Kurfürstenstraße_Kathrin-Tschirner
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B u c h ‚K u r f ü r s t e n s t r a ß e‘<br />
Buch<br />
148 Seiten<br />
Maße<br />
13 cm x 21 cm<br />
Fotos<br />
<strong>Kathrin</strong> <strong>Tschirner</strong><br />
Layout<br />
Sven Lindhorst Emme<br />
Vorwort<br />
<strong>Kathrin</strong> <strong>Tschirner</strong>, Lena von Geyso<br />
Textauszüge im Buch<br />
Photovoice-Projekt des Frauentreff Olga – Notdienst Berlin e.V.<br />
Einband<br />
Lacktuch PVC, hochglänzend, leicht unterfüttert<br />
1. Auflage, 7 Exemplare<br />
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KATHRIN TSCHIRNER<br />
KURFÜRSTEN-<br />
STRASSE<br />
2015<br />
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7<br />
<strong>Kathrin</strong> <strong>Tschirner</strong><br />
VORWORT<br />
Prostitution macht 0,45 Prozent des BIP in Deutschland<br />
aus, was deutlich macht, dass es sich um kein Randphänomen<br />
handelt. Ein Diskurs über Sexarbeit ist dennoch schwer zu führen. Michel Foucault<br />
brachte in seiner These über das Verhältnis von Gegenstand und Diskurs ein, dass es nie<br />
nur einen Diskurs gibt, sondern immer mehrere. Welcher dieser Diskurse legitimiert,<br />
hinge demnach von den Machtverhältnissen ab.<br />
Auch wenn sich mit dem Verein „Hydra“ eine Lobby für Sexarbeit<br />
entwickelt hat, fallen die Frauen auf der <strong>Kurfürstenstraße</strong> durch nahezu alle Raster<br />
und Kategorien. Sie sind die, die am wenigsten Gehör bekommen. Ihre Dienstleistung wird sehr<br />
schlecht bezahlt und die Orte für die Ausübung werden immer mehr beschnitten. Der Hintergrund<br />
der Frauen ist komplex und auch wenn die Grenzen fließend sind, kann man momentan<br />
drei Hauptgruppen benennen: Die größte Gruppe der Sexarbeiterinnen und Transfrauen aus<br />
Ungarn und Bulgarien, gefolgt von deutschen Frauen mit Drogenhintergrund und denen, die<br />
schon seit mehreren Jahrzehnten ihr Geld auf der Straße verdienen.<br />
Berlin ist neben Rostock die einzige Stadt in Deutschland,<br />
die keinen Sperrbezirk für die Prostitution eingerichtet hat, was zur Folge hat, dass der<br />
Kontakt mit den Kunden und auch die Sexarbeit selbst innerhalb von Wohngebieten stattfinden.<br />
Die Frauen sind dadurch in einem vermeintlich geschützteren Raum als außer -<br />
halb des Stadtzentrums, jedoch führt diese Nähe auch zu Reibungen mit der direkten Nachbarschaft.<br />
Waren in den letzten Jahrzehnten fast immer die selben vertrauten Gesichter<br />
auf der Straße, wechseln diese heute ständig. Das Areal rund um die <strong>Kurfürstenstraße</strong> ist<br />
schon seit 1885 einer der wichtigsten Prostitutionsmärkte Berlins. In diesen 130 Jahren<br />
hat sich das Gebiet stark gewandelt, die Beweggründe für die Frauen aber sind auf einzigartige<br />
Weise gleich geblieben. Vor dem ersten Weltkrieg wurde durch Agenten in den<br />
industrieschwachen Ländern Ost-Europas nach immer neuen Mädchen gesucht, die von<br />
Stadt zu Stadt weitergereicht wurden. Eine weitere große Gruppe waren die deutschen<br />
Dienstmädchen, die der Leibeigenschaft der Arbeitgeber entfliehen wollten und keine andere<br />
Option sahen, als durch Prostitution wirtschaftlich eigenständig zu werden. Was<br />
den Frauen heute wie gestern gemein ist, sind die geringen Ressourcen, auf die sie zurückgreifen<br />
können und der Blick der Gesellschaft auf sie.
