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Fachtag Zehn Jahre Berliner Härtefallkommission Rückblick Ausblick

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<strong>Fachtag</strong><br />

<strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>Berliner</strong> <strong>Härtefallkommission</strong><br />

<strong>Rückblick</strong>, <strong>Ausblick</strong><br />

Veranstaltung der Mitglieder der <strong>Härtefallkommission</strong> Berlin<br />

4. Juni 2015, Rotes Rathaus, Louise-Schroeder-Saal


Begrüßung<br />

Saron Hailu Tekiu<br />

Sehr geehrte Frau Kolat, sehr geehrter Herr Henkel,<br />

sehr geehrte Mitglieder der <strong>Härtefallkommission</strong>,<br />

sehr geehrte Damen und Herren,<br />

ich möchte Sie ganz herzlich zum <strong>Fachtag</strong> „<strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>Berliner</strong><br />

<strong>Härtefallkommission</strong>“ hier im Roten Rathaus willkommen<br />

heißen.<br />

In den letzten 10 <strong>Jahre</strong>n hat die <strong>Härtefallkommission</strong> dazu<br />

beigetragen, dass mehr als 3.000 Menschen ein Bleiberecht in<br />

Berlin erhalten haben. Hinter dieser Zahl stehen viele Einzelund<br />

Familienschicksale, viele unterschiedliche Gesichter, und<br />

meines ist eines davon. Ich heiße Saron Hailu Tekiu, bin 19<br />

<strong>Jahre</strong> alt, komme aus Äthiopien und bin Ende 2010 als unbegleitete<br />

Minderjährige nach Berlin gekommen. Zurzeit absolviere<br />

ich einen zweifach qualifizierenden Bildungsgang mit<br />

einer Ausbildung und dem Abitur als Abschluss.<br />

den Traum von einem besseren Leben wahr zu machen und<br />

unsere Kräfte auszubilden. Unser Ziel ist es, nicht einfach<br />

nur versorgt zu werden, sondern die neue Sprache zu lernen,<br />

uns in die Gesellschaft zu integrieren, uns zu engagieren,<br />

einen konstruktiven Beitrag zu leisten und irgendwann etwas<br />

zurückgeben zu können für die Hilfe, die wir am Anfang bekommen<br />

haben.<br />

Es ist nicht einfach, bei all den unterschiedlichsten Hindernissen,<br />

die sich uns in den Weg stellen, zu beweisen, dass wir es<br />

schaffen können und dabei nicht den Mut zu verlieren, immer<br />

weiter daran zu glauben und immer weiter für seine Ziele zu<br />

kämpfen – besonders dann, wenn man vielleicht allein und<br />

noch sehr jung ist, oder wenn man die Verantwortung für eine<br />

Familie trägt.<br />

Die <strong>Härtefallkommission</strong> ist dabei für uns ein wichtiger<br />

Rettungsanker geworden, nämlich dann, wenn aus unter-<br />

Die Tatsache, dass ich jetzt hier stehe und meine Worte an Sie<br />

richten kann, verdanke ich dem Engagement der <strong>Härtefallkommission</strong><br />

und einer Entscheidung des Innensenators. Sie<br />

haben mir dabei geholfen, heute hier als Titelinhaberin der<br />

<strong>Härtefallkommission</strong> zu stehen, das heißt, mit einem Bleiberecht<br />

in Deutschland. Diese Entscheidung hat mir die Sorge um<br />

meine Zukunft genommen und die Frage beantwortet, ob ich<br />

hier in Berlin meine Ausbildung beenden, ein Leben in Freiheit<br />

führen kann und eine sichere Zukunftsperspektive habe.<br />

Hinter uns liegen schwierige Überlegungen, lange Wege,<br />

viele Hindernisse und komplizierte persönliche Situationen.<br />

Wir machen es uns nicht leicht mit der Entscheidung, unsere<br />

Heimatländer zu verlassen und in einem Land, in dem wir oft<br />

unerwünscht sind, komplett neu anzufangen. Da es aber in der<br />

Regel keine Alternative dazu gibt, unser Land zu verlassen, in<br />

dem wir Freunde und Familien haben, aber keine Perspektive<br />

– und zusätzlich meist auch Gefahr für unser Leben besteht<br />

– entscheiden wir uns schweren Herzens zu diesem Schritt in<br />

eine zunächst unsichere Zukunft.<br />

Wilhelm von Humboldt hat einmal gesagt:<br />

„Ohne Sicherheit vermag der Mensch weder seine Kräfte auszubilden<br />

noch die Frucht derselben zu genießen, denn ohne<br />

Sicherheit ist keine Freiheit.“<br />

Wir entscheiden uns dafür, unser Schicksal in die Hand zu<br />

nehmen und außerhalb unserer Heimatländer in Sicherheit,<br />

2


<strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>Berliner</strong> <strong>Härtefallkommission</strong> — Begrüßung<br />

schiedlichen Gründen ein Asylantrag<br />

abgelehnt oder ein Bleiberecht verwehrt<br />

wird. Besonders problematisch<br />

ist die Situation für Familien, wenn<br />

plötzlich die Nachricht kommt, dass ein<br />

Familienmitglied wieder ins Herkunftsland<br />

zurückgeschickt werden soll, obwohl<br />

alle nach einer längeren Aufenthaltszeit<br />

schon hier verwurzelt sind.<br />

Oder wenn man eine Schule besucht,<br />

oder eine Ausbildung begonnen hat,<br />

und diese vielleicht nicht abschließen<br />

kann. In dieser oder ähnlichen ausweglos<br />

erscheinenden Situationen bleibt<br />

zumindest die Hoffnung, mit Unterstützung<br />

der <strong>Härtefallkommission</strong><br />

einen Ausweg zu finden.<br />

Die Kommission gibt uns die Möglichkeit,<br />

zusätzlich zu den bürokratischen und gesetzlichen Erfordernissen<br />

zu zeigen, wie ernst es uns ist mit unserem<br />

Wunsch, in Deutschland zu bleiben, und was wir alles dafür<br />

tun, um uns in die Gesellschaft zu integrieren.<br />

Wir möchten auf eigenen Füßen stehen, uns hier zu Hause<br />

fühlen, die Normen, Regeln und Werte dieser Gesellschaft<br />

respektieren, bewahren und schützen. Nicht nur der unsichere<br />

Aufenthaltsstatus und die unsichere finanzielle Situation,<br />

sondern vor allem auch die enorme psychische Belastung<br />

und der Druck, der auf uns lastet, führen zu Verzweiflung,<br />

Hoffnungs- und Mutlosigkeit. Außerdem besteht die Gefahr,<br />

dass man traumatisiert und antriebslos wird, statt seine Ziele<br />

konsequent weiter zu verfolgen.<br />

Das alles kenne ich aus eigener Erfahrung, und auch aus den<br />

Berichten anderer Titelinhaber. Ich möchte ein Beispiel anführen:<br />

Ein Mädchen, das wie ich allein nach Deutschland gekommen<br />

ist und dessen Asylantrag abgelehnt wurde, hätte<br />

die Schulausbildung abbrechen müssen. Sie war jedoch entschlossen,<br />

weiter ihren Weg zu verfolgen und hat sich an die<br />

<strong>Härtefallkommission</strong> gewandt. Am Ende hat sie ein Bleiberecht<br />

erhalten, im letzten Jahr ein Abitur mit der Durchschnittsnote<br />

1,9 abgelegt und vor ein paar Monaten ein Pharmazie-Studium<br />

aufgenommen, alles dank des Einsatzes der Kommission.<br />

Leider ist die Zahl der positiven Bescheide in den letzten beiden<br />

<strong>Jahre</strong>n stark zurückgegangen; fast doppelt so viele Anträge<br />

sind abgewiesen worden wie in den <strong>Jahre</strong>n zuvor. Das heißt<br />

in der Realität, dass die Hoffnungen von sehr, sehr vielen<br />

Menschen auf einen Verbleib hier in Berlin/Deutschland zunichte<br />

gemacht worden sind.<br />

Für die Zukunft wünsche ich mir, dass diese Bewegung wieder<br />

in die andere Richtung führt, und viele Menschen, die unter<br />

Beweis gestellt haben, dass sie hoch motiviert sind, in Deutschland<br />

zu leben und sich zu integrieren, ein Bleiberecht erhalten<br />

werden.<br />

Positive Entscheidungen der <strong>Härtefallkommission</strong> sind ein<br />

Signal dafür, weiter zu kämpfen, und haben eine positive<br />

Wirkung auf viele Menschen in meiner Situation.<br />

Ich bin sehr glücklich darüber, dass ich in den letzten <strong>Jahre</strong>n in<br />

Berlin ein Zuhause und viel Unterstützung gefunden habe und<br />

eine Schule besuchen konnte, die ich hoffentlich demnächst<br />

mit der Abiturprüfung abschließen werde. Das verdanke ich der<br />

<strong>Härtefallkommission</strong>, die mir die Sicherheit gegeben hat, mich<br />

nicht nur mit Problemen beschäftigen zu müssen, sondern<br />

mich auch auf Positives konzentrieren zu können.<br />

Ich wage gar nicht mir vorzustellen, was passiert wäre, wenn<br />

die Entscheidung des Senators negativ ausgefallen wäre.<br />

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit und übergebe das<br />

Wort hiermit an den Senator für Inneres und Sport, Herrn<br />

Frank Henkel.<br />

3


Grußwort Frank Henkel<br />

Senator für Inneres und Sport<br />

Allerdings sehe ich nicht in jedem Ersuchen eine unerträgliche<br />

Härte. Und wenn ich mir so manches Strafregister ansehe,<br />

dann will ich an Sie, die Mitglieder der <strong>Härtefallkommission</strong>,<br />

doch auch appellieren, manchen angemeldeten Fall noch einmal<br />

zu überprüfen. Das haben wir ja auch schon bei dem einen<br />

oder anderen Treffen besprochen.<br />

Und auch wenn ich mir die Ersuchen der letzten anderthalb<br />

<strong>Jahre</strong> geordnet nach den Herkunftsstaaten anschaue, dann<br />

wundere ich mich schon darüber, dass rund die Hälfte der Fälle<br />

aus dem ehemaligen Jugoslawien stammt. In der Rückkehr in<br />

diese Länder kann ich keine besondere Härte erkennen. Immerhin<br />

sind unter diesen Ländern auch EU-Beitrittskandidaten<br />

und die Länder sind teilweise als sichere Herkunftsstaaten eingestuft.<br />

Ich freue mich sehr, dass ich heute mit Ihnen das Jubiläum „10<br />

<strong>Jahre</strong> <strong>Berliner</strong> <strong>Härtefallkommission</strong>“ feiern kann.<br />

