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Johannes Kemser Soziale Betreuung 2300709 - Katholische ...

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<strong>Johannes</strong> <strong>Kemser</strong><br />

<strong>Soziale</strong> <strong>Betreuung</strong> in der stationären Altenhilfe 1<br />

Gliederung<br />

1 Begriffsklärung: Was wird unter sozialer <strong>Betreuung</strong> verstanden?<br />

2 Kompetenzen für soziale <strong>Betreuung</strong><br />

3 Begründung für soziale <strong>Betreuung</strong> nach den Sozialprinzipien<br />

der katholischen Soziallehre<br />

4 Die stationäre Altenhilfe – Problemlage und Bedarf<br />

5 Resümee<br />

Was wird unter sozialer <strong>Betreuung</strong> verstanden?<br />

<strong>Soziale</strong> <strong>Betreuung</strong>. Was finden wir da alles versteckt?<br />

Der Gesetzgeber spricht im SGB XI von Beaufsichtigung und <strong>Betreuung</strong>sbedarf, zwei<br />

von ihrer Bedeutung her vollständig verschiedene Begriffe.<br />

An anderer Stelle steht der Begriff der Begleitung (vgl. § 45 b), was wiederum etwas<br />

anderes meint als <strong>Betreuung</strong>, nämlich eher ein Nebenher, ein Bedienen, ähnlich wie<br />

beim Kartenspielen. Dies wird dann auch noch verstärkt durch den Zusatz der<br />

Alltagsbegleitung. Es drängt sich mir unwillkürlich der Verdacht auf, dass sowohl der<br />

Gesetzgeber bzw. seine Referentenstäbe, als auch und noch viel mehr die exekutiven<br />

(ausführenden) Organe, kein einheitliches bzw. kein eindeutig gültiges Verständnis<br />

von sozialer <strong>Betreuung</strong> besitzen. Das ist verständlich.<br />

Nach den gemeinsamen Maßstäben und Grundsätzen zur Sicherung und<br />

Weiterentwicklung der Pflegequalität entsprechend § 113, noch deutlicher im § 87 b<br />

SGB XI erfahren wir etwas über soziale <strong>Betreuung</strong> und wozu sie beiträgt. Stichworte<br />

dazu sind:<br />

Aktivierung der pflegebedürftigen Heimbewohner mit erheblichem Bedarf an<br />

allgemeiner Beaufsichtigung, Befriedigung der Bedürfnisse der Heimbewohner,<br />

Unterstützung der persönlichen Lebensgestaltung.<br />

Der Caritas-interne Gebrauch lautet: Beschäftigung.<br />

1 ) Impulsreferat im Rahmen von Veranstaltungen zum Thema „Christliche Hospiz- und Palliativkultur -<br />

Auftaktveranstaltungen“ des Caritas Verbandes München-Freising e.V., für die Zielgruppen Heimleitungen,<br />

Pflegedienst-, und Hauswirtschaftsleitungen, April/Mai 2009, Schloss Fürstenried


Schöne Worte.<br />

Was aber meinen sie?<br />

Welches Menschenbild liegt dem zugrunde?<br />

Dies bleibt offen, auch in den Kommentaren. Auffällig ist allerdings die wiederholte<br />

Betonung der Aktivitäten 2 .<br />

Kompetenzen für soziale <strong>Betreuung</strong><br />

Ich greife auf die, wenn Sie so wollen, alten Methodenkompetenzen zurück. Dem<br />

Grunde nach keine pflegerischen, sondern ureigentliche sozialpädagogische<br />

Kompetenzen.<br />

1. Einzelfallhilfe oder Case-Management<br />

2. <strong>Soziale</strong> Gruppenarbeit oder Team-Management<br />

3. <strong>Soziale</strong> Gemeinwesenarbeit oder Community- Development<br />

Zu 1 Nach den Erkenntnissen über Einzelfallhilfe oder des Case-Managements ist<br />

entscheidend, den Menschen ganz zu erfassen.<br />

Wozu denn „ganz“ können Sie fragen. Es reicht doch wenn ich mit ihm<br />

- Mahlzeiten herrichte und einnehme,<br />

- wenn ich andere praktische hauswirtschaftliche Tätigkeiten ausführe,<br />

- mit ihm spazieren gehe,<br />

- koche und backe,<br />

- Fotos einklebe oder anschaue,<br />

- bastle, male oder singe....!<br />

Das mag schon stimmen, dass ich all diese Tätigkeiten tun kann. Ich muss mir aber<br />

darüber im Klaren sein, warum ich etwas tue – und das setzt mehr voraus, als es nur zu<br />

tun!<br />

Zu 2: Eine Gruppe oder ein Team zu leiten, kann jeder. Auch das mag schon sein,<br />

solange sich die Gruppe oder das Team auf Sport, Hobby oder auf sonstige<br />

g e m e i n s a m e Lieblingsbeschäftigungen bezieht. Wir haben es aber hier mit<br />

sozialer Gruppenarbeit, d.h. mit ungleichen Teilnehmern zu tun. Mindestens die Regeln<br />

