def deutschen Ausgabe,<br />

geben aber die Folie fur die Behauptung def Besonderheit des europaischen Feudalismus abo<br />

50 Ibid., S.17ff. und 237ff.<br />

51 R.Brenner: Agrarian Class Structure and Econ.omic Development in Pre-Industrial Europe, in:<br />

Past and Present, Bd.70, 1976, S.30-75<br />

52 S.Clarke: Socialist Humanism and the Critique ofEconomism, in: History Workshop, H 8, 1979,<br />

S.138-156<br />

53 P.Anderson: ()ber den wesllichen Marxismus, S.156 und defs.: Arguments Within English Marxism,<br />

S.85<br />

54 Ders.: Die Entstehung des absolutistischen Staats, S.12f.<br />

55 Ders.: The Antinomies of Antonio Gramsci, in: New Left Review 100, London 1976/77, 5.5-78;<br />

deutsch: Antonio Gramsci, Berlin 1979<br />

56 E.P.Thompson: Das Elend der Theone, a.a.O.<br />

57 P.Anderson: Die Ents/ehung des absolutistischen Staats, 5.466. Auf die problematischen begrifflichen<br />

Fassungen: def kapitalistischen Produktionsweise in RuBland als dominant, des zaristischen<br />

Staatsapparats als feudal und def Oktoberrevolution als sozialistisch kann hier nur aufmerksam gemacht<br />

werden.<br />

58 P .Anderson: The Antinomies of Antonio Gramsci, 5.10<br />

59 Ibid., S.lOff.<br />

60 Ibid., S.41<br />

61 Ibid., S.41f.<br />

62 Ibid., 5.75<br />

63 Vgl. hierzu die Gramsci-Interpretationen in der Zeitschrift Telos: P,Piccone: From Spaventa to<br />

Gramsci, in: Telos 31, St.Louis 1977, S.35ff.; F.Adler: Factory Councils, Gramsci and the Industrialists,<br />

in: Telos 31, S.67ff.; A.Haldan: Gramsci as an Historian of the 1930s, in: Telos 31,<br />

S.100f.; L.Paggi: Gramm"s General Theory of Marxism, in: Telos 33, S.27ff. und E.Rutigliano:<br />

The Ideology of Labor and Capitalist Rationality in Gramsci, in: Telos 33, 8.91ff. Hierzulande:<br />

A.Kramer, Gramscis Interpretation des Marxismus, in: Gesellschaft, Beitrage ZUf Marxschen Theorie<br />

4, Frankfurt/M. 1975,8.65-118<br />

64 P.Anderson: The Antinomies of Antonio Gramsci, S.45<br />

65 Ibid., S.46<br />

66 L.Althusser, E.Balibar: Das Kapitallesen, I, S.167ff. und N.Poulantzas: Politische Macht und gesellschaftliche<br />

Klassen, S.l3Sff.<br />

67 P.Anderson: ()ber den westlichen Marxismus, a.a.O.<br />

68 Das ist auch der grundlegende Einwand von A.Arato und P.Piccone gegeniiber M.Jays freundlicher<br />

Aufnahme der Andersonschen Marxismusgeschichte, beide in: Telos 32, St.Louis 1977,<br />

S.162-174.<br />

69 E.P.Thompson: The Poverty of Theory, 5.374<br />

70 Ibid., S.380ff.<br />

71 Hierzu namentlich P .Anderson: Arguments Within English Marxism, S.100ff.<br />

72 Vgl. in diesem Zusammenhang die Kritik Althussers durch A.Schmidt: Der strukturalistische Angriff<br />

auf die Geschichte, in: clefS. (Hg.), Beitr1ige zur marxistischen Erkenntnistheorie, Frankfurt/M.<br />

1969, S.194-265<br />

Geschichte und Marxismus 83


73 E.P. Das Elend<br />

74<br />

75<br />

76<br />

77<br />

78<br />

79<br />

84 E.P.Thompson: Kamantt.t,<br />

85 P .Anderson: II 7.17""ne,'U.r<br />

Thearie, 5.109<br />

5.59-99<br />

Diskussian Edward<br />

,"M",,';uanncnc Korrespondenz 5.478-488<br />

G-e.ret/SCIJ.att. Studien zu einer kritischen Theorie des<br />

Leseart des<br />

a.a.a.<br />

84 Wi/lfried Spohn


Meine<br />

maschinen·Zeitalters: die AU'""'''I'.'''<br />

Geschichte,<br />

mit dem hal:tniacklge:n<br />

Krise des Marxismus ist so aIt wie die ,u"\."",u,-,u",,<br />

Der »f),


de! Zweiten Internationale - wie etwa Lenins, Lukacs' und Korsch' , und ihre<br />

Losungsvorschlage warfen cine Flllle weiterer, heme debattierter Probleme auf.<br />

In dem eben analysierten Zitat habe ich auch die<br />

Produzenten« Sie konnten uns vermuten dafi Engels auch dne direkte<br />

Dbernahme der Betriebe durch ihre Belegschaften einschloB.<br />

(Die hat ja die anarchosyndikalistische Theorie vorgesehen und ist in der Praxis def Revolutionen<br />

des 20. Jahrhunderts auch so geschehen - iibrigens haufiger aus Motiven der Not als<br />

aus theoretischer Einsicht.) 1m weiteren Text etweisen sich jedoch diese Begriffe als bloB<br />

rhetorische vot dem Genossenschafts-Sozialismus. Dort wiederholt Engels nUf<br />

die Argumentation des »Kommunistischen Manifests« und von 1848:<br />

»Das Proletariat ergreift die Staatsgewalt und verwandelt die Produktionsmittel zuniichst in Staatseigentum.<br />