Ich freue mich deshalb, weil mit der Einrichtung der <strong>Härtefallkommission</strong><br />

vor 10 <strong>Jahre</strong>n eine gute Grundlage geschaffen<br />

wurde, um Härtefälle bei der Anwendung des Ausländerrechts<br />

überprüfen zu können.<br />

Und das ist auch notwendig. Denn selbst das beste Gesetz<br />

schafft es nicht, jeden komplizierten Sachverhalt abstraktgenerell<br />

so zu erfassen, dass die jeweiligen Rechtsfolgen in<br />

jedem Einzelfall als gerecht empfunden werden.<br />

So kann es bei Anwendung des Gesetzes in Einzelfällen zu unerträglichen<br />

Härten kommen.<br />

Diese Härten zu korrigieren, ist eine Aufgabe, die ich als Innensenator<br />

gemeinsam mit Ihnen, den Mitgliedern der <strong>Härtefallkommission</strong>,<br />

wahrnehme.<br />

Und ich will auch mit einer Mär aufräumen. Ich höre gelegentlich,<br />

ich sei so hart bei meinen Entscheidungen.<br />

Ja, ich lege sehr wahrscheinlich an einen Härtefall strengere<br />

Maßstäbe an, als Sie das tun. Doch waren wir uns im Schnitt in<br />

den ersten drei <strong>Jahre</strong>n meiner Amtszeit bei mehr als der Hälfte<br />

der Fälle einig. So habe ich mehr als jedes zweite Ersuchen aufgegriffen<br />

und positiv beschieden. Das heißt im Klartext: Wir<br />

stimmen mehr überein, als wir auseinanderliegen.<br />

Ich will an dieser Stelle aber noch einmal ganz deutlich sagen,<br />

dass es mir bei den Härtefällen darum geht, unerträgliche<br />

Härten abzumildern und nicht das Ausländerrecht durch die<br />

Hintertür aufzuweichen.<br />

Zum Schluss meines Grußwortes bleibt mir, Ihnen für die Zusammenarbeit<br />

zu danken und Ihnen für Ihren heutigen <strong>Fachtag</strong><br />

einen erfolgreichen Verlauf und gute Gespräche zu wünschen.<br />

Herzlichen Dank.<br />

Es liegt dabei in der Natur der Sache, dass wir in der Bewertung<br />

der Fälle auch mal zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen.<br />

Und ich verstehe Sie durchaus, wenn Sie, sehr geehrte Mitglieder<br />

der <strong>Härtefallkommission</strong>, enttäuscht und manchmal<br />

auch verärgert sind, wenn ich einem Ihrer Ersuchen nicht folge.<br />

Doch ist die Entscheidung über die Ausnahme eines<br />

humanitären Bleiberechts mir als dem Innensenator übertragen.<br />

Und Sie können mir glauben, wenn ich Ihnen sage,<br />

diese Entscheidung mache ich mir in jedem einzelnen Fall nicht<br />

einfach. Im Gegenteil, jedes einzelne Schicksal bewegt mich.<br />

4


<strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>Berliner</strong> <strong>Härtefallkommission</strong> — Grußworte<br />

Grußwort Dilek Kolat<br />

Senatorin für Arbeit, Integration und Frauen<br />

Ich gratuliere der <strong>Härtefallkommission</strong> zu ihrem zehnjährigen<br />

Geburtstag. Jedoch gibt es die <strong>Härtefallkommission</strong> in Berlin<br />

schon viel länger! Bereits seit 25 <strong>Jahre</strong>n hat Berlin ein Härtefallgremium,<br />

wobei die Arbeit erst seit zehn <strong>Jahre</strong>n eine rechtliche<br />

Basis hat. Berlin ist Vorreiter und wir sollten stolz sein.<br />

Denn der <strong>Berliner</strong> Ansatz war auch Vorbild für die Regelung im<br />

Zuwanderungsgesetz 2005, die zur bundesweiten Einrichtung<br />

von <strong>Härtefallkommission</strong>en führte.<br />

Die Arbeit der <strong>Härtefallkommission</strong> ist eine besondere Arbeit.<br />

Sie setzen sich für Menschen ein, die in Not sind, weil sie ihr<br />

Aufenthaltsrecht verloren haben. Auch setzen Sie sich für<br />

Menschen ein, die niemals ein Aufenthaltsrecht hatten, aber<br />

lange in Berlin leben. Sie korrigieren das Aufenthaltsrecht, indem<br />

Sie aufzeigen, dass Gesetze nicht perfekt sind. Sie machen<br />

sichtbar, dass es Menschen gibt, die ein Recht haben sollen, in<br />

Berlin zu sein und ihr Leben zu gestalten, die aber dieses Recht<br />

nicht bekommen, weil sie nicht in das Raster passen, das das<br />

Aufenthaltsrecht vorgibt.<br />

Gesetze geben Rechtssicherheit, einen festen Rahmen, aber<br />

schließen auch aus. Um der Lebenswirklichkeit gerecht zu<br />

werden, sind Entscheidungsspielräume im Recht nötig, und auch,<br />

dass sie genutzt werden. Aber auch hier bestehen Grenzen. Und<br />

deshalb ist eine Härteregelung so wichtig, um mit Augenmaß zu<br />

handeln und Ausnahmen von der Regel zu ermöglichen.<br />

Mit dem Verfahren der <strong>Härtefallkommission</strong> und der Entscheidung<br />

des Senators im Einzelfall übernimmt das Land<br />

Berlin Verantwortung für Menschen, die in der Stadt leben, für<br />

<strong>Berliner</strong>innen und <strong>Berliner</strong>.<br />

In der aktuellen Situation des Zuzugs von geflüchteten<br />

Menschen ist der Senat intensiv damit beschäftigt, für eine<br />

humane Aufnahme der Einreisenden zu sorgen. Wir wollen den<br />

Menschen ein Ankommen erleichtern. Wir wollen ihnen die Tore<br />

in die Gesellschaft möglichst weit öffnen und sie dabei unterstützen,<br />

hier ein neues Leben aufzubauen. Berlin rechnet mit<br />

26.000 Menschen, die dieses Jahr mit einem Asylgesuch neu in<br />

die Stadt kommen und Schutz suchen. Die Menschen brauchen<br />

ein Dach über dem Kopf, und zwar nicht in Turnhallen. Sie<br />

wollen Deutsch lernen, vielleicht arbeiten oder eine Ausbildung<br />

machen. Zugleich haben sie einen schweren Weg hinter sich<br />

und benötigen Zeit und Hilfe, ihre Erlebnisse zu verarbeiten.<br />

Zugleich ist es mir als Senatorin für Integration und Frauen<br />

sehr wichtig, dass wir nicht vergessen, Verantwortung zu übernehmen<br />

für diejenigen, die bereits lange hier sind. Aktuell<br />

leben ca. 8.200 Menschen mit Duldung in Berlin, und eine<br />

Duldung ist kein Dauerzustand! Wir wissen nicht genau, wie<br />

viele Menschen ohne Papiere in Berlin leben, aber auch für sie<br />

kann das Härtefallverfahren im Einzelfall eine Lösung sein. Ich<br />

denke besonders auch an diejenigen, die hier sozialisiert sind,<br />

vielleicht sogar hier geboren wurden oder in zweiter und dritter<br />

Generation in Berlin leben. Unser Aufenthaltsrecht ermöglicht,<br />

dass selbst ein lebenslanger Verbleib in Deutschland zum Verlust<br />

des Aufenthaltsrechts oder zur Abschiebung führen kann.<br />

Denn alle Bleiberechtsregelungen, die es bisher gab und die<br />

in Planung sind, verlangen eine möglichst gerade Biographie.<br />

Das Leben ist aber anders, und es gibt Menschen, die es nicht<br />

schaffen oder nur über Umwege. Menschen, die weder Schulabschluss<br />

noch Ausbildung vorweisen können, die vielleicht in<br />

der Vergangenheit Straftaten begangen haben oder für ihren<br />

Lebensunterhalt nicht aufkommen konnten. Hierfür gibt es<br />

vielfältige Gründe und Erklärungsmöglichkeiten. Vielleicht<br />

haben die Menschen Gewalt in der Familie erlebt oder sind als<br />

Kind nicht gefördert worden. Vielleicht sind sie vor Krieg oder<br />

Armut geflohen und konnten in Deutschland nicht so schnell<br />

Fuß fassen. Vielleicht aber auch einfach, weil die gesellschaftlichen<br />

Chancen ungleich verteilt sind.<br />

Ihre wichtige Aufgabe, liebe Mitglieder der <strong>Härtefallkommission</strong>,<br />

