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Ästhetische Aneignung als Selbstverwirklichung des Individuums

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Hartmut Kapteina<br />

<strong>Ästhetische</strong> <strong>Aneignung</strong> <strong>als</strong> <strong>Selbstverwirklichung</strong> <strong>des</strong> <strong>Individuums</strong><br />

Vorab ein Beispiel:<br />

Bei einem erziehungswissenschaftlichen Kongreß wurden uns Videoaufzeichnungen aus einem<br />

Forschungsprojekt vorgeführt, bei dem Methoden der Frühförderung evaluiert werden<br />

sollten. Es wurde gezeigt, wie die Psychologen 1 einem Kind beibringen wollten, ihnen auf<br />

Zuruf einen Gegenstand zu reichen oder zuzuwerfen. Der Gegenstand, den die Kollegen für<br />

diese Übung ausgewählt hatten, war eine Rassel. Das Kind weigerte sich, sie aus der Hand zu<br />

geben, und die Therapeuten vermerkten, das Kind sei noch nicht in der Lage, die gestellte<br />

Aufgabe zu erfassen und zu lösen.<br />

Dabei war ihnen entgangen, daß das Kind mit etwas anderem und viel naheliegenderem befaßt<br />

war: man konnte deutlich erkennen, wie es den Klängen der Rassel lauschte, wie es das<br />

Instrument behutsam bewegte, um die Klänge zu verändern und in einen musikalischen Ablauf<br />

zu bringen. Das Kind hatte die Situation adäquat erfaßt, und die Erwachsenen hatten etwas<br />

entscheiden<strong>des</strong> übersehen oder überhört, was dem Kind noch unverfälscht und spontan<br />

mit seinen Sinnen zugänglich war: daß nämlich eine Rassel ein Musikinstrument, und <strong>als</strong> solches<br />

ein Material ästhetischer <strong>Aneignung</strong> ist und kein Gegenstand praktischer <strong>Aneignung</strong>,<br />

wie etwa ein Ball oder ein anderes Wurfgeschoß.<br />

Unter <strong>Aneignung</strong> (Kagan 1974, 13) verstehe ich alle Formen, mit denen der Mensch die<br />

Wirklichkeit erlebt, erfaßt, erkennt, versteht, ihr begegnet, sie verändert, gestaltet usw.<br />

Wir unterscheiden praktische <strong>Aneignung</strong> (Sie geschieht nach den Kriterien „geeignet / ungeeignet“<br />

<strong>als</strong> Handlung an Gegenständen, z.B. Beeren suchen, ein Haus bauen usf. Man wendet<br />

sich der Wirklichkeit zu, geht mit ihr entsprechend den eigenen Bedürfnissen um und<br />

wendet dabei Körperkraft und Werkzeuge an.),<br />

ethische <strong>Aneignung</strong> (Sie geschieht nach den Kriterien „gut / böse“ in der Gestaltung der Beziehungen<br />

<strong>des</strong> Menschen zu seiner Umwelt, insbesondere zu seinen Mitmenschen. Sie bezieht<br />

sich auf Normen und Werte, die der Mensch sich im Laufe seiner Sozialisation zu eigen<br />

macht.),<br />

theoretische <strong>Aneignung</strong> (Sie geschieht nach den Kriterien „richtig / f<strong>als</strong>ch“ <strong>als</strong> Erkennen der<br />

Wirklichkeit und bedient sich semantischer Zeichen, z.B. Sprache, Zahlen, Hinweisschilder<br />

etc, mit deren Hilfe eindeutig begrenzte Vorstellungsausschnitte der Wirklichkeit ins Bewußtsein<br />

gerufen werden können, wie es beim Denken geschieht oder im Gespräch mit anderen.<br />

Solch ein semantisches Zeichen ist z.B. das Wort „Tisch“. Es ist so eingegrenzt, daß wir ein<br />

Ding unserem Denken und unserer Vorstellung verfügbar haben, mit dem wir planend oder<br />

erinnernd umgehen können ohne es physisch vor uns zu haben. Voraussetzung dafür ist, daß<br />

wir z.B. einen Tisch vorher schon einmal gesehen, daß wir ihn uns <strong>als</strong>o zuvor praktisch angeeignet<br />

haben. Zwischen dem Zeichen und seinem Bedeutungsinhalt besteht ein willkürlicher<br />