über Gruppenprozesse, Gruppenphasen, Dynamik in Gruppen, gruppeneigene Führer, und<br />

ihre gruppenpädagogischen Prinzipien, sollten bekannt, verinnerlicht und eingeübt sein,<br />

um soziale <strong>Betreuung</strong> leisten zu können.<br />

Zu 3: Das Gleiche gilt sinngemäß auch für die soziale Gemeinwesenarbeit. Auch hier<br />

weist das Wörtchen „sozial“ aus, dass wir es mit einer besonderer Haltung zu tun<br />

haben, mit einem Arbeitsprinzip, das über die Einzelfallhilfe und Gruppenarbeit hinaus<br />

und hinein in das Gemeinwesen, in die Nachbarschaft geht.<br />

2 ) Eine der nachhaltigsten gerontologischen Modelle ist die sogenannte Aktivitätstheorie von Havighurst/Tartler.<br />

Darin gilt die Aussage, dass die höchst mögliche Zufriedenheit bzw. erfolgreich Altern am ehesten unter<br />

Beibehaltung von Aktivitäten, verbunden mit der Fähigkeit der Anpassung an bestehende Normen zu erreichen sei.<br />

2


Wenn wir den Begriff der <strong>Betreuung</strong> genauer betrachten, dann fällt auf, dass es ein<br />

unklarer Rechtsbegriff ist, weil er vielfältig deutbar ist. So stecken in ihm andere<br />

Begriffe und Wortstämme, wie Treue, trauen, Vertrauen, Treuhand, etc.<br />

<strong>Soziale</strong> <strong>Betreuung</strong> meint also: Menschen werden also mit Treue, mit Vertrauen und<br />

„treuhänderisch“ betreut.<br />

Ich fasse bis hierher zusammen:<br />

<strong>Soziale</strong> <strong>Betreuung</strong> ist m e h r als nur <strong>Betreuung</strong>.<br />

Sozial meint mehr als gesellschaftlich oder gemeinsam.<br />

Das Wort sozial beschreibt einen Wert, eine Norm, eine Haltung, eine Lehre.<br />

Die katholische <strong>Soziale</strong>hre umfasst das alles.<br />

Begründung für <strong>Soziale</strong> <strong>Betreuung</strong> nach den Sozialprinzipien der<br />

katholischen Soziallehre<br />

Solidaritätsprinzip<br />

Nach dem Volksmund heißt es: Wir sitzen alle in einem Boot!<br />

Das gesellschaftliche Ganze und seine Glieder sind aufs engste schicksalhaft<br />

miteinander verbunden. Soll es dem Ganzen wohl ergehen, dann muss es allen seinen<br />

Gliedern wohl ergehen; soll es den Gliedern wohl ergehen, dann muss das Ganze in<br />

gutem Befund sein.<br />

Einzelwohl und Gemeinwohl sind wechselseitig aufeinander angewiesen; ihre<br />

Schicksale sind unlöslich miteinander verstrickt.<br />

So ist es. Das ist der tatsächliche Sachverhalt.<br />

Was bedeutet dies auf ein Alten- und Pflegeheim übertragen?<br />

Nun, zunächst legitimiert das Solidaritätsprinzip die Institution generell. Sie wurde<br />

eingerichtet, um im Sinne der „Gemeinverhaftung“ aus dem Einzelwohl das<br />

Gemeinwohl abzuleiten.<br />

Dann tritt das Solidaritätsprinzip für jeden Menschen ein, der sich selbst nicht<br />

mehr helfen kann. Der Bewohner eines Alten- und Pflegeheimes bezahlt nach seinen<br />

ihm eigenen Möglichkeiten seinen Anteil an den Heimkosten oder zahlt sie ganz. Im<br />

letzteren Fall ist er ein Selbstzahler und kann sich somit auch mittels selbständiger<br />