ist es, die Biographien der von Ihnen vertretenen Menschen verständlich<br />

zu machen und zu transportieren. Ihnen, lieber Kollege<br />

Henkel wiederum obliegt die schwere Entscheidung, ob dieser<br />

Mensch eine Aufenthaltserlaubnis bekommt. Für die Betroffenen<br />

bedeutet Ihre Entscheidung eine letzte Chance auf ein Bleiberecht.<br />

Der Tag heute soll die erfolgreiche Arbeit der Kommission<br />

würdigen – aber auch Herausforderungen zur Sprache bringen.<br />

Ich wünsche Ihnen einen erfolgreichen Austausch und neue Impulse<br />

für weitere 25 <strong>Jahre</strong>.<br />

5


Bleiberecht als Menschenrecht<br />

Vortrag Tim Kliebe, Rechtsanwalt<br />

I. Einleitung<br />

Die Möglichkeit, eine <strong>Härtefallkommission</strong> anzurufen, wird<br />

häufig als Gnadenrecht angesehen. Dieser Begriff mag die<br />

rechtliche Entstehungsgeschichte zutreffend beschreiben 1 ,<br />

den Betroffenen wird mit dieser Beschreibung der Besitz eines<br />

Anspruchs abgesprochen.<br />

Wie anders würde sich das Bild darstellen, wenn der Betroffene<br />

nicht mehr Bittsteller sondern Inhaber eines Anspruchs wäre?<br />

Zumindest in zwei Fallkonstellationen ist dies zu prüfen: zum<br />

einen kann aus einem langjährigen Aufenthalt aus Art. 8 Abs.<br />

1 EMRK ein rechtliches Abschiebungshindernis entstehen. Zum<br />

anderen lässt sich hiesiger Ansicht nach aus Art. 8 Abs. 1 EMRK<br />

auch ein Anspruch auf Legalisierung eines Aufenthaltes durch<br />

Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis herleiten.<br />

II. Rechtliche Grundlagen<br />

Art. 8 Abs. 1 EMRK lautet: Jede Person hat das Recht auf<br />

Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung und<br />

ihrer Korrespondenz.<br />

Die Prüfung verläuft bei Grund- wie Menschenrechten vereinfacht<br />

wie folgt: zunächst ist herauszuarbeiten, welche tatsächlichen<br />

Lebensverhältnisse durch das Menschenrecht geschützt<br />

werden sollen (Schutzbereich). Dann ist zu prüfen, ob eine beabsichtigte<br />

staatliche Maßnahme in die Ausübung der Rechte<br />

im Rahmen dieses Schutzbereichs eingreift (Eingriff). Schließlich<br />

ist die Verhältnismäßigkeit zu beurteilen, also ob aufgrund<br />

des staatlichen Interesses der Eingriff gerechtfertigt ist (Verhältnismäßigkeit).<br />

Wenn eine Aufenthaltsbeendigung oder die fortgesetzte Verwehrung<br />

einer Aufenthaltserlaubnis ein unverhältnismäßiger<br />

Eingriff in das Privatleben wären, folgte daraus ein rechtliches<br />

Abschiebungshindernis im Sinne des § 25 Abs. 5 AufenthG<br />

bzw. eine Ermessensreduzierung „auf Null“ hinsichtlich der Erteilung<br />

des Aufenthaltstitels.<br />

Der Schutzbereich des Privatlebens wurde durch den EGMR<br />

wie folgt definiert: „Die Gesamtheit der sozialen Bindungen<br />

zwischen den niedergelassenen Einwanderern und der Gemeinschaft,<br />

in der sie leben“ 2 . Im Einzelnen umfasst dies<br />

z.B. folgende Schutzgüter: die Identität, die körperliche und<br />

psychische Integrität, den gute Ruf, die Privatsphäre, den Datenschutz,<br />

die Berufsausübung und vor allem sämtliche soziale<br />

Beziehungen, die nicht schon unter das Familienleben fallen 3 .<br />

Das Familienleben schützt insbesondere die Beziehungen von<br />

Familienmitglieder der klassischen Kernfamilie (also Ehe- und<br />

Lebenspartner untereinander und zu minderjährigen Kindern).<br />

Zwischen volljährigen Familienmitgliedern (nicht: den Ehe- und<br />

Lebenspartnern selbst) besteht ein geschütztes Familienleben<br />

nur dann, wenn besondere Umstände wie z.B. Pflegebedürftigkeit<br />

hinzukommen. Die Rechtsprechung des EGMR 4 hat sich<br />

insbesondere in Fällen entwickelt, in denen Straftäter aufgrund<br />

der strafrechtlichen Verfehlungen ausgewiesen und/<br />

oder abgeschoben werden sollten. In dieser Konstellation dient<br />

der Schutz des Privatlebens als Abwehrrecht. Wenn aus dem<br />

Schutz des Privatlebens ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis<br />

erwachsen soll, handelt es sich dagegen um<br />

ein Gewährleistungsrecht. In der europäischen Rechtsprechung<br />

werden diese beiden Ansprüche allerdings nahezu identisch behandelt<br />

5 . Den ersten Entscheidungen des EGMR 6 , die sich mit<br />

der Frage eines Bleiberechts befassten, lagen Fälle zugrunde, die<br />

der Zerfall des „Ostblocks“ mit sich gebracht hatte. Russische<br />

Volkszugehörige, die viele <strong>Jahre</strong> in Lettland gelebt hatten bzw.<br />

serbische Volkzugehörige, die viele <strong>Jahre</strong> in Slowenien gelebt<br />

hatten und nach der (Wiederherstellung der) Selbständigkeit<br />

der Aufenthaltsstaaten erstmalig eine Legitimierung ihres Aufenthalts<br />

benötigten. Der langjährige Aufenthalt führte zu der<br />

Feststellung, dass im Falle einer Aufenthaltsbeendigung ein<br />

Verstoß gegen Art. 8 Abs. 1 EMRK vorliegen würde.<br />

III. Praxis in Deutschland<br />

1. Rechtmäßigkeit des Voraufenthalts<br />

Eine besonders in der deutschen Rechtsprechung behandelte<br />

Frage ist, ob der Voraufenthalt des Betroffenen rechtmäßig<br />

gewesen sein muss, damit die während des Aufenthaltes entstandenen<br />

sozialen Bindungen schutzwürdig sind. Dieser Auf-<br />

1 z.B. Göbel-Zimmermann, „<strong>Härtefallkommission</strong>en als letzter Ausweg aus einem<br />

prekären Aufenthalt?“, ZAR 2008, 47<br />

2 EGMR, Urt. v. 18.10.20006 – 46410/99 – Rs. Üner, NVwZ 2007, 1279<br />

3 Frowein/ Peukert, Kommentar zur EMRK, 3. Aufl., Art. 8 Rn. 3 ff.<br />

4 EGMR, Urt. v. 26.3.1992 – 22/1990/246/317 – Rs. Beldjoudi; Urt. v. 13.7.1995 –<br />

18/1994/465/564 – Rs. Nasri; Urt. v. 28.11.1996 – 73/1995/579/665 –<br />

Rs. Ahmut; Urt. v. 30.11.1999 – 34374/97 – Rs. Baghli;<br />

Urt. v. 2.8.2001 – 54273/00 – Rs. Boultif; alle abzurufen auf der Internetpräsenz<br />

des EGMR<br />

5 Maierhöfer, „Bleiberecht für langjährig Geduldete nach Art. 8 EMRK – Wege zur<br />

menschenrechtskonformen Auslegung des Aufenthaltsgesetzes“, ZAR 2014, 370,<br />

m.w.N.<br />

6 EGMR, Urt. v. 16.6.2005 – 60654/00 – Rs. Sisojeva, InfAuslR 2007, 140; Urt. v.<br />

13.7.2000 – 26828/06 – Rs. Kuric<br />

6


<strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>Berliner</strong> <strong>Härtefallkommission</strong> — Bleiberecht als Menschenrecht<br />

fassung ist entgegen zu treten. Für andere Grundrechte – z.B.<br />

dem Schutz des Familienlebens – ist die Frage der Rechtmäßigkeit<br />

des Voraufenthaltes unerheblich. Wenn z.B. eine drittstaatsangehörige<br />

Frau sich ohne Aufenthaltstitel in Deutschland<br />

aufhält und eine Beziehung mit einem Mann beginnt,<br />

der die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, so wird ein gemeinsames<br />

Kind die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen.<br />

Schon während der Schwangerschaft hat die Frau einen Anspruch<br />

auf Aussetzung der Abschiebung, nach der Geburt wird<br />

in der Regel richtiger Weise völlig unproblematisch die Aufenthaltserlaubnis<br />

gem. § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG erteilt.<br />

Die Beziehung zu dem Kind deutscher Staatsangehörigkeit ist<br />

also schutzwürdig. Und das, obwohl die Frau in diesem Beispiel<br />

weder bei Zeugung noch bei Geburt im Besitz eines rechtmäßigen<br />

Aufenthaltstitels gewesen ist. Dass auch unrechtmäßige<br />

Voraufenthaltszeiten ein schutzwürdiges Privatleben<br />

entstehen lassen, hat in den vergangenen <strong>Jahre</strong>n als eines<br />

der wenigen Gerichte der Verwaltungsgerichtshof Baden-<br />

Württemberg anerkannt. 7<br />

2. Rechte der Kinder<br />

Insbesondere für die Rechte der Kinder hat die Ignoranz des<br />

Schutzes des Privatlebens der Kinder fatale Folgen. Die Rechte<br />

von minderjährigen Kindern werden in der deutschen Rechtsprechung<br />

unzureichend berücksichtigt. Nach ständiger Rechtsprechung<br />

einer Vielzahl von Obergerichten „teilen minderjährige<br />

Kinder aufenthaltsrechtlich grundsätzlich das Schicksal<br />

ihrer Eltern (sog. familienbezogene Gesamtbetrachtung). Steht<br />

den Eltern etwa wegen deren mangelnder Integration in die<br />

Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland über Art.<br />

8 EMKR i.V.m. § 25 Abs. 5 AufenthG kein Aufenthaltsrecht zu,<br />

so ist davon auszugehen, dass auch ein Minderjähriger, der<br />

im Bundesgebiet geboren wurde oder dort lange Zeit gelebt<br />

hat, grundsätzlich auf die von den Eltern nach der Rückkehr im<br />

Familienverband zu leistenden Integrationshilfen im Heimatland<br />

verwiesen werden kann“. 8<br />

Das klingt beinah so, als würden die Grundrechte aufgrund<br />

der Minderjährigkeit nur eingeschränkte Geltung haben. Dass<br />

7 VGH BW, Urt. v. 13.12.2010 – 11 S 2359/10, abzurufen unter: www.asyl.net<br />

8 zitiert nach: OVG Lüneburg, Beschl. v. 9.11.2010 – 8 PA 265/10 – S. 2, abzurufen<br />