Vorwort<br />
Lena von Geyso<br />
Auch wenn ich selbst lange neben der <strong>Kurfürstenstraße</strong> gewohnt habe, wusste ich nicht, was<br />
mich im engen Kontakt durch mein Ehrenamt im Frauentreff „Olga“ erwarten würde.<br />
Berührungspunkte gab es kaum, das Zusammenleben war bis dato wie Öl und Wasser. Jeglicher<br />
Kontakt – und sei er nur mit den Augen – wurde ignoriert.<br />
Die begriffliche Zuschreibung ‚Prostituierte‘ ist noch immer<br />
so oberflächlich und negativ besetzt, dass die Protagonisten nicht als Individuen gesehen<br />
werden. An dem Begriff entzünden sich politische Diskussionen, fernab der Realität und des<br />
Alltags für die Mädchen und Frauen auf der <strong>Kurfürstenstraße</strong>, fernab auch der Hintergründe<br />
und Bedürfnisse aller Beteiligten. Umso wertvoller war es für mich, in Zusammenarbeit<br />
mit „Olga“ die Frauen zu Wort kommen zu lassen. Vierzehn von ihnen haben uns in<br />
unserem ‚Photovoice‘-Projekt Fragmente aus ihrem Leben erzählt. Auszüge sind in meinem<br />
Buch zu finden. Mit meiner Serie möchte ich davon erzählen, wie sich der Alltag der<br />
Mädchen und Frauen auf der <strong>Kurfürstenstraße</strong> darstellt. Daher setzt sich die Bilderserie wie<br />
ein Puzzle aus den Erzählungen der Frauen, der Umgebung und meinen Erfahrungen zu -<br />
sammen. Zwar gibt es noch viele Leerstellen – Einblicke die mir als sogenannter „Solider“<br />
nicht gelingen werden – gleichwohl sind die etlichen Fragmente, Seitenblicke und Momente<br />
für mich zu einem Ganzen geworden.<br />
Berlin, 2015<br />
DER<br />
Es sind die Details, die den Alltag unterbrechen, die uns<br />
KALEIDOSKOPISCHE faszinieren und verstören – jene Augenblicke, in denen sich<br />
BLICK<br />
etwas an uns festgesetzt hat, zu einem Teil der uns vertrau -<br />
ten Welt wird und uns diese seltsam fremd erscheinen lässt.<br />
Die Fotoarbeit KURFÜRSTENSTRASSE ist Zeugnis eines solchen Prozesses, in dem<br />
sich parallele Realitäten überschneiden und sich im Spiel von Eigenem und Fremdem neue<br />
Formationen und Blickwinkel eröffnen.<br />
KURFÜRSTENSTRASSE befragt die Wirklichkeit(en) der<br />
Prostitution und den Alltag von Sex-ArbeiterInnen in Berlin. Der Strich auf der <strong>Kurfürstenstraße</strong><br />
bildet, wenn auch für alle sichtbar ins Berliner Stadtbild eingeschrieben, noch immer<br />
einen blinden Fleck in den Augenwinkeln der Vorbeiziehenden. Seit einem Jahr arbeitet<br />
<strong>Kathrin</strong> <strong>Tschirner</strong> im Frauentreff OLGA. Dieses Ehrenamt ermöglicht es ihr, den Alltag der<br />
Frauen der <strong>Kurfürstenstraße</strong> kennenzulernen, abzubilden und zu erfragen.<br />
Es liegt eine besondere Herausforderung darin, laute und<br />
meinungsbildende Themen gleichzeitig vieldeutig und zusammenhängend abzubilden.<br />
<strong>Kathrin</strong> <strong>Tschirner</strong>s Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit der Prostitution ist auch eine<br />
Annäherung an die eigene Nachbarschaft; an das, was sie selbst mit der <strong>Kurfürstenstraße</strong><br />
verbindet und das, was sie von ihr trennt. Die analoge Kamera <strong>Tschirner</strong>s nähert sich diesem<br />
Mikrokosmos aus unterschiedlichen Blickwinkeln, die nur in ihrem beständigen Wechsel<br />