Heimkostenübernahme selbst helfen. Vor der Einführung der Pflegeversicherung im<br />

Jahr 1995 hat der Sozialhilfeträger die Kosten übernommen. Seit Einführung des<br />

PflegeVersG steuert die Pflegekasse zu und zahlt einen Teil, die Sozialhilfe zahlt im<br />

Bedarfsfall die Differenz.<br />

Die Finanzierung der sozialen <strong>Betreuung</strong> erfolgt durch die Kostenträger. Dieser<br />

erhält seine monatlichen Zuwendungen von Bewohnern, Kasse und Sozialhilfeträger.<br />

Nach dem Prinzip, dass das Ganze für das Wohl jedes einzelnen seiner Glieder<br />

verantwortlich ist und dafür aufzukommen hat, wäre es eigentlich Sache des<br />

Staates für soziale <strong>Betreuung</strong> zu zahlen. Nach dieser Logik gehört die Finanzierung<br />

der sozialen <strong>Betreuung</strong> nicht in den Pflegeschlüssel.<br />

3


Subsidiaritätsprinzip<br />

Für dieses Prinzip hat der Volksmund eine anschauliche Wendung: Die Kirche im Dorf<br />

lassen – oder nicht aus dem Dorf tragen! Was im Dorf, in der Ortsgemeinde<br />

geleistet werden kann, das trage man nicht an das große öffentliche Gemeinwesen<br />

Staat heran; was im engen Kreis der Familie erledigt werden kann, damit befasse<br />

man nicht die Öffentlichkeit; was man selbst tun kann, damit behellige man nicht<br />

andere. Das sind praktische Anwendungsfälle, aus denen unmittelbar abzulesen ist,<br />

worum es beim Subsidiaritätsprinzip geht.<br />

Man kann die Reihenfolge bilden:<br />

Selbsthilfe – Gemeinschaftshilfe (Nachbarschaft/Familie) – Fremdhilfe/Fernhilfe<br />

Man könnte auch sagen:<br />

Selbstzahler – Familien/Angehörigenunterstützung – Sozialhilfe, öffentliche Hilfe.<br />

Was der einzelne aus eigener Initiative und eigener Kraft leisten kann, darf die<br />

Gesellschaft ihm nicht entziehen und an sich reißen; ebenso wenig darf das, was das<br />

kleinere und engere soziale Gebilde zu leisten vermag, ihm entzogen und<br />

umfassenderen oder übergeordneten Sozialgebilden vorbehalten werden. Wo immer<br />

Gemeinschaftshilfe zur Selbsthilfe möglich ist, soll daher die Selbsthilfe<br />

unterstützt, Fremdhilfe dagegen nur dann und insoweit eingesetzt werden, wie<br />

Gemeinschaftshilfe zur Selbsthilfe nicht möglich ist oder nicht ausreichen würde.<br />

Nach allem erweist sich das Subsidiaritätsprinzip als Zuständigkeitsprinzip und ist<br />

als solches eindeutig ein Rechtsprinzip (z.B. in der Finanzierung geregelt); es sagt<br />

aus, wer im Verhältnis von Ganzem und Glied etwas zu tun, bzw. eine bestimmte<br />

Leistung zu erbringen hat.<br />

Personalität/Person<br />

Wollen wir mit einem Wort ausdrücken, dass für den Menschen seine Identität als<br />

Einzelwesen und sein gesellschaftliches Wesen g l e i c h wesentlich (wichtig) sind,<br />

dann sagen wir: er ist Person.<br />

Individualität und Sozialität z u s a m m e n machen seine Persönlichkeit aus. Zur<br />

Person gehört also einmal die Individualität, zum anderen die Sozialität.<br />

Ist diese Fähigkeit verloren gegangen, kommt es zur Fremdhilfe, um einerseits<br />

solidarisch und subsidiär zu helfen, aber andererseits zur Bewahrung oder<br />

Wiederherstellung der Personalität.<br />

Unter Persönlichkeit wird also jene Stufe seiner Identitätsentwicklung verstanden,<br />

die der Mensch durch die ihm verliehenen Anlagen und Kräfte zu erreichen vermag.<br />

Das ist gemeint mit ´Entfaltung der Persönlichkeit´. Darauf hat jeder Mensch kraft<br />

seiner Menschenwürde ein unverlierbares und unverzichtbares Recht.<br />

Deshalb soll in einer Institution Alten- und Pflegeheim immer und überall jeder das<br />

tun können, was er kann und was er will – letzteres selbstverständlich im Rahmen der<br />