Aber damit (!) hebt es sich selbst als Proletariat, damit (!) hebt es alle Klassenunterschiede<br />

und Klassengegensatze auf, und damit (!) auch den Staat als Staat. Die bishefige ... Gesellschaft hatte<br />

den Staat niitig, ... namentlich zur gewaltsamen Niederhalmng der ausgebeuteten Klasse ... Indem er<br />

endlich tatsachlich Reprasentant def ganzen Gesellschaft wird, macht er sich selbst u.berfliissig. ...<br />

Der etste Akt, worin der Staat wirklich als Reprasentant def ganzen Gesellschaft auftritt - die Besitzergreifung<br />

def Produktionsmittel im Namen (!) der Gesellschaft - ist zugleich (!) sdn letzter selbstandiget<br />

Akt ais Staat. Das Eingreifen dner Staatsgewalt in gesellschaftliche Verhaltnisse wird auf einem<br />

Gebiet nach dem andern iiberfliissig und schliift dann von selbst (!) dn. An die Stelle der Regierung<br />

iiber Personen tritt die Verwalmng von Sachen und die Leimng von Produktionsprozessen. Der Staat<br />

wird nicht 'abgeschafft', er stirbt abo Hieran 1st ... die Forderung der sogenannten Anarchisten (zu<br />

messen), def Staat solI von heute auf morgen abgeschafft werden.« (S. 261f, Hervorhebungen von Engels)<br />

In dieser Argumentation verbinden sich das jakobinische Vertrauen in die SchOpferkraft<br />

der revolutionaren Staatsgewalt und das naive Vertrauen auf einen Automatismus des nachfolgenden<br />

revolutionaren Prozesses. Immer wo Engels :damit«, »zugleich« und »von selbst«<br />

schreibt - also eine Unaufhaltsamkeit des revolutionaren Prozesses behauptet, untersteUt<br />

er auch, daB die neuen Inhaber der Staatsgewah nicht nur »im Namen«, sondern auch im<br />

realen Interesse »der Gesellschaft« handeln werden. Er unterstellt damit, die Erfahrungen<br />

bisheriger Revolutionen ignorierend, dafi die neuen Machthaber - auch unter dem Druck<br />

aulknpolitischer Pressionen - nicht an einer Zementierung ihrer Herrschaftspositionen interessiert<br />

seien. - Nut ein einziger voluntaristischer Akt, die Ergreifung der Staatsgewalt,<br />

bringt nach dieser Auffassung die historische Wende. Und selbst dieser Akt ist »notwendig«.<br />

Impliziert in dieser Auffassung is! schlieBlich die Vorherrschaft der politischen Panei, die<br />

ja ihrem Begriff nach schon zur Dbernahme der staadichen Gewalt bestimmt ist. Die direkten<br />

Aktionen de! »assoziierten Produzenten« selber wurden dagegen von Marx und Engels<br />

nicht in ihrer revolutionaren Bedeutung erkannt, obwohl seit den 1830erJahren auch<br />

solehe Arbeiterbewegungen zu beobachten waren. Die Erkenntnis ihrer historischen<br />

Bedeutung soUte erst moglich werden mit der Erfahrung der Massenstreik- und Ratebewegung<br />

der tussischen Revolution von 1905. Aus ihr entwickelte Rosa Luxemburg ein<br />

Konzept der Dialektik von okonomischem und politischem Kampf, von den praktischen<br />

Lernprozessen def Basis und der Rolle der ArbeiterparteLl1 Dieses Konzept bot die Chance,<br />

die jakobinischen Revolutionsvorstellungen im Marxismus zu iibetwinden und die Eigentiimlichkeiten<br />

der sozialen Revolution der Arbeiter zu entdecken, die in ihren primaren<br />

Erscheinungsformen nicht auf die politische, sondern auf die sozlale Machtebene zielen.<br />

94 Michael Vester


AnmerRungen<br />

Protokoll des Sozialisten-Kongresses zu Gotha, S. 71, in: • .vorwartsc Nr. 65, 6. Juni 1877 ..<br />

2 Es sind die Kapitel 1. Allgemeines in der Einleitung (Marx-Engels-Werke, Bd. 20, S. 16-26) und<br />

im Dritten Abschnitt Sozialismus die Kapitel 1. Geschichtliches (S. 239-248) und II. Theoretisches<br />

(S. 248-265). Nach der MEW -Ausgabe des .Anti-Duhringc richten sich auch die Seitenangaben in<br />

meinem Text. '<br />

3 Vgl. die Einleitung zu: Friedrich Engels, Herrn Eugen Duhrings Umwalzung der Wissenschaft<br />

(.Anti-Duhring«), Berlin: Dietz Verlag 1959.<br />

4 Eckhard Dittrich, Arbeiterbewegung und Arbeiterbildung, Bensheim: pad.extra buchverlag 1980;<br />

Michael Vester, .Schulungc und .Erfahrungc in dec Entstehungsperiode der deutschen Arbeiterbewegung,<br />

ebendort, S. I-XVII..<br />

5 Shlomo Na'aman, Gibt es einen 'Wissenschaftlichen Sozialismus?' - Marx, Engels und das Verhaltnis<br />

zwischen sozialistischen Intellektuellen und den Lernprozessen der Arbeiterbewegung, hg.<br />

u. eingeleitet von M. Vester, Hannover: SOAK Verlag 1979.<br />

6 Oskar Negt, Oberlegungen zu einer kritischen Lektiire der Schriften von Marx und Engels, in:<br />

a . Negt, Oberlegungen etc. / Oietrich Wetzel, Marxismus an der U niversitiit, Offenbach: Verlag<br />