und ihrer Brechung erfahrbar werden. Wie in einem Kaleidoskop bringt die Serie unterschiedliche<br />
Lebenswirklichkeiten des heterogenen Zusammenlebens auf der <strong>Kurfürstenstraße</strong><br />
zur Anschauung. Dabei werden der Blick der Frauen, der des Umfeldes und die Erfahrungen<br />
der Fotografin fragmentiert und zueinander in Beziehung gesetzt.<br />
Ein Kaleidoskop besticht durch seine unendlichen Formationen,<br />
seine Spiegelungen und Facetten, die je nach Einstellung neue Bilder bilden.<br />
Poetisch an diesen optischen Geräten ist auch die Einfachheit ihrer Komplexität. Je mehr<br />
Bausteine sie vereinen, desto schillernder aber auch komplizierter werden ihre Bilder.<br />
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Der kaleidoskopische Blick<br />
Sex-Arbeit ist noch immer ein tabuisiertes Thema, das Mittel der Auseinandersetzung und<br />
der Abbildung erfordert, die der Ambivalenz Raum geben und die Frauen selbst zu Wort<br />
kommen lassen.<br />
Besonders intensiv in diesem Prozess war das ‚Photovoice‘<br />
Projekt, das <strong>Kathrin</strong> <strong>Tschirner</strong> mit den Frauen und OLGA zusammen umsetzen konnte.<br />
Dabei haben die Sex-Arbeiterinnen ihre Lebenswelt fotografiert und das Bild mit einer Ge -<br />
schichte aus ihrem Alltag kombiniert. Hier wird erfahrbar, wie sehr nebeneinander exis -<br />
tierende Welten das Leben eines jeden Einzelnen bestimmen: Die Frauen der Kurfürsten -<br />
straße nehmen verschiedene Rollen ein; neben ihrer beruflichen Tätigkeit sind sie<br />
Mütter und Freundinnen. „Ich habe das Gefühl irgendwie ein Doppelleben zu führen“,<br />
schildert eine der Frauen diese mehrdimensionale Realität auf der <strong>Kurfürstenstraße</strong>.<br />
„Ich würde hier nicht sein, wenn ich nicht müsste, aber trotzdem ist es ein ganz normaler<br />
Beruf. Auch wenn es für mich nicht so schön ist. Ich bin auch wie andere Menschen,<br />
ich habe eine Familie, einen Freund, eine Katze und Freunde.“ Es sind diese kleinen Momente<br />
des Dazwischen, in denen die fremde Welt Anknüpfungspunkte an die eigene Lebenswirklichkeit<br />
erhält, die zeigen, dass unsere Vorstellungen und Annahmen Projektionen sind,<br />
die immer wieder hinterfragt werden müssen.<br />
In diesem vielschichtigen Spiel aus dem Vertrauten und<br />
Fremden, die Dokumentation des Oberflächlichen und Unbekannten, liegt die Kraft der<br />
Bilder von KURFÜRSTENSTRASSE: <strong>Kathrin</strong> <strong>Tschirner</strong> zeigt die Welt der Prostitu -<br />
tion als eine Welt der Nachbarschaft; als etwas, das mit uns und neben uns existiert und als<br />
etwas, in dem heterogene Rollen und Realitäten nebeneinander existieren.<br />
Berlin, 2015<br />
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Ivanka<br />
Ich schlafe sehr oft im Park, denn ich genieße<br />
es in der Natur zu schlafen. Ich schlafe<br />
dort mit einer Decke. Es gibt frische Luft<br />
und ich kann den Himmel und die Sterne<br />
sehen, wenn ich auf der Wiese liege. Natur<br />
bedeutet für mich Leben. Es ist die Natur,<br />
die Gott geschaffen hat und ich liebe sie<br />
sehr.<br />
zum Teufel gehen, sondern zu Jesus in den<br />
Himmel.<br />
Bevor ich eine Bibel anfasse, muss ich sauber<br />
sein, duschen und beten, denn ich bin<br />
schmutzig, weil ich auf der Straße arbeite.<br />