„erlaubbaren“ Möglichkeiten.<br />

Diese Argumentationen begründet notwendigerweise soziale <strong>Betreuung</strong>.<br />

4


Exkurs: Institutionen<br />

Im Sinne der katholischen Soziallehre lassen sich Alten- und Pflegeheime als<br />

besonders bedeutsame und unabdingbare gesellschaftliche Institutionen aufzählen.<br />

Damit soll ausgedrückt werden, dass wegen ihrer hohen Bedeutung für eine soziale<br />

Gesellschaft und all ihrer Glieder, und wegen der professionellen und ehrenamtlichen<br />

Dienste, die sie leisten, diesen Institutionen ein ausnehmend hoher Wert<br />

zuzuerkennen ist.<br />

Im Umkehrschluss würde das heißen: wenn eine Familie funktioniert, braucht es<br />

keine Institution. Wäre dies der Fall, hätten wir so etwas wie die „vollkommene<br />

Gesellschaft“. Das Gegenteil ist die Regel: wir haben eher eine „unvollkommene<br />

Gesellschaft“, die die Institutionen zu ihrer Erhaltung braucht.<br />

Familie wird als die Urform sozialer <strong>Betreuung</strong> betrachtet; ist die Familie in Gefahr<br />

auseinander zu brechen oder kann aus irgendwelchen Gründen die Hilfe für ihre<br />

Mitglieder nicht mehr selbst leisten, treten Institutionen helfend ein, um den<br />

„unvollkommenen Zustand“ wieder in einen Austausch, und damit in ein Lot der<br />

Ausgeglichenheit zu bringen.<br />

Wie funktioniert der Austausch zwischen Person und Umwelt?<br />

Mit neueren sozialwissenschaftlichen Theorien, insbesondere den<br />

systemtheoretischen, lässt sich dieser Sachverhalt folgendermaßen darstellen:<br />

Idealzustand der<br />

„vollkommenen<br />

Gesellschaft“<br />

Transaktionen<br />

Hier funktioniert der Austausch zwischen Mensch und Umwelt uneingeschränkt, ungestört.<br />

Fremdhilfe ist nicht angezeigt.<br />

Normalzustand der<br />

„unvollkommenen<br />

Gesellschaft<br />

Person<br />

Freunde<br />

Familie<br />

Person<br />

Freunde<br />

Familie<br />

------ gestörte Transaktion ----<br />

Umwelt<br />

Ges. schaft<br />

Staat<br />

Umwelt<br />

Ges. schaft<br />

Staat<br />

Hier funktioniert der Austausch zwischen Mensch und Umwelt eingeschränkt,<br />

unterbrochen.<br />

Fremdhilfe ist angezeigt.<br />

Helfende soziale Institutionen treten ein. Im Fall gestörter oder zerstörter<br />

Transaktion legitimieren sich soziale Interventionen.<br />

5


Caritas<br />

Unmittelbare Folge der Menschenwürde ist das Recht auf freie Entfaltung der<br />

Persönlichkeit. Dieses Recht endet nicht automatisch mit Alter, Krankheit,<br />

Behinderung oder abweichendem Verhalten in einer Institution. Selbst bei<br />

gänzlicher <strong>Betreuung</strong> eines Menschen oder <strong>Betreuung</strong> in Teilen, soll das Recht auf<br />

freie Entfaltung der Persönlichkeit dadurch bestehen bleiben, dass immer und zu<br />

jeder Situation der mutmaßliche Wille der Person zu gelten hat. Im Zweifelsfall<br />

muss dieser angenommen oder vermutet werden. Denn: Spricht man dem Menschen<br />

seine Fähigkeit zur freien selbstverantwortlichen Selbstbestimmung ab, enthebt<br />

man ihn als P e r s o n.<br />

Wenn also beispielsweise Demenz Verlust der Persönlichkeit bedeutet, dann enthebt<br />

man ihn, den demenzkranken Menschen als Person. Ein Betreuer übernimmt<br />

sozusagen stellvertretend den nicht mehr vollkommenen Teil der Person, der<br />

verlorengegangen ist.<br />

Eine im Sinne der Caritas zu verstehende Soziallehre muss eine klare Antwort auf<br />

die Frage geben: was ist der Mensch und wie ist ihm zu begegnen?<br />

Das aber ist keine Frage, die Halt macht vor irgendwelchen Tabus, seien es Alter,<br />