2000, 1976. - Edward P. Thompson, The Poverty of Theory and Other Essays, London: Merlin<br />

Press 1978, deutsch: Das E.lend der Theorie - Zur Produktion geschichtlicher Erfahtung, Frankfurt:<br />

Campus Verlag 1980, Einleitung von M. Vester.<br />

7 Die Moglichkeiten, eine aktive revoliltionare Arbeiterbewegung, wie sie vor 1849 existiert harte,<br />

wiederherzustellen, waren freilich in England und Deutschland vermutlich begrenzt gewesen. Zuviele<br />

historische Bedingungen wirkten in Richtung eines allgemeineren Immobilismus, einer 'La:<br />

ger' -Mentalitat, fUr eine langere historische Periode. Vgl. Anmerkung 16!<br />

8 MEW, Bd. 23, S. 4<strong>43</strong> f.<br />

9 Karl Korsch, Karl Marx, Frankfurt: Europ. Verlagsanstalt 1967, S. 137 f.<br />

10 a.a.O., S. 132.<br />

11 Rosa Luxemburg, Massenstreik, Partei und Gewerkschaften, Hamburg 1906, Neuauflage in: R.L.<br />

Gesammelte Werke, Bd. 2, Berlin 1972, S. 91-170. ZumJakobinismus bei Marx und Engels siehe:<br />

Karl Korsch, Karl Marx, Frankfurt: Europ. Verlagsanstalt 1967, S. 59 f, 76 f, 82 ff, 181 ff, 212.<br />

12 Die neueren wissenschaftlichen Forschungsergebnisse sind aufgearbeitet in den entsprechenden<br />

Kapiteln von: M. Vester, Die Entstehung des Proletariats als LernprozeB, Frankfurt: Europ. Verlagsanstalt<br />

1970.<br />

13 M. Vester, Edward Thompson und die 'Krise des Marxismus', in: E.P. Thompson, Das Elend der<br />

Theorie (vgl. Anm. 6), S. 24 f. Thompsons .The Making of the English Working Class«, zuerst ecschienen<br />

in London 1963, ist hier zitiert nach der ab 1968 erschienen Pelikan-Ausgabe. Eine deutsche<br />

Ausgabe wird bei der Europaischen Verlagsanstalt vorbereitet.<br />

14 Vgl. Shlomo Na'aman, a.a.O.,<br />

15 Vgl. u.a. Erich Matthias, Kautsky und der Kautskyanismus, in Iring Fetcher (Hg.), Marxismusstudien,<br />

2. Folge, Tubingen 1957, S. 151-197.<br />

16 Zum Begriff des Lagers: Joseph Buttinger, Das Ende der Massenpartei, Frankfurt: Verlag neue kritik<br />

1972 (1. Auf!. Wien 1953 unter dem Titel.Am Beispiel6sterreichs. Ein geschichtlicher Beitrag<br />

zur Krise der sozialistischen Bewegungc); Oskar Negt / Alexander Kluge, 6ffentlichkeit und<br />

Erfahtung, Frankfurt: edition suhrkamp 1972; Bernd Rabe, Der sozialdemokratische Charakter,<br />

Frankfurt: Campus Verlag 1978; Michael Vester, in: Shlomo Na'aman, a.a.O., S. 67 f; Michael<br />

Vester, Was dem Burger sein Goethe, ist dem Arbeiter seine Solidaritat. Zur Diskussion der Arbeiterkultur,<br />

in: 'Asthetik undKommunikation', Heft 24 (1976); Garett Stedman Jones, Kultur<br />

und Politik der Arbeiterklasse in London 1870 bis 1900, in: Detlev Puis (Hg.), Wahrnehmungsformen<br />

und Protestverhalten, Frankfurt: edition suhrkamp 1979.<br />

17 Dieter Groh, Negative Integration und revolutionarer Attentismus, Frankfurt, Berlin und Wien<br />

1973.<br />

Der .DampfMarxismus« lion Friedrkh Engels 101


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wegungen gerade darin zu iiberwinden, daB mit der Freisetzung individueller Entfaltungschancen<br />

im Rahmen selbstbestimmter Kollektivitat gleichzeitig auch ein MaBstab<br />

gelungener oder eben blockierter Emanzipationausgewiesen ware, an dem die empirische<br />

Interaktionsrealitat sozialer Bewegungen kritisch iiberpriift werden konnte.<br />

Anmerkungen<br />

Zur Genese und Durchsetzung des Begriffs der sozialen Bewegung im historischen Reflexionszusammenhang<br />

der Franzosischen Revolution vgl. ausfuhrlich Rammstedt 1978, S. 27 ff.<br />

2 Dies gilt se!bst fur solche Bewegungen, die die Erhaltung des Status quo als ihr Zie! betrachten:<br />

Sie sind in einem wortlichen Sinne »reaktionar«, d.h. sie reagieren auf von ihnen antizipierte Veriindetungen<br />

und Entwicklungen, die sie gleichsam vorbeugend bekampfen,.indem sie die gegebenen<br />

Verhaltnisse und deren Normen projektiv in die Zukunft verlangern.<br />

3 Wilkinson (1974) findet sich in seiner Arbeitsdefinition des Bewegungsbegriffs mit dieser Beliebigkeit<br />

der Bewegungsinhalte ausdriicklich ab: ,.Eine soziale Bewegung ist ein bewuBtes kollektiyes<br />

