SPIEGEL_1996_40_9095363
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Verbrechen<br />
Schrei der Hilflosigkeit<br />
Nach dem Mord an der siebenjährigen Natalie trifft die Wut vieler Menschen Mediziner und Juristen. Jahrelang<br />
behandelten sie den mutmaßlichen Täter, einen vorbestraften Kinderschänder, wie einen normalen Verbrecher. Der<br />
Psychiater, der den Triebtäter einst begutachtete, bleibt jedoch bei seinem Urteil: „Ich würde wieder so entscheiden.“<br />
Er hat eine Spritze bekommen,<br />
deswegen hat<br />
er sich jetzt ein wenig<br />
beruhigt und kann reden, für<br />
den Moment wenigstens. Er<br />
hoffe, sagt Erich Kettner, daß<br />
seine Enkelin Natalie „nicht<br />
umsonst gestorben ist“.<br />
Er sei kein Richter und<br />
kein Mediziner, aber irgend<br />
etwas müsse doch geschehen,<br />
„irgend jemand muß doch<br />
einsehen, daß er was falsch<br />
gemacht hat“. Das Kind ist<br />
tot, „das bringt keiner<br />
zurück“. Aber wenn die Verantwortlichen<br />
in Zukunft ein<br />
wenig verantwortlicher handeln<br />
würden, dann, hofft Natalies<br />
Großvater, könne die<br />
Familie mit dem Horror vielleicht<br />
ein bißchen „besser<br />
fertig werden“.<br />
Er müsse jetzt aufhören,<br />
darüber zu reden, sagt er, „ich<br />
schaff’s nicht mehr“. Außerdem<br />
muß er ans Grab.<br />
Seit gut einer Woche weiß<br />
das Dorf Epfach bei Landsberg<br />
am Lech, daß die zwei<br />
Tage lang vermißte Natalie<br />
Astner tot ist. Am vorvergangenen<br />
Samstag wurde der<br />
Autoelektriker Armin Schreiner,<br />
vorbestraft wegen Kindesmißbrauchs,<br />
als Tatverdächtiger<br />
festgenommen.<br />
Am Tag danach fanden<br />
Suchtrupps der Polizei die<br />
Leiche des siebenjährigen<br />
Mädchens im Lech.<br />
Das schreckliche Verbrechen<br />
empörte vergangene<br />
Mordopfer Natalie: Gewürgt und geschlagen<br />
Woche die Menschen in ganz Deutschland.<br />
Nur wenige Wochen nachdem Bayerns Ministerpräsident Edmund<br />
dikamenten den Trieb abzustellen. Und<br />
die Machenschaften des belgischen Kinderschänders<br />
Marc Dutroux europaweit vollzug, der den Schutz der Opfer ver-<br />
Stoiber entrüstete sich über den Straf-<br />
für Entsetzen gesorgt haben, wurde erneut<br />
ein wehrloses Kind Opfer eines rung fixiert sei.<br />
nachlässige und zu sehr auf Resozialisie-<br />
Triebtäters.<br />
Doch der hilflose Aktionismus der Politiker<br />
geht an der Sache vorbei. Strenge-<br />
Allenthalben erhob sich der Ruf nach<br />
Rache, schärferen Gesetzen, Zwangskastration<br />
oder gar der Todesstrafe. Famili-<br />
wohl kaum verhindert, keine noch so lanre<br />
Gesetze hätten den Mord an Natalie<br />
enministerin Claudia Nolte erwog, Sexualstraftätern<br />
in Zukunft „chemisch“ zu ter. Statt dessen offenbart sich, daß der<br />
ge Gefängnisstrafe entschärft die Triebtä-<br />
Leibe zu rücken, also mit Hilfe von Me-<br />
deutsche Strafvollzug für den Umgang<br />
mit Sexualtätern völlig unzureichend<br />
gerüstet ist. Gutachter<br />
unterschätzten die Gefährlichkeit<br />
des Mörders von<br />
Natalie, eines vorbestraften<br />
Kinderschänders, dessen sexuelle<br />
Probleme nicht therapiert<br />
wurden (siehe Seite 34).<br />
Daß er Natalies Mörder<br />
kenne, ahnte der Nervenarzt<br />
Béla Serly, 50, erstmals am<br />
Montag morgen vergangener<br />
Woche. Wenig später las er in<br />
der Bild-Zeitung den vollen<br />
Namen des Täters: Armin<br />
Schreiner. Serly hatte dem<br />
Mann drei Jahre zuvor attestiert,<br />
voll zurechnungsfähig<br />
zu sein. „Ich war“, sagt Serly,<br />
„völlig überrascht. Ich hätte<br />
niemals für möglich gehalten,<br />
daß so etwas passiert.“<br />