Krankheit, Sterben oder Tod. Sie – die Caritas – muss also „aufs Letzte gehen“; d.h.<br />

sie muss auch zum Leiden, Sterben und Tod Antworten haben und<br />

Handlungsalternativen bereit stellen.<br />

Darin wird nun ganz deutlich, worin sich Caritas von jeder anderen Soziallehre<br />

unterscheidet: Es ist ihre spezielle Antwort auf die Frage „ Was ist der Mensch und<br />

wie ist ihm zu begegnen?“<br />

Für die (Be)Wertung des Lebens und des Arbeitens in einem Alte- und Pflegeheim als<br />

Institution, ist es grundlegend und entscheidend, ob wir das Alten- und Pflegeheim<br />

mehr in einem M a n g e l oder mehr in einem Ü b e r f l u ß unserer Gesellschaft<br />

begründet sehen.<br />

Im einen Fall, des Mangels, werden wir uns missmutig oder geduldig in das<br />

Unvermeidliche begeben und uns damit abfinden, in der Institution Alten- und<br />

Pflegeheim zu arbeiten, mit anderen zu leben und auf sie Rücksicht nehmen zu müssen;<br />

im anderen Fall, des Überflusses werden wir unsere Aufgabe in der gesellschaftlichen<br />

Institution Alten- und Pflegeheim nicht als Last empfinden, sondern sie als Chance zu<br />

unserer eigenen Entfaltung freudig begrüßen und wahrnehmen.<br />

<strong>Soziale</strong> <strong>Betreuung</strong> trägt eher zur zweiten Sichtweise bei. Was bedeutet das im<br />

Alltag?<br />

Ich kann als Betroffener Angebote wahrnehmen oder kann sie nicht wahrnehmen.<br />

Ich kann mitmachen, mitreden in der „Bewohnervertretung“, kann am Gottesdienst<br />

teilnehmen, muss es aber nicht. Ich kann mich anregen lassen, bei<br />

unterschiedlichsten Aktivitäten teilzunehmen, ich kann es auch lassen.<br />

Selbstverständlich gibt es in jedem Haus nur eine begrenzte Anzahl an Angeboten.<br />

Wenn mir diese Angebotspalette nicht passt, habe ich halt keine Angebote.<br />

<strong>Soziale</strong> <strong>Betreuung</strong> wäre nun ideal geeignet, um Menschen, die mit den im Heim<br />

existierenden Angeboten nichts anfangen können, möglicherweise dorthin zu<br />

bringen, wo ihre „Heimat“ ist, wo sie sich wohl und Zuhause fühlen, beispielsweise im<br />

gewohnten Krippenverein, dem Kaffeekränzchen oder dem Stammtisch.<br />

6


Auf diese Weise könnte ein Teil ihres sozialen Umfeldes bleiben oder Teil eines<br />

selbstgewählten Umfeldes werden. Solche Sicherheiten im sozialen Netz können den<br />

Heimaufenthalt durchaus zur Lust werden lassen, weil der Grad an<br />

Selbstbestimmung den höchsten Wert im Sinne der katholischen Soziallehre erfüllt.<br />

Das Bestreben der sozialen <strong>Betreuung</strong> liegt ja gerade darin begründet, den<br />

verlorengegangenen Teil der Persönlichkeit – nennen wir ihn Autonomieverlust -<br />

zumindest teilweise und zeitweise durch Nutzen von Kompetenzen und subjektiven<br />

Wünschen wieder herzustellen und auszugleichen.<br />

Die stationäre Altenhilfe - Problemlage und Bedarf<br />

Nichts ist so unbeliebt und gleichzeitig so notwendig wie ein Alten- und<br />

Pflegeheim<br />

Vor dem Hintergrund der seit langem bekannten und bereits in den siebziger Jahren<br />

vorhergesagten Bevölkerungsprognosen, ist das drängende Problem der<br />

Überalterung nach dem Verständnis katholischer Soziallehre kein wirkliches<br />

Problem, vielmehr liegt die Schwierigkeit in der grundlegend negativen Einstellung<br />

den altgewordenen Menschen gegenüber, die als soziale Last, als Ballast und<br />

gesellschaftliche Zeros betrachtet werden.<br />

Eine Unterbringung in der verbleibenden Lebenszeit im Heim wird oftmals<br />

zähneknirschend und als letzte Möglichkeit hingenommen, generell aber als<br />

verwerflich und als nicht würdevoll betrachtet. Niemand geht gerne und selten<br />

freiwillig in ein Alten- und Pflegeheim bei der gleichzeitigen Erkenntnis, dass mit<br />

zunehmendem Lebensalter, dementiellen Erkrankungen und bei steigender<br />

Pflegebedürftigkeit, für jeden ein Einzug in ein Heim immer wahrscheinlicher wird.<br />