Bestreben zur Forderung von Veranderung in jeder Richtung und mit allen Mitteln - Gewalt,<br />

Illegalitat, Revolution und RUckzug in eine 'utopische' Gemeinschaft nicht ausgeschlossen.« (S.<br />

27, Hervorhebung von mir)<br />

4 Esgibt wohl heute keinen Diktator, der sich der untetworfenen Bevolkerung gegenUber nicht als<br />

... w"'Exponent einer ';io:dalen Bewegung prasentierte.<br />

5 Zur Problematik der faschistischen Bewegung vgl. unten Anm. 30.<br />

6 Vgl. dazu auch den klassischen Aufsatz von Horkheimer 1968.<br />

7 Rammstedt (1978, S. 33 ff.) hat die verschiedenen Varianten des Bewegungsverstandnisses der<br />

Friihsozialisten insbesondere bei Saint-Simon und bei Fourier differenziert nachgezeichnet, wobei<br />

er in der »Verquickung von sozialer Bewegung mit dem die Soziologie begmndenden Glauben an<br />

die Nicht-Konringenz der kontingenten Entwicklung der Gesellschaft. (S. 29 f.) zugleich den<br />

zentralen Stellenwert dieser Problematik fur die Konstiruierung der Soziologie als Wissenschaft<br />

von den Bewegungsgesetzen der gesellschaftlichen Entwicklung herausarbeitet.<br />

8 Zur pragenden Bedeutung der physikalischen Bewegungsauffassung Newtons fur die »physique<br />

sociale« Saint-Simons vgl. Rammstedt 1978, S. 33 f.<br />

9 Zum Verstandnis von Dialektik als Bewegung und Bewegung als Dialektik bei Hege! und den<br />

Linkshegelianern vgl. ebenfalls Rammstedt 1978, S. 47 ff.<br />

10 Wilkinson (1974, S. 13 f.) wendet sich entschieden gegen einen entsubjektivierten Begriff von 50zialer<br />

Bewegung im Sinne allgemeiner historischer Trends und Tendenzen, wovon »se!bstermachtigte«<br />

soziale Bewegungen klar abzugrenzen seien. Dem ist grundsatzlich sicherlich zuzustimmen.<br />

Dennoch ist gegen eine allzu scharfe Ausgrenzung dieses Bedeutungsaspekts zu bedenken, in "(e!chern<br />

AusmaB es auch zuni. Selbsrverstandnis »se!bstermachtigter« Bewegungen gehort, sich<br />

gleichsam im Einklang mit »objektiven«, sich langfristig ja ohnehin durchsetzenden gesellschaftlichen<br />

Entwicklungstendenzen zu wissen - dn Problem, das (wie noch zu zeigen ist) auch im Marxschen<br />

Umgang mit dem Bewegungsbegriff vitulent ist. In diesem Sinne scheint mir eine grundlegende<br />

Ambivalenz des Begriffs der sozialen Bewegung gerade darin zu liegen, daB er trotz seiner<br />

nachdmcklichen Betonung des Subjektcharakters gesellschaftlicher Veranderung eben auch objektivistisch<br />

interpretiert werden kann, daB er also die widerstrebenden Momente von Intentionalitat<br />

und Determiniertheit kollektiven Handelns gleichzeitig miteinander verbinden und gegeneinander<br />

auszuspielen vermag.<br />

·,·11· -Diesen Aspekt der Herausbildung einer einheitsstiftenden Ideologie als konstitutives Merkmal so'<br />

zialer Bewegungen betont Heberle (1968), wobei der Ideologiebegriffhier freilich nicht im marxistischen<br />

Verstandnis als notwendig falsches BewuBtsein, sondern in der allgemeineren Bedeutung<br />

eines Ubergreifenden, partikulare Wertpriimissen universalisierenden Sinnsystems vetwendet<br />

wird.<br />

122 Rainer Paris


umfassende materialistische n.e,,,,,,, •. 'Y""<br />

dazu, bezogen auf die "'"


31<br />

32<br />

33<br />

34<br />

35<br />

36<br />

37<br />

sche Bewegung, die als sozialer Tatbestand nicht langer verdrangt werden durfe und insofern<br />

rucht nur Anwendungsfall, sondern auch Prufstein dner Theoriesozialer Bewegungen sei: .Sich<br />

mit sozialer Bewegung zu beschaftigen hellit, sich smndig die. faschistische Bewegung zu vergegenwartigen,<br />

wie es, vice versa, der Kenntnis sozialer Bewegung bedarf, um die faschistische in ihren<br />

Besonderheiten fassen zu konnen.« (Rammstedt 1978, S.9) Den hier erhobenen Anspruch,<br />

das Besondere der faschistischen Bewegung herauszuarbeiten, lost Rammstedt indes nicht dn:<br />

Stattdessen beschrankt er sieh darauf, die Nicht-Identitat bzw. den latenten Gegensati von Pattei<br />

und Bewegung vor und nach 1933 zu betonen sowie den Funktionswande! nachzuzeichnen, den<br />

die faschistische Bewegung als Haupttrager der Xsthetisierung der Politik in der Transformation<br />

zur »Volksgemeinschaftc durchlaufen hat (S.12ff.). Wenn es aber richtig ist, rur den Faschismus in<br />

seinen verschiedenen Phasen gerade ein Nebeneinander von mobilisierender Enrfalrung und repressiver,<br />

oft sogar terroristischer Neutralisierung von Bewegungsmomenten zu konstatieren, .s().<br />

verliert damit der Hinweis auf die faschistische Bewegung als Gegenevidenz lur Vorstellung einer<br />

wie immer implizit sozialistischen Orientierung sozialer Bewegungen vie! von seiner ursprunglichen<br />