Das ist meine eigene Regel. Die Bibel habe<br />
ich leider in Berlin verloren, als ich aus einem<br />
Hotel geflogen bin, aber den Glauben<br />
habe ich behalten.<br />
Ich werde gläubig sein für mein ganzes Leben<br />
und wenn ich sterbe, werde ich nicht<br />
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Eva<br />
Von den Autos die vorbeifahren hält fast<br />
keiner und die, die kommen, wollen Genuss<br />
ohne Schutz. Aber Hauptsache das<br />
ganze Auto ist mit Familienfotos tapeziert.<br />
Ein VIVA auf die Liebe zur eigenen Frau.<br />
Und VIVA, dass ich nur so selten hier bin.<br />
Ein paar Minuten später kommt einer, der<br />
immer rumläuft und darauf wartet, dass<br />
er angesprochen wird. Heute hat er Pech.<br />
Herzlich willkommen im Club. „Ich hab 10<br />
Minuten Zeit, wir können hier was Schnelles<br />
machen“, sagt der Casanova zu mir.<br />
„Können wir nicht“, antworte ich. „Wieso<br />
nicht?“ – „Weil ich auf einen solchen Mistplatz<br />
nicht gehe.“ – „Nicht?“ – „Nein!“<br />
stehst schon lange da, was?“ – „Ja“, sage ich.<br />
„Setz dich mal rein“. Ich steige ein. „Was<br />
machst du alles?“ fragt mich der Sombrero-Mann.<br />
Solche Fragen bedeuten zu 95 %<br />
Perversitäten. „Was möchtest du denn machen?“<br />
– „Sag erst du.“ – „Okay, das, das, das.“<br />
„Mmh, ich habe ganz spezielle Wünsche.<br />
Davon machst du hundert pro nichts. Na,<br />
maximal 20 Euro?“ „Wofür?“, ich bin ganz<br />
überrascht. „Für deine Zeit und du musst<br />
ja auch wieder 100 Meter zu Fuß zurückgehen.“<br />
Ist das Leben verrückt oder was?<br />
Einen Augenblick später kommt ein Auto.<br />
Ein Onkel mit riesengroßem Hut. „Du<br />
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Tanja<br />
Meine Fäuste habe ich vor allem am Anfang<br />
gebraucht, wegen der anderen Frauen.<br />
Weil die mich immer provoziert haben<br />
und dachten die ganze Straße gehört<br />
ihnen. Manche Frauen können den Platz<br />
nicht wechseln, sie müssen da hin wo ihre<br />
Zuhälter sie hinstellen.<br />
Russischen Rap, Rammstein und Mozart<br />
höre ich am liebsten. Ich bin eigentlich<br />
ein romantischer Typ, aber hier höre ich<br />
Rammstein zur Verstärkung und zum russischen<br />
Rap kann ich gut tanzen. Ich liebe<br />
Musik und ich liebe tanzen. Eigentlich<br />
wollte ich Tänzerin werden, aber als ich<br />
meine Mutter gefragt habe ob ich Tanzstunden<br />
bekommen kann, meinte sie: „Für<br />
so einen Dreck bezahle ich nicht.“ Sie hat<br />
neue Klamotten gebraucht und mir den<br />
Unterricht nicht bezahlt…<br />
Unter diesem Ring ist ein Tattoo. Das<br />
steht für die Liebe zu einem Mann. (...) Er<br />
wollte mich auch streicheln und mit mir<br />
kuscheln, aber ich wollte nicht. Im Januar<br />
bin ich hier vergewaltigt worden. Das, die<br />
Arbeit hier und das Warten auf ihn, haben<br />
mich kalt und leer werden lassen.<br />
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Lena<br />
Laura<br />
Für die einen ist es Neugier, für die anderen<br />
Rebellion und Provo kation und so<br />
lässt sich die Liste immer weiter führen.<br />
Eins haben sie allerdings alle gemeinsam –<br />
das schnelle und einfache Geld.<br />
Am Anfang verdient man noch schnell<br />
und einfach Geld. Doch das ändert sich<br />