unter: www.asyl.net<br />

7


Dienstags und Donnerstags ist<br />

Fußballtraining, am Wochenende<br />

häufig noch ein Spiel. Das<br />

Kind ist regelmäßig zu Kindergeburtstagen<br />

eingeladen, lädt<br />

selbst jedes Jahr 4 oder 5 Kinder<br />

ein. Wenn dieses Kind (und<br />

seine Eltern) lediglich im Besitz<br />

einer Bescheinigung über die<br />

Aussetzung der Abschiebung<br />

(Duldung) ist, soll dieses Privatleben<br />

nicht selbständig Geltung<br />

beanspruch können? Das kann<br />

nicht richtig sein. Die Entscheidungspraxis<br />

der Obergerichte<br />

steht im Widerspruch<br />

zum völkerrechtlichen Verständnis<br />

der Menschenrechte.<br />

Diese sind als Individualrechte<br />

ausgestaltet, die nicht in Abhängigkeit<br />

zum Alter oder dem<br />

Bestehen z.B. von familiären<br />

Verbindungen stehen. 10<br />

dies nicht zutrifft, ist unstreitig. Zur Verdeutlichung sei an die<br />

Diskussionen in Deutschland angesichts der Neuregelung des<br />

§ 218a StGB (straffreier Schwangerschaftsabbruch) erinnert.<br />

Selten hat ein Gesetz 9 solch ein mediales Echo erfahren und<br />

wurden die Beratungen so ausführlich in den Medien dargestellt.<br />

Für die Abstimmung wurde gar der Fraktionszwang<br />

aufgehoben. Letztlich wurde geregelt, dass ein straffreier<br />

Schwangerschaftsabbruch – in der Regel – nur bis zum dritten<br />

Schwangerschaftsmonat möglich sei. Weshalb: Weil danach das<br />

Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit des Nasciturus<br />

das Recht der – werdenden – Mutter auf Selbstbestimmung über<br />

ihren Körper überwiegt. Sobald sich die befruchtete Eizelle in<br />

der Gebärmutter eingenistet hat und die Zellteilung begonnen<br />

hat, ist dieser Zellhaufen Träger von Rechten.<br />

Um im Bild zu bleiben: Sieben <strong>Jahre</strong> später ist dieser Zellhaufen<br />

ein Schulkind. Stellen wir uns das Privatleben des Kindes vor:<br />

Es ist über sechs <strong>Jahre</strong> in diesem Stadtteil aufgewachsen, hat<br />

drei <strong>Jahre</strong> den Kindergarten besucht. Das Kind spricht natürlich<br />

fließend die deutsche Sprache, kennt jeden Spielplatz in einem<br />

Radius von 5 km um die eigene Wohnung herum und wird von<br />

der Verkäuferin in der Bäckerei mit Namen begrüßt (ab und<br />

zu bekommt es auch ein Croissant geschenkt). Die Frau, die<br />

Parterre wohnt, passt ab und zu auf das Kind auf, wenn die<br />

Mama arbeiten gehen muss und wird von dem Kind „Oma“<br />

genannt. Die wirklichen Großeltern kennt es nur vom Telefon.<br />

IV. Folgen<br />

In jedem Fall der Eröffnung des Schutzbereiches von Art. 8<br />

Abs. 1 EMRK ist das tatsächlich gelebte Privatleben aus der<br />

Perspektive des Kindes zu ermitteln. Nur dann kann die gem.<br />

Art. 8 Abs. 2 EMRK gebotene Verhältnismäßigkeit geprüft<br />

werden. Noch einmal sei auf die Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofes<br />

Baden-Württemberg verwiesen. Hinsichtlich des<br />

Privatlebens der Tochter der klagenden Familie, der Klägerin<br />

zu 3, wurde festgestellt: „Auch im Übrigen lebt die Klägerin zu<br />

3 – wie ihre Angaben in der mündlichen Verhandlung verdeutlicht<br />

haben – in einer Weise, wie sie auch unter Gleichaltrigen<br />

deutscher Herkunft praktiziert wird. Sie erhält mittlerweile<br />

Klavierunterricht und hört am liebsten Musik der Richtung „Hip<br />

hop“. Sie schaut in ihrer Familie oder gemeinsam mit Freunden<br />

und Freundinnen Fernsehsendungen deutscher Privatsender.<br />

Die Klägerin zu 3 kleidet sich in einer Art, wie sie auch unter<br />

jungen deutschen Mädchen üblich ist. Sie geht mit einem Bikini<br />

ins Schwimmbad und trägt kurze Hosen sowie dekolletierte<br />

Oberbekleidung“. 11<br />

Erst wenn das Privatleben aller Betroffenen umfassend eruiert<br />

wurde, kann in die Verhältnismäßigkeitsprüfung eingetreten<br />

werden. An dieser Stelle ist die Frage zu entscheiden, ob die<br />

Betroffenen als „faktische Inländer“ zumutbar nur noch im<br />

9 BT-Drs. 13/285; 13/27; 13/1850<br />

10 vgl. Maierhöfer, a.a.O., S. 373<br />

11 VGH BW, s. Fn. 7<br />

12 EGMR, s. Fn. 6, S. 141<br />

8


<strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>Berliner</strong> <strong>Härtefallkommission</strong> — Bleiberecht als Menschenrecht<br />

Bundesgebiet leben können. Wenn dies der Fall ist, muss den<br />

Betroffenen der weitere Aufenthalt im Bundesgebiet ermöglicht<br />

werden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass insbesondere<br />

der Begriff der „faktischen Inländer“ im Zusammenhang mit<br />

Ausweisungsfällen entwickelt wurde. In diesen Fällen lag in der<br />

Regel ein besonderes öffentliches Interesse an der Aufenthaltsbeendigung<br />

aufgrund massiver Straffälligkeit vor. In dem oben<br />

gebildeten Beispielfall des sechsjährigen Schulkindes bestünde<br />

ein solch massives Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung<br />

nur in ganz wenigen Ausnahmefällen. Das bedeutet insbesondere:<br />

es muss nicht immer eine Unmöglichkeit der (Re-)<br />

Integration in das Herkunftsland (der Eltern) vorliegen, um zu<br />

dem Ergebnis zu kommen, dass der Schutz des Privatlebens<br />

das öffentliche Interesse an der Aufenthaltsbeendigung überwiegt.<br />

Und schließlich: Ja, nach hiesiger Ansicht lässt sich aus Art. 8<br />

Abs. 1 EMRK ein menschenrechtlicher Anspruch auf Erteilung<br />

einer Aufenthaltserlaubnis ableiten! In der Rs. Sisojeva hatte<br />

der EGMR eben diese Frage zu entscheiden. Dabei wurde durch<br />

das Gericht entschieden, dass es für das Gericht nicht zu entscheiden<br />

sei, welche Art von Aufenthaltstitel die Betroffenen<br />

erhalten würden. Dann führt das Gericht aus: „Soweit dieser<br />

[Aufenthaltstitel, Anm. des Verfassers] dem Inhaber gestattet,<br />

im Staatsgebiet des Aufnahmestaats zu wohnen und dort<br />

seine Rechte auf Achtung des Privat- und Familienleben frei<br />

auszuüben, stellt die Erteilung dieses Titels grundsätzlich eine<br />

hinreichende Maßnahme zur Erfüllung der Anforderungen des<br />

Art. 8 EMRK dar“. 12 Eine Bescheinigung über die Aussetzung<br />

der Abschiebung (Duldung) ermöglicht den Betroffenen aber<br />

gerade nicht, das Privatleben frei auszuüben. Diese wird –<br />

bei nicht ausreichender Sicherung des Lebensunterhaltes<br />

– mit wohnsitzbeschränkender Auflage erteilt und ermöglicht<br />

keinen Grenzübertritt. Familienbesuche im Ausland sind<br />

nicht möglich. Der Familiennachzug ist völlig ausgeschlossen.<br />

Visumerteilungen an Familienangehörige bei Einladung durch<br />

Betroffene, die lediglich im Besitz einer Bescheinigung über<br />

die Aussetzung der Abschiebung sind, sind eine seltene Ausnahme.<br />

Der Bezug von Kindergeld ist ausgeschlossen und<br />

weitere Sozialleistungen, die zu einer Verbesserung der<br />

Integration führen würden, sind ausgeschlossen. Das bedeutet:<br />

die Betroffenen können ihr Privat- und Familienleben<br />

nicht uneingeschränkt ausleben, wenn sie lediglich im Besitz<br />

einer Bescheinigung über die Aussetzung der Abschiebung<br />

sind. Die Stellung wäre mit Aufenthaltserlaubnis eine völlig<br />

andere. Schließlich wird in § 60a Abs. 3 AufenthG gesetzlich<br />

festgestellt: Die Duldung lässt die Ausreisepflicht fortbestehen.<br />

Personen, denen aus Art. 8 Abs. 1 EMRK ein Bleiberecht zusteht,<br />

sind nicht ausreisepflichtig.<br />

Es gibt eine menschenrechtliche geschützte Rechtsposition –<br />

der Schutz des Privatlebens im Sinne des Art. 8 Abs. 1 EMRK<br />

kann in bestimmten Konstellationen ein Bleiberecht und einen<br />

Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels vermitteln.<br />

Bleiberecht als Menschenrecht.<br />

Nach der Pause gab der Beitrag<br />

der Violinistin Gloria Marcela Diaz<br />

Dits, Titelinhaberin über die HFK<br />

Berlin, der Veranstaltung einen<br />

festlichen Rahmen. In einem<br />

bewegenden Vortrag spielte sie<br />

den 2. Satz aus dem Violinkonzert<br />

e-moll op. 64 von Felix Mendelssohn<br />

Bartholdy, die „Meditation Thaïs“<br />

von Jules Massenet sowie ein<br />

kolumbianisches Volksstück.<br />

9


Podium<br />

„Geschichtsstunde“<br />

Moderation: Nina Amin, Journalistin<br />

Teilnehmer_innen:<br />

Barbara John, Ausländerbeauftragte Berlin von 1981 bis 2003<br />

Traudl Vorbrodt, ehemaliges Mitglied der<br />

<strong>Härtefallkommission</strong> Berlin<br />

Michael Hampel, ehemaliger Leiter der Geschäftsstelle der<br />

<strong>Härtefallkommission</strong><br />

Peter Marhofer, Referatsleiter SenInnSport und<br />

Leiter der Geschäftsstelle der <strong>Härtefallkommission</strong><br />

Bayleen Villanueva, Jagtar Singh, Titelinhaber_innen über die<br />

<strong>Härtefallkommission</strong> Berlin<br />

Auf dem ersten Podium, das sich der Geschichte der <strong>Berliner</strong><br />

