er ist wieder da 4L-5H
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Er <strong>ist</strong><br />
wied<strong>er</strong> <strong>da</strong>
Das Buch<br />
Er <strong>ist</strong> wied<strong>er</strong> <strong>da</strong> – ab<strong>er</strong> was könnte Adolf Hitl<strong>er</strong> denn heute noch<br />
anrichten? Diese bitt<strong>er</strong>böse Satire probi<strong>er</strong>t es einfach aus, indem sie<br />
ihn im heutigen B<strong>er</strong>lin wied<strong>er</strong><strong>er</strong>weckt. Und sie trifft deshalb von<br />
d<strong>er</strong> <strong>er</strong>sten Seite an so schm<strong>er</strong>zhaft, weil ihr Protagon<strong>ist</strong> d<strong>er</strong> echte<br />
Hitl<strong>er</strong> <strong>ist</strong>. Nicht d<strong>er</strong> TV-Ulkhitl<strong>er</strong>, nicht Hollywoods Haudraufhitl<strong>er</strong>,<br />
sond<strong>er</strong>n d<strong>er</strong> Mann, d<strong>er</strong> seine Umwelt eigenwillig analysi<strong>er</strong>t.<br />
D<strong>er</strong> mess<strong>er</strong>scharf und blitzartig die Schwächen d<strong>er</strong> Menschen <strong>er</strong>kennt.<br />
D<strong>er</strong> sturheil sein<strong>er</strong> bizarren Logik folgt, v<strong>er</strong>bohrt, ab<strong>er</strong> eben<br />
nicht bescheu<strong>er</strong>t.<br />
Dieses Buch üb<strong>er</strong> Adolf Hitl<strong>er</strong>s Weg von einem le<strong>er</strong>en Grundstück<br />
in B<strong>er</strong>lin-Mitte üb<strong>er</strong> einen Kiosk und eine türkische Reinigung bis<br />
hinein ins deutsche F<strong>er</strong>nsehen <strong>ist</strong> ein atemb<strong>er</strong>aubendes Lesev<strong>er</strong>gnügen,<br />
so boshaft wie p<strong>er</strong>fide: Weil d<strong>er</strong> Les<strong>er</strong> sich zunehmend<br />
<strong>er</strong>tappt, wie <strong>er</strong> nicht mehr üb<strong>er</strong> Hitl<strong>er</strong> lacht. Sond<strong>er</strong>n mit ihm.<br />
Lachen mit Hitl<strong>er</strong> – geht <strong>da</strong>s? Darf man <strong>da</strong>s üb<strong>er</strong>haupt?<br />
Finden Sie’s selbst raus. Dies <strong>ist</strong> schließlich ein freies Land.<br />
Noch.<br />
D<strong>er</strong> Autor<br />
Timur V<strong>er</strong>mes wurde 1967 in Nürnb<strong>er</strong>g als Sohn ein<strong>er</strong> Deutschen<br />
und eines Ungarn geboren. Er studi<strong>er</strong>te in Erlangen Geschichte<br />
und Politik und arbeitete anschließend als Journal<strong>ist</strong>. Er schrieb<br />
bis 2001 für die »Abendzeitung« und den Köln<strong>er</strong> »Express«, <strong>da</strong>nn<br />
arbeitete <strong>er</strong> für mehr<strong>er</strong>e Magazine, zuletzt für die Mode- und<br />
Fitness-Zeitschrift »Shape«. Seit 2009 v<strong>er</strong>öffentlichte <strong>er</strong> als Ghostwrit<strong>er</strong><br />
vi<strong>er</strong> Büch<strong>er</strong>, zwei weit<strong>er</strong>e sind in Vorb<strong>er</strong>eitung.
Timur V<strong>er</strong>mes<br />
Er <strong>ist</strong><br />
wied<strong>er</strong> <strong>da</strong>
Sämtliche Handlungen, Charakt<strong>er</strong>e und Dialoge in diesem Buch<br />
sind rein fiktiv. Ähnlichkeiten mit lebenden P<strong>er</strong>sonen und/od<strong>er</strong><br />
ihren Reaktionen, mit Firmen, Organisationen etc. sind schon deshalb<br />
zufällig, <strong>da</strong> unt<strong>er</strong> v<strong>er</strong>gleichbaren Umständen in d<strong>er</strong> Realität<br />
an d<strong>er</strong>e Vorgehens- und V<strong>er</strong>haltensweisen d<strong>er</strong> handelnden Figuren<br />
nicht vollständig ausgeschlossen w<strong>er</strong>den können. D<strong>er</strong> Autor legt<br />
W<strong>er</strong>t auf die Feststellung, <strong>da</strong>ss Sigmar Gabriel und Renate Künast<br />
nicht wirklich mit Adolf Hitl<strong>er</strong> gesprochen haben.<br />
Dies<strong>er</strong> Titel <strong>ist</strong> auch als Hörbuch und E-Book <strong>er</strong>schienen<br />
Eichborn V<strong>er</strong>lag in d<strong>er</strong> Bastei Lübbe GmbH & Co. KG<br />
Originalausgabe<br />
Copyright © 2012 by Bastei Lübbe GmbH & Co. KG, Köln<br />
Re<strong>da</strong>ktion: Dr. W<strong>er</strong>n<strong>er</strong> Irro<br />
Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel, punchdesign<br />
Einbandmotiv: © Johannes Wiebel, punchdesign, München<br />
Satz: Fotosatz Amann, Aichstetten<br />
Gesetzt aus d<strong>er</strong> Bembo<br />
Druck und Einband: CPI – Ebn<strong>er</strong> & Spiegel, Ulm<br />
Printed in G<strong>er</strong>many<br />
ISBN 978-3-8479-0517-2<br />
5 4 3 2 1<br />
Sie finden uns im Int<strong>er</strong>net unt<strong>er</strong> www.eichborn.de<br />
Bitte beachten Sie auch www.luebbe.de
Erwachen in Deutschland<br />
D<br />
as Volk hat mich wohl am me<strong>ist</strong>en üb<strong>er</strong>rascht.<br />
Nun habe ich ja wirklich <strong>da</strong>s Menschenmögliche<br />
getan, um auf diesem vom Feinde entweihten Boden<br />
die Grundlagen für eine Fortex<strong>ist</strong>enz zu z<strong>er</strong>stören.<br />
Brücken, Kraftw<strong>er</strong>ke, Straßen, Bahnhöfe, ich habe die<br />
Z<strong>er</strong>störung all dessen befohlen. Und inzwischen habe<br />
ich es auch nachgelesen, wann, <strong>da</strong>s war im März, und<br />
ich denke, ich habe mich in dies<strong>er</strong> Beziehung ganz klar<br />
ausgedrückt. Alle V<strong>er</strong>sorgungseinrichtungen sollten v<strong>er</strong>nichtet<br />
w<strong>er</strong>den, Wass<strong>er</strong>w<strong>er</strong>ke, Telefonanlagen, Produktionsmittel,<br />
Fabriken, W<strong>er</strong>kstätten, Bau<strong>er</strong>nhöfe, jegliche<br />
Sachw<strong>er</strong>te, alles, und <strong>da</strong>mit meinte ich auch: alles! Da<br />
muss man sorgfältig vorgehen, <strong>da</strong> <strong>da</strong>rf bei so einem Befehl<br />
kein Zweifel bestehen bleiben, <strong>da</strong>s kennt man ja,<br />
<strong>da</strong>ss <strong>da</strong>nn vor Ort d<strong>er</strong> einfache Sol<strong>da</strong>t, dem v<strong>er</strong>ständlich<strong>er</strong>weise<br />
in seinem Frontabschnitt d<strong>er</strong> Üb<strong>er</strong>blick, die<br />
Kenntnis d<strong>er</strong> strategischen, taktischen Zusammenhänge<br />
fehlt, <strong>da</strong>ss d<strong>er</strong> <strong>da</strong>nn kommt und sagt: »Ja, muss ich denn<br />
wirklich auch diesen, diesen, sagen wir einmal Kiosk<br />
hi<strong>er</strong> anzünden? Kann d<strong>er</strong> nicht dem Feind in die Hände<br />
fallen? Ist <strong>da</strong>s denn so schlimm, wenn dem Feind d<strong>er</strong><br />
Kiosk in die Hände fällt?« Das <strong>ist</strong> natürlich schlimm!<br />
D<strong>er</strong> Feind liest ja auch eine Zeitung! Er treibt Handel<br />
<strong>da</strong>mit, <strong>er</strong> wird den Kiosk gegen uns wenden, alles, was<br />
<strong>er</strong> vorfindet! Man muss alle, und ich unt<strong>er</strong>streiche es<br />
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nochmals, alle Sachw<strong>er</strong>te z<strong>er</strong>stören, nicht nur Häus<strong>er</strong>,<br />
auch Türen. Und Türklinken. Und <strong>da</strong>nn auch die Schrauben,<br />