Schon heute benötigt und erhält jeder zweite deutsche Bürger, der hochaltrig, also<br />

ab ca. dem 85. Lebensjahr, Pflege nach einer der drei Pflegestufen. Die<br />

Fachkraftquote in den Heimen richtet sich nach der Pflegeintensität bzw. dem<br />

Pflegebedarf, also nach dem Grad der körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen<br />

der Bewohner. Zufriedenheit im Sinne einer gelungenen Identität der Person<br />

orientiert sich aber an weit mehr Faktoren als nur an körperlichen und medizinisch<br />

Behandelbaren. Vielmehr können das Personal der Träger und ihrer Heime nur dann<br />

zufriedene Lebensabschlüsse der Bewohner gewährleisten, wenn auch soziale<br />

<strong>Betreuung</strong> in professioneller und fachlicher Kompetenz vorhanden, und<br />

selbstverständlich gleichzeitig auch mit der nötigen menschlichen Zuwendung<br />

ausgestattet ist.<br />

Vor diesem Hintergrund erhält die Lebensgestaltung, Alltagsorientierung und<br />

Sinnerfüllung eine hohe Bedeutung. Dies wirkt sich im auch auf ein würdiges Sterben<br />

aus.<br />

7


Demographische Veränderungen führen langfristig zu erhöhter Nachfrage im<br />

Bereich der stationären Altenhilfe<br />

Es muss davon ausgegangen werden, dass die Langlebigkeit weiterhin ansteigen wird<br />

und damit die Bedarfe im Bereich stationärer Pflege und <strong>Betreuung</strong> zunehmen<br />

werden. Dadurch wird es zu einer erhöhten Nachfrage an Heimplätzen kommen bei<br />

steigendem Bedarf auf soziale <strong>Betreuung</strong>. Die Tendenz dahin ist bereits in den<br />

letzten Jahren durch ständig steigendes Eintrittsalter in ein Heim zu beobachten.<br />

Exkurs: Dominanz von körperlicher Pflege<br />

Nicht die Ganzheit der Person, sondern ihre medizinisch diagnostizier- und<br />

therapierbaren Teile stehen im Mittelpunkt der Pflege. Dass dabei die<br />

alltagsnotwendigen und gesundheitserhaltenden Faktoren, wie beispielsweise das<br />

regelmäßige Lagern des Dauerliegenden, Flüssigkeitszufuhr oder<br />

Medikamenteneingabe selbstverständliche Pflegeleistungen sind, ist klar. Hingegen<br />

ist die soziale <strong>Betreuung</strong> wie sie bereits im Pflegeversicherungsgesetz von 1995<br />

verankert ist, im Pflegeweiterentwicklungs-Gesetz von 2008 ein fachliches<br />

Stiefkind geblieben. Möglicherweise haben die Auflagen des Medizinischen Dienstes<br />

der Krankenkassen (MdK) und der Heimaufsicht dazu beigetragen, dass eine<br />

eklatante Dominanz von körperlicher Pflege den Heimalltag mehr bestimmen als<br />

kommunikative, emotionale und soziale Komponenten.<br />

Denn letztlich werden nur die in Minuten am Körper vollzogenen Pflegehandlungen<br />

bezahlt und müssen in der Pflegedokumentation entsprechend niedergelegt sein.<br />

Schlechtes Image der Altenpflege und die Vernachlässigung sozialer<br />

Komponenten<br />

Generell ist in einem Alten- und Pflegeheim die Fortsetzung des bisherigen Lebens<br />

eine Illusion. Auf fremde Hilfe angewiesen, ist das Heim ein Ort zwischen<br />

Krankenhaus und Hotel. Beides aber sind Orte, die nicht auf Dauer, sondern<br />

freiwillig für eine überschaubare Zeit aufgesucht werden. Eine stationäre<br />

Altenhilfeeinrichtung ist dem Grunde nach weder das eine noch das andere, weil die<br />