In dem Aktenordner mit<br />
dem Kürzel „GA 39“ steht das<br />
Gutachten über den späteren<br />
Mörder von Natalie Astner<br />
noch heute in Serlys Büro.<br />
Armin Schreiner, geboren<br />
am 25. September 1968 in<br />
München, ledig, deutscher<br />
Staatsangehöriger, wuchs im<br />
Münchner Vorort Taufkirchen<br />
auf. Er wurde wegen sexuellen<br />
Mißbrauchs von Kindern<br />
zu viereinhalb Jahren<br />
Haft verurteilt, nach drei Jahren<br />
vorzeitig entlassen. Seine<br />
Sozialprognose: Günstig. Ein<br />
Mann, den Psychiater und<br />
Gericht für voll schuldfähig<br />
hielten.<br />
Natalie Astner, die Erstkläßlerin<br />
aus dem 600-Seelen-Dorf<br />
Epfach, war am Freitag vor einer<br />
Woche auf dem Weg zur fünf Minuten entfernten<br />
Schule, als sie von dem Autofahrer<br />
Schreiner angehalten, in den Kofferraum<br />
gezerrt und entführt wurde. Schreiner<br />
fährt das Kind auf einen Parkplatz, fesselt<br />
es mit eigens mitgebrachten Nylonschnüren<br />
und zieht sich eine Strumpfmaske<br />
über das Gesicht. Auf einem Feldweg<br />
zieht er dem Mädchen Leggings und<br />
Schlüpfer aus und betastet es.<br />
Das Kind bettelt darum, daß er es<br />
freiläßt. Es bietet in seiner Angst an, den<br />
BILD ZEITUNG<br />
DER <strong>SPIEGEL</strong> <strong>40</strong>/<strong>1996</strong> 31
Eltern nichts zu sagen, wenn er es gehen<br />
lasse. Natalie versucht sogar, ein paar<br />
Brocken Italienisch zu sprechen, weil<br />
sie ihn für einen Ausländer hält. Sie<br />
fleht ihn an, ihr Vater würde dem<br />
Entführer 1000 Mark geben, wenn sie<br />
gehen könne. So steht es in Schreiners<br />
Geständnis.<br />
Der Täter nimmt das Kind auf den<br />
Schoß – es sitzt dort mit abgewandtem<br />
Oberkörper. Seine Strumpfmaske hat er<br />
sich wieder vom Kopf gerissen, um sein<br />
Opfer besser sehen zu können.<br />
Da dreht sich Natalie um und sieht<br />
ihn an. Schreiner gerät in Panik, er<br />
würgt die Kleine und schlägt ihren<br />
Kopf gegen einen Baumstamm. Das<br />
bewußtlose Kind fährt er zum Lech, wo<br />
er es ins Wasser legt und ertrinken<br />
läßt. Natalies Kleider wirft er in einen<br />
Altkleidercontainer.<br />
Der Münchner Neurologe Serly hatte<br />
Schreiner 1993 drei volle Tage untersucht.<br />
Danach attestierte er ihm, zwar<br />
„sexuell auffällig, aber nicht abartig“<br />
zu sein. Serly: „Er hatte die Grenze zur<br />
schweren seelischen Abartigkeit nicht<br />
überschritten.“ Selbstzweifel fechten den<br />
Gutachter nicht an: „Mit dem Material<br />
von damals würde ich wieder genauso<br />
entscheiden.“<br />
Schreiner wurde auf Bewährung entlassen,<br />
fand im Juli 1995 einen Job beim<br />
Metallverarbeitungsbetrieb Hirschvogel<br />
in Denklingen unweit von Epfach, wo er<br />
schon als Freigänger der Haftanstalt<br />
Landsberg beschäftigt war. Und dort, ein<br />
böser Zufall, arbeiteten auch Natalies<br />
Großvater Erich Kettner, ihr Vater Johannes<br />
Astner und acht weitere Mitglieder<br />
der Familie.<br />
Wut und Entsetzen herrschen im Dorf.<br />
„Das Böse“, so nennt es der Augsburger<br />
Weihbischof Rudolf Schmid bei Natalies<br />
Beerdigung, ist nach Epfach eingedrungen<br />
– in jene Dorfwelt mit Trachten-,<br />
Schützen- und Heimatverein und jungen<br />
Leuten, die, so sagt es ein Altbauer, sich<br />
noch „anständig benehmen können“.<br />
Natalies Eltern stammen beide aus<br />
dem Dorf, und daß Hannes Astner sein<br />
Haar gern vorn kurz und hinten lang trägt<br />
und mit seinen Kumpels zusammen auf<br />
der Harley-Davidson durch Schwaben<br />
braust, hat ihn nicht zum Außenseiter<br />
werden lassen.<br />
Welche Konsequenz ist zu ziehen aus<br />