und nicht nur die großen. Die Schrauben muss man<br />
h<strong>er</strong>ausdrehen und sie <strong>da</strong>nn unbarmh<strong>er</strong>zig v<strong>er</strong>biegen.<br />
Und die Tür muss man z<strong>er</strong>mahlen, zu Sägemehl. Und<br />
<strong>da</strong>nn v<strong>er</strong>brennen. Denn d<strong>er</strong> Feind wird sonst unnachsichtig<br />
selb<strong>er</strong> durch diese Tür ein und aus gehen, wie es<br />
ihm g<strong>er</strong>ade beliebt. Ab<strong>er</strong> mit ein<strong>er</strong> kaputten Klinke und<br />
laut<strong>er</strong> v<strong>er</strong>bogenen Schrauben und einem Haufen Asche,<br />
<strong>da</strong> wünsche ich dem H<strong>er</strong>rn Churchill viel V<strong>er</strong>gnügen!<br />
Jedenfalls sind diese Erford<strong>er</strong>nisse die brutale Konsequenz<br />
des Krieges, <strong>da</strong>s <strong>ist</strong> mir imm<strong>er</strong> klar gewesen, insof<strong>er</strong>n<br />
konnte mein Befehl auch gar nicht and<strong>er</strong>s gelautet<br />
haben, auch wenn d<strong>er</strong> Hint<strong>er</strong>grund meines Befehles ein<br />
and<strong>er</strong><strong>er</strong> war.<br />
Jedenfalls ursprünglich.<br />
Es war nicht mehr zu leugnen, <strong>da</strong>ss sich <strong>da</strong>s deutsche<br />
Volk zuletzt im epischen Ringen mit dem Engländ<strong>er</strong>,<br />
mit dem Bolschewismus, mit dem Imp<strong>er</strong>ialismus als <strong>da</strong>s<br />
unt<strong>er</strong>legene <strong>er</strong>wiesen hatte und <strong>da</strong>mit seine Fortex<strong>ist</strong>enz<br />
selbst auf dem primitivsten Stadium eines Jäg<strong>er</strong>- und<br />
Samml<strong>er</strong>tums, ich sage es schlicht: v<strong>er</strong>wirkt hatte. Von<br />
<strong>da</strong>h<strong>er</strong> hat es auch jegliches Anrecht auf Wass<strong>er</strong>w<strong>er</strong>ke,<br />
Brücken, Straßen v<strong>er</strong>spielt. Und auch auf Türklinken.<br />
Deshalb gab ich den Befehl, und ein wenig auch d<strong>er</strong><br />
Vollständigkeit halb<strong>er</strong>, denn natürlich habe ich <strong>da</strong>mals<br />
auch gelegentlich ein paar Schritte vor und um die<br />
Reichskanzlei getan, und man muss es <strong>da</strong> unwid<strong>er</strong>ruflich<br />
zur Kenntnis nehmen: D<strong>er</strong> Am<strong>er</strong>ikan<strong>er</strong>, d<strong>er</strong> Engländ<strong>er</strong>,<br />
sie hatten uns mit ihren Fliegenden Festungen in<br />
Hinsicht auf meinen Befehl schon großflächig eine beträchtliche<br />
Menge Arbeit abgenommen. Ich habe die<br />
Umsetzung dieses Befehls in d<strong>er</strong> Folgezeit natürlich<br />
8
nicht in allen Einzelheiten kontrolli<strong>er</strong>t. Man kann sich<br />
vorstellen, ich hatte viel zu tun, die Nied<strong>er</strong>ringung des<br />
Am<strong>er</strong>ikan<strong>er</strong>s im Westen, die Abwehr des Russen im<br />
Osten, die städtebauliche Weit<strong>er</strong>entwicklung d<strong>er</strong> Welthauptstadt<br />
G<strong>er</strong>mania und so weit<strong>er</strong>, ab<strong>er</strong> mit den übrigen<br />
Türklinken hätte die deutsche Wehrmacht mein<strong>er</strong><br />
Einschätz ung nach f<strong>er</strong>tigw<strong>er</strong>den müssen. Und insof<strong>er</strong>n<br />
hätte es dieses Volk eigentlich nicht mehr geben dürfen.<br />
Es <strong>ist</strong> ab<strong>er</strong>, wie ich jetzt feststelle, noch imm<strong>er</strong> <strong>da</strong>.<br />
Das <strong>ist</strong> mir einig<strong>er</strong>maßen unbegreiflich.<br />
And<strong>er</strong><strong>er</strong>seits: Ich bin ja auch <strong>da</strong>, und <strong>da</strong>s v<strong>er</strong>stehe ich<br />
genauso wenig.<br />
9
I<br />
ch <strong>er</strong>inn<strong>er</strong>e mich, ich bin <strong>er</strong>wacht, es dürfte früh<strong>er</strong><br />
Nachmittag gewesen sein. Ich öffnete meine Augen ,<br />
ich sah üb<strong>er</strong> mir den Himmel. Er war blau, leicht<br />
bewölkt , es war warm, und mir war sofort klar, <strong>da</strong>ss es<br />
für April zu warm war. Man konnte es fast heiß nennen.<br />
Es war v<strong>er</strong>gleichsweise still, üb<strong>er</strong> mir war kein Feindflieg<strong>er</strong><br />
zu sehen , kein Geschützdonn<strong>er</strong> zu hören, keine Einschläge<br />
in d<strong>er</strong> Nähe, keine Luftschutzsirenen. Ich reg<strong>ist</strong>ri<strong>er</strong>te<br />
auch: keine Reichskanzlei, kein Führ<strong>er</strong>bunk<strong>er</strong>.<br />
Ich wandte den Kopf, ich sah, ich lag auf dem Boden<br />
eines unbebauten Grundstücks, umgeben von benachbarten<br />
Häus<strong>er</strong>wänden, aus Ziegeln gemau<strong>er</strong>t, teilweise<br />
von Schmutzfinken beschmi<strong>er</strong>t, ich ärg<strong>er</strong>te mich sofort<br />
und beschloss spontan, Dönitz h<strong>er</strong>beizuziti<strong>er</strong>en. Ich<br />
<strong>da</strong>chte zu<strong>er</strong>st gar, wie in einem Halbschlumm<strong>er</strong>, ja liegt<br />
denn Dönitz auch hi<strong>er</strong> irgendwo h<strong>er</strong>um, <strong>da</strong>nn siegte die<br />
Disziplin, die Logik, ich <strong>er</strong>fasste rasch die Eigenwilligkeit<br />
d<strong>er</strong> Lage. Ich kampi<strong>er</strong>e üblich<strong>er</strong>weise nicht unt<strong>er</strong><br />
freiem Himmel.<br />
Zu<strong>er</strong>st üb<strong>er</strong>legte ich: Was hatte ich am Vorabend<br />
getan? Üb<strong>er</strong> unmäßigen Alkoholkonsum brauchte ich<br />
mir keine Ge<strong>da</strong>nken machen, ich trinke ja nicht. Ich<br />
<strong>er</strong>inn<strong>er</strong>te mich, zuletzt mit Eva auf einem Sofa gesessen<br />
zu haben, auf einem Plumeau. Ich <strong>er</strong>inn<strong>er</strong>te mich auch,<br />
<strong>da</strong>ss ich od<strong>er</strong> wir dort in ein<strong>er</strong> gewissen Sorg losigkeit<br />
i.<br />
10
saßen, ich hatte meines Wissens beschlossen, die Staatsgeschäfte<br />
ein mal ein wenig ruhen zu lassen, wir hatten<br />
keine weit<strong>er</strong>en Pläne für den Abend, Essen gehen od<strong>er</strong><br />
Kino od<strong>er</strong> d<strong>er</strong>gleichen kam selbstv<strong>er</strong>ständlich nicht infrage,<br />
<strong>da</strong>s Unt<strong>er</strong>haltungsangebot d<strong>er</strong> Reichshauptstadt<br />
war zu diesem Zeitpunkt, nicht zuletzt auch meinem<br />
Befehl gemäß , b<strong>er</strong>eits <strong>er</strong>freulich ausgedünnt. Ich konnte<br />
nicht mit Sich<strong>er</strong> heit sagen, ob in den folgenden Tagen<br />
Stalin in die Stadt kommen würde, es war zu diesem<br />
Zeitpunkt des Kriegsv<strong>er</strong>laufs nicht vollständig auszuschließen.<br />
Was ich ab<strong>er</strong> mit Sich<strong>er</strong>heit sagen konnte,<br />
war, <strong>da</strong>ss <strong>er</strong> hi<strong>er</strong> so v<strong>er</strong>geblich nach einem Lichtspieltheat<strong>er</strong><br />
gesucht haben dürfte wie in Stalingrad. Ich glaube,<br />
wir hatten <strong>da</strong>nn noch ein wenig geplaud<strong>er</strong>t, Eva und<br />
ich, und ich hatte ihr meine alte P<strong>ist</strong>ole gezeigt, weit<strong>er</strong>e<br />