<strong>Härtefallkommission</strong> (HFK) widmete, berichtete Barbara John<br />

von ihrer Arbeit als erste Ausländerbeauftragte des <strong>Berliner</strong><br />

Senats. Zu ihrem Amtsantritt machte sie zur Bedingung, dass<br />

ihr Büro, zwar als Stabsstelle gedacht, auch als Anlaufstelle für<br />

Menschen mit aufenthaltsrechtlichen Problemen fungierte.<br />

Grundlegend dafür war die Einsicht, dass die Lebenswirklichkeit<br />

der Zugewanderten, gerade im familiären Bereich – Kindernachzug,<br />

Ehebestandsjahr und die Folgen – in der Ausländergesetzgebung<br />

von 1965 nicht vorgesehen war. Außerdem<br />

waren die Ermessenspielräume der Beamtinnen und Beamten<br />

sehr groß. Dabei wurden – der damaligen Stimmung entsprechend<br />

– die öffentlichen Interessen gegenüber den persönlichen<br />

Notlagen der antragstellenden Person bevorzugt.<br />

„Zuwanderung war ein subversives Wort“, so beschrieb Frau<br />

John das vorherrschende Politikkonzept, das einen Verbleib<br />

in Deutschland damals vorrangig von der Arbeitssituation<br />

abhängig machte und die Sachbearbeitung der Ausländerbehörde<br />

einzige Ansprechperson für die Hilfesuchenden<br />

werden ließ.<br />

Deshalb brauchte ein rückständiges Ausländergesetz eine<br />

Härtefallbetrachtung, weil, so Frau John, „die Probleme der<br />

Menschen sich nicht nach Parteiprogrammen richten“. So<br />

wurde verhindert, dass jeder Fall einzeln mit der Sachbearbeitung<br />

ausgehandelt werden musste und man nur mit<br />

Glück an eine verständige Person geriet, die letztlich einen<br />

positiven Bescheid ausstellte.<br />

In einem engagierten Vortrag widmete sich Traudl Vorbrodt<br />

anschließend der 30-jährigen Entstehungsgeschichte der<br />

Härtefallregelung. Viel kompetente Geburtshilfe u. a. vom<br />

Flüchtlingsrat, von Amnesty International, der Alternativen<br />

Liste sowie der SPD war nötig, um eine als ungerecht und unmenschlich<br />

empfundene Gesetzgebung zu verbessern.<br />

Mitte der 80er <strong>Jahre</strong> kamen viele Flüchtlinge über die DDR<br />

nach West-Berlin mit der Folge, dass sie ohne Ansehen des<br />

individuellen Schicksals im Zuge von Massenabschiebungen<br />

vom Flughafen Tegel aus in ihre Herkunftsländer zurückgeschickt<br />

wurden. Diese Massenabschiebungen sorgten unter<br />

anderem bei der Kirchenasylbewegung für Entsetzen und<br />

ließen den Wunsch nach einer Härtefallregelung laut werden.<br />

Der damalige Innensenator Heinrich Lummer erkaufte stattdessen<br />

bei der Regierung der DDR die Visapflicht für tamilische<br />

Schutzsuchende sowie von nicht bekannter Stelle Rückreisedokumente<br />

für Menschen aus dem Libanon. Da die Ausländergesetze<br />

in der Würdigung einzelner Schicksale Mängel zeigten<br />

und die Behörden Sonderfälle als Belastung empfanden, beschloss<br />

der rot-grüne Senat den Einsatz einer HFK, die am<br />

05.07.1990 zu ihrer konstituierenden Sitzung zusammentrat,<br />

jedoch noch keine gesetzliche Grundlage besaß.<br />

Nach einem kurzfristigen Aus der HFK unter der folgenden<br />

großen Koalition, die die Arbeit einer nicht-gewählten Gruppe<br />

als Ausgrenzung demokratischer Institutionen empfand,<br />

leistete die <strong>Berliner</strong> HFK bis 2004 „gesetzlose Härtefallarbeit“,<br />

die Frau Vorbrodt oft als frustrierend und ärgerlich<br />

empfand. Besonders der Umgang mit Menschen, die Straftaten<br />

begangen hatten, die nach Verbüßung ihrer Gefängnisstrafe<br />

quasi automatisch abgeschoben wurden, wurde als<br />

doppelte Bestrafung angesehen. Die Tätigkeit zeigte ihr aber<br />

auch, dass humanitäre Schutzgewährung mit dem Mut und<br />

10


<strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>Berliner</strong> <strong>Härtefallkommission</strong> — Podium „Geschichtsstunde“<br />

Interesse der Entscheidungsträger und politischen Parteien<br />

steht und fällt.<br />

Dennoch konnte die HFK Berlin von 1990 bis 2004 knapp 2.000<br />

Menschen helfen, ohne gesetzliche Grundlage einen Aufenthaltstitel<br />

zu erlangen. 2005 schließlich wurde unter Innenminister<br />

Otto Schily die Härtefallregelung mit § 23a des Aufenthaltsgesetzes<br />

bundesweit legitimiert.<br />

Michael Hampel begrüßte diesen Schritt, weil es seitdem<br />

leichter ist, einen Fall positiv zu entscheiden.<br />

Die Titelinhaberin Bayleen Villanueva berichtete dann von ihrem<br />

Leben als in Deutschland geborene Tochter philippinischer<br />

Eltern. Sie lebte 21 <strong>Jahre</strong> ohne Papiere in Deutschland und<br />

konnte deshalb kein Abitur machen. Nach ihrer mittleren Reife<br />

erlangte sie über die <strong>Härtefallkommission</strong> einen Aufenthaltstitel.<br />

Erst mit Erteilung des Titels vier <strong>Jahre</strong> nach ihrem Schulabschluss<br />

konnte sie eine Ausbildung beginnen. Sie machte<br />

ihren Führerschein und konnte trotz der schwer erklärbaren<br />

Lücke in ihrem Lebenslauf eine Ausbildung abschließen, seit<br />

2014 absolviert sie zusätzlich ein BWL-Studium.<br />

Peter Marhofer bezeichnete als Vorteil des § 23a den vergrößerten<br />

Handlungsspielraum der HFK und der Innenministerien,<br />

die die Beziehung zwischen Gerechtigkeit und<br />

Humanität nun auf gesetzlicher Grundlage berücksichtigen<br />

können. Dennoch sieht er nach wie vor das Problem der Messbarkeit,<br />

was gerecht und humanitär ist, weil es keine objektiv<br />

überprüfbaren Wahrheiten in der Einzelfallbetrachtung<br />

gibt. Selbst das Kriterium der Lebensunterhaltssicherung<br />

ist individuell unterschiedlich zu gewichten. Ebenso die Bewertung<br />

von Straftätern, deren Abschiebung in einem rechtlichen<br />

und sozialen Spannungsfeld zum Resozialisierungsauftrag<br />

im Strafvollzugsgesetz und den im Vollzug hierfür<br />

entstehenden Kosten steht. Als Problem empfindet er, dass<br />

seit dem Arbeitsbeginn des neuen <strong>Berliner</strong> Senats nur noch ein<br />

Drittel der Fälle vom Innensenator positiv beschieden werden,<br />

unter seinem Vorgänger waren es noch zwei Drittel.<br />

In diesem Zusammenhang widmete sich Herr Marhofer auch<br />

der hohen Ablehnungsquote von Balkanflüchtlingen, deren<br />

Rückkehr in ein vermeintlich sicheres Herkunftsland nach<br />

politischer Vorgabe per se zumutbar ist. In den Augen der<br />

HFK ist das eine Verallgemeinerung, die Menschen aus diesen<br />

Ländern benachteiligt.<br />

Herr Marhofer betonte ungeachtet dessen den hohen Stellenwert<br />

der Arbeit der HFK für die Innenverwaltung.<br />

Im Folgenden machte Frau John deutlich, dass das damals<br />

sehr rudimentäre Ausländergesetz beim Ehegattennachzug<br />

noch gar nicht berücksichtigen konnte, was alles regelungsbedürftig<br />

war. Beispielsweise ein notwendiges eigenständiges<br />

Aufenthaltsrecht für nachgezogene Ehefrauen. Die Gesetzeslage<br />

machte es bis zu einer <strong>Berliner</strong> Härtefallregelung möglich,<br />

dass die ABH Ehemännern half, ihre unerwünschten Frauen in<br />

deren Herkunftsländer zurückzuschicken.<br />

Nina Amin<br />

Herr Jagtar Singh schilderte, dass er 2002 von Indien nach<br />

Berlin kam und erst 2015 im zweiten Anlauf einen Titel mit<br />

Hilfe der HFK erwirken konnte. Nach 13 <strong>Jahre</strong>n ist er nun endlich<br />

in der Lage, seine Eltern in Indien zu besuchen.<br />

Die folgende Diskussion widmete sich dem Problem der langen<br />

Dauer von bis zu einem Jahr oder sogar länger zwischen Antragstellung<br />

und Verhandlung, die für die Antragsteller eine<br />

große Belastung ist. Herr Marhofer wies darauf hin, dass<br />

Stellenanmeldungen beim Finanzsenator erfolglos waren, obwohl<br />

ein beschleunigtes Verfahren in jedem Fall Kosten spart.<br />

Nach dem neuesten Stand besteht aber Aussicht auf eine<br />

zusätzliche Stelle im gehobenen Dienst. Er machte zudem<br />

deutlich, dass das neue Bleiberecht auch weiterhin Härtefälle<br />

produzieren wird.<br />

Insbesondere die Situation unbegleiteter Minderjähriger bedarf<br />

besonderer Beachtung. Wie Herr Kliebe in seinem Vortrag<br />

ausführte, müsste die UN-Kinderrechtskonvention, die<br />

von Deutschland ebenfalls ratifiziert wurde, Minderjährigen<br />

in bestimmten Situationen den Status sichern. In der Praxis<br />

erkennen jedoch die Behörden nicht an, dass Kinder eigene<br />

Rechte haben und ihre Fälle gesondert vom Status der Eltern<br />

betrachtet werden müssten.<br />

Auf die Forderung von Canan Bayram, integrationspolitische<br />

Sprecherin von Bündnis 90/Die Grünen im <strong>Berliner</strong> Abgeordnetenhaus,<br />