Plausibilitat: Als »schiefer Statthalter def Revolutionc (Bloch) beruhte die faschistische Bewegung<br />

einerseits ja gerade auf der -; mitunter durchaus ambivalent gebliebenen - Insttumentalisierung<br />

und Zie!vetschiebung bestimmter kollektiver Ausdrucks- und Interaktionsformen der Arbeiterbewegung<br />

und deren Aufbereitung rur die desorientierten Mitte!schichten; zum anderen wurde<br />

sie jedoch dem Kalkul der faschistischen Machtpolitik stets bedingungslos untergeordnet und<br />

blieb an deren Direktiven gebunden. Gerade auf dieses Spannungsverhaltnis von Eigendynamik '.<br />

und Au6ensteuerung hatte sich eine Untersuchung der empirischen Interaktionsrealitatderver: ,,·····1<br />

sch1edenen faschistischen Bewegungsorganisationen zu konzentrieren; erst in einer solchen Differenzierungsperspektive<br />

erscheint es moglich, die Frage nach der Besonderheit der faschistischen<br />

Bewegung jenseits ihrer eigenen Propaganda analytisch zu prazisieren.<br />

Wobei Rammstedt folgende Bewegungsdefrnition zugrunde!egt: .Unter sozialer Bewegung soll<br />

ein Proze6 des Protestes gegen bestehende soziale Verhaltnisse verstanden werden, ein Proze6, der<br />

bewtillt gettagen wird von einer an Mitgliedern wachsenden Gruppierung, die nichtformal orga'<br />

nisiert zu sein braucht.« (Rammstedt 1978, S.130) - 1m Text nicht naher spezifizierte Seitenangaben<br />

beziehen sich ira folgenden auf die Arbeit Rammstedts.<br />

Wie er vor allem in den einschlagigen Arbeiten von Offe (1972) und Habermas (1973, bes. S.9ff.)<br />

ausgearbeitet worden ist.<br />

Zum hier vetwendeten Ideologiebegriff vgl. oben Anm. II.<br />

DaB die Herausbildung dner expliziten politischen Fuhrung entgegen allen rechten oder linken<br />

Varianten von Verschworer- und Rade!sfiihrertheorien ein re!ativ spates Entwicklungsprodukt 50zialer<br />

Bewegungen darstellt, ist auch durch verschiedene historische Untersuchungen zur Entstehung<br />

und Struktur von Massenbewegungen (vgl. z.B. die Atbeiten von Hobsbawm 1962 und Rudf<br />

1977) hinreichend be!egt. - Ein interaktionstheoretischer Versuch zur Beschreibung der Fuhrungssttukturen<br />

von Massenbewegungen findet sich ira Anschlu6 an Rude bei Edelman 1976,<br />

S.121ff.; zur allgemeineren Diskussion dieses Ansatzes vgl. auch Honneth/Paris 1979 .<br />

• Mit der Quasi-Professionalisierung der sozialen Bewegung wird die Avantgarde zum Gralshuter<br />

der Bewegungszie!e. Sie entscheidet uber die Bewegung der Bewegung, also uber die Aktionen,<br />

die die Bewegung ihrem Ziel nwer bringen sollen. Die unmitte!bare Beziehung der Motive der je<br />

einze!nen zum Zweck der Bewegung, die Interdependenz zwischen beiden, ist verloren; dem einze!nen<br />

bleibt nur noch, sich den Anweisungen der Avantgarde zu rugen, indem er diese Anweisungen<br />

als den Gesetzen der Entwicklung gemaB perzipiert - und darnit akzeptiert, daB ihm die<br />

Einsicht in diese Gesetze vetwehrt ist.« (S.210)<br />

Rammstedt ni.tn,mt sogar an, daB dies der Fall sein m!l/S, darnit soziale Bewegungen .sich ...... ".- .............. .<br />

haupt entwicke!n: .ware die GesetzmaBigkeit des Prozesses bekannt, so ware die Bewegung der<br />

Bewegung gefiihrdet.« (S.128) - Meine folgende, gerade die Se!bstreflexionschancen innerhalb<br />

der Bewegung akzentuierende Argumentation bestreitet diese Auffassung Freilich diametral.<br />

Ich gehe auf die Diskussion jener Zerfalls- oder Seitenprodukte sozialer Bewegungen hier nicht<br />

SozitJle Bewegung und Olfentlichkeit 125


tiativen<br />

S. 156) in dieser schematisch erscheint: Inwieweit sich die reale<br />

sierungsdynamik von Biirgerinitiativen tatsachlich nur auf def Achse eines grundsatzlich systemkonformen<br />

Einklagens von bewegt und darauf beschrankt bleibt, ist fur<br />

mich eine theoretisch und durchaus noch unentschiedene Frage.<br />

38 Was auf den zweiten Blick zu korrigieren ware: Auch die Wirksamkeit der Gegenmailnahmen<br />

und Reptessionen des Systems ist ja def Sache nach davon abhangig, inwieweit die jeweiligen<br />

Funktionstraget die ihnen Aufgaben auch tatsachlich systemloyal interpretiefen<br />

und entsprechend ausfuhren - Voraussetzung, die gerade in gesellschaftlichen Umbruchsituationen<br />

sich oftmals als durchaus bruchig erweist.<br />

39 So wird def Aspekt def Konsensbildung innerhaJb der Bewegung bei Rammstedt allenfalls punktuell,<br />

erwa im der Eingangsphase der BewuBrwerdung def Krisenfolgen<br />

(S.140/148f.) angesprochen; eine systematische Berucksichtigung dieser Dimension ist in det<br />