Details waren mir bei meinem Erwachen nicht geläufig.<br />
Auch weil ich unt<strong>er</strong> Kopfschm<strong>er</strong>zen litt. Nein, die<br />
Erinn<strong>er</strong> ung an den Vorabend brachte mich hi<strong>er</strong> nicht<br />
weit<strong>er</strong> .<br />
Ich entschloss mich also, <strong>da</strong>s Heft des Handelns zu<br />
<strong>er</strong>greifen und mich mit mein<strong>er</strong> Situation näh<strong>er</strong> auseinand<strong>er</strong>zusetzen.<br />
In meinem Leben habe ich gel<strong>er</strong>nt,<br />
zu beobachten, zu betrachten, auch oft kleinste Dinge<br />
wahrzunehmen, die manch<strong>er</strong> Studi<strong>er</strong>te g<strong>er</strong>ing schätzt,<br />
ja ignori<strong>er</strong>t. Ich hingegen kann <strong>da</strong>nk jahrelang<strong>er</strong> eis<strong>er</strong>n<strong>er</strong><br />
Disziplin von mir ruhigen Gewissens sagen, ich<br />
w<strong>er</strong>de in d<strong>er</strong> Krise kaltblütig<strong>er</strong>, noch üb<strong>er</strong>legt<strong>er</strong>, die<br />
Sinne w<strong>er</strong>den schärf<strong>er</strong>. Ich arbeite präzise, ruhig, wie<br />
eine Maschine. Ich fasse methodisch zusammen, was<br />
ich an Informationen habe: Ich liege auf dem Boden.<br />
Ich sehe mich um. Neben mir lag<strong>er</strong>t Unrat, es wächst<br />
Unkraut, Halme, hi<strong>er</strong> und <strong>da</strong> ein Busch, auch ein Gänseblümchen<br />
<strong>ist</strong> <strong>da</strong>bei, Löwenzahn. Ich höre Stimmen,<br />
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sie sind nicht zu weit entf<strong>er</strong>nt, Schreie, <strong>da</strong>s G<strong>er</strong>äusch<br />
fortgesetzten Aufprallens, ich sehe in die Richtung<br />
d<strong>er</strong> G<strong>er</strong>äusche, sie rühren von einigen Buben h<strong>er</strong>, die<br />
dort Fußball spielen. Es sind keine Pimpfe mehr, für<br />
den Volkssturm wohl noch zu jung, sie sind v<strong>er</strong>mutlich<br />
in d<strong>er</strong> HJ, ab<strong>er</strong> offensichtlich d<strong>er</strong>zeit nicht im<br />
Dienst, d<strong>er</strong> Feind scheint eine Ruhephase eingelegt<br />
zu haben. Ein Vogel bewegt sich im Geäste eines Baumes,<br />
<strong>er</strong> zwitsch<strong>er</strong>t, <strong>er</strong> singt. Für manchen <strong>ist</strong> <strong>da</strong>s nur<br />
ein Zeichen heit<strong>er</strong><strong>er</strong> Laune, ab<strong>er</strong> in dies<strong>er</strong> ungewissen<br />
Lage, angewiesen auf jede Information , und mag<br />
sie noch so klein sein, kann d<strong>er</strong> Kenn<strong>er</strong> d<strong>er</strong> Natur und<br />
des alltäglichen Üb<strong>er</strong>lebenskampfes <strong>da</strong>raus folg<strong>er</strong>n, <strong>da</strong>ss<br />
keine Raubti<strong>er</strong>e anwesend sind. Direkt neben meinem<br />
Kopfe befindet sich eine Pfütze, sie scheint im<br />
Schrumpfen begriffen, es hat wohl vor läng<strong>er</strong><strong>er</strong> Zeit<br />
g<strong>er</strong>egnet, seith<strong>er</strong> ab<strong>er</strong> nicht mehr. An ihrem Rand liegt<br />
meine Schirmmütze. So arbeitet mein geschult<strong>er</strong> V<strong>er</strong>stand,<br />
so arbeitete <strong>er</strong> auch in diesem irri ti<strong>er</strong>enden Momente.<br />
Ich setzte mich auf. Es gelang mir problemlos, ich<br />
bewegte die Beine, die Hände, die Fing<strong>er</strong>, ich schien<br />
keine V<strong>er</strong>letzungen zu haben, d<strong>er</strong> körp<strong>er</strong>liche Zustand<br />
war <strong>er</strong>freulich, ich war wohl vollständig gesund, von den<br />
Kopfschm<strong>er</strong>zen einmal abgesehen, sogar <strong>da</strong>s Zitt<strong>er</strong>n<br />
mein<strong>er</strong> Hand schien fast völlig nachgelassen zu haben.<br />
Ich sah an mir h<strong>er</strong>ab. Ich war bekleidet, ich trug die<br />
Uniform, den Rock des Sol<strong>da</strong>ten. Er war etwas schmutzig,<br />
wenn auch nicht zu sehr, v<strong>er</strong>schüttet war ich also<br />
nicht gewesen. Erde befand sich <strong>da</strong>rauf, wie mir schien<br />
auch Krumen von Gebäck, Kuchen od<strong>er</strong> d<strong>er</strong>gleichen.<br />
D<strong>er</strong> Stoff roch stark nach Treibstoff, vielleicht Benzin, es<br />
mochte <strong>da</strong>h<strong>er</strong> rühren, <strong>da</strong>ss Eva möglich<strong>er</strong>weise v<strong>er</strong>sucht<br />
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hatte, meine Uniform zu reinigen, all<strong>er</strong>dings mit üb<strong>er</strong>triebenen<br />
Mengen Reinigungsbenzin, man hätte meinen<br />
können, sie hätte einen ganzen Kan<strong>ist</strong><strong>er</strong> üb<strong>er</strong> mich<br />
gekippt. Sie selbst war nicht <strong>da</strong>, auch sonst schien mein<br />
Stab d<strong>er</strong>zeit nicht in d<strong>er</strong> Nähe. Ich klopfte den gröbsten<br />
Schmutz von meinem Rocke, von meinen Ärmeln, als<br />
ich eine Stimme v<strong>er</strong>nahm.<br />
»Ey, Alt<strong>er</strong>, kiek ma!«<br />
»Ey, wat’n det für’n Opfa?«<br />
Ich schien einen hilfsbedürftigen Eindruck zu machen ,<br />
<strong>da</strong>s hatten die drei Hitl<strong>er</strong>jungen vorbildlich <strong>er</strong>kannt. Sie<br />
beendeten ihr Fußballspiel, näh<strong>er</strong>ten sich respektvoll,<br />
<strong>da</strong>s war v<strong>er</strong>ständlich, den Führ<strong>er</strong> des Deutschen Reiches<br />
plötzlich in unmittelbar<strong>er</strong> Nähe zu <strong>er</strong>leben, auf ein<strong>er</strong><br />
Brachfläche, die gemeinhin zu Sport und körp<strong>er</strong>lich<strong>er</strong><br />
Ertüchtigung genutzt wird, zwischen Löwenzahn und<br />
Gänseblume, <strong>da</strong>s <strong>ist</strong> auch für den jungen, noch nicht voll<br />
g<strong>er</strong>eiften Mann eine ungewöhnliche Wendung in seinem<br />
Tagesablauf, dennoch eilte die kleine Schar h<strong>er</strong>bei, dem<br />
Windhunde gleich, b<strong>er</strong>eit zu helfen. Die Jugend <strong>ist</strong> die<br />
Zukunft!<br />
Die Buben v<strong>er</strong>sammelten sich mit einem gewissen<br />
Abstand um mich, must<strong>er</strong>ten mich, woraufhin d<strong>er</strong><br />
größte unt<strong>er</strong> ihnen, offenbar d<strong>er</strong> Kam<strong>er</strong>adschaftsführ<strong>er</strong>,<br />
sich an mich wandte:<br />
»Allet klar, Meesta?«<br />
Bei all<strong>er</strong> Besorgnis kam ich nicht umhin, <strong>da</strong>s vollständige<br />
Fehlen des Deutschen Grußes zu reg<strong>ist</strong>ri<strong>er</strong>en.<br />
Gewiss, die reichlich formlose Ansprache, die V<strong>er</strong>wechslung<br />
von »Me<strong>ist</strong><strong>er</strong>« und »Führ<strong>er</strong>« mochte d<strong>er</strong> Üb<strong>er</strong>raschung<br />
geschuldet sein, in ein<strong>er</strong> wenig<strong>er</strong> v<strong>er</strong>wirrenden<br />
Situation hätte sie womöglich ungewollt Heit<strong>er</strong>keit h<strong>er</strong>vorrufen<br />
können, wie sich ja oft selbst im <strong>er</strong>barmungs-<br />
13
losen Stahlgewitt<strong>er</strong> des Schützengrabens die bizarrsten<br />