dann genau so schnell.<br />
Viele dieser Mädchen/Frauen fangen dann<br />
an, sich mit Drogen zu betäuben, auch um<br />
den Erniedrigungen der Freier besser entgegen<br />
treten zu können.<br />
Ich habe das Gefühl irgendwie ein Doppelleben<br />
zu führen. Ich würde hier nicht<br />
sein, wenn ich nicht müsste, aber trotzdem<br />
ist es ein ganz normaler Beruf. Auch<br />
wenn es für mich nicht so schön ist.<br />
Ich bin auch wie andere Menschen, ich<br />
habe eine Familie, einen Freund, eine Katze<br />
und Freunde. Es wäre schön, wenn uns<br />
die Menschen ohne Vorurteile begegnen<br />
würden und offener wären.<br />
Denn wie wäre es wohl, wenn das Ihre<br />
Tochter wäre?<br />
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Anna<br />
Am Anfang habe ich für die Familie von<br />
meinem damaligen Mann das Geld verdient.<br />
Ich durfte von dem Geld nichts für<br />
mich behalten. Ich musste regelmäßig 2<br />
Tage am Stück durcharbeiten und dann<br />
ging es mir irgendwann so schlecht, dass<br />
ich nicht mehr genug Geld verdient habe.<br />
Ich wurde dann an eine andere Gruppe<br />
übergeben, weil es dort einen Mann gab,<br />
der keine Frau hatte. Und das ist jetzt<br />
mein Mann. Die Situation ist jetzt besser,<br />
weil ich weiß was mit dem Geld passiert.<br />
Jetzt habe ich zum ersten Mal seitdem ich<br />
arbeite die Macht über das Geld. Ich und<br />
mein Mann sind jetzt eine Einheit, unsere<br />
eigene Gruppe. Er bleibt zuhause und<br />
ist nicht hier mit auf der Straße und so<br />
geht das Geld nicht gleich flö ten.<br />
Nachdem ich vor kurzem ein Kind abgetrieben<br />
habe, möchte ich Geld verdienen<br />
um mich wieder selbst in Ordnung zu<br />
bringen. Haare färben, Nägel und Füße<br />
machen lassen, Kosmetik. Mich schön<br />
machen und mich wieder in Ordnung<br />
bringen.<br />
Einmal musste ich für 2 Wochen in einer<br />
Kneipe schlafen. Ich hatte keine Kraft,<br />
kein Geld, nichts um überhaupt die Arbeit<br />
zu machen, aber irgendwie kriege ich immer<br />
wieder Kraft. Gott hilft mir immer<br />
wieder, dass es mir besser geht.<br />
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Nadine<br />
Die Luden-Utensilien aus den 80ern. Rolex,<br />
Goldkette, Autoschlüssel mit Mercedes-Stern<br />
Anhänger, eine Geldwelle mit<br />
Cartiergeldklammer und ab und zu eine<br />
Kanone. Das waren die 80er live. Ja, Schießereien<br />
habe ich auch miterlebt. Da war<br />
hier noch richtig was los.<br />
Das gan ze Kiezleben war früher toll und<br />
hatte noch dieses verruchte, spannende,<br />
geheimnisvolle Leben. Wo man auch so<br />
ein bisschen stolz war, eine Hure zu sein.<br />
Es sei denn, man hatte einen bekloppten<br />
Typen am Hals, der sich um nichts gekümmert<br />
hat, so wie ich. Dann landete man<br />
mal im Zelt oder sonst wo.<br />
Heute muss eine Frau fast 100 Prozent von<br />
sich verkaufen, damit sie überhaupt ein<br />
bisschen was verdient. Der Lernprozess<br />
von alter zu junger Hure ist nicht mehr da.<br />
Früher haben die Alten den Jungen gezeigt<br />
wie man arbeitet. Wie man vernünftig<br />
kobert, wie man den Freier glücklich<br />
macht, aber mit einem anderen Programm,<br />
als er eigentlich wollte. Er geht trotzdem<br />
nach Hause mit dem Gefühl: das war die<br />