Zusammenhang. Das Ding „Tisch“ könnte z.B. auch anders heißen.).<br />

<strong>Ästhetische</strong> <strong>Aneignung</strong> geschieht <strong>als</strong> Sinnes- und Geistestätigkeit nach den Kriterien „schön<br />

/ häßlich“ und bedient sich ästhetischer Zeichen (bildnerischer, musikalischer, szenischer,<br />

tänzerischer oder auch sprachlicher, dann aber kunstsprachlicher, Gestaltungen). <strong>Ästhetische</strong><br />

Zeichen werden <strong>als</strong> Gegenstand sinnlicher Erfahrung (griech. „aisthesis“ = Wahrnehmung,<br />

1 Berufsbezeichnungen werden in diesem Text stets in der männlichen Form gegeben; dabei sind die Vertreterinnen<br />

der jeweiligen Berufsgruppe grundsätzlich mit gemeint.<br />

1


Sinneseindruck, Empfindung) und <strong>als</strong> Gegenstand geistiger Reflexion erlebt. Sie fassen auf<br />

einzigartige Weise zusammen, wie der Mensch die Gesamtheit seiner Existenz erlebt; insofern<br />

stehen sie für sich selbst und haben keinen anderen Zweck außer dem, <strong>als</strong> Gegenstand<br />

geistigen und sinnlichen Erlebens zu dienen (vgl. Kagan 1974, S. 105 ff).<br />

Es ist hervorzuheben, daß diese Unterscheidung verschiedener <strong>Aneignung</strong>sweisen zunächst<br />

rein theoretischer Natur ist; in der Wirklichkeit sind sie vielfältig miteinander verbunden und<br />

überlagert. Es ist aber dennoch hilfreich, sie einmal voneinander getrennt zu betrachten und<br />

damit Orientierungsmöglichkeiten zu schaffen, die helfen, die Vielschichtigkeit menschlicher<br />

Kommunikation und Interaktion besser zu verstehen.<br />

Im oben geschilderten Beispiel mißverstehen die Psychologen das Kind, weil sie <strong>des</strong>sen ästhetische<br />

<strong>Aneignung</strong>, die im Horchen auf die Klänge, im Spüren der Bewegung und im<br />

Wahrnehmen <strong>des</strong> klanglich-zeitlichen Ablaufs (sinnlicher Kontakt) sowie im, wenn auch nur<br />

vorbewußten, Erkennen der Klänge, ihrer Eigenschaften in Tempo, Lautstärke und Klangfarbe,<br />

ihrer Relation zum eigenen Muskeltonus und zur eigenen Motorik, zur eigenen Bewegung<br />

und ihrer Qualität <strong>als</strong> Ausdruck innerer Regung (kognitive Aktivität) deutlich wird, <strong>als</strong> praktische<br />

<strong>Aneignung</strong> fehldeuten und unter den für diese gültigen Kriterien „geeignet / ungeeignet“<br />

bewerten.<br />

praktische <strong>Aneignung</strong><br />

geschieht mit Hilfe von Werkzeugen und Körperkraft<br />

„geeignet / ungeeignet“<br />

theoretische <strong>Aneignung</strong><br />

geschieht mit Hilfe von semantischen Zeichen<br />

(Sprache, Zahlen, Hinweisschilder)<br />

„richtig / f<strong>als</strong>ch“<br />

ästhetische <strong>Aneignung</strong><br />

geschieht mit Hilfe von ästhetischen Zeichen<br />

„schön / häßlich“<br />

Die Aktionen <strong>des</strong> Kin<strong>des</strong> sind weder Handlungen im Sinne praktischer <strong>Aneignung</strong> (zureichen<br />

oder zuwerfen), noch solche theoretischer <strong>Aneignung</strong> (eine Aufgabenstellung richtig verstehen)<br />

sondern ästhetische Zeichen. Und denen kann man auf der Ebene praktischer <strong>Aneignung</strong><br />

nicht gerecht werden sondern nur auf der Ebene ästhetischer <strong>Aneignung</strong>; in diesem Falle hätten<br />

die Psychologen entweder zuhören (die ästhetischen Zeichen rezipieren) oder mit musizieren<br />

oder zu den Rhythmen <strong>des</strong> Kin<strong>des</strong> sich bewegen oder tanzen (<strong>als</strong>o dem ästhetischen Zeichen<br />