Possen <strong>er</strong>eignen, dennoch muss d<strong>er</strong> Sol<strong>da</strong>t freilich auch<br />
in ungewohnten Situationen bestimmte Automatismen<br />
zeigen, <strong>da</strong>s <strong>ist</strong> d<strong>er</strong> Sinn des Drills – wenn diese Automatismen<br />
fehlen, <strong>da</strong>nn <strong>ist</strong> die ganze Armee keinen Pfiff<strong>er</strong>ling<br />
w<strong>er</strong>t. Ich richtete mich auf, es fiel nicht ganz<br />
leicht, ich schien schon läng<strong>er</strong> gelegen zu haben. Dennoch<br />
rückte ich den Rock g<strong>er</strong>ade, reinigte notdürftig<br />
mit einigen wenigen, leichten Schlägen die Hosenbeine.<br />
Dann räusp<strong>er</strong>te ich mich und fragte den Kam<strong>er</strong>adschaftsführ<strong>er</strong>:<br />
»Wo <strong>ist</strong> Bormann?«<br />
»W<strong>er</strong> is’n ditte?«<br />
Es war nicht zu fassen.<br />
»Bormann! Martin!«<br />
»Kenn ick nich.«<br />
»Nie jehört.«<br />
»Wie siehta’n aus?«<br />
»Wie ein Reichsleit<strong>er</strong>, zum Donn<strong>er</strong>wett<strong>er</strong>!«<br />
Irgendetwas war hi<strong>er</strong> absolut ungewöhnlich. Ich befand<br />
mich zwar offenbar noch imm<strong>er</strong> in B<strong>er</strong>lin, war jedoch<br />
augenscheinlich des gesamten Regi<strong>er</strong>ungsapparats<br />
b<strong>er</strong>aubt. Ich musste dringend zurück in den Führ<strong>er</strong>bunk<strong>er</strong>,<br />
und, so viel schien mir klar, die anwesende Jugend<br />
konnte <strong>da</strong>bei keine große Hilfe sein. Zunächst galt es,<br />
den Weg zu finden. Das gesichtslose Areal, auf dem ich<br />
mich befand, konnte üb<strong>er</strong>all in d<strong>er</strong> Stadt sein. Ab<strong>er</strong> ich<br />
musste ja nur hinaus auf die Straße treten, in dies<strong>er</strong> anscheinend<br />
schon läng<strong>er</strong> an<strong>da</strong>u<strong>er</strong>nden Feu<strong>er</strong>pause würden<br />
wohl Passanten, B<strong>er</strong>ufstätige, Droschkenfahr<strong>er</strong> genug<br />
unt<strong>er</strong>wegs sein, um mir den Weg zu weisen.<br />
V<strong>er</strong>mutlich wirkte ich den Hitl<strong>er</strong>jungen nicht hilfsbedürftig<br />
genug, sie machten den Eindruck, als wollten<br />
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sie ihr Fußballspiel wied<strong>er</strong> aufnehmen, jedenfalls wandte<br />
sich d<strong>er</strong> größte nun zu seinen Kam<strong>er</strong>aden um, wodurch<br />
ich seinen Namen lesen konnte, den ihm seine<br />
Mutt<strong>er</strong> auf <strong>da</strong>s g<strong>er</strong>adezu grellbunte Sportleibchen gewirkt<br />
hatte.<br />
»Hitl<strong>er</strong>junge Ronaldo! Wo geht es zur Straße?«<br />
Die Reaktion war dürftig, ich muss leid<strong>er</strong> sagen, <strong>da</strong>ss<br />
die Truppe so gut wie nicht aufm<strong>er</strong>kte, ein<strong>er</strong> d<strong>er</strong> beiden<br />
Klein<strong>er</strong>en zeigte jedoch im Gehen schwunglos mit dem<br />
Arm auf einen Winkel des Grundstücks, in dem sich bei<br />
näh<strong>er</strong><strong>er</strong> Betrachtung tatsächlich ein Durchgang andeutete.<br />
Ich machte mir im Ge<strong>ist</strong>e einen V<strong>er</strong>m<strong>er</strong>k im Sinne<br />
von »Rust entlassen« od<strong>er</strong> »Rust entf<strong>er</strong>nen«, seit 1933<br />
war d<strong>er</strong> Mann im Amt, und g<strong>er</strong>ade im Bildungswesen <strong>ist</strong><br />
kein Platz für eine d<strong>er</strong>art bodenlose Schlamp<strong>er</strong>ei. Wie<br />
soll ein jung<strong>er</strong> Sol<strong>da</strong>t den siegreichen Weg nach Moskau<br />
finden, in <strong>da</strong>s H<strong>er</strong>z des Bolschewismus, wenn <strong>er</strong> nicht<br />
einmal seine eigenen Befehlshab<strong>er</strong> <strong>er</strong>kennt!<br />
Ich bückte mich, hob meine Mütze auf und lief, sie<br />
aufsetzend, mit festem Schritte in die gewiesene Richtung.<br />
Es ging um eine Ecke, <strong>da</strong>nn folgte ich einem<br />
schmalen Durchweg zwischen hohen Wänden, an dessen<br />
Ende <strong>da</strong>s Licht d<strong>er</strong> Straße leuchtete. Eine scheue<br />
Katze drängte sich an d<strong>er</strong> Wand an mir vorbei, sie war<br />
bunt gefleckt und ungepflegt, <strong>da</strong>nn tat ich noch vi<strong>er</strong>,<br />
fünf Schritte und trat hinaus auf die Straße.<br />
Mir stockte d<strong>er</strong> Atem angesichts des gewaltigen Ansturms<br />
von Licht und Farbe.<br />
Ich <strong>er</strong>inn<strong>er</strong>te mich, die Stadt zuletzt sehr staub- od<strong>er</strong><br />
auch feldgrau wahrgenommen zu haben, auch mit <strong>er</strong>heblichen<br />
Trümm<strong>er</strong>b<strong>er</strong>gen und Beschädigungen. Doch<br />
vor mir lag nichts d<strong>er</strong>gleichen. Die Trümm<strong>er</strong> waren<br />
v<strong>er</strong>schwunden od<strong>er</strong> zumindest saub<strong>er</strong> entf<strong>er</strong>nt, die<br />
15
Straßen g<strong>er</strong>äumt. Stattdessen standen an den Straßenränd<strong>er</strong>n<br />
zahlreiche, ja zahllose bunte Wagen, die wohl<br />
Automobile sein mochten, ab<strong>er</strong> sie waren klein<strong>er</strong>, und<br />
dennoch schienen bei ihrem Entwurf üb<strong>er</strong>all die Mess<strong>er</strong>schmitt-W<strong>er</strong>ke<br />
fed<strong>er</strong>führend mitgewirkt zu haben,<br />
so fortschrittlich muteten sie an. Die Häus<strong>er</strong> waren saub<strong>er</strong><br />
gestrichen, in unt<strong>er</strong>schiedlichen Farben, die mich<br />
mitunt<strong>er</strong> an Zuck<strong>er</strong>w<strong>er</strong>k in mein<strong>er</strong> Jugend <strong>er</strong>inn<strong>er</strong>ten.<br />
Ich bekenne, mir wurde ein wenig schwindelig. Mein<br />
Blick suchte nach V<strong>er</strong>trautem, ich sah eine schäbige<br />
Parkbank auf einem Grünstreifen jenseits d<strong>er</strong> Fahrbahn,<br />
ich machte einige wenige Schritte, und ich schäme<br />
mich nicht zu sagen, <strong>da</strong>ss sie womöglich etwas unsich<strong>er</strong><br />
gewirkt haben können. Ich hörte ein Läuten, <strong>da</strong>s Bremsen<br />
von Gummi auf Asphalt, und <strong>da</strong>nn schrie mich<br />
jemand an.<br />
»Sachma, geht’s noch, Alt<strong>er</strong>! B<strong>ist</strong>e blind?«<br />
»Ich – ich bitte um Entschuldigung …«, hörte ich<br />
mich sagen, <strong>er</strong>schrocken und <strong>er</strong>leicht<strong>er</strong>t zugleich. Neben<br />
mir stand ein Radfahr<strong>er</strong>, wenigstens dies<strong>er</strong> Anblick war<br />
mir v<strong>er</strong>gleichsweise v<strong>er</strong>traut, doppelt zumal. Wir hatten<br />
nach wie vor Krieg, <strong>er</strong> trug zum Schutze einen von vorh<strong>er</strong>igen<br />
Angriffen wohl stark beschädigten, eigentlich<br />
völlig durchlöch<strong>er</strong>ten Helm.<br />
»Wie läufst’n du üb<strong>er</strong>haupt rum!«<br />
»Ich – V<strong>er</strong>zeihung – ich … ich muss mich hinsetzen.«<br />
»Du solltest dich eh<strong>er</strong> mal hinlegen. Und zwar für<br />
läng<strong>er</strong>!«<br />
