Intuition und Evidenzbasierte Praxis
Intuition und Evidenzbasierte Praxis
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Heiner Friesacher<br />
Pflegeprozess <strong>und</strong><br />
Pflegedokumentation – ein<br />
Abgesang oder wie man tote<br />
Pferde reitet
Gliederung<br />
- Ausgangsthesen<br />
- Der Kern des Pflegerischen<br />
- Könnerschaft in der Pflege<br />
- Der Pflegeprozess<br />
- Theorie <strong>und</strong> <strong>Praxis</strong> prozessorientierter<br />
Pflege<br />
- Steuerung als Machtinstrument<br />
- Konsequenzen für die Theorie u. <strong>Praxis</strong><br />
- Schlussfolgerungen <strong>und</strong> Ausblick
Ausgangsthesen<br />
• Der Kern des „Pflegerischen“ lässt sich nicht<br />
formalisieren.<br />
• Könnerschaft in der Pflege drückt sich aus in der<br />
Kombination verschiedener Handlungs- <strong>und</strong><br />
Wissensformen.<br />
• Der Pflegeprozess ist allenfalls eine grobe<br />
Strukturierungshilfe.<br />
• Die Qualität der Pflege steht in keinem ursächlichen<br />
Zusammenhang mit dem Pflegeprozess.<br />
• Die juristische Bedeutung des Pflegeprozesses muss<br />
zurückgestuft werden.<br />
• Der Pflegeprozess ist ein technisches Steuerungs- <strong>und</strong><br />
Machtinstrument.<br />
Friesacher 2011, 2010, Hülsken- Giesler 2008, Habermann & Uys 2006, Buus & Traynor
Der Kern des „Pflegerischen“<br />
• „Das „Pflegerische“ besteht in der<br />
unvertretbaren Berufung der Pflege zur<br />
solidarischen, an der Leiblichkeit des<br />
Betroffenen ansetzenden <strong>und</strong> von dort<br />
aus seine derzeitige Existenz<br />
umfassenden, heilenden, anteil-<br />
nehmenden, für-sorgenden, für-<br />
sprechenden Hilfe in der Lebenssituation<br />
des Kranken“ (Wettreck 2001: 260)
Könnerschaft in der Pflege<br />
• „Know- that“ <strong>und</strong> „know- how“<br />
• Evidenz- <strong>und</strong> wertbasiert<br />
• Diagnose- Schlussfolgerung -<br />
Intervention<br />
• Anteilnahme, Achtsamkeit, Anerkennung<br />
• Dialogisch- interaktives Vorgehen<br />
• „Reflection in action“<br />
• Friesacher 2011, Quellen: Polanyi 1985, Benner u.a. 2000, Behrens- u. Langer<br />
2010, Abbott 1988, Friesacher 2010, 2008, Conradi 2001 u. 2010, Böhnke 2010,<br />
Böhle u.a. 1997, Schön 1987 u. 1983
Formen des Wissens<br />
Explizites Wissen: „Know- That“<br />
(Theorie, Regeln, Standardisierung)<br />
Implizites Wissen: „Know- How“<br />
(<strong>Praxis</strong>, Erfahrung, <strong>Intuition</strong>)<br />
Nicht- Wissen<br />
Friesacher 2011, Quellen: Friesacher 2008, 2001, Wehling 2001,<br />
Neuweg 1999, Ryle 1949
Formen des Handelns<br />
• Zweckrationales<br />
(instrumentell/strategisch)<br />
• Kommunikatives<br />
• Situativ- kreativ- künstlerisches<br />
• Nicht- handeln (passiv sein)<br />
• Erleiden (widerfahren lassen)<br />
• Friesacher 2011, Quellen: Friesacher 2010, Böhme 2008, Höhmann 2006,<br />
Uzarewicz & Uzarewicz 2005, Habermas 1981, Joas 1992, Mischo- Kelling 2002,<br />
Böhle u.a. 1997, Wittneben 1994
Implizites Wissen<br />
• Wir wissen mehr, als wir zu sagen wissen.<br />
(Polanyi 1985 [1965])<br />
• Es ist ein Irrtum zu glauben, Intelligenz hänge<br />