<strong>des</strong> Kin<strong>des</strong> eigene ästhetischen Zeichen hinzufügen und damit ein gemeinsames ästhetisches<br />

Zeichen herstellen) können. Statt <strong>des</strong>sen bleiben sie auf der praktischen und theoretischen<br />

<strong>Aneignung</strong>sebene und würdigen dementsprechend die Aktionen <strong>des</strong> Kin<strong>des</strong> <strong>als</strong> unbrauchbar<br />

im Sinne ihrer Aufgabenstellung und diagnostizieren theoretisches Unvermögen.<br />

Sie erkennen auch nicht, daß die Aufgabe, die sie dem Kind stellten, in sich widersprüchlich<br />

ist und das Kind in eine unlösbare Konfliktsituation bringt: die verbale Anweisung („wirf<br />

her!“) appelliert an das praktische <strong>Aneignung</strong>svermögen, der Einsatz der Rassel hingegen,<br />

eines Musikinstruments und damit eines Materi<strong>als</strong> der ästhetischen <strong>Aneignung</strong>, appelliert an<br />

das ästhetische <strong>Aneignung</strong>svermögen. Das Kind folgt dem stärkeren ästhetischen Appellwert<br />

<strong>des</strong> Musikinstruments und bringt sein ästhetisches <strong>Aneignung</strong>svermögen zur Geltung; ande-<br />

2


enfalls hätte es die Rassel mißbräuchlich einsetzen müssen. Hätten die Psychologen das verstanden,<br />

so wäre ihr Gutachten anders ausgefallen. Sie hätten festgestellt, daß das Kind sehr<br />

sensibel und differenziert auf Klänge zu reagieren vermag, gute rhythmische Fähigkeiten besitzt<br />

sowie über beachtliche musikalische Kreativität verfügt.<br />

<strong>Ästhetische</strong> Zeichen besitzen eine grundsätzlich andere Qualität <strong>als</strong> die Werkzeuge der praktischen<br />

<strong>Aneignung</strong> oder die semantischen Zeichen der theoretischen <strong>Aneignung</strong>. Die besondere<br />

Qualität ästhetischer Zeichen hat der tschechische Philosoph Jan Mukarovský mit drei<br />

Merkmalen gekennzeichnet (1971, S. 127 ff):<br />

(1) Sie bilden die „Wirklichkeit<br />

<strong>als</strong> Ganzes ab“ ...<br />

Das heißt, sie sind ,,Gefäße",<br />

in denen prinzipiell alle Aspekte<br />

der Wirklichkeit enthalten<br />

sind.<br />

(2) nach der „Einheit <strong>des</strong><br />

Subjekts unifiziert“ ...<br />

Das heißt, die Wirklichkeit<br />

<strong>als</strong> Ganzes erscheint in der<br />

subjektiven Sichtweise<br />

<strong>des</strong> <strong>Individuums</strong>, das die<br />

Zeichen hervorbringt oder<br />

rezipiert.<br />

(3) sie „zielen auf eine vereinheitlichende<br />

Verhaltensweise.“<br />

Das heißt, sie präsentieren eine<br />

bestimmte Verhaltensweise der<br />

Wirklichkeit gegenüber und<br />

provozieren Verhaltensweisen,<br />

z.B. Hingabe oder Abwehr.<br />

zu (1): In der Improvisation <strong>des</strong> Kin<strong>des</strong> auf der Rassel ist nicht nur die Gesamtheit seiner gegenwärtigen<br />

Gestimmtheit enthalten, sondern das rhythmische Erleben aller Menschen zu<br />

allen Zeiten und in allen nur denkbaren Situationen; es reflektiert das Phänomen Rhythmus -<br />

Urphänomen alles Seins -, verstreichende Zeit, Spannungsverläufe (das Auf und Ab <strong>des</strong> Lebens),<br />

Beziehungsphänomene; endlos mehr wäre zu nennen, was man <strong>als</strong> Bedeutngsinhalte in<br />

diesen kleinen Musikvorgang hineinlegen oder aus ihm heraushören könnte. Er öffnet einen<br />

universalen Vorstellungsraum, in den Hörer und Spieler nach Belieben füllen können.<br />