Ich rettete mich auf die Parkbank, ich w<strong>er</strong>de wohl<br />
etwas blass gewesen sein, als ich mich <strong>da</strong>rauf fallen ließ.<br />
Auch dies<strong>er</strong> jüng<strong>er</strong>e Mann schien mich nicht <strong>er</strong>kannt zu<br />
haben. Es gab hi<strong>er</strong> schon wied<strong>er</strong> keinen Deutschen<br />
Gruß, die Reaktion sah aus, als habe <strong>er</strong> nur fast einen<br />
16
x-beliebigen, h<strong>er</strong>kömmlichen Passanten g<strong>er</strong>ammt. Und<br />
dies<strong>er</strong> Schlendrian schien die allseits geübte Praxis zu<br />
sein: Ein ält<strong>er</strong><strong>er</strong> H<strong>er</strong>r ging an mir vorbei, kopfschüttelnd,<br />
eine voluminöse Dame mit einem futur<strong>ist</strong>ischen Kind<strong>er</strong>wagen<br />
– ein weit<strong>er</strong>es v<strong>er</strong>trautes Element, doch auch dies<br />
v<strong>er</strong>mochte meine desp<strong>er</strong>ate Lage nicht auswegreich<strong>er</strong><br />
zu gestalten. Ich hatte mich <strong>er</strong>hoben, war mit um Festigkeit<br />
bemüht<strong>er</strong> Haltung an sie h<strong>er</strong>angetreten.<br />
»V<strong>er</strong>zeihung, es mag Sie üb<strong>er</strong>raschen, ab<strong>er</strong> ich … benötige<br />
sofort den kürzesten Weg zur Reichskanzlei.«<br />
»Sind Sie vom Stefan Raab?«<br />
»Bitte?«<br />
»Od<strong>er</strong> d<strong>er</strong> K<strong>er</strong>keling? Ein<strong>er</strong> von Harald Schmidt?«<br />
Es mag an mein<strong>er</strong> N<strong>er</strong>vosität gelegen haben, <strong>da</strong>ss ich<br />
etwas ungehalten wurde und sie am Arm packte.<br />
»Reißen Sie sich zusammen, Frau! Sie haben Pflichten<br />
als Volksgenossin! Wir sind im Krieg! Was glauben<br />
Sie, was d<strong>er</strong> Russe mit Ihnen macht, wenn <strong>er</strong> hi<strong>er</strong>h<strong>er</strong>kommt?<br />
Glauben Sie, d<strong>er</strong> Russe wirft einen Blick auf<br />
Ihr Kind und sagt, oho, ein frisches deutsches Mädel,<br />
ab<strong>er</strong> dem Kinde zuliebe will ich meine nied<strong>er</strong>en Instinkte<br />
in mein<strong>er</strong> Hose lassen? Das Fortbestehen des<br />
Deutschen Volkes, die Reinheit des Blutes, <strong>da</strong>s Üb<strong>er</strong>leben<br />
d<strong>er</strong> Menschheit steht in diesen Stunden, diesen<br />
Tagen auf dem Spiel, wollen Sie vor d<strong>er</strong> Geschichte <strong>da</strong>s<br />
Ende d<strong>er</strong> Zivilisation v<strong>er</strong>antworten, nur weil Sie in Ihr<strong>er</strong><br />
unglaublichen Beschränktheit nicht willens sind, dem<br />
Führ<strong>er</strong> des Deutschen Reiches den Weg in seine Reichskanzlei<br />
zu weisen?«<br />
Es üb<strong>er</strong>raschte mich beinahe nicht mehr, <strong>da</strong>ss ich<br />
<strong>da</strong>rauf kein<strong>er</strong>lei Reaktion <strong>er</strong>ntete. Die Idiotin riss ihren<br />
Ärmel aus mein<strong>er</strong> Hand, sah mich entge<strong>ist</strong><strong>er</strong>t an und<br />
führte mit ihr<strong>er</strong> flachen Hand mehr<strong>er</strong>e kreisförmige Be-<br />
17
wegungen zwischen ihrem und meinem Kopf aus, eine<br />
deutlich missbilligende Geste. Es war nicht mehr zu<br />
bestreiten, irgendetwas war hi<strong>er</strong> völlig auß<strong>er</strong> Kontrolle<br />
g<strong>er</strong>aten. Ich wurde nicht mehr wie ein He<strong>er</strong>führ<strong>er</strong> behandelt,<br />
wie ein Reichsführ<strong>er</strong>. Die Fußballbuben, d<strong>er</strong><br />
ält<strong>er</strong>e H<strong>er</strong>r, d<strong>er</strong> Radfahr<strong>er</strong>, die Kind<strong>er</strong>wagenfrau – es<br />
konnte kein Zufall sein. Mein nächst<strong>er</strong> Impuls war, die<br />
Sich<strong>er</strong>heitsorgane zu benachrichtigen, um die Ordnung<br />
wied<strong>er</strong>h<strong>er</strong>stellen zu lassen. Doch ich zügelte mich. Ich<br />
wusste nicht genug üb<strong>er</strong> meine Situation. Ich brauchte<br />
mehr Informationen.<br />
Eiskalt rekapituli<strong>er</strong>te mein jetzt wied<strong>er</strong> methodisch<br />
arbeitend<strong>er</strong> V<strong>er</strong>stand die Sachlage. Ich war in Deutschland,<br />
ich war in B<strong>er</strong>lin, auch wenn es mir völlig unv<strong>er</strong>traut<br />
vorkam. Dieses Deutschland war and<strong>er</strong>s, ab<strong>er</strong> in<br />
einigen Dingen ähnelte es dem mir v<strong>er</strong>trauten Reich: Es<br />
gab noch Radfahr<strong>er</strong>, es gab Automobile, es gab also v<strong>er</strong>mutlich<br />
auch Zeitungen. Ich sah mich um. In d<strong>er</strong> Tat lag<br />
unt<strong>er</strong> mein<strong>er</strong> Bank etwas, was ein<strong>er</strong> Zeitung ähnelte,<br />
all<strong>er</strong>dings ein wenig zu aufwendig gedruckt. Das Blatt<br />
war farbig, mir vollkommen unv<strong>er</strong>traut, es hieß »Media<br />
Markt«, ich konnte mich beim besten Willen nicht<br />
<strong>er</strong> inn<strong>er</strong>n, etwas D<strong>er</strong>artiges genehmigt zu haben, und<br />
ich hätte es auch nie genehmigt. Die Informationen<br />
<strong>da</strong>rin waren völlig unv<strong>er</strong>ständlich, Groll stieg in mir<br />
hoch, wie man in Zeiten d<strong>er</strong> Papi<strong>er</strong>knappheit mit so<br />
einem hirnlosen Dreck w<strong>er</strong>tvolle Ressourcen des Volkseigentums<br />
unwied<strong>er</strong>bringlich v<strong>er</strong>schleud<strong>er</strong>n konnte.<br />
Funk konnte sich auf eine Standpauke gefasst machen,<br />
wenn ich wied<strong>er</strong> hint<strong>er</strong> meinem Schreibtisch saß. Ab<strong>er</strong><br />
jetzt brauchte ich zuv<strong>er</strong>lässige Nachrichten, einen »Völkischen<br />
Beob acht<strong>er</strong>«, einen »Stürm<strong>er</strong>«, ich wäre wohl<br />
sogar fürs Erste mit einem »Panz<strong>er</strong>bär« zufrieden gewe-<br />
18
sen. Tatsächlich befand sich unweit ein Kiosk, und sogar<br />
auf diese beträchtliche Entf<strong>er</strong>nung hin war zu <strong>er</strong>kennen,<br />
<strong>da</strong>ss <strong>er</strong> ein <strong>er</strong>staunliches Angebot zu haben schien. Man<br />
hätte meinen können, wir säßen im tiefsten, faulsten<br />
Frieden! Ich <strong>er</strong>hob mich ungeduldig. Schon zu viel Zeit<br />
hatte ich v<strong>er</strong>loren, es galt, rasch geordnete V<strong>er</strong>hältnisse<br />
wied<strong>er</strong>h<strong>er</strong>zustellen. Die Truppe brauchte Befehle, womöglich<br />
wurde ich and<strong>er</strong>norts schon v<strong>er</strong>misst. Ich ging<br />
zügig auf den Kiosk zu.<br />
B<strong>er</strong>eits ein <strong>er</strong>st<strong>er</strong> näh<strong>er</strong><strong>er</strong> Blick gab int<strong>er</strong>essante Aufschlüsse.<br />
Zahlreiche bunte Blätt<strong>er</strong> hingen an d<strong>er</strong> Außenwand,<br />
in türkisch<strong>er</strong> Sprache. Offenbar v<strong>er</strong>kehrten hi<strong>er</strong><br />
jüngst viele Türken. Mir musste in mein<strong>er</strong> Bewusstlosigkeit<br />
eine läng<strong>er</strong>e Zeitspanne entgangen sein, in d<strong>er</strong> sich<br />