tollste Nacht meines Lebens.<br />
Die Arbeitsweise, die ich mal gelernt habe,<br />
kann ich heute kaum noch anwenden.<br />
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Daniela<br />
Die Schulden waren dann bald beglichen,<br />
weil man damals in den 80 ern manchmal<br />
2000 Mark am Abend verdienen konnte.<br />
Als ich dann 1,5 Jahre später, es war der 15.<br />
Mai, nach Hause kam, war die Wohnung<br />
leer. Meine Kinder, mein Mann, alle Möbel,<br />
einfach weg. Die Wohnung besenrein.<br />
Meine Kollegin nen haben Speed genommen,<br />
um mehr arbeiten und trinken zu<br />
können. Ich wollte es mal ausprobieren<br />
und mochte es sehr, bis mein Freund das<br />
dann mitgekriegt hat, da hab ich dann mal<br />
wieder Schläge kassiert.<br />
Ich bin in Turnschuhen zur Arbeit gegangen<br />
und hab mich da umgezogen. Das hat<br />
mich sehr vereinsamt, ich hab mir ein Lügengerüst<br />
aufgebaut, aus dem ich dann<br />
auch nicht mehr rauskam. Denn wer lügt,<br />
braucht ein gutes Gedächtnis und das hab<br />
ich leider nicht.<br />
Ich wünsche den Menschen, die wie ich<br />
in schwierige Lebenssituationen kommen,<br />
keine Angst davor zu haben, sich rechtzeitig<br />
Hilfe zu suchen und dass sie es schaffen,<br />
aus ihrem eigenen Gefängnis auszubrechen.<br />
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Piroska<br />
Ich habe kein eigenes Bett. Wenn ich eines<br />
habe, dann nur wenn ich dafür bezahle.<br />
Ich hatte noch nie eine eigene Wohnung<br />
in Berlin und schlafe im Frauentreff Olga,<br />
im Internet Café oder woanders. Aber ich<br />
fühle mich hier sowieso fremd und will gar<br />
kein eigenes Bett in Berlin, sondern eines<br />
in Ungarn. Dann geh ich nach Hause, zu<br />
meiner Familie, zu meinen Kindern und<br />
wir schlafen zusammen in einem Bett.<br />
stellen uns das oft zusammen vor. Das ist<br />
ein riesiges Gesprächsthema.<br />
Wir sehen uns oft die Schau fenster von den<br />
Möbelhäusern an, die hier um die Ecke<br />
sind. Das machen alle Frauen. Dann stellen<br />
wir uns vor, dass es unsere Möbel wären,<br />
in unseren eigenen Wohnungen. Wir<br />
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Daisy<br />
Mit 19 habe ich das erste Mal richtig gemerkt,<br />
dass ich eigentlich eine Frau bin<br />
und dann habe ich auch das erste Mal mit<br />
einem Mann Sex gehabt.<br />
In Berlin, in Deutschland, leben sehr unterschiedliche<br />
Menschen miteinander. (...)<br />
In Bulgarien werden alle Minderheiten<br />
sehr diskriminiert und die Leute vermischen<br />
sich nicht. (...) Man kann dort nicht<br />
als Transfrau leben, es ist sehr gefährlich.<br />
In diesem Job muss man einen starken<br />
Charakter haben, ein starkes Herz. Meine<br />
Kraft kommt von mir alleine, das bin einfach<br />
ich. Ich habe auch eine Familie, die<br />
eine große Hilfe für mich ist. Ich bin sehr<br />
stolz auf mich und dass ich so bin. Das<br />
kann nicht jeder machen.<br />
Manchmal verstecke ich mein Gesicht vor<br />
Kindern. Bei ganz kleinen Kindern ist es<br />
noch okay, aber größere Kinder, vor allem<br />
Jungs, sind manchmal schwie rig. Sie sprechen<br />
mich blöd an: „Ääh, was ist das, wie<br />
siehst du aus?“ Kinder sollen nicht über<br />
mich nachdenken, sondern spielen.<br />
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Sonya<br />