Rammstedt'schen Modellkonstruktion jedoch weitgehend ausgeschlossen.<br />

40 Zu verweisen ware in diesem Zusammenhang erwa auf die ausfuhrliche Diskussion, die im Rahmen<br />

der Frauenbewegung urn die besonderen Modalitaten der Einrichtung von Frauenhausern gefuhrt<br />

worden ist.<br />

41 Auch das Problem def internen Stratifizierung sozialer Bewegungen ware unter diesem Blickwinkel<br />

neu zu iiberdenken. Wahrend Rammstedt in seiner Charakterisierung sozialer Bewegung als<br />

biirgerlicher Verhaltensform im AnschluB an Horkheimer (1968) davon ausgeht, dail im rypischen<br />

Verlauf sozialer Bewegungen die Verfolgung det Freiheit als Handlungsziel stets in einen norwendigen<br />

Gegensatz zur beschworenen Gleichheit gerate (S.109), ein Zugewinn an Freiheit also immer<br />

nur auf Kosten von Gleichheit realisiert werden kanne, beharrt das Offentlichkeitskonzept<br />

grundsatzlich auf der prinzipiellen Gleichheit der Kommunikationspartner aJs Voraussetzung jedef<br />

wirklichen Konsensbildung. Dies vertragt sich iibrigens durchaus mit der Analyse Horkheimers,<br />

die Rammstedt m.E. iiberinterpretiert, wenn er die dort aufgezeigten Widerspruche sozialer<br />

Bewegungen im historischen Konstitutionsprozeil biirgerlicher Herrschaft zum Wesensmerkmal<br />

sozialer Bewegungen iiberhaupt erklatt. So diskutiert Horkheimer erwa die Bedeutung von Massenversammlungen<br />

im Rahmen biirgerlicher Revolutionen gerade untet dem Aspekt der Nichtrealisierung<br />

der Offentlichkeitsnorm zugunsten einer ausschlieBlich rituellen Mobilisierung der Massen,<br />

die auch weiterhin von den gesellschaftlich relevanten Entscheidungsprozessen ausgeschlossen<br />

bleiben (vgl. Horkheimer 1968, S.39f.). In dieser Untersuchungsperspektive verschiebt sich<br />

das Problem dnes latenten Gegensatzes von Freiheits- und Gleichheitsanspruchen wesentlich auf<br />

die Frage des Verhaltnisses von Ritualen und Offentlichkeitsformen: Erst die rituelle AuBerkraftsetzung<br />

von Offentlichkeit ermaglicht die Etablierung neuer Herrschaftsverhaltnisse. Damit soli<br />

im iibrigen die Bedeutung des Rituals als gleichsam emotionales Ferment sozialer Bewegungen<br />

nicht hetuntergespielt werden (vgl. dazu auch Hobsbawm 1962, S.197ff.); Rituale und Offentlichkeitsformen<br />

konnen in sozialen Bewegungen durchaus miteinander koexistieren. Eine problematische<br />

Enrwicklung tritt erst an der Stelle ein, wo beide Interaktionsweisen systematisch miteinander<br />

vermischt werden, wo also in def Ritualisierung def Offentlichkeit die Keimform des Entstehens<br />

neuer sozialer Ungleichheit gelegt wird.<br />

42 2ur wissenschaftstheoretischen Aufhebung der Werturteilsproblematik bzw. ihre Riickbindung<br />

an Grundprinzipien einer .kommunikativen Minimalethik« vgl. Apel1973, bes. S.227ff.<br />

<strong>43</strong> Zur Offentlichkeitsdimension des Protestbegriffs vgl. auch die etymologische Bemerkung bei<br />

Klaus Heinrich 1964, S.109: »Protestafi, in def alten gerichtlichen Bedeutung des Wortes, heiilt:<br />

das Schweigen vor Zeugen brechen, damit Schweigen nicht als Zustimmung miildeutet wird. Protestari<br />

heiilt sich zur Wehr setzen gegen ein verstrickendes Schweigen. Der Protestierende, der das<br />

zweideutige Schweigen dutch eindeutig machende Rede bricht, demonstriert nicht bloB eine Sache,<br />

sondern zugleich 'flir' Sprache.«<br />

44 An dieser Stelle ist einem weit verbreiteten MiBverstandnis vorzubeugen, namlich der Annahme,<br />

126 Rainer Paris


Hildegard Heise<br />

Keitl Ausweg<br />

Zur Kritik utopistischer RetJolutionstheorien<br />

(I)<br />

Die seit iangerer Zeit laufende Debatte um die Aussagefahigkeit oder Erneuerungsbedurftigkeit<br />

der marxistischen Theorie - als Resonanz der 'Krise des Marxismus', wie Althusser<br />

den Einbruch in die Glaubwiirdigkeit des Marxismus-Leninismus benannte - hat neben<br />

den Bemuhungen der Rekonstruktion und Bekraftigung meer essentiellen Bestimmungen<br />

auch erneut Ansatze hervorgerufen, die sich durch die Verwerfung fundamentaler Bausteine<br />

dieser Wissenschaft auszeichnen. Insbesondere mehren sich die Stimmen, die zum einen<br />

an dec von Marx wissenschafclich begrundeten Kompetenz der Arbeiterklasse - namlich<br />

sozialer Trager des Umwalzungsprozesses der burgerlichen Gesellschaft zu sein - zweifeln<br />