viele Türken nach B<strong>er</strong>lin begeben hatten. Das war bem<strong>er</strong>kensw<strong>er</strong>t.<br />
Zuletzt war d<strong>er</strong> Türke, ein im Grunde<br />
treu<strong>er</strong> Gehilfe des Deutschen Volkes, trotz <strong>er</strong>heblich<strong>er</strong><br />
Bemühungen stets neutral geblieben, zum Kriegseintritt<br />
an d<strong>er</strong> Seite des Reiches war <strong>er</strong> nie zu bewegen ge wesen.<br />
Es schien nun ab<strong>er</strong> so, <strong>da</strong>ss während mein<strong>er</strong> Abwesenheit<br />
wohl jemand, wahrscheinlich Dönitz, den Türken<br />
üb<strong>er</strong>zeugt haben musste, uns zu unt<strong>er</strong>stützen. Und die<br />
eh<strong>er</strong> friedliche Stimmung auf d<strong>er</strong> Straße ließ <strong>da</strong>rauf<br />
schließen, <strong>da</strong>ss d<strong>er</strong> türkische Einsatz offenbar sogar eine<br />
kriegsentscheidende Wende h<strong>er</strong>beigeführt hatte. Ich<br />
staunte. Gewiss, ich hatte den Türken stets respekti<strong>er</strong>t,<br />
ab<strong>er</strong> d<strong>er</strong>artige Le<strong>ist</strong>ungen hatte ich ihm nie zugetraut,<br />
and<strong>er</strong><strong>er</strong>seits hatte ich die Entwicklung des Landes aus<br />
Zeitmangel nicht detailli<strong>er</strong>t v<strong>er</strong>folgen können. Die Reformen<br />
des Kemal Atatürk mussten dem Land einen g<strong>er</strong>adezu<br />
sensationellen Schub v<strong>er</strong>liehen haben. Es schien<br />
<strong>da</strong>s Wund<strong>er</strong> gewesen zu sein, an <strong>da</strong>s auch Goebbels stets<br />
seine Hoffnungen geklamm<strong>er</strong>t hatte. Mein H<strong>er</strong>z schlug<br />
19
mir nun voll heiß<strong>er</strong> Zuv<strong>er</strong>sicht. Es hatte sich ausbezahlt,<br />
<strong>da</strong>ss ich, <strong>da</strong>ss <strong>da</strong>s Reich auch in d<strong>er</strong> Stunde d<strong>er</strong> v<strong>er</strong>meintlich<br />
tiefsten Dunkelheit niemals den Glauben an<br />
den Endsieg aufgegeben hatte. Vi<strong>er</strong>, fünf unt<strong>er</strong>schiedliche<br />
türkischsprachige Publikationen in bunt<strong>er</strong> Farbe<br />
legten ein unüb<strong>er</strong>sehbares Zeugnis ab von dies<strong>er</strong> neuen,<br />
von ein<strong>er</strong> <strong>er</strong>folgreichen Achse B<strong>er</strong>lin-Ankara. Nun, <strong>da</strong><br />
meine größte Sorge, die Sorge um <strong>da</strong>s Wohl des Reiches,<br />
auf so üb<strong>er</strong>raschende Weise gelind<strong>er</strong>t schien, nun<br />
musste ich nur noch h<strong>er</strong>ausfinden, wie viel Zeit ich<br />
wohl in diesem m<strong>er</strong>kwürdigen Dämm<strong>er</strong> auf dem brachliegenden<br />
Areal zwischen den Häus<strong>er</strong>n v<strong>er</strong>loren hatte.<br />
D<strong>er</strong> »Völkische Beobacht<strong>er</strong>« war nicht zu sehen, <strong>er</strong><br />
war v<strong>er</strong>mutlich ausv<strong>er</strong>kauft, ich warf <strong>da</strong>h<strong>er</strong> einen Blick<br />
auf <strong>da</strong>s nächste, v<strong>er</strong>traut<strong>er</strong> wirkende Blatt, eine sogenannte<br />
»Frankfurt<strong>er</strong> Allgemeine Zeitung«. Sie war mir<br />
neu, doch v<strong>er</strong>glichen mit manchem and<strong>er</strong>en, was dort<br />
hing, <strong>er</strong>freute mich die v<strong>er</strong>trauen<strong>er</strong>weckende Schrift d<strong>er</strong><br />
Titelzeile. Keinen Blick v<strong>er</strong>schwendete ich auf die Meldungen,<br />
ich suchte <strong>da</strong>s Tages<strong>da</strong>tum.<br />
Dort stand d<strong>er</strong> 30. August.<br />
2011.<br />
Ich blickte auf die Zahl, fassungslos, ungläubig. Ich<br />
wandte den Blick zu einem and<strong>er</strong>en Blatte, d<strong>er</strong> »B<strong>er</strong>lin<strong>er</strong><br />
Zeitung«, auch diese v<strong>er</strong>sehen mit einem tadellosen<br />
deutschen Schriftzug, und suchte <strong>da</strong>s Datum.<br />
2011.<br />
Ich z<strong>er</strong>rte die Zeitung aus dem Halt<strong>er</strong>, ich öffnete sie,<br />
ich schlug die nächste Seite auf, die üb<strong>er</strong>nächste.<br />
2011.<br />
Ich sah, wie die Zahl zu tanzen begann, höhnisch<br />
fast. Sie bewegte sich langsam nach links, <strong>da</strong>nn rasch<strong>er</strong><br />
nach rechts, <strong>da</strong>nn noch rasch<strong>er</strong> wied<strong>er</strong> zurück, dem<br />
20
Schunkeln gleich, wie es bei den Volksmassen im Bi<strong>er</strong>zelt<br />
beliebt <strong>ist</strong>. Mein Auge v<strong>er</strong>suchte ihr zu folgen, sie zu<br />
fassen, <strong>da</strong>nn entglitt mir die Zeitung. Ich spürte, wie ich<br />
vornüb<strong>er</strong>sank, ich suchte v<strong>er</strong>geblich Halt an den and<strong>er</strong>en<br />
Zeitungen im Regal, ich klamm<strong>er</strong>te mich an den<br />
v<strong>er</strong>schiedenen Blätt<strong>er</strong>n entlang zu Boden.<br />
Dann wurde mir schwarz vor Augen.<br />
21
ii.<br />
A<br />
ls ich wied<strong>er</strong> zu mir kam, lag ich auf dem Boden.<br />
Jemand legte mir etwas Feuchtes auf die Stirn.<br />
»Geht es Ihnen gut?«<br />
Üb<strong>er</strong> mich gebeugt war ein Mann, <strong>er</strong> mochte fünfundvi<strong>er</strong>zig<br />
Jahre alt sein, vielleicht auch üb<strong>er</strong> fünfzig. Er<br />
trug ein kari<strong>er</strong>tes Hemd, eine schlichte Hose, wie sie d<strong>er</strong><br />
Arbeit<strong>er</strong> trägt. Diesmal wusste ich, welche Frage ich zu<strong>er</strong>st<br />
stellen würde.<br />
»Welches Datum haben wir?«<br />
»Den mmmh – 29. August. Nein, halt, den 30.«<br />
»Welches Jahr, Mann«, krächzte ich, mich aufsetzend.<br />
D<strong>er</strong> feuchte Lappen fiel mir unschön in den Schoß.<br />
D<strong>er</strong> Mann sah mich stirnrunzelnd an.<br />
»2011«, sagte <strong>er</strong> und must<strong>er</strong>te meinen Rock, »was<br />
haben Sie ge<strong>da</strong>cht? 1945?«<br />
Ich suchte nach ein<strong>er</strong> passenden Entgegnung, richtete<br />
mich <strong>da</strong>nn ab<strong>er</strong> lieb<strong>er</strong> auf.<br />
»Sie sollten vielleicht noch etwas liegen bleiben«,<br />
sagte d<strong>er</strong> Mann, »od<strong>er</strong> sich hinsetzen. Ich habe einen<br />
Sessel im Kiosk.«<br />
Ich wollte zunächst sagen, <strong>da</strong>ss ich für Entspannung<br />
keine Zeit hatte, musste ab<strong>er</strong> einsehen, <strong>da</strong>ss meine Beine<br />
noch zu sehr zitt<strong>er</strong>ten. Also folgte ich ihm in seinen<br />
Kiosk. Er selbst nahm auf einem Stuhl in d<strong>er</strong> Nähe des<br />
kleinen V<strong>er</strong>kaufsfenst<strong>er</strong>s Platz und sah mich an.<br />
22
»Ein Schluck Wass<strong>er</strong>? Brauchen Sie etwas Schokolade?<br />
Einen Müsliriegel?«<br />
Ich nickte, benommen. Er stand auf, holte eine<br />
Flasche Sprudel und goss mir <strong>da</strong>von in ein Glas. Aus<br />
einem Regal nahm <strong>er</strong> einen bunten Riegel, wohl eine<br />
Art eis<strong>er</strong>n<strong>er</strong> Ration, in farbige Folie gehüllt. Er öffnete<br />
die Folie, entblößte etwas, <strong>da</strong>s aussah wie industriell<br />