immer mit bewusster Überlegung zusammen.<br />
(Gigerenzer 2007, Hastedt 2005, Goleman 1997)<br />
• Das Intuitive sollte in der Pflege nicht<br />
technokratisch ausgeschaltet werden, sondern<br />
rational- argumentativ integriert werden.<br />
Friesacher 2011<br />
(Wettreck 2001)
Der Pflegeprozess - Historie<br />
• Erste Phase (1900 – 1940): Case Studies<br />
• Zweite Phase (1930 – 1950): Nursing Care<br />
Studies<br />
• Dritte Phase (1950 – 1970): Nursing Care Plans<br />
• Vierte Phase (1970 – 1990): Nursing Care Plans<br />
and Nursing Diagnoses<br />
• Fünfte Phase (1990 – heute): Case Management<br />
Plans / Clinical Pathways, Nursing informatics<br />
• Friesacher 2011, Quellen: Mischo- Kelling 2003, Sandelowski 2000, Hülsken-<br />
Giesler 2008, Friesacher im Erscheinen
Zur Theorie prozessorientierter<br />
Pflege<br />
• Übernahme der Logik des medizinischnaturwissenschaftlichen<br />
Ansatzes<br />
(Problemlösung im Vordergr<strong>und</strong>)<br />
• Interaktion wird „systemisch überformt“<br />
• Der kybernetisch- systemtheoretische<br />
Pflegeprozessansatz dominiert<br />
• Anschlussfähigkeit an weitere<br />
Steuerungssysteme auf höherer Ebene möglich<br />
• Friesacher 2011, Quellen: Buus & Traynor 2006, Barnum 2006, Hülsken- Giesler<br />
2008, Bräutigam 2003, Schrems 2003, Henderson 1987, Friesacher im Erscheinen
<strong>Praxis</strong> des Pflegeprozesses<br />
• Es funktioniert nicht / nicht gut / nicht gut genug<br />
/ nicht überall gut genug<br />
• Weltweit wenig Akzeptanz bei den praktisch<br />
Pflegenden<br />
• Die Abbildung des Pflegeprozesses in der<br />
Dokumentation ist wichtiger als die eigentliche<br />
Pflege<br />
• Es gibt keine gesicherten Erkenntnisse zum<br />
Zusammenhang zwischen Pflegeprozess <strong>und</strong><br />
Qualität der Pflege<br />
• Friesacher 2011,Quellen: Habermann & Uys 2006, Hülsken- Giesler 2008, MDS<br />
2005, Isfort 2005, Sandelowski 2000, Cassier- Woidasky 2007, Gordon 1994
Die Weisheit der Dakota-<br />
Indianer<br />
• „Wenn Du entdeckst, dass Du ein totes<br />
Pferd reitest, steig ab“.<br />
• Doch wir (Manager) versuchen oft andere<br />
Strategien, nach denen wir in dieser<br />
Situation handeln.
Strategien...<br />
• Wir besorgen eine stärkere Peitsche.<br />
• Wie wechseln die Reiter.<br />
• Wir sagen: „So haben wir das Pferd doch<br />
immer geritten“.<br />
• Wir gründen einen Arbeitskreis, um das Pferd<br />
zu analysieren.<br />
• Wir besuchen andere Orte, um zu sehen, wie<br />
man dort tote Pferde reitet.<br />
• Wir erhöhen die Qualitätsstandards für den<br />
Beritt toter Pferde.<br />
• Wir schieben Trainingseinheiten ein.
Strategien...<br />
• Wir ändern die Kriterien, die besagen, ob ein Pferd tot<br />
ist.<br />
• Wir kaufen Leute von außerhalb ein.<br />
• Wir machen eine Studie, um zu sehen, ob es billigere<br />
Berater gibt.<br />
• Wir erklären, dass unser Pferd „besser, schneller <strong>und</strong><br />
billiger tot ist“.<br />
• Wir bilden einen Qualitätszirkel<br />
• Wir überarbeiten die Leistungsbedingungen für tote<br />
Pferde<br />
• Wir richten eine unabhängige Kostenstelle für tote<br />
Pferde ein.