Entscheidung keine vorübergehende ist, außer bei Tages- oder Nachtpflege, sondern<br />

eine meist für die verbleibende Lebenszeit. Das kann weder eine noch so aufwändige<br />

und teure Ausstattung, noch Kurzzeitpflege kaschieren.<br />

Das insgesamt gesehene schlechte Image der Altenpflege im Heim rührt von all<br />

diesen Komponenten her. Würde es gelingen, Lebensvollzüge und Lebensabläufe<br />

trotz vorhandener Einschränkungen als soziale Komponenten in die Alltagsroutine zu<br />

integrieren, würde vermutlich der freiwillige Einzug in ein Heim häufiger zu<br />

verzeichnen sein. Aber selbst im Heimalltag gibt es bereits denkbare Wege, um die<br />

Vernachlässigung der sozialen Faktoren zu vermeiden (vgl. Hausgemeinschaften oder<br />

Wohngruppenkonzepte).<br />

8


Es stimmt mich nachdenklich, dass es Pflegestufen aber beispielsweise keine<br />

Sozialstufen gibt.<br />

Hoher Zuwendungsbedarf vonseiten der Angehörigen<br />

In den meisten bekannten Fällen entscheiden über einen Heimaufenthalt nicht die<br />

Betroffenen selbst, sondern ihre Angehörigen. Dabei befinden sich Angehörige, ob<br />

Partner, Geschwister, Kinder oder Enkel, oftmals in einer für sie quälend<br />

dahinschleppenden und an den eigenen Kräften zehrenden hochsensiblen<br />

Entscheidungssituation. Ohne hier auf Detailfragen, wie etwa Mutter oder Vater-<br />

Tochter/Sohn-Konflikte oder auf die Genderproblematik näher eingehen zu können,<br />

bleibt bei allen noch so unterschiedlich gelagerten Problemlagen gleichermaßen das<br />

bohrende schlechte Gewissen bei den für den Heimaufenthalt verantwortlichen<br />

Angehörigen zurück. Die Folge sind oft Rationalisierungen, die den Heimeinzug<br />

rechtfertigen. Damit wird die Angst vor dem eigenen Älterwerden und dass man es<br />

s o auf keinen Fall will, verdrängt.<br />

Mit diesem tiefenpsychologischen Erklärungsansatz lässt sich nachvollziehen, warum<br />

Angehörige ihrerseits einen so hohen Zuwendungsbedarf besitzen, der in der Regel<br />

an das Heimpersonal gerichtet ist.<br />

Da aber der Grund für diese Bedürfnisse häufig weder erkannt noch ausgesprochen<br />

wird, steht eine meist verdeckte Spannung im Raum, die eine ausgewogene<br />

Kommunikation zwischen Fachkräften und Angehörigen erschwert.<br />

Forderung nach immer mehr Wirtschaftlichkeit<br />

Die Situation in der stationären Altenpflege hat sich in den letzten Jahren durch<br />

wachsende Pflegeintensität, steigenden Anteil demenziell erkrankter Menschen und<br />

drückender Forderung nach Wirtschaftlichkeit dramatisch verändert. Dass sich<br />

dabei Heime zugespitzt zu „Orten der Konzentration der Unerträglichen“ entwickeln<br />

(vgl. Dörner 2003; vgl. Gronemeyer 2004), kann als eine dieser Auswirkungen betrachtet<br />

werden. Obwohl in Fachkreisen bekannt ist, dass soziale <strong>Betreuung</strong> immer<br />

bedeutsamer wird, weil die natürlichen Ressourcen zwischenmenschlicher Kontakte<br />

zurückgedrängt werden, gibt es noch zu wenig kreative Ideen, ein qualifiziertes<br />

Angebot für soziale <strong>Betreuung</strong> zu finanzieren. Die seltenen Fälle der Umsetzung von<br />

sozialer <strong>Betreuung</strong> werden in die Heimkosten hineingerechnet und dem ebenso<br />

wichtigen Bereich der Pflege abgezogen oder zugerechnet. Zusätzliche finanzielle<br />

Aufwendungen müssen an den Vertragspartner, d.h. an die Kunden weitergereicht<br />

werden. Da sich bei fortschreitender Pflegebedürftigkeit die Pflegestufe erhöht,<br />

erhöhen sich damit auch die Einnahmen für das Heim. Die Folge ist, dass der<br />

Leistungserbringer vor diesem Hintergrund eher danach strebt, möglichst viele<br />