v<strong>er</strong>presstes Korn, und drückte es mir in die Hand. Die<br />
V<strong>er</strong>sorgungsengpässe mit Brot schienen noch nicht<br />
behoben.<br />
»Sie sollten mehr frühstücken«, sagte <strong>er</strong>. Dann setzte<br />
<strong>er</strong> sich wied<strong>er</strong> hin. »Drehen Sie hi<strong>er</strong> irgendwo?«<br />
»Drehen …?«<br />
»Na, eine Dokumentation. Einen Film. Hi<strong>er</strong> wird ja<br />
ständig irgendwas gedreht.«<br />
»Film …?«<br />
»Mensch, Sie sind ja ganz schön beieinand<strong>er</strong>.« Er<br />
lachte und wies mit d<strong>er</strong> Hand auf mich. »Od<strong>er</strong> laufen<br />
Sie imm<strong>er</strong> so h<strong>er</strong>um?«<br />
Ich sah an mir h<strong>er</strong>ab. Ich konnte nichts Ungewöhnliches<br />
feststellen, natürlich abgesehen von dem Staub<br />
und dem Benzing<strong>er</strong>uch.<br />
»Eigentlich schon«, sagte ich.<br />
Es konnte freilich sein, <strong>da</strong>ss ich im Gesichte v<strong>er</strong>letzt<br />
war. »Haben Sie einen Spiegel?«, fragte ich.<br />
»Sich<strong>er</strong>«, sagte <strong>er</strong> und zeigte <strong>da</strong>rauf, »neben Ihnen,<br />
gleich üb<strong>er</strong> dem ›Focus‹.«<br />
Ich folgte seinem Fing<strong>er</strong>. D<strong>er</strong> Spiegel war orangefarben<br />
g<strong>er</strong>ahmt, »D<strong>er</strong> Spiegel« hatte <strong>er</strong> sich<strong>er</strong>heitshalb<strong>er</strong><br />
<strong>da</strong>rauf geschrieben, als ob man es sonst nicht gewusst<br />
hätte. Er steckte mit dem unt<strong>er</strong>en Drittel zwischen irgendwelchen<br />
Magazinen. Ich sah hinein.<br />
Mein Spiegelbild sah üb<strong>er</strong>raschend tadellos aus, sogar<br />
23
mein Rock wirkte gebügelt – v<strong>er</strong>mutlich h<strong>er</strong>rschte im<br />
Kiosk ein schmeichelhaftes Licht.<br />
»Wegen d<strong>er</strong> Titelstory?«, fragte d<strong>er</strong> Mann. »Die haben<br />
doch auf jedem dritten Heft so eine Hitl<strong>er</strong>geschichte. Ich<br />
glaube, Sie müssen sich nicht noch intensiv<strong>er</strong> vorb<strong>er</strong>eiten.<br />
Sie sind gut.«<br />
»Danke«, sagte ich abwesend.<br />
»Nein, wirklich«, meinte <strong>er</strong>, »ich habe den ›Unt<strong>er</strong>gang‹<br />
gesehen. Zweimal. Bruno Ganz, d<strong>er</strong> Mann war<br />
exzellent, ab<strong>er</strong> an Sie kommt <strong>er</strong> nicht ran. Die ganze<br />
Haltung … man könnte meinen, Sie wären es.«<br />
Ich blickte auf: »Ich wäre was?«<br />
»Na, als wären Sie d<strong>er</strong> Führ<strong>er</strong>.« Dabei hob <strong>er</strong> beide<br />
Hände, <strong>er</strong> legte Mittel- und Zeigefing<strong>er</strong> jeweils zusammen,<br />
krümmte sie vornüb<strong>er</strong> und zuckte mit ihnen<br />
zweimal auf und ab. Ich mochte es kaum glauben, ab<strong>er</strong><br />
es schien so, <strong>da</strong>ss dies nach sechsundsechzig Jahren alles<br />
war, was vom einstmals strammen Deutschen Gruß<br />
noch ex<strong>ist</strong>i<strong>er</strong>te. Es war <strong>er</strong>schütt<strong>er</strong>nd, ab<strong>er</strong> imm<strong>er</strong>hin ein<br />
Zeichen, <strong>da</strong>ss mein politisches Wirken zwischenzeitlich<br />
nicht vollkommen folgenlos geblieben war.<br />
Ich klappte den Arm zurück, den Gruß <strong>er</strong>wid<strong>er</strong>nd:<br />
»Ich bin d<strong>er</strong> Führ<strong>er</strong>!«<br />
Er lachte wied<strong>er</strong>: »Wahnsinn, <strong>da</strong>s wirkt so natürlich.«<br />
Ich konnte mich mit sein<strong>er</strong> penetranten Heit<strong>er</strong>keit<br />
nicht recht befassen. Mir wurde meine Lage nach und<br />
nach bewusst. Wenn dies kein Traum war – und <strong>da</strong>für<br />
<strong>da</strong>u<strong>er</strong>te es deutlich zu lange –, <strong>da</strong>nn befand ich mich tatsächlich<br />
im Jahre 2011. Dann war ich also in ein<strong>er</strong> Welt,<br />
die mir völlig neu war, und ich musste annehmen, <strong>da</strong>ss<br />
ich umgekehrt auch für diese Welt ein neues Element<br />
<strong>da</strong>rstellte. Wenn diese Welt auch nur ansatzweise logisch<br />
funktioni<strong>er</strong>te, <strong>da</strong>nn <strong>er</strong>wartete sie von mir, entwed<strong>er</strong><br />
24
122 Jahre alt zu sein od<strong>er</strong>, was wahrscheinlich<strong>er</strong> war, seit<br />
Langem tot.<br />
»Spielen Sie auch and<strong>er</strong>e Sachen?«, fragte <strong>er</strong>. »Habe<br />
ich Sie schon mal gesehen?«<br />
»Ich spiele nicht«, antwortete ich, wohl etwas barsch.<br />
»Natürlich nicht«, sagte <strong>er</strong> und machte ein m<strong>er</strong>kwürdig<br />
<strong>er</strong>nstes Gesicht. Dann zwink<strong>er</strong>te <strong>er</strong> mir zu.<br />
»Wo treten Sie auf? Haben Sie ein Programm?«<br />
»Selbstv<strong>er</strong>ständlich«, entgegnete ich, »seit 1920! Sie<br />
w<strong>er</strong>den als Volksgenosse ja wohl die 25 Punkte kennen.«<br />
Er nickte eifrig.<br />
»Trotzdem, ich hab Sie noch nirgends gesehen. Haben<br />
Sie einen Fly<strong>er</strong>? Od<strong>er</strong> eine Karte?«<br />
»Leid<strong>er</strong> nein«, sagte ich betrübt, »die Karte <strong>ist</strong> im<br />
Lage zentrum.«<br />
Ich v<strong>er</strong>suchte mir <strong>da</strong>rüb<strong>er</strong> klar zu w<strong>er</strong>den, was ich als<br />
Nächstes tun musste. Es schien einleuchtend, <strong>da</strong>ss auch<br />
in d<strong>er</strong> Reichskanzlei, <strong>da</strong>ss selbst im Führ<strong>er</strong>bunk<strong>er</strong> ein<br />
56-jährig<strong>er</strong> Führ<strong>er</strong> auf Unglauben stoßen konnte, ja<br />
sich<strong>er</strong> stoßen würde. Ich musste Zeit gewinnen, meine<br />
Optionen analysi<strong>er</strong>en. Ich brauchte eine Bleibe. Mir<br />
wurde plötzlich schm<strong>er</strong>zlich bewusst, <strong>da</strong>ss ich keinen<br />
Pfennig Geld in d<strong>er</strong> Tasche hatte. Für einen Moment<br />
<strong>er</strong>inn<strong>er</strong>te ich mich unangenehm an die Zeit im Männ<strong>er</strong>wohnheim,<br />
1909. Sie war notwendig gewesen, gewiss,<br />
sie hatte mir Einblicke v<strong>er</strong>schafft, wie sie keine<br />
Univ<strong>er</strong>sität d<strong>er</strong> Welt v<strong>er</strong>mitteln kann, und dennoch, es<br />
war diese Phase d<strong>er</strong> Entbehrungen keine Zeit gewesen,<br />
die ich genossen hätte. Die finst<strong>er</strong>en Monate schossen<br />
mir durch den Kopf, die Missachtung, die G<strong>er</strong>ingschätzung,<br />
die Unsich<strong>er</strong>heit, <strong>da</strong>s Bangen um <strong>da</strong>s Nötigste,<br />
<strong>da</strong>s trockene Brot. Grübl<strong>er</strong>isch, abwesend biss ich in <strong>da</strong>s<br />
seltsame Folienkorn.<br />
25
Es schmeckte <strong>er</strong>staunlich<strong>er</strong>weise süß. Ich must<strong>er</strong>te<br />
<strong>da</strong>s Produkt.<br />
»Ich mag die auch«, sagte d<strong>er</strong> Zeitungskräm<strong>er</strong>, »wollen<br />
Sie noch einen?«<br />
Ich schüttelte den Kopf. Ich hatte jetzt größ<strong>er</strong>e Probleme.<br />