nach einer schriftlichen Begründung von Ablehnungen<br />

durch den Innensenator erwiderte Herr Marhofer,<br />

dass eine solche aus Sicht der HFK und der Betroffenen zwar<br />

wünschenswert wäre, aber im Ermessen des Senators liegt,<br />

weil seine Entscheidung nicht justitiabel ist. Herr Hampel<br />

merkte an, dass die Konzeption des § 23a eine solche schriftliche<br />

Begründung nicht zulässt.<br />

11


Impulsvortrag<br />

Peter Marhofer zu 10 <strong>Jahre</strong>n Arbeit der HFK seit 2005<br />

Sehr geehrte Frau Senatorin Kolat,<br />

sehr geehrter Herr Senator Henkel,<br />

liebe Kolleginnen und Kollegen,<br />

liebe Gäste,<br />

was haben uns Frau John und Herr Hampel hier für einen ungewöhnlichen<br />

Prozess geschildert.<br />

Da finden sich im Umgang mit ausreisepflichtigen Migranten<br />

in Berlin hoch engagierte Vertreter des Staates und der Zivilgesellschaft<br />

zusammen und stellen übereinstimmend fest, dass<br />

es in den gesetzlichen Regelungen des Ausländerrechts Lücken<br />

gibt, die bei strikter Anwendung der Gesetze zu subjektiv als<br />

ungerecht empfundenen Ergebnissen führen und suchen nach<br />

gerechten Lösungen am Rande geltenden Rechts.<br />

Rechtsstaatlich betrachtet eine kritische Grauzone.<br />

Seit Schaffung des § 23a ist unser Handlungsspielraum größer<br />

geworden und vor allem gesetzlich abgesichert – ein Riesenfortschritt.<br />

Die Regelung ermöglicht nun offiziell die Berücksichtigung und<br />

Gewichtung von Aspekten der Gerechtigkeit im Einzelfall.<br />

Die Einbeziehung der Regelung in den Abschnitt der<br />

humanitären Aufenthaltstitel zeigt zudem aus meiner Sicht die<br />

innere Beziehung zwischen Gerechtigkeit und Humanität auf.<br />

Ein in unserem rechtsstaatlich orientierten System sehr ungewöhnlicher<br />

Vorgang.<br />

Warum?<br />

Dies wird deutlich, wenn man den Versuch unternimmt, das<br />

Verhältnis zwischen Recht und Gerechtigkeit in unserem<br />

liberalen rechtstaatlichen System zu analysieren:<br />

Meines Erachtens können drei grundsätzliche Positionen unterschieden<br />

werden:<br />

Die erste Extremposition würde beinhalten, dass ein Gesetz, das<br />

von Mehrheiten in der Gesellschaft als ungerecht empfunden<br />

wird, nicht befolgt werden muss.<br />

Rechtsstaatlich betrachtet ein unhaltbares Ergebnis.<br />

Die direkte extreme Gegenposition würde beinhalten, dass<br />

ohne Rücksicht auf gesellschaftliche Wahrnehmungen zur<br />

Frage der Gerechtigkeit jedes Gesetz als abschließend und verbindlich<br />

anerkannt werden muss, solange es von einem hierzu<br />

berufenen Gesetzgeber in Kraft gesetzt worden ist.<br />

Rechtsstaatlich betrachtet ein gewünschtes und gefordertes<br />

Ergebnis.<br />

Die rechtssystematisch in der Mitte zwischen beiden Extrempositionen<br />

angesiedelte Position akzeptiert geltendes Recht,<br />

sucht aber in als extrem ungerecht empfundenen Einzelfällen<br />

nach Lösungen außerhalb des Rechts.<br />

An dieser Stelle standen wohl Herr Hampel und Frau Vorbrodt<br />

in den 90er <strong>Jahre</strong>n.<br />

Ich verstehe in diesem Zusammenhang Humanität als einen<br />

Aspekt von Gerechtigkeit im Sinne eines Ausgleichs sozialer<br />

Benachteiligung im Einzelfall.<br />

Und doch zeigt die Ausgangslage dieser drei Positionen das Dilemma<br />

auf, dass auch durch die Schaffung des § 23a AufenthG<br />

bis zum heutigen Tage nicht aufgelöst werden konnte:<br />

Zwar haben wir jetzt mit § 23a einen gesetzlichen Rahmen,<br />

der das Spannungsfeld zwischen der gesetzlich normierten Beendigung<br />

von Aufenthaltsrechten und gerechten humanitären<br />

Aspekten, trotzdem in Deutschland bleiben zu dürfen, auflösen<br />

oder reduzieren soll.<br />

Aber wer bewertet und wer kontrolliert, was gerecht und<br />

humanitär ist und dass Betroffene in vergleichbarer persönlicher<br />

Situation auch wirklich gleich behandelt werden?<br />

Die Anwendung des § 23a AufenthG ist nicht justitiabel.<br />

12


<strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>Berliner</strong> <strong>Härtefallkommission</strong> — Impulsvortrag<br />

Und dies hat seinen Grund sicherlich auch darin, dass es bis<br />

zum heutigen Tag keine sicheren und vor allem gesellschaftlich<br />

einheitlichen Maßstäbe dafür gibt, Gerechtigkeit und<br />

Humanität zu messen und zu bewerten.<br />

Einigkeit dürfte nur darüber bestehen, dass in jedem freiheitlichen<br />

Rechtsstaat Raum sein sollte, neben den gesetzlichen<br />

Regelungen auch Ideen der Gerechtigkeit in die Lösung von<br />

Einzelfällen einzubeziehen und § 23a AufenthG lässt ja auch<br />

genau diese Erwägungen zu.<br />

Sogar mancher Kirchenasylfall konnte in diesem Rahmen einer<br />

für alle Beteiligten annehmbaren Lösung zugeführt werden.<br />

Aber die Kernfrage ist geblieben: Was ist gerecht?<br />

Von Aristoteles bis heute gibt es hierzu keine klaren Antworten.<br />

Bei Aristoteles bedeutet Gerechtigkeit, jeder Person frei von<br />

Willkür das ihr Zustehende zukommen zu lassen.<br />

In der Neuzeit wird Gerechtigkeit häufig daran gemessen, ob<br />

die gesetzlichen Regeln inhaltlich gerecht erscheinen.<br />

Beides hilft im Kontext des § 23a AufenthG , also bei der Einzelfallbetrachtung<br />

unter dem Blickwinkel von humanitärem gerechten<br />

Denken nicht weiter.<br />

Es gibt hier keine objektiv überprüfbaren Wahrheiten, sondern<br />

nur unsichere und uneinheitliche Vorstellungen als Ausdruck<br />

subjektiven Fühlens und Wahrnehmens.<br />

Zwei Gedanken hierzu aus den letzten 10 <strong>Jahre</strong>n:<br />

Der Anteil positiver Entscheidungen der angemeldeten und in<br />

der HFK beratenen Fälle betrug in der Amtszeit von Senator Dr.<br />

Körting ca. zwei Drittel der Fälle, aktuell in der Amtszeit von<br />

Senator Henkel nur noch ca. ein Drittel der Fälle.<br />

Dies ist allerdings nur teilweise auf grundsätzlich unterschiedliche<br />

Vorstellungen der beiden Senatoren zurück zu führen,<br />

in welchen Fallkonstellationen ein Bleiberecht gerecht erscheint,<br />

z.B. bei der Bewertung der Bedeutung der Lebensunterhaltssicherung,<br />

teilweise auch hinsichtlich der Bewertung<br />

und Gewichtung von Straftaten in Abwägung zu positiven<br />

Integrationsleistungen in der Gesamtbiografie der Betroffenen.<br />

Die negative Entwicklung der Zahlen hat – wie Sie wissen –<br />

jedoch auch noch ganz andere Gründe.<br />

Diese bestehen darin, dass anders als in früheren <strong>Jahre</strong>n<br />

in deutlich höherer Zahl Fälle zur Beratung in der HFK angemeldet<br />

worden sind, in denen Menschen sich erst so kurze<br />

Zeit in Deutschland aufgehalten haben, dass die in der Regel<br />

für jede positive Entscheidung vorausgesetzten Integrationsleistungen<br />

von den Betroffenen schon aus zeitlichen Gründen<br />

gar nicht erbracht werden konnten.<br />

Dies gilt zu einem hohen Prozentsatz für die Menschen aus<br />

dem Westbalkangebiet, bei denen wir mit Ihnen darum streiten,<br />

ob die unstreitig bestehenden rechtlichen und sozialen Benachteiligungen<br />

im Herkunftsland in Verbindung mit häufig<br />

erheblichen Erkrankungen ein ausreichender Grund sind, allen<br />

hiervon betroffenen Menschen ein Bleiberecht nach § 23a<br />

AufenthG einzuräumen.<br />

Hier vertritt der Senator, aber auch die Geschäftsstelle der<br />

HFK die Auffassung, dass es für Menschen aus dem Westbalkangebiet,<br />

die erst kurze Zeit in Deutschland sind, in aller<br />

Regel nach Ablehnung ihres Asylantrags zumutbar ist und<br />

bleiben muss, in ihre Heimat zurück zu kehren, wenn keine Abschiebungshindernisse<br />

bestehen, während Sie dies auf Grund<br />

der massiven wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und persönlichen<br />