Anders das semantische Zeichen „Tisch“; es enthält zwar <strong>als</strong> Bedeutung alle Tische zu allen<br />

Zeiten und in allen nur denkbaren Varianten, aber eben doch nur Tische; es verweist demnach,<br />

wie alle semantischen Zeichen und im Gegensatz zu den ästhetischen Zeichen auf einen<br />

Ausschnitt der Wirklichkeit. Es ist eindeutig, während ästhetische Zeichen unbegrenzte Vieldeutigkeit<br />

besitzen.<br />

zu (2): Jedoch erhält der universale Vorstellungsraum <strong>des</strong> ästhetischen Zeichens, den das<br />

Spiel <strong>des</strong> Kin<strong>des</strong> ebenso je<strong>des</strong> Kunstwerk oder jede andere ästhetische Gestaltung eröffnet,<br />

eine Begrenzung durch die Subjektivität <strong>des</strong> Produzenten, der das ästhetische Zeichen gemäß<br />

seiner individuellen Art, die Wirklichkeit zu erleben, gestaltet bzw. durch die Subjektivität<br />

<strong>des</strong> Rezepienten, der das ästhetische Zeichen gemäß seiner individuellen Art, die Wirklichkeit<br />

zu erleben, rezipiert.<br />

zu (3): <strong>Ästhetische</strong> Zeichen provozieren Bewegungen der Sinnesorgane, <strong>des</strong> Körpers, der<br />

Emotionen, <strong>des</strong> Denkens, der Willenskräfte, der Phantasie und <strong>des</strong> Vorstellungsvermögens, in<br />

denen symbolisch eine bestimmte Art, sich der Wirklichkeit gegenüber zu verhalten, erlebt<br />

wird. Sie verwickeln die beteiligten Personen zwangsläufig in eine Art „Rollenspiel“, dem sie<br />

nicht entgehen können und bei dem niemand unberührt oder neutral bleibt. Nichtverhalten<br />

dem ästhetischen Zeichen gegenüber ist nicht möglich, und auch das Abwenden oder, wie im<br />

Beispiel durch die Psychologen praktiziert, das Ausblenden aus der bewußten Wahrnehmung,<br />

ist eine Verhaltensweise dem ästhetischen Zeichen gegenüber, von den unbewußten Reaktionen<br />

ganz zu schweigen.<br />

3


„Vereinheitlicht“ ist die Verhaltensweise dem ästhetischen Zeichen gegenüber insofern, <strong>als</strong><br />

die Gestalt <strong>des</strong> jeweiligen ästhetischen Zeichens, die Linienführung und Farbzusammenstellung<br />

eines Bil<strong>des</strong> oder die Handlungsabfolge einer szenischen Darstellung, oder die rhythmische<br />

und klangliche Form eines Gedichts usw., die Wahrnehmung der Produzenten und Rezipienten<br />

mit nichts anderem, <strong>als</strong> mit dieser einmaligen und unverwechselbaren Gestalt selbst<br />

konfrontiert; das ästhetische Zeichen „meint“ stets sich selbst, und man kann sich nur ihm<br />

gegenüber verhalten und keineswegs einem außer ihm gemeinten Inhalt, wie beim semantischen<br />

Zeichen. Das Wort „Tisch“ erzeugt bei uns unterschiedliche Verhaltensweisen in der<br />

Realität vorfindbaren oder in der Vorstellung vorhandenen Tischen gegenüber; das ästhetische<br />

Zeichen nur Verhaltensweisen ihm selbst gegenüber.<br />

Warum und wozu benötigen wir Kompetenzen ästhetischer <strong>Aneignung</strong> in der in der<br />