Ich bin auch sehr wütend auf diesen Ort,<br />
weil dort oft Sachen geklaut werden.<br />
Geldbörsen, Handys. Viele Kunden werden<br />
dort beklaut, wenn sie betrunken sind.<br />
Manche Drogenabhängige konsumieren<br />
und schlafen dort und viele Frauen benutzen<br />
es als Arbeits platz obwohl sie dort<br />
auch aufs Klo gehen. Vielleicht wäre es<br />
sauberer, wenn man da 2–3 große Müllcontainer<br />
hinstellt.<br />
Ich bin wegen Geld hier und um meine<br />
Familie zu unterstützen. Wenn ich auf der<br />
Straße bin, bin ich immer angespannt. Vor<br />
allem in der letzten Zeit, weil es sehr wenig<br />
Arbeit gibt. Wenn ich wieder keinen<br />
Schlafplatz oder kein Geld für ein Hotel<br />
habe, komme ich in den Frauentreff Olga<br />
und schlafe während der Öffnungszeiten.<br />
Wenn ich hier schlafe, dann fühle ich mich<br />
viel ruhiger. Meistens schlafe ich mit einer<br />
Freundin zusammen im Bett.<br />
In Deutschland kannst du ruhig arbeiten,<br />
in Bulgarien darfst du nicht einfach<br />
so auf der Straße stehen, dann kommt die<br />
Polizei und macht Stress. (…) Wir müssen<br />
aus der Stadt raus. Am Anfang war es sehr<br />
schwierig mich an die Situation in Berlin<br />
zu gewöhnen. Alle Leute können uns hier<br />
sehen, auch die Kinder.<br />
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Dzsenifer<br />
Es hat über 2 Jahre gedau ert, bis ich meinen<br />
Anspruch auf Leistungen vom Jobcenter<br />
durchbekommen habe. Sie wollten<br />
immer wieder Papiere die ich nicht besorgen<br />
konnte, wie zum Beispiel eine Aufenthaltsgenehmigung,<br />
die ich als EU-Bürgerin<br />
gar nicht mehr brauche.<br />
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Bildverzeichnis Seite 7–10<br />
#14-10-06 - Frau I<br />
#13-11-02 - Hinterhof II<br />
#14-07-08 - Kufürstenstraße<br />
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Bildverzeichnis Seite 11–19<br />
#14-08-01 - Hinterhof III<br />
#14-09-02 - Stiefel<br />
#13-11-01 - Bülowstraße<br />
Finanzamt<br />
#13-09-01 - Hinterhof I<br />
#13-08-01 - Blick Potsdamer<br />
Straße<br />
#14-07-03 - Frau V<br />
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Bildverzeichnis Seite 21–30<br />
#14-03-04 - Birkenwäldchen<br />
#14-01-01 - Genthiner Straße<br />
#14-08-02 - Hinterhof-<br />
Lützowstr II<br />
#14-01-04 - ehem. Getränkehandel<br />
#14-10-08 - Pflanze<br />
#15-01-06 - <strong>Kurfürstenstraße</strong><br />
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Bildverzeichnis Seite 31–40<br />
#14-06-04 - Schloss<br />
#14-11-04 - Zaun<br />
#14-06-05 - Gleisdreieck II<br />
#14-08-03 - Else-Lasker-<br />
Schüler-Straße<br />
#15-01-02 - 1000 Worte<br />
#14-06-01 - Wohnanlage<br />
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Bildverzeichnis Seite 41–49<br />
#14-08-06 - Fenster<br />
#14-03-03 - Else-Lasker-<br />
Schüler-Straße<br />
#14-10-04 - Wanderjacke<br />
#15-01-07 - Internet-Cafe II<br />
#14-09-01 - Brandschutzwand<br />
#14-10-05 - Stundenhotel III<br />
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Bildverzeichnis Seite 50–57<br />
#14-11-01 - Flitter<br />
#13-11-03 - Wall<br />
#14-09-07 - LSD Pornokino<br />
#14-08-07 - Gefälle<br />
#15-01-04 - Panda<br />
#14-01-02 - Karl-Heinrich-<br />