uiidroder die zum anderen das unmitte1bare Produkt dec Arbeiterklasse, die groGe lndustrie,<br />

als der freien Assoziation entgegenstehend ansehen. Die politische Starke dieser Positionen<br />

ist in dem Umstand begrundet, daG die lange Lebensepoche der burgerlichen Gese1lschaft<br />

und somit die Enrwicklungsfahigkeit def kapitalistischen Produktionsweise sowie<br />

die vorfindlichen Verhaltnisse de! sogenannten 'real-sozi3listischen' Lander die Aussicht<br />

auf einen historisch-gesicherten Aufbau dec freien Organisation der Produzenten, del:'<br />

kommunistischen Gesellschaft, als zweifelhaft erscheinen lassen. Der Ausweg aus dem Dilemma<br />

wird in der Abkehr von der kapitalistischen Produktionsweise und ihren immanenten<br />

Bedingungen gesucht und als voluntaristischer Akt revolutionstheoretisch konzipiert,<br />

ohne sich um die historisch je gegebenen sozialokonomischen Ausgangsbedingungen -<br />

hier wie dort - weiter zu kUmmern. Solche Wendungeii tragen nicht zur Weiterentwicklung<br />

dec wissenschafclichen Aneignung dec Gesellschaft bei, sondern im Gegenteil stiften<br />

sie aufgrund mangelhafter Aufnahme der inneren Struktur der kapitalistischen Produktionsweise<br />

nur zunehmende Verwirrung. Eine unzureichende Beachtung des Kerns der<br />

burgerlichen Gesellschaftsformation fUhrt notwendig zu falschen Schlussen hinsichclich<br />

des politischen Wegs ihrer tlberwindung sowie des Aufbaus der neuen Gesellschaft.<br />

Meine tlberlegungen seien anhand der Besprechung eines diesbezuglich verflachten Ansatzes<br />

aufgerollt, um zum einen plastischer die Scharnierstellen - die die kontraren politischl<br />

theoretischen Bahnen ebnen - herauszuarbeiten und um zum anderen eine der aus meiner<br />

Sicht abwegigsten Revolutionskonzeptionen eingehender zu kritisieren. Dies halte ich fUr<br />

erforderlich, da durch die Krise des Marxismus scheinbar alles in Bewegung geraten ist, so<br />

daG fundamental differierende Ansatze wee Begrundung im Rahmen der marxistischen<br />

Theorie suchen und dort abzusichern vermeinen. In der Tat: Es ist vieles, abet nicht alles in<br />

Bewegung geraten. Daher muG in expliziten, weit aufgefacherten Auseinandel'setzungen<br />

das Terrain neu abgesteckt werden - die stereotype Wiederholung von Standardargumentationen<br />

des Marxismus, auch wenn leicht modifiziert vorgetragen, umspringt nur die<br />

Klippen, die es zu bewaltigen gilt. Einem Vereinigungs- oder auch bloG AnnaherungsprozeG<br />

der Einschatzungen ist dadurch nicht gedient.<br />

Kein Ausweg 129


130 Hildegard Heise


131


132


134


Ausweg 135


.136


Kein Attsweg 137


estimmt, urn als untergeordnete 'Bundnispartner' de! Arbeiterbewegung, der vermeintlich<br />

an und fUr sich das kommunisttsche Ziel als historische Wahrheit gegeben ist, beizuc<br />

springen, sondeen urn die Inbesitznahme der vielfaltig verwobenen, verkehrten Verhaltnisse<br />

- unter der Determination des kapitalistischen Systems - entsprechend vielfaltig,<br />

aber zugleich entsprechend determiniert, was den sozialen Trager angeht, in Gang zu setzen<br />

und in Gang zu halten. Diese Klassen milssen diese Rolle spielen; urn die Ausschopfung<br />

der Moglichkeiten, die die sozialokonomischen Bedingungen nach der Sprengung des<br />

Kapitalverhaltnisses in sich bergen, durch die Konstitution einer giinstigen Form - des 'demokratischen<br />

Wegs' - einzuleiten bzw. vorzubereiten.<br />

Nur die grundliche Anschauung der gesellschaftlichen Verhaitnisse, vorweg der kapitalistischen<br />

Produktionsweise, ebnet den Weg zur ZUrUcknahme der vielschichtigen Verselbstandigungen<br />

gesellschaftlicher Beziehungen - ein Alleingang dagegen, in dem im emphatl.<br />

schen VorstoB die wesentlichen Verhaltnisse 'links' liegen gelassen werden ( entweder in der<br />

Form von Traumen uber eine Ruckstufung der gesellschaftlichen Produktion auf vorindust!ielle<br />

Bedingungen oder in der Form des Austauschs des revolutionaren Tragers), wird<br />

nur zu verstarkter Ohnmacht gegenuber der Dberlebensfahigkeit der sich reproduzierenden<br />

Gesellschaftsformation und spater ihrer Relikte, der verkehrten und verselbstandigten<br />

Formen, fUhren.<br />

Anmerkungen:<br />

Von Alexa Mohllege ich ihren Aufsatz »'Wissenschaftlicher Sozialismus', was ist das?, erschienen<br />

in der Zeitschrift PROKLA Nr. 36, Berlin 79, S. 77ff, zugrunde. Die Seitenzahlen in Klammern<br />

beziehen sich auf diese Schrift.<br />

2 Wie die bisher erfolgte Besprechung des Ansatzes von Mohl deutlich gemacht haben diirfte, ergeben<br />

sich die theoretisch-politischen Differenzen nicht aus der Frage, welchen Stellenwert sonstige<br />

gesellschaftliche Verhaltnisse der biirgerlichen Formation fur die Entwicklung der BewuBtseinsformen<br />

einnehmen. Auch bewegt sich Mohl nicht, dies sei unmillverstandlich klargestellt, auf der<br />