Sozialarbeit 2 ?<br />

Funktionen der<br />

Sozialarbeit<br />

mit ästhetischer<br />

Kompetenz<br />

gesellschaftlich<br />

im Bezug auf die beauftragenden<br />

Institutionen,<br />

• ihre rechtlich fixierten Aufgaben<br />

• ihre politischen Zielvorgaben<br />

kulturspezifisch<br />

Sensibilität für kulturell vermittelte<br />

Manipulation und Herrschaft<br />

individuell<br />

im Bezug auf die Lage <strong>des</strong><br />

einzelnen, der in Konflikt steht<br />

• mit sich selbst<br />

• mit seinem sozialen Umfeld<br />

• mit der Gesellschaft<br />

personenspezifisch<br />

Fähigkeit, ästhetische Mittel für<br />

die Verbesserung seiner Situation<br />

einzusetzen<br />

Die Frage ist teilweise durch das Beispiel der Psychologen und dem Rassel spielenden Kind<br />

beantwortet. Wer die ästhetische Dimension in der helfenden Beziehung vernachlässigt, wird<br />

dem Adressaten in seiner personalen Gesamtheit nicht gerecht, ja er kann ihn sogar nachhaltig<br />

schädigen.<br />

Als ich einen der Kollegen, die an dem Projekt arbeiteten, darauf ansprach, machte er geltend,<br />

daß (leider) kein Musiktherapeut für das Team gewonnen werden konnte. Ich erwiderte, daß<br />

der Umgang mit den ästhetischen Aspekten jederzeit und in allen Beziehungen geschieht und<br />

nicht an eine darauf spezialisierte Berufsgruppe delegiert werden könnte. Wir haben an der<br />

Universität GH Siegen von Beginn an dafür plädiert, ästhetische Kompetenzen <strong>als</strong> genuinen<br />

Bestandteil der sozialpädagogischen Professionalität zu begreifen.<br />

2 Der Begriff Sozialarbeit ist hier <strong>als</strong> Oberbegriff gemeint im Sinne von „soziale Arbeit“ und umschließt die<br />

Berufsbilder der Sozialarbeiter und der Sozialpädagogen sowie benachbarte Berufsgruppen, wie Diplompädagogen,<br />

Erzieher, Sozialtherapeuten u.ä.<br />

4


Zur gesellschaftlichen Funktion der Sozialarbeit:<br />

Institutionen stellen Sozialarbeiter mit rechtlich fixierten Aufgaben ein (z.B. Strafgefangene<br />

zu resozialisieren, benachteiligte Kinder zu fördern, in Not geratene Familien zu unterstützen<br />

u.s.f.). Die gesellschaftliche Funktion beinhaltet auch weitergehende Ziele: die Kirchen verfolgen<br />

religiöse, die Wohlfahrtsverbände (z.B. Arbeiterwohlfahrt) gesellschaftspolitische Ziele,<br />

die der von ihnen beauftragte Sozialarbeiter fördern soll. Dabei stellt die Sozialarbeit eine<br />

Art „Schmiermittel“ dar, das überall dort zum Einsatz kommt, wo es in der Gesellschaft zu<br />

Störungen oder Umbrüchen kommt.<br />

In diesem gesamtgesellschaftlichen Kontext hilft dem Sozialarbeiter die Kenntnis von der<br />

ästhetischen <strong>Aneignung</strong>, Mechanismen der Manipulation und Unterdrückung bei sich selbst,<br />

bei seinen Adressaten und im gesellschaftlichen Umfeld zu erkennen. Während ästhetische<br />

<strong>Aneignung</strong>svorgänge den meisten Menschen unserer heutigen Industriegesellschaften kaum<br />

bewußt sind und Inhalte der ästhetischen Wissenschaft im Bildungskanon der allgemeinbildenden<br />

Schulen wenn überhaupt nur am Rande vertreten sind, spielen sie in der Unterhaltungs-<br />

und Werbe-, in der Konsumgüterindustrie sowie auch bei der politischen Information<br />

und Propaganda eine außerordentlich große Rolle. <strong>Ästhetische</strong> Inszenierung der Massenwaren<br />

dienen ihrer Mystifikation, die überhaupt in den meisten Fällen heutzutage noch den Umsatz<br />

von Waren ermöglicht. Gingen wir ausschließlich nach dem praktischen Nutzen (was benötigen<br />

wir tatsächlich zum täglichen Überleben und Wohlbefinden?), so erschienen uns wahrscheinlich<br />