Bewohner mit möglichst hohen Pflegestufen zu haben, um der Forderung nach immer<br />

mehr Wirtschaftlichkeit nachzukommen. Eine eigentlich wünschenswerte<br />

9


Rückstufung von einer höheren in eine niedrigere Pflegestufe, als Folge einer<br />

erfolgreichen Rückkehr zu selbstbestimmten Leben, bleibt aus den genannten<br />

Gründen bisher unerwünscht.<br />

Das Problem, das sich auch im neuen Pflegeweiterentwicklungsgesetz von 2008 nicht<br />

geändert hat, zeigt nach wie vor folgendes Dilemma: Zwar bedeutet eine höhere<br />

Pflegestufe mehr Personal, aber gleichzeitig liegt die Fachkraftquote weiterhin bei<br />

50 %. Für den Bereich der sozialen <strong>Betreuung</strong> ist keine Fachkraftstelle vorgesehen,<br />

was im Falle einer „Dennoch-Einstellung“ zusätzlich zu finanzierende höhere<br />

Personalkosten bedeuten würde.<br />

Der Deutsche Caritasverband hat in seiner Stellungnahme zum neuen Pflegegesetz,<br />

resp. zum neuen § 45 b SGB XI darauf hingewiesen, dass „aufgrund der<br />

Nichtberücksichtigung der spezifischen Bedarfe an psychosozialer <strong>Betreuung</strong>,<br />

Begleitung und Kommunikation gerontopsychiatrisch veränderter Menschen bei der<br />

Einstufung in die Pflegeversicherung ... gerade diese Menschen meist nur in<br />

Pflegestufe I und II gelangen.“<br />

Fazit<br />

<strong>Soziale</strong> <strong>Betreuung</strong> ist m e h r als Beschäftigung.<br />

Denn es geht nicht um Tätigkeiten, mit denen man sich die Zeit vertreibt; sondern<br />

um vielfältige, fächerartige Formen der Alltagsgestaltung vor dem Hintergrund der<br />

hier bereits ausführlich beschriebenen Kenntnis über Soziallehre.<br />

Selbstverständlich sind auch Aktivitäten scheinbar nutzloser Ausrichtung oftmals<br />

sinnvoll und motivationsfördernd. Selbstverständlich können und sollen<br />

Ehrenamtliche oder zusätzliche <strong>Betreuung</strong>skräfte (vgl. § 87 b SGB XI) solche<br />

Einzelaktivitäten ausführen dürfen. Entscheidend ist dabei aber, dass sie von<br />

kompetentem Fachpersonal in sozialer <strong>Betreuung</strong> geschult und angeleitet werden.<br />

Die Verantwortung für Ehrenamtliche und zusätzliche <strong>Betreuung</strong>skräfte muss in<br />

Händen der für die soziale <strong>Betreuung</strong> ausgewiesenen Mitarbeiter verbleiben.<br />

Ziel der sozialen <strong>Betreuung</strong> ist Gestaltung und Initiierung von Lernprozessen zum<br />

Erreichen subjektiver, zufriedenstellender Sinnerfüllung.<br />

<strong>Soziale</strong> <strong>Betreuung</strong> bezieht sich dabei selbstverständlich auch auf konkrete Dinge<br />

des Tagesablaufes. Ein gezieltes Gespräch, eine zielgerichtete Tätigkeit, ein<br />

Miteinandersein, ein freiwillig ausgewähltes Spiel, selbstgewolltes Musizieren oder<br />

ähnliches; auch ein Nichtstun, allein oder zu mehreren, ein die Sinne anregender<br />

Ausflug, der still eingeatmete Blütenduft, die aktive oder passive Teilhabe am<br />

Gemeinwesen, all diese - die Selbstbestimmung und Sinnhaftigkeit fördernden -<br />

Aktivitäten, tragen zur Zufriedenheit im Heim als Ort des Wohnens und Lebens bei.<br />

Das Schreckgespenst Alten- und Pflegeheim kann nur so zu einer echten Institution<br />

des „Überflusses“ werden, wenn alles Fremde, Fremdbestimmende, die Autonomie<br />

Gefährdende eliminiert und das Vertraute, Selbstbestimmte, Heimatgefühle<br />

Stärkende zugelassen, weiterentwickelt und aufgebaut wird.<br />

Dazu kann soziale <strong>Betreuung</strong> in erheblicher Weise beitragen.<br />

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