Benachteiligung dieser Menschen in den Westbalkanstaaten<br />

für inhuman und damit ungerecht halten.<br />

Uns bewegt hierbei, dass es auf der Welt sehr viele Menschen<br />

mit vergleichbarer rechtlicher und sozialer Benachteiligung<br />

gibt, die nicht alle in den Genuss des § 23a kommen können.<br />

Dies gilt heute umso mehr im Hinblick auf die immer weiter zunehmende<br />

Zuwanderung von Flüchtlingen nach Berlin, die hier<br />

als anerkannte Flüchtlinge eine Aufenthaltsperspektive haben<br />

und untergebracht und versorgt werden müssen.<br />

Sie bewegt unter dem Gerechtigkeitsaspekt stärker der persönliche<br />

Eindruck und die persönliche Betroffenheit gegenüber<br />

dem Schicksal der Menschen, die Sie beraten.<br />

Ich verstehe das, und trotzdem kommen wir an diesem Punkt<br />

nicht zusammen, wie Sie wissen.<br />

Ungeachtet dessen sollten wir zuversichtlich bleiben.<br />

§ 23a hat sich als unverzichtbares Instrument humanitärer<br />

Entscheidungen im Ausgleich von Recht und Gerechtigkeit erwiesen<br />

Es lohnt immer, um Gerechtigkeit im Einzelfall zu streiten.<br />

Es geht nicht um das Auffinden fester objektivierbarer Wahrheiten,<br />

sondern um die Suche nach humanitär motivierter Gerechtigkeit<br />

in unseren Beratungen – in jedem Einzelfall neu.<br />

Für Ihre Impulse, die Sie in diesem Prozess in jedem Einzelfall<br />

neu zur Verfügung stellen und mit Geduld, Beharrlichkeit<br />

und großem humanitären Engagement uneigennützig immer<br />

wieder neu verteidigen, bin ich Ihnen dankbar. Lassen Sie da<br />

nicht locker! Dieser Prozess lohnt es, immer wieder neu gegenseitig<br />

voneinander und miteinander zu lernen, den Ausgleich<br />

zwischen Recht und Gerechtigkeit zu finden.<br />

Vielen Dank!<br />

13


Podium „Die Rolle der HFK in einer sich weiterentwickelnden<br />

Einwanderungsgesellschaft“<br />

Moderation: Nina Amin, Journalistin<br />

Teilnehmer_innen:<br />

Bettina Nickel, Stellv. Leiterin des Katholischen Büros Bayern<br />

und Mitglied der Bayer. <strong>Härtefallkommission</strong><br />

Dr. jur. Petra Follmar-Otto, Leiterin der Abteilung<br />

Menschenrechtspolitik Inland/Europa, Deutsches Institut<br />

für Menschenrechte<br />

Dr. Michael Maier-Borst, Arbeitsstab der Beauftragten der<br />

Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration<br />

Engelhard Mazanke, Leiter der <strong>Berliner</strong> Ausländerbehörde<br />

Merdjan Jakupov, Amaro Drom e.V.<br />

Das zweite Podium begann mit einem Bericht von Bettina<br />

Nickel über ihrer Arbeit in der Bayerischen HFK, wo eine<br />

Erfolgsquote von 100% erreicht wird. Schon im Vorfeld sind in<br />

einzelnen Fällen Klärungen mit dem Innenministerium möglich,<br />

so dass weniger Fälle verhandelt werden müssen. Die<br />

Vorbereitung der Fälle, die schließlich dem Innenminister vorgelegt<br />

werden, ist so sorgfältig und zeitintensiv, dass sie nach<br />

einer Bearbeitungszeit von einem halben Jahr ausschließlich<br />

positiv beendet werden. Dabei betonte sie, dass anders als<br />

in Berlin sichere Herkunftsländer kein „Ausschlussgrund“ für<br />

einen positiven Bescheid sind.<br />

Engelhard Mazanke erläuterte, dass der von ihm als „Gnadenrecht“<br />

betitelte § 23a für seine Behörde insofern nicht von Bedeutung<br />

ist, als er bei den Entscheidungen vor einem Härtefallersuchen<br />

keine Rolle spielt. Im Falle eines Härtefallantrages<br />

wird durch seine Behörde automatisch eine Duldung ausgesprochen.<br />

Auch schon eingeleitete Abschiebungsverfahren<br />

werden umgehend gestoppt. Nach Ende des Härtefallverfahrens<br />

wird die dann getroffene Entscheidung der Senatsverwaltung<br />

für Inneres umgesetzt.<br />

Dr. Petra Follmar-Otto hob hervor, dass Menschenrechte jedem<br />

Menschen allein aufgrund seines Menschseins zustehen. Die<br />

Inanspruchnahme beispielsweise des Rechts auf Privatleben<br />

aus Art. 8 EMRK ist daher unabhängig vom Aufenthaltsstatus.<br />

Die Menschenrechte machen Vorgaben für nationale Gesetze,<br />

ein nationales Aufenthaltsrecht darf diese nicht übergehen.<br />

Sie wies darauf hin, dass Kinder eigene individuelle Rechtspositionen<br />

haben; sie dürfen deshalb bei Bleiberechtsentscheidungen<br />

nicht unter dem Blickwinkel des Verhaltens ihrer<br />

Eltern betrachtet werden. Das Kindeswohl ist ein vorrangiger<br />

Aspekt besonders in Bezug auf eine tragfähige Aufenthaltsperspektive.<br />

An den existierenden Bleiberechtsregelungen kritisierte Frau<br />

Dr. Follmar-Otto, dass diese nach wie vor einen Schwerpunkt<br />

auf Fragen von (wirtschaftlicher) Nützlichkeit haben. Wenn der<br />

Europäische Gerichtshof für Menschenrechte dagegen beim<br />

Recht auf Privatleben für die Beurteilung der Verwurzelung<br />

einer Person prüft, ob die Person berufstätig ist, geht es dabei<br />

um Berufstätigkeit als zentralen Ort sozialer Eingebundenheit<br />

und persönlicher Verwirklichung.<br />

Die schon im ersten Podium angesprochene schwierige<br />

Situation von Balkanflüchtlingen machte Merdjan Jakupov anschaulich.<br />

Deutschland hat eine wichtige wirtschaftliche und<br />

politische Stellung in der Welt und sollte Verantwortung für<br />

die Roma-Minderheiten in den Balkanstaaten übernehmen.<br />

Anders als nach der Einschätzung der Bundesregierung<br />

bzw. des Gesetzgebers sind die Länder Serbien, Bosnien und<br />

Herzegowina und Mazedonien laut Herrn Jakupov keine<br />

sicheren Herkunftsländer für Roma, weil sie die Roma-Rechte<br />

nicht anerkennen und die wirtschaftlichen Probleme der Mehrheit<br />

der Roma-Minderheiten an den gesellschaftlichen Rand<br />

drängen. Daher ist eine grundsätzliche Ablehnung von Flüchtlingen<br />

aus diesen Balkanstaaten falsch.<br />

Auch in seinem Fall hat die HFK geholfen. Herr Jakupov kam<br />

zur Aufnahme eines Freiwilligendienstes nach Deutschland<br />

und erhielt anschließend einen Aufenthaltstitel zur Studienvorbereitung.<br />

Die vorbereitenden Maßnahmen für das Studium<br />

14


<strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>Berliner</strong> <strong>Härtefallkommission</strong> — Podium „Die Rolle der HFK in einer sich weiterentwickelnden Einwanderungsgesellschaft“<br />

Einbeziehung muslimischer Organisationen als Mitglieder der<br />

HFK.<br />

Dr. Michael Maier-Borst, Merdjan Jakupov<br />

konnte er aber, auch wegen seiner Arbeit bei Amaro Drom,<br />

nicht innerhalb der vorgeschriebenen Frist abschließen. Die<br />

Auseinandersetzung mit der Ausländerbehörde führte nach<br />

der Einbeziehung der HFK zu einem positiven Ende, er bekam<br />

einen Aufenthaltstitel zur Beschäftigung.<br />

Herr Dr. Maier-Borst skizzierte kurz die systematischen<br />

Änderungen zwischen dem Ausländergesetz von 1990 und<br />

dem Aufenthaltsgesetz, das 2005 mit dem Zuwanderungsgesetz<br />

in Kraft trat. Die klaren, aber im Ergebnis – gerade im<br />

humanitären Bereich – zu strengen Regelungen des Ausländergesetzes<br />

wurden durch das Aufenthaltsgesetz etwas gelockert.<br />

Gleichwohl haben diese Änderungen, wie auch die Einführung<br />

der Härtefallregelung in § 23a AufenthG, nicht verhindern<br />

können, dass „Kettenduldungen“ auch nach 2005 in der Praxis<br />

eine große Rolle spielen.<br />

Es ist absehbar, dass die geplanten Änderungen bei der<br />

Bleiberechtsregelung für gut integrierte Jugendliche (§ 25a<br />

AufenthG) und die stichtagsunabhängige Bleiberechtsregelung<br />

(§ 25b AufenthG) weitere Verbesserungen für Geduldete<br />

bringen werden. Diese wird auch die <strong>Härtefallkommission</strong>en<br />

der Länder entlasten.<br />

Darauf erwiderte Herr Mazanke, dass das Aufenthaltsrecht<br />

Deutschlands schon heute als eines der fortschrittlichsten Zuwanderungsgesetze<br />