90% aller Waren <strong>als</strong> überflüssig. Die ästhetische Inszenierung der Waren (das umfaßt<br />

ihre Form und Gestalt, ihre „Aufmachung“, die Verpackung, ihre Benamung, die ihnen<br />

zugesprochenen Eigenschaften, die an psychische, soziale, erotische und sexuelle, an religiöse<br />

und transzendente und viele andere Bedürfnisbereiche der Menschen appellieren und Befriedigung<br />

vorgaukeln oder versprechen, vgl. W.F. Haug 1971) hält den Warenumsatz und die<br />

mit ihm verbundene Gewinnmaximierung in Schwung, und der Kreis der Bevölkerung, der<br />

dabei ins ins Abseits gerät wird zunehmend größer: sie folgen den Verführungen, geraten in<br />

Überschuldung und scheitern bei der Bewältigung der so entstandenen Lebenssituation. Die<br />

Mystifikation spricht dem Konsum der Waren die Qualität menschlicher Begegnung zu. Für<br />

solche Versprechungen sind gefährdete Menschen besonders anfällig, und sie erleben die<br />

innere Leere, die sich nach jedem Konsumakt einstellt, <strong>als</strong> besonders bedrohlich und suchen<br />

sie durch weitere Konsumakte aufzufüllen. So kommt es zu suchtähnlichen Verläufen, die<br />

Vereinsamung und Verelendung nach sich ziehen. Sozialarbeiter müssen diese Zusammenhänge<br />

durchschauen und bewältigen, zuerst bei sich selbst, um dann mit ihren Klienten gemeinsam<br />

Wege aus diesen Teufelskreisen zu finden.<br />

Der Sozialarbeiter muß sich <strong>des</strong>sen bewußt sein, daß auch er selbst sich und sein Dienstleistungsangebot<br />

„ästhetisch inszeniert“, unabhängig davon, ob er sich <strong>des</strong>sen bewußt ist oder<br />

nicht. Es gehört zu seiner Professionalität, sein Auftreten, seine Kleidung, seine Sprache, die<br />

Gestaltung seines Arbeitsplatzes usf. so zu prägen, daß sie seine Tätigkeit nicht behindern<br />

sondern optimieren. Gleichzeitig aber muß er sich und seine Arbeit unter den Bedingungen<br />

moderner Massenkommunikation präsentieren, d.h. geeignete Formen der Öffentlichkeitsarbeit<br />

entwickeln, in denen er seine Dienstleistung wirksam präsentieren kann, um sein Klientel<br />

überhaupt zu erreichen. Weitere Aufgaben liegen in der Sensibilisierung <strong>des</strong> Klientels für die<br />

Prozesse der Massenmanipulation und der ästhetischen Gestaltung ihrer Lebensräume im<br />

Sinne bedürfnisgerechter Gemeinwesenarbeit.<br />

Zur individuellen Funktion der Sozialarbeit:<br />

Bei Menschen, die in irgendeiner Weise in Konflikt geraten sind - mit sich selbst (mit dem<br />

Leben nicht klar kommen, z.B. Lernprobleme in der Schule haben, unter psychosomatischen<br />

Störungen leiden u.s.f.) oder mit ihrem sozialen Umfeld (verhaltensauffällige Kinder in der<br />

5


Schulklasse, Konflikte in der Familie, die die Betroffenen nicht selbst lösen können u.s.f)<br />

oder mit der Gesellschaft (z.B. Straffällige, Obdachlose, Arbeitslose u.s.f.) greifen die Methoden<br />

der Einzelberatung, der Gruppenarbeit und spezieller Arbeitsansätze, wie Paartherapie,<br />

systemische Familienberatung, Mediation sowie offener Jugend- oder Kulturarbeit.<br />

In den Therapie- und Beratungsarbeit werden Möglichkeiten ästhetischer <strong>Aneignung</strong> noch<br />

viel zu wenig genutzt. Das zeigt das Eingangsbeispiel, und davon wird in den nachfolgenden<br />

Beiträgen noch ausführlich die Rede sein. Offene Arbeitsweisen bedienen sich traditioneller<br />

Weise ästhetischer Mittel (z.B. die Diskothek in der Offenen Jugendarbeit, die Inszenierung<br />

öffentlicher Treffs, mobiler Jugendarbeit usw.). Bei der Gestaltung von sozialer Gruppenarbeit<br />

können Methoden ästhetischer <strong>Aneignung</strong> zu tieferem gegenseitigem Verständnis größerer<br />