Wem nützt der Pflegeprozess?<br />
• Anfängern in der Pflege als Hilfestellung<br />
• Den anderen als gemeinsamer Rahmen<br />
• Lehrenden als didaktische Hilfe<br />
• Forschenden als Gegenstand<br />
• Anderen Berufsgruppen zur Orientierung<br />
• Dem Management zur Steuerung <strong>und</strong><br />
Leistungskontrolle<br />
• Dem Juristen als Dokument<br />
• Friesacher 2011
Machtinteressen<br />
• Mit der kybernetischen Idee gelingt eine<br />
Transformation des Humanen in der Sprache der<br />
Technik<br />
• Die Technik ermöglicht Anschlussfähigkeit an die<br />
ökonomische Logik durch Steuerung<br />
• Der Pflegeprozess wird zum Macht- <strong>und</strong><br />
Steuerungsinstrument auf der Mikro- Ebene<br />
• Friesacher 2011, Quellen: Friesacher im Erscheinen, 2010, Hagner & Hörl 2008,<br />
Hülsken- Giesler 2008, Habermann 2006, Manzei 2003
Machtanalyse nach Foucault<br />
• Analyse eines Gegenstands aus einem<br />
neuen, oftmals überraschenden<br />
Blickwinkel<br />
• Sozial- <strong>und</strong> Selbsttechnologien im<br />
Zentrum<br />
• Begriff der Führung <strong>und</strong> Lenkung<br />
• Kritik als „Entunterwerfung“.<br />
Friesacher 2011, Quellen: Friesacher im Erscheinen, 2010, 2008, Foucault 2004, 1992,<br />
1987, Saar 2009, Holmes & Gastaldo 2002
Prozessoptimierung durch<br />
Steuerung<br />
• Disease- Management Programme <strong>und</strong><br />
Clinical Pathways – Die Passung des<br />
Patienten ins System<br />
• Case- Management <strong>und</strong> Pflegeprozess –<br />
individualisierte Menschenführung<br />
• Friesacher 2011
Konsequenzen für die Theorie<br />
<strong>und</strong> <strong>Praxis</strong><br />
• Weitere Forschungen zum pflegerischen<br />
Handeln<br />
• Pflegende aus der „verhinderten<br />
Profession“ heraus holen<br />
• Qualität als Professionsentwicklung<br />
• Systematische Ausbildung im situativen<br />
<strong>und</strong> kreativen Arbeitshandeln<br />
• Friesacher 2011, vgl. Wettreck 2001, , Krampe 2009, Cassier- Woidasky 2007,<br />
Habermann 2007, Böhle u.a. 1997, Ackermann 2003, Sandelowski 2000
Konsequenzen für die Theorie<br />
<strong>und</strong> <strong>Praxis</strong><br />
• Weniger Formalisierung <strong>und</strong><br />
Bürokratisierung<br />
• „Entjurifizierung“ der<br />
Pflegedokumentation<br />
• Aktivitäten <strong>und</strong> Bündnisse<br />
• Schaffung einer „guten Organisation“<br />
• Kritik <strong>und</strong> politisches Engagement<br />
• Friesacher 2011, vgl. Friesacher 2010, 2009, 2008, Böhnke 2010, Jaeggi 2009,<br />
Hülsken- Giesler 2008, Isfort 2005, Benner u.a. 2000, Nerheim 2001
Ausblicke...<br />
• „Vom Interesse an vernünftigen Zuständen<br />
durchherrscht...“ (M. Horkheimer 1937: 215)<br />
• „Es geht um eine gemeinsame Re- Involvierung<br />
der modernen Gesellschaft in die Fragen des<br />
Menschlichen“ (R. Wettreck 2001: 289)<br />
• Friesacher 2011
„Wenn wir alle Handlungen<br />
unterließen, für die wir den<br />
Gr<strong>und</strong> nicht kennen oder die wir<br />
nicht rechtfertigen können,<br />
wären wir wahrscheinlich bald<br />
tot“.<br />
Friedrich A.von Hayek 1996: 68