weltweit gilt. Für Berlin führte er an, dass<br />

im letzten Jahr 110.000 anerkannten Aufenthalten lediglich<br />

280 Ausweisungen und 602 Abschiebungen gegenüberstanden.<br />

Er forderte ausdrücklich, Zugewanderte aus dem prekären<br />

Status herauszuholen, was in der Konsequenz bedeutet, dass<br />

es schnellere Entscheidungen über Bleiben oder Gehen geben<br />

muss. Dabei ist die HFK zwar eine „segensreiche Institution“,<br />

die aber zu lange Laufzeiten von bis zu einem Jahr aufweist.<br />

Zudem empfahl er eine größere Öffnung der HFK, z.B. durch<br />

die Einrichtung einer eigenen Homepage sowie eine verstärkte<br />

Den Einwurf einer Sozialarbeiterin aus dem Publikum, dass<br />

die Mitarbeitenden der Ausländerbehörde teilweise nicht<br />

qualifiziert sind und zudem den Gedanken der Behörde als<br />

kundenorientierte Dienstleistungseinrichtung vermissen<br />

lassen, beantwortete Herr Mazanke, indem er auf die hohe<br />

Transparenz der Entscheidungskriterien sowie die großzügige<br />

Rechtsanwendung der Behörde verwies. Auch er erwartet<br />

von seinen Mitarbeitenden Kundenorientierung,<br />

machte aber darauf aufmerksam, dass bei 60 Fällen pro Tag<br />

und Mitarbeiter_in Empathie zwar wünschenswert, aber nicht<br />

immer machbar ist.<br />

Seiner Einschätzung nach erfüllen von den über 10.000 Ausreisepflichtigen<br />

im Land Berlin ca. 1.600 das Kriterium der<br />

Aufenthaltsdauer mit Duldung und können somit von der erwarteten<br />

neuen Bleiberechtsregelung profitieren, wobei die<br />

weiteren Voraussetzungen natürlich erfüllt sein müssen.<br />

Den von Herrn Mazanke erhobenen Vorwurf der langen Bearbeitungszeiten<br />

durch die HFK konterte Frau Nickel, indem sie<br />

auf das große Engagement der ehrenamtlichen Mitglieder der<br />

HFK hinwies, die trotz hoher Belastungen schneller arbeiten als<br />

das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Aber auch hier<br />

gilt, dass mehr Mitarbeiter in den Geschäftsstellen die Wartezeiten<br />

deutlich verkürzen können.<br />

Eine Mitarbeiterin des Flüchtlingsrates forderte eine grundsätzliche<br />

Nachbesserung im neuen Bleiberecht. Sie wünschte<br />

sich statt der HFK, die sie als bürokratisch schwer und lediglich<br />

als „Nadelöhr“ für Hilfesuchende empfindet, eine bessere<br />

Bleiberechtsregelung, die die Anrufung einer HFK überflüssig<br />

macht.<br />

Herr Dr. Maier-Borst machte in diesem Zusammenhang noch<br />

einmal auf die substantielle Verbesserung der bevorstehenden<br />

Bleiberechtsregelung aufmerksam. Zukünftig ist es stichtagsunabhängig<br />

möglich, durch eine gesicherte Arbeit den Aufenthaltstitel<br />

zu erlangen. Auch wenn die Voraussetzungen zunächst<br />

nicht vorliegen, könnte man, wenn eine Abschiebung<br />

weiterhin nicht möglich sei, „nachbessern“ und einen neuen<br />

Antrag stellen.<br />

Zum Abschluss des Podiums stellte Frau Dr. Follmar-Otto die<br />

Frage, wie die HFK entlastet werden kann. Dabei erhob sie erneut<br />

die Forderung, dass in Fällen, in denen sich Bleiberechtsansprüche<br />

aus den menschenrechtlichen Verpflichtungen<br />

Deutschlands ableiten, ein Aufenthaltsrecht von Behörden und<br />

Gerichten zuerkannt wird. Würden diese Fälle nicht bei den<br />

HFK landen, wäre die Antragslage deutlich entspannter. Dafür<br />

braucht es eine verstärkte menschenrechtliche Qualifikation<br />

von Behörden und Justiz.<br />

15


Schlussbetrachtung<br />

von P. Frido Pflüger SJ<br />

Sehr geehrte Damen und Herren,<br />

wir sind am Ende unserer <strong>Fachtag</strong>ung angelangt, und ich soll<br />

nun noch einen <strong>Ausblick</strong> wagen.<br />

Ich mache zunächst noch einen ganz kurzen persönlichen<br />

<strong>Rückblick</strong>:<br />

Bis 2012 habe ich einige <strong>Jahre</strong> in den großen Flüchtlingslagern<br />

mit Hunderttausenden von Flüchtlingen in Kenia, Äthiopien<br />

und im Sudan gearbeitet. Die Flüchtlingsbewegungen hatten<br />

ganz andere Dimensionen als hier in Deutschland. Manchmal<br />

waren es Tausende, die an einem Tag dazukamen. Und das erstaunlichste<br />

war, dass kaum jemand von ihnen daran dachte,<br />

nach Europa zu gehen. Heim wollten sie, in ihre Heimat, und<br />

darauf warten sie oft 10, 15, 20 <strong>Jahre</strong>.<br />

Als ich hierherkam, fand ich eine sehr große geistige Enge vor,<br />

was Flüchtlinge betraf, und eine totale Unkenntnis der weltweiten<br />

Lage. Und ich musste mich an ganz kleine Zahlen gewöhnen.<br />

Über die Aufnahme von 5.000 Syrern wurde jahrelang<br />

diskutiert. Diese kleinen Zahlen auch in der HFK. Das juristische<br />

Denken war für mich neu. Aber wenn ich auf manchen internationalen<br />

Konferenzen über unsere deutsche Härtefallregelung<br />

sprach, dann waren meine Kolleg_innen immer sehr<br />

überrascht, weil so etwas in keinem anderen Land bekannt war.<br />

Und eigentlich ist es ja eine tolle Sache, dass Unzulänglichkeiten<br />

des Gesetzeswerkes durch eine vielseitig besetzte Kommission<br />

gemildert werden können. Nie wird es eine völlige Identität von<br />

Recht und Gerechtigkeit geben können, weil Gesetzte mit ihren<br />

verallgemeinerten Aussagen immer einen Raum offen lassen<br />

werden, wo man dann sagen kann: Eine Entscheidung ist zwar<br />

rechtens, aber sie ist nicht gerecht und tut Menschen Unrecht.<br />

Die Härtefallregelung versucht genau dies auszugleichen. Und<br />

es gelingt uns auch immer wieder.<br />

Heute würde ich es aber nicht mehr so formulieren, denn ich<br />

habe jetzt den Eindruck, dass unsere Gesetzeslage so sehr unvollkommen<br />

ist, dass wir dringend Verbesserungen schaffen<br />

16


<strong>Zehn</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>Berliner</strong> <strong>Härtefallkommission</strong> — Schlussbetrachtung<br />

müssten. Solange dies nicht geschieht, ist die HFK dringend<br />

nötig. Frau Kolat sagt zurecht, dass es nicht nur gerade Biographien<br />

gibt, und diese komplexen Biographien werden zunehmen<br />

bei all den gegenwärtigen Flucht- und Migrationsbewegungen.<br />

Wir tun uns z.B. sehr schwer mit der Regularisierung<br />

von nicht legalisierten Aufenthalten. Und die sicheren Herkunftsländer<br />

des Balkan sind alles andere als sicher für Roma,<br />

die ja oft auch eine lange Vorgeschichte in Deutschland hatten.<br />

Darüberhinaus sind wir alle gespannt, was denn jetzt wirklich<br />

herauskommen wird bei der neuen Bleiberechtsregelung mit<br />

all dem Beiwerk. Wir haben da ja die Befürchtung, dass wir im<br />

schlimmsten Fall eine Regelung erhalten, die auf niemanden<br />

mehr zutrifft.<br />

Und unsere eigene Geschichte in der HFK ist ja auch nicht<br />

rosig mit den sehr schlechten Umsetzungsergebnissen. In sehr<br />

vielen Fällen ist mir – wahrscheinlich auch meinen Kolleginnen<br />

und Kollegen – die Ablehnung vollkommen unverständlich.<br />

Und so wundere ich mich, dass der Herr Senator sich wundert<br />

über Fälle, die wir ihm vorlegen. Wir setzen uns ja vorher sehr<br />

intensiv mit sehr vielen ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und<br />

Mitarbeitern oft über lange Zeit mit den Fällen auseinander,<br />

und wir formulieren ja höchstens in einem Drittel der Fälle<br />

einen Antrag. Da bewirkt diese hohe Ablehnung zumindest bei<br />

mir eine hohe Frustration, ja sogar die Frage, ob es überhaupt<br />

Sinn macht, sich hier einzubringen, wenn 70 % der Eingaben<br />

abgelehnt werden. Da würde ja wahrscheinlich Würfeln noch<br />

zu gerechteren Ergebnissen führen.<br />

Eine andere Überlegung möchte ich noch andeuten, ob wir uns<br />

nicht zu sehr nach den Kriterien allgemein für einen Aufenthalt<br />

orientieren: Vollständige Sicherung des Lebensunterhaltes,<br />

Straflosigkeit, Gesundheit usw. Aber es geht ja um Härtefälle,<br />

wo vielleicht das gerade nicht mehr gegeben sein kann, und<br />

der Mensch trotzdem einen moralischen Anspruch hat, hier<br />

sein Leben leben zu können. Wir haben darüber gehört bei der<br />

Frage nach den humanitären Aufenthalten. Und da frage ich<br />

mich oft, ob die Behörden wirklich ihre Entscheidungsspielräume<br />

ausnutzen.<br />

Ein Punkt, der mir manchmal so durch den Kopf geht: Wieviel<br />

staatliches Geld verschleudern wir durch unsere Auflagen,<br />

z.B. durch die Verschleppung der Fälle oder durch das Arbeitsverbot<br />

– es ist mir übrigens noch nie verständlich gewesen,<br />

was das Arbeitsverbot mit der Passbeschaffung zu tun haben<br />

soll. Und welchen Personalaufwand brauchen wir, um unsere<br />

Regelungen durchzusetzen. Ich glaube, das rechnet niemand<br />

nach.<br />

Am Schluss möchte ich Ihnen allen danken, dass Sie sich für<br />

dieses Thema interessieren, für’s Mitdiskutieren, Mitdenken.<br />

Ich danke allen, die zum Gelingen beigetragen haben durch<br />

Ihre Beiträge, allen, die diese gelungene Tagung so gut vorbereitet<br />

haben. Und ich möchte hier auch einmal öffentlich<br />

herzlich danken für die gute Zusammenarbeit mit der Senatsverwaltung,<br />

wo sehr schnell und effektiv reagiert wird auf<br />

unsere Anträge und Anfragen, unkompliziert und immer<br />

freundlich. Danke.<br />

Ich wünsche uns allen einen langen Atem, denn unser Ziel ist<br />

doch, eine Gesellschaft zu gestalten, in der wir miteinander<br />

friedlich und zufrieden leben können, als freie Menschen, in<br />

Gerechtigkeit, mit Respekt vor der Würde jedes einzelnen.<br />

17


Mitglieder der <strong>Berliner</strong> <strong>Härtefallkommission</strong><br />

Herausgeber:<br />

Senatsverwaltung für Arbeit, Integration und Frauen<br />

Beauftragte des Senats von Berlin<br />

für Integration und Migration<br />

Potsdamer Straße 65, 10785 Berlin<br />

Fax: +49 30 9017-2320<br />

Koordination:<br />

Diane Schöppe, dia° Netzwerk für Kommunikation,<br />

www.diaberlin.de<br />

Text:<br />

Barbara Baumgärtel<br />

Redaktion:<br />

Frauke Steuber<br />

Fotos:<br />

Barbara Dietl, www.dietlb.de<br />

Layout:<br />

Oliver Miersch, www.oliver-miersch.de<br />

Alle Rechte vorbehalten<br />

Stand 2015

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