Offenheit unter den Gruppenmitgliedern führen; sie können wesentlich dazu verhelfen,<br />

daß die Dinge, die die Menschen wirklich bewegen, zur Sprache kommen (vgl. Mann u.a.<br />

1995).<br />

Methodik ästhetischer <strong>Aneignung</strong> in der Sozialarbeit<br />

Der professionelle Kontext der Sozialarbeit (z.B. Freiwilligkeit und Mitbestimmung auf seiten<br />

<strong>des</strong> Klientels) aber auch die Qualität ästhetischer <strong>Aneignung</strong> erfordern spezielle didaktische<br />

Grundsätze.<br />

<strong>Ästhetische</strong> <strong>Aneignung</strong> in der Sozialarbeit ist ein ganzheitlicher Prozeß, das heißt es geht stets<br />

gleichzeitig um die Sache, die Person und die Gruppe; Sachbegegnung, Selbsterfahrung und<br />

Sozialerfahrung bilden eine unauflösbare Einheit und müssen bei der Planung, Durchführung,<br />

Reflexion und Evaluation von Maßnahmen sozialer Arbeit gleichzeitig berücksichtigt werden.<br />

Mann u.a. (1995) nennen die folgenden sieben Kriterien, die bei pädagogischer Arbeit erfüllt<br />

sein müssen, damit ästhetische <strong>Aneignung</strong> <strong>als</strong> ganzheitlicher Vorgang möglich wird. Sie<br />

schreiben damit ältere Konzepte ästhetischer Erziehung (Kerbs 1970, Mayrhofer und Zacharias<br />

1976, Otto 1974) fort, indem sie neben den gesellschaftspolitischen Aspekten auch die<br />

impliziten psychohygienischen und psychotherapeutischen Komponenten ästhetischer <strong>Aneignung</strong><br />

berücksichtigen.<br />

1. Wir müssen ausreichend Raum und Zeit geben, damit eine sinnliche Erfahrung gemacht<br />

werden kann. Ohne sinnlichen Kontakt kommt es nicht zu Situationen, in denen ästhetische<br />

<strong>Aneignung</strong> geschehen kann (vgl. Kagan 1974, 105 f). Die ästhetische <strong>Aneignung</strong> benötigt<br />

andere Zeit- und Spielräume <strong>als</strong> die theoretische oder die praktische <strong>Aneignung</strong><br />

(Zeit zum Hören und Lauschen, zum Sehen und Betrachten, zum Wahrnehmen und Spüren,<br />

Raum zum Spielen, Malen, Modellieren usf.).<br />

2. Es gibt kein richtig und f<strong>als</strong>ch. Weil ästhetische Zeichen die Wirklichkeit <strong>als</strong> Ganzes und<br />

nach der Einheit <strong>des</strong> Subjekts unifiziert widerspiegeln (s.o.), muß in Prozessen ästhetischer<br />

<strong>Aneignung</strong> jede subjektive Lösung gewürdigt werden. An die Stelle <strong>des</strong> Kriteriums der<br />

Bewertung (richtig / f<strong>als</strong>ch), das der theoretischen Funktion zugehört, tritt in der ästhetischen<br />

<strong>Aneignung</strong> das Kriterium der Beschreibung (nicht „richtig oder f<strong>als</strong>ch“ sondern „so<br />

oder anders“); nicht eine wie auch immer vorgenommene Bewertung ist maßgebend, sondern<br />

die im jeden Einzelfall gegebene individuelle Besonderheit <strong>des</strong> ästhetischen <strong>Aneignung</strong>sprozesses<br />

3 .<br />

3 Das Kriterium der Bewertung spielt bei Prozessen ästhetischer <strong>Aneignung</strong> dann eine Rolle, wenn ein ästhetisches<br />

Produkt für einen bestimmten Verwertungszusammenhang hergestellt werden soll, z.B. ein Theaterstück<br />

vor einem bestimmten Publikum zur Aufführung gebracht werden soll. Bei genauer Betrachtung geht dann aber<br />

6


3. Es ist für ein ausgewogenes Verhältnis zwischen sinnlichem Erleben und Reflexion zu<br />

sorgen. <strong>Ästhetische</strong>s Erleben geht über bloße Reizung der Sinne hinaus; das biophysische<br />