Ulrichs-Straße<br />
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Bildverzeichnis Seite 58–65<br />
#14-07-04 - Hinterhof II<br />
#14-07-05 - Bein<br />
#14-03-01 - Strahler<br />
#14-09-05 - Gleisdreieckpark<br />
II<br />
#15-01-08 - Cinderella<br />
#14-07-07 - Hinterhof-<br />
Lützowstr I<br />
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Bildverzeichnis Seite 66–75<br />
#14-10-02-1 - Stundenhotel I<br />
#14-09-06 - Gleisdreieckpark<br />
I<br />
#14-10-09 - Studenhotel IV<br />
#15-01-03 - Buch<br />
#14-10-07 - Frau III<br />
#14-08-05 - Wand<br />
142<br />
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Bildverzeichnis Seite 76–84<br />
#14-08-04 - Leiter<br />
#14-01-05 - Vorgarten<br />
#14-03-02 - Einstein<br />
#14-03-05 - Hand<br />
#14-07-01 - <strong>Kurfürstenstraße</strong><br />
148 I<br />
#14-06-03 - Tuch<br />
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145
Bildverzeichnis Seite 85–95<br />
#14-10-03 - Stundenhotel II<br />
#15-01-05 - Internet-Cafe I<br />
#14-05-02 - Brache École<br />
Voltaire<br />
#14-11-02 - Olga<br />
#14-07-06 - Parkplatz<br />
#14-06-02 - Hinterhof III<br />
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Bildverzeichnis Seite 96–101<br />
#14-10-01 - Frau Kirchplatz<br />
#14-09-03 - Frau VII<br />
#14-07-02 - Löwe<br />
#14-08-08 - <strong>Kurfürstenstraße</strong><br />
148 II<br />
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DANKSAGUNGEN Mein Dank geht an den Frauentreff Olga und insbesondere<br />
an: Lilli Böwe und Nora El-Ayachi mit denen ich das<br />
‚Photovoice‘ umsetzen durfte, die großartige Leiterin Monika Nürnberger, die Sprachmittlerinnen<br />
und an all die, die ich leider nicht schaffe aufzuzählen.<br />
Aspekte der Straße bis heute fremd geblieben.<br />
Ohne die Einbindung durch das Olga, wären mir viele<br />
Des weiteren möchte ich mich sehr bedanken bei: Ute Mahler,<br />
Vincent Kohlbecher und Gesa Lange für ihre Betreuung während meines Studiums und<br />
Abschlusses, den Sex-Arbeiterinnen und besonders bei Ivanka und Nadine die ich immer alles<br />
Fragen konnte, die mir die Dinge erklärt und mich begleitet haben, Sven Lindhorst-Emme<br />
für die schöne Zusammenarbeit und Buchgestaltung, Lena von Geyso für ihren kurratorischen<br />
Rat und ihr Vorwort, Kay Manteuffel für seine Zuneigung und Nahrung, Inga Bültbrune<br />
mit der ich immer alle Eindrücke teilen konnte, Jörg Krohmer vom Quartiersmanagement<br />
Tiergarten Süd, Petra Kolb von Hydra e.V., Heike Sievers vom Gangway e.V. - Straßensozialarbeit<br />
in Berlin, Barbara Esch Marowski für ihre Hilfe bei der Hintergrundrecherche, Matthias<br />
Vernaldi für seine Sicht als Freier.<br />
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COLOPHON<br />
© 2015 — <strong>Kathrin</strong> <strong>Tschirner</strong>, Berlin<br />
BUCHGESTALTUNG<br />
Sven Lindhorst-Emme, Berlin<br />
TEXT<br />
Lena von Geyso, Berlin<br />
TEXTAUSZÜGE IM BUCH<br />
Photovoice-Projekt des Frauentreff Olga – Notdienst<br />
Berlin e.V.<br />
DRUCK<br />
Europrint Medien GmbH, Berlin<br />
BUCHBINDEREI<br />
Reinhart & Wasser, Berlin<br />
EINBAND<br />
Lacktuch PVC, hochglänzend<br />
PAPIER<br />
Metapaper extrarough white, 120 g/m 2<br />
1. Auflage /7<br />
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