Ebene der Diskussion von 'Klassenfrage versus Gattungsfrage' . Da die Autorin sich allein auf die<br />

Diskussion de! kapitfllistischen Produktionsweise und deren Beziehung zur 'Emanzipationskonzeprion'<br />

beschrankt, fUhrt sie die strittige Frage auf den Kernpunkt zuriick. Es ist mr daher auf<br />

dieser Ebene zu begegnen.<br />

3 Wo im 'Kapital' etwas anderes durchscheint, ist dies nach Mohl damit zu erklaren, daB »Marx selber<br />

dec von ihm so angeprangerten Verkehrung von Subjekt und Objekt innerhalb der biirgerlichen<br />

Gesellschaftsordnung in manchen Formulierungen nicht entgangen« ist. (103)<br />

4 Ich habe an anderer Stelle gezeigt, daB die Zurucknahme der zentralen Verkehrung der kapitalistischen<br />

Produktionsweise nicht identisch mit Kommunismus ist. Vgl. Hildegard Heise, »Ursprung<br />

der neuen Gesellschaftsformation - Kritik einer deterministischen Geschichtskonstruktione,<br />

Hamburg 1981.<br />

5 Ein iihnlich schematisches Denken zeigt sich in folgender Aussage: »Da relative Verelendung immer<br />

mit einem steigenden Reallohn vereinbar ist, begriindet diese Theorie nicht mehr die objektive<br />

Notwendigkeit ,die die Ausgebeuteten zu systemtranszendierendem Handelnzw:ingen \!;Qn1k<br />

teo Denn hier bezeichnet man als Verelendung, was als solche subjektiv nicht empfunden werden<br />

kann, das vielmehr als Resultat einer komplizierten und oft dubiosen statistischen Rechnerei prasentiert<br />

wird.« (87) Werden je nach Belieben die Widerspruche ausgeblendet, kann man nariirlich<br />

die Bedeutung der relativen Verelendung nicht fassen.<br />

Kein Ausweg 139


1<strong>43</strong>


145


Die KPF


KPF zwischen 151


Die 153


KPF 155


156


Die


158 Etienne Ba/ibar


10 1964 wurde aus dec christlkhen Gewerkschaft CFFC die klassenkiimpferische CFDT.<br />

11 Gemeint ist Georges Matchais, GeneraIsekeetar dec KPF. Die noch aus den fUnfzigerjahren bekannte<br />

Anrede des ParreifUhrers mit dem Vornamen (damals: .Maurice.) soil eine Vertraulichkeit<br />

vortauschen, die,die realeXluft zwischen Basis und Fiihrung iiberdeckt.<br />

12 In Frankreich sehr bekannte fortschrittliche Arzte. Nach dem Skandai von Montigny vetoffentlichten<br />

sie einen Text, in dem sie auf die Unzulariglichkeiten dec Anti-Orogen-Propaganda der KPF<br />

hinwiesen und erklarten, daB in Frankreich der Alkoholismus weit gefahrlicher sei.<br />

13 Schriftsteller, dessen Sohn drogenabhangig und Mitglied einer »Jugendsekte« war. Nach dem<br />

,.freiwilligen« Hungertod seines Sohnes denunzierte Ikor in einem Buch die Praktiken der .Jugendrdigionen«.<br />

14 .Global positive Bilanz«: offizielle Formuliemng def KPF zue Einschatzung des .realen Sozialismus«.<br />

'15 1976 fand der 22. Parteitag dec KPF sratt.<br />

16 Siehe: Louis Althusser, Die Krise des Marxismus, Hamburg 1978, S. 80 ff.<br />

17 Siehe: E. Baiibar, G. Bois, G. Labica,J.-P. Lefebvre, OUllronslafenetre, camqrqdes!, Paris 1979<br />

(vgJ. <strong>Prokla</strong> 36, S. 28 ff.). .<br />

18 In diesem Winter durchgebrachtes Gesetz der Regierung Giscard/Batre, das durch eine Reihe von<br />

Generalklauseln, Gefangnisstrafen und Schadensersatzfordemngen gegen Demonstranten, Plakatekleber,<br />

politische Aktivisten usw. ermoglichen 5011.<br />

19 Minister fur Auslanderfragen in dec Regiemng Giscatd/Barre; verantwortlich fur die willkiirliche<br />

.... Ausweisungspraxis ..<br />

20 In Frankreich kann nur wahlen, wer sich in besonderen Wahlerlisten eingetragen hat. Ende 1980<br />

organisierte die KPF in einigen Pariser Vororten eine Kampagne, bei dec Gemeindebeamte vor<br />

den Betrieben und in den Wohnblocks ,.Eintragungen« vornahmen. Auf Antrag der Regiemng<br />

wurden diese Eintragungen jedoch vom Staatsradur ungiiltig erklart.<br />

21 Nach den Ereignissen von Vitry hatten die KPF-Gemeinderate in Rennes plotzlich ilite JJnterstiitzung<br />

filr die Einrichmng eines islamischen Kultutzentrurns in dies!:! Stadt zuriickgezogen. Auf.<br />

gmnd einet U ntetschriftenaktion in den ortlichen KPF-Gmppen muBte dieser BeschluB dann abet<br />

wieder riickgangig gemacht werden.<br />

160 Etienne Balibar

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