Vergnügen der Sinne wird begleitet von Prozessen <strong>des</strong> Bewußtseins (vgl. Kagan 1974,<br />

106). Andernfalls verkommt ästhetische <strong>Aneignung</strong> zu bloßem „biophysischem Sinnentaumel“;<br />

die Trennung von sinnlichem Erleben und Geistestätigkeit hat die Manipulierbarkeit<br />

der Menschen durch ästhetische Mittel zur Folge. Die Reflexion eröffnet die Möglichkeit,<br />

den Reichtum der Inhalte ästhetischer Zeichen zu erfassen und für Prozesse der<br />

Selbsterkenntnis und -erfahrung zu nutzen.<br />

4. Die Beziehung zwischen ästhetischer Erfahrung und Alltagsleben sollte folglich<br />

thematisiert werden. Die oben gegebene Bestimmung von ästhetischen Zeichen macht<br />

deutlich, daß sie symbolhaft zusammenfassend darstellen, wie das Individuum seine<br />

Existenz erlebt und mit Gegenständen, Personen und Situationen sowie mit sich selbst in<br />

seinem Leben umgeht. Sich unter dieser Sichtweise mit den ästhetischen Zeichen<br />

auseinanderzusetzen, eröffnet Möglichkeiten, sich die gegenwärtige Lebenssituation zu<br />

verdeutlichen (diagnostische Funktion).<br />

Die Qualität der „Widerspiegelung <strong>als</strong> Ganzes“ enthält aber auch die Möglichkeiten, die<br />

das Alltagsleben bereithält, um die gegenwärtige Lebenssituation zu verändern (prognostische<br />

Funktion). Die ästhetischen Mittel sind so beschaffen, daß sie nicht nur Gegenwärtiges<br />

sondern auch Zukünftiges oder Potentielles <strong>als</strong> (noch) ästhetische Wirklichkeit darzustellen<br />

vermögen und so Utopien und Visionen hervorbringen, verbunden mit der Ermutigung,<br />

ihre Realisierung im Alltag herbeizuführen (vgl. „utopische Funktion ästhetischer<br />

Erziehung“ nach Kerbs 1970).<br />

5. Die Sozialarbeiter müssen über ein großes Repertoire an Möglichkeiten verfügen, ästhetische<br />

Erfahrungen anzuregen.<br />

6. Sie müssen die Vielschichtigkeit (Universalität) ästhetischer Erfahrung anerkennen und<br />

Sachaussagen, Assoziationen, Erinnerungen, Identifikationen, Projektionen, direkte Gefühlsäußerungen<br />

der Teilnehmer ohne Bewertung annehmen und in einen konstruktiven<br />

psychosozialen Entwicklungsprozeß einbinden. Dabei gehören<br />

7. Methoden der Gesprächsführung (z. B. klientzentrierte Gesprächsführung nach Carl Rogers<br />

oder Themenzentrierte Interaktion nach Ruth Cohn) zum unverzichtbaren Rüstzeug<br />

<strong>des</strong> Sozialarbeiters.<br />

Literatur:<br />

Mossey Kagan:Vorlesungen zur marxistisch-leninistischen Ästhetik, Berlin 1974<br />

um Prozesse theoretischer (entspricht die Produktion den Intentionen der Produzenten?) oder praktischer <strong>Aneignung</strong><br />

(sind die Eigenschaften der Produktion für ein Gelingen der Aufführung geeignet).<br />

7


Diethard Kerbs: Zum Begriff der <strong>Ästhetische</strong>n Erziehung, Die Deutsche Schule, 62/1970<br />

Wolfgang Fritz Haug: Kritik der Warenästhetik, Frankfurt am Main 1971<br />

Christine Mann, Erhart Schröter, Wolfgang Wangerin: Selbsterfahrung durch Kunst, Weinheim 1995<br />

Hans Mayrhofer und Wolfgang Zacharias: <strong>Ästhetische</strong> Erziehung, Reinbek 1976<br />

Jan Mukarovský: Kapitel aus der Ästhetik, Frankfurt am Main 1971<br />

Gunter Otto: Didaktik <strong>Ästhetische</strong>r Erziehung, Braunschweig 1974<br />

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