Es galt, <strong>da</strong>s schlichteste, <strong>da</strong>s primitivste tägliche<br />
Auskommen zu sich<strong>er</strong>n. Ich brauchte Unt<strong>er</strong>kunft, etwas<br />
Geld, bis ich weit<strong>er</strong>e Klarheit gewonnen haben würde,<br />
ich brauchte vielleicht eine Arbeit, wenigstens vorüb<strong>er</strong>gehend,<br />
bis ich wusste, ob und wie ich wied<strong>er</strong> meine<br />
Regi<strong>er</strong>ungstätigkeit würde aufnehmen können. Bis <strong>da</strong>hin<br />
war eine Form des Brot<strong>er</strong>w<strong>er</strong>bs nötig. Vielleicht als<br />
Mal<strong>er</strong>, vielleicht in einem Architekturbüro. Selbstv<strong>er</strong>ständlich<br />
war ich mir fürs Erste auch nicht zu schade zu<br />
körp<strong>er</strong>lich<strong>er</strong> Arbeit. Natürlich wären meine Kenntnisse<br />
für <strong>da</strong>s Deutsche Volk bei einem Feldzug vorteilhaft<strong>er</strong><br />
eingesetzt gewesen, ab<strong>er</strong> in Unkenntnis d<strong>er</strong> aktuellen<br />
Lage war <strong>da</strong>s illusionär. Ich wusste ja nicht einmal, mit<br />
wem <strong>da</strong>s Deutsche Reich üb<strong>er</strong>haupt g<strong>er</strong>ade eine gemeinsame<br />
Grenze hatte, w<strong>er</strong> sie zu v<strong>er</strong>letzen suchte, gegen<br />
wen man zurückschießen konnte. Insof<strong>er</strong>n musste ich<br />
mich wohl zunächst mit dem Einbringen d<strong>er</strong> Fähigkeiten<br />
mein<strong>er</strong> Hände bescheiden, vielleicht beim Bau eines<br />
Aufmarschgeländes od<strong>er</strong> eines Autobahnabschnitts.<br />
»Jetzt mal im Ernst«, drang die Stimme des Zeitungskräm<strong>er</strong>s<br />
an mein Ohr. »Sie sind noch Amateur? Mit d<strong>er</strong><br />
Numm<strong>er</strong>?«<br />
Das wied<strong>er</strong>um fand ich reichlich flegelhaft. »Ich bin<br />
kein Amateur!«, beschied ich ihm mit Nachdruck. »Ich<br />
bin doch kein<strong>er</strong> von diesen bürg<strong>er</strong>lichen Faulpelzen!«<br />
»Nein, nein«, beschwichtigte d<strong>er</strong> Mann, d<strong>er</strong> mir im<br />
Grunde seines H<strong>er</strong>zens recht ehrlich zu scheinen begann.<br />
»Ich meine, was machen Sie denn b<strong>er</strong>uflich?«<br />
26
Tja, was machte ich b<strong>er</strong>uflich? Was sollte ich angeben?<br />
»Ich … ich habe mich momentan etwas … zurückgezogen«,<br />
umschrieb ich vorsichtig meine Lage.<br />
»V<strong>er</strong>stehen Sie mich nicht falsch«, eif<strong>er</strong>te d<strong>er</strong> Kräm<strong>er</strong>,<br />
»ab<strong>er</strong> wenn Sie wirklich noch nicht … <strong>da</strong>s <strong>ist</strong> doch unglaublich!<br />
Ich meine, hi<strong>er</strong> kommen öft<strong>er</strong> welche vorbei,<br />
die ganze Stadt <strong>ist</strong> voll<strong>er</strong> Agenturen, voll<strong>er</strong> Filmfritzen,<br />
F<strong>er</strong>nsehfiguren, die freuen sich imm<strong>er</strong> üb<strong>er</strong> einen Tipp,<br />
üb<strong>er</strong> ein neues Gesicht. Und wenn Sie keine Karte haben<br />
– ich meine, wo <strong>er</strong>reiche ich Sie denn? Haben Sie<br />
eine Telefonnumm<strong>er</strong>? E-Mail?«<br />
»Äh …«<br />
»Od<strong>er</strong> wo wohnen Sie?«<br />
Damit traf <strong>er</strong> einen wahrlich wunden Punkt. And<strong>er</strong><strong>er</strong>seits<br />
schien <strong>er</strong> nichts Unehrenhaftes im Schilde zu<br />
führen. Ich beschloss, es zu riski<strong>er</strong>en.<br />
»Das mit d<strong>er</strong> Wohnung <strong>ist</strong> d<strong>er</strong>zeit etwas … wie soll<br />
ich sagen … ungeklärt …«<br />
»Na ja, od<strong>er</strong> vielleicht haben Sie eine Freundin, bei<br />
d<strong>er</strong> Sie wohnen?«<br />
Für einen Moment <strong>da</strong>chte ich an Eva. Wo mochte sie<br />
wohl sein?<br />
»Nein«, murmelte ich ungewohnt nied<strong>er</strong>geschlagen,<br />
»eine Gefährtin habe ich nicht. Mehr.«<br />
»Ouh«, sagte d<strong>er</strong> Kräm<strong>er</strong>, »v<strong>er</strong>stehe. Die Sache <strong>ist</strong><br />
wohl noch recht frisch.«<br />
»Ja«, bekannte ich, »<strong>da</strong>s alles hi<strong>er</strong> <strong>ist</strong> … recht frisch für<br />
mich.«<br />
»Lief nicht mehr gut in letzt<strong>er</strong> Zeit, hm?«<br />
»Das <strong>ist</strong> wohl zutreffend«, nickte ich, »d<strong>er</strong> Entsatzangriff<br />
d<strong>er</strong> Gruppe Stein<strong>er</strong> <strong>ist</strong> unv<strong>er</strong>zeihlich<strong>er</strong>weise ausgeblieben.«<br />
27
Er sah mich irriti<strong>er</strong>t an: »Mit Ihr<strong>er</strong> Freundin, meinte<br />
ich. W<strong>er</strong> war schuld?«<br />
»Ich weiß nicht«, bekannte ich, »letzten Endes wohl<br />
Churchill.«<br />
Er lachte. Dann sah <strong>er</strong> mich läng<strong>er</strong>e Zeit nachdenklich<br />
an.<br />
»Ihre Einstellung gefällt mir. Passen Sie auf, ich mach<br />
Ihnen einen Vorschlag.«<br />
»Einen Vorschlag?«<br />
»Ich weiß ja nicht, was Sie für Ansprüche haben.<br />
Ab<strong>er</strong> wenn Sie nichts Besond<strong>er</strong>es brauchen, <strong>da</strong>nn können<br />
Sie ein od<strong>er</strong> zwei Nächte hi<strong>er</strong> üb<strong>er</strong>nachten.«<br />
»Hi<strong>er</strong>?« Ich sah mich im Kiosk um.<br />
»Können Sie sich <strong>da</strong>s Adlon le<strong>ist</strong>en?«<br />
Da hatte <strong>er</strong> wohl recht. Ich sah betreten zu Boden.<br />
»Sie sehen mich – praktisch mittellos …«, gab ich zu.<br />
»Na also. Ist ja auch kein Wund<strong>er</strong>, wenn Sie sich mit<br />
Ihrem Können nicht nach draußen wagen. Sie dürfen<br />
sich nicht v<strong>er</strong>stecken.«<br />
»Ich habe mich nicht v<strong>er</strong>steckt!«, protesti<strong>er</strong>te ich.<br />
»Das lag am Bombenhagel!«<br />
»Jaja«, winkte <strong>er</strong> ab, »also noch mal: Sie bleiben ein,<br />
zwei Tage hi<strong>er</strong>, und ich spreche mal ein, zwei Kunden<br />
von mir an. Die neue ›Theat<strong>er</strong> heute‹ <strong>ist</strong> gest<strong>er</strong>n gekommen<br />
und eines von den Filmblätt<strong>er</strong>n, <strong>da</strong>s holen die jetzt<br />
nach und nach alle ab. Vielleicht kriegen wir was hin.<br />
Ehrlich, eigentlich müssten Sie nicht mal was können, die<br />
Uniform allein haben Sie schon sup<strong>er</strong> hinbekommen …«<br />
»Das heißt, ich bleibe jetzt hi<strong>er</strong>?«<br />
»Fürs Erste. Tagsüb<strong>er</strong> bleiben Sie bei mir, falls jemand<br />
kommt, kann ich Sie gleich vorstellen. Und wenn niemand<br />
kommt, hab ich wenigstens was zu lachen. Od<strong>er</strong><br />
haben Sie was and<strong>er</strong>es zum Unt<strong>er</strong>kommen?«<br />
28
»Nein«, seufzte ich, »<strong>da</strong>s heißt, bis auf den Führ<strong>er</strong>bunk<strong>er</strong><br />
…«<br />
Er lachte. Dann hielt <strong>er</strong> inne.<br />
»Sagen Sie, Sie räumen mir doch den Kiosk nicht<br />
aus?«<br />
Ich sah ihn empört an: »Sehe ich aus wie ein V<strong>er</strong>brech<strong>er</strong>?«<br />
Er sah mich an: »Sie sehen aus wie Adolf Hitl<strong>er</strong>.«<br />
»Eben«, sagte ich.<br />
29