diesem Vorfall, von dem keiner geglaubt<br />
hatte, daß er sich jemals hier ereignen<br />
könnte? „Dene zoag’n mir’s bei der<br />
Wahl“, sagt der 80jährige Nachbar, aber<br />
wen er wählen soll statt der CSU, das<br />
weiß er dann doch nicht.<br />
Die Wut gilt der Politik, der Justiz und<br />
den Medizinern. Von „medizinischer Kastration“<br />
spricht Schreiners ehemaliger<br />
Arbeitgeber Manfred Hirschvogel, „weil<br />
ich nicht glaube, daß solche Störungen<br />
therapierbar sind“. Diese Möglichkeit<br />
kann sich auch Natalies Großvater<br />
„durchaus vorstellen“. Immerhin ruft er<br />
nicht nach dem Henker, wie das viele im<br />
Dorf jetzt tun, oder nach dem „kloana<br />
Hitler“, den sich eine Nachbarin der Astners<br />
wünscht. Hirschvogel will jedenfalls<br />
keine Freigänger mehr beschäftigen:<br />
„Das kann ich meinen Leuten nicht mehr<br />
zumuten.“<br />
Bei vielen wird die Trauer umgesetzt<br />
in Rachegefühle, und weil viele glauben,<br />
daß den Gerichten nicht zu trauen sei,<br />
In sechs Monaten<br />
zwei Kinder und<br />
drei Frauen überfallen<br />
stellen sie sich auf ein zu mildes Urteil<br />
ein: „Wenn der freikommt, den such’ ma<br />
bis an den Nordpol.“<br />
In Landsberg, dem Gerichtsstand, wird<br />
Schreiner wohl kaum einen Anwalt finden.<br />
Jurist Rasso Leitenstorfer, der kurzfristig<br />
das Mandat übernommen hatte,<br />
legte es schon nach wenigen Tagen wieder<br />
nieder. „Es wäre mit Druck aus der<br />
Bevölkerung zu rechnen gewesen“, so<br />
sein Kollege Peter Klinger. „Ich habe ihm<br />
davon abgeraten, ich habe selbst vier<br />
Kinder. Und ich bin mir sicher, daß sich<br />
die Kollegen auch der Pflichtverteidigung<br />
widersetzen werden.“<br />
Dutzende von Leserbriefen in den<br />
Lokalzeitungen verlangen Rechenschaft<br />
von dem Psychiater, sogar der bayerische<br />
Ministerpräsident Stoiber ließ auf einer<br />
schnell einberufenen Pressekonferenz<br />
* In der Nähe der Brücke wurde das tote Kind aus<br />
dem Fluß geborgen.<br />
Natalie-Gedenkort Lechbrücke*: Trauer
anklingen, er verstehe nicht,<br />
wie solche Gutachten „trotz<br />
fünf Sexualdelikten“ entstehen<br />
könnten.<br />
Zu dem Zeitpunkt, als Psychiater<br />
Serly zum erstenmal auf<br />
Armin Schreiner trifft, hatte der<br />
Elektriker sich bereits an zwei<br />
Kindern und drei Frauen sexuell<br />
vergangen – fünf Fälle innerhalb<br />
eines halben Jahres.<br />
Am Heiligen Abend 1991<br />
überfiel er ein 16jähriges Mädchen<br />
in Taufkirchen, das mit<br />
dem Fahrrad an ihm vorbeifuhr.<br />
Er riß sie vom Rad, legte sich<br />
auf sie, würgte sie und drohte<br />
ihr, sie umzubringen, wenn sie<br />
nicht aufhöre zu schreien. Er<br />
zog dem Mädchen Jeans und<br />
Slip herunter, griff ihr an die<br />
Genitalien und drängte seinen<br />
entblößten Unterkörper an sie.<br />
Hinterher ging er zur Familie<br />
seiner Freundin und sang „Stille<br />
Nacht, Heilige Nacht“.<br />
Sechs Monate später überfiel Schreiner<br />
im Lift einer Wohnanlage eine<br />
21jährige und würgte sie. Die Frau wehrte<br />
sich so stark, daß er flüchtete.<br />
Gut eine Woche danach machte sich<br />
Schreiner an ein neunjähriges Mädchen<br />
heran, das im Taufkirchener HL-<br />
Markt einkaufte. Das Kind mühte sich<br />
mit zwei vollen Einkaufstaschen und<br />
einem Schirm, da bot sich Schreiner an,<br />
ihr die Tüten heimzutragen. Dort angekommen,<br />
zerrte er das Kind in den<br />
Keller und versuchte, ihm die Unterhose<br />
auszuziehen. Weil das Kind laut<br />
schrie, lief er weg.<br />
und Rachegefühle<br />
DEUTSCHLAND<br />
Natalies Beerdigung*: „Nicht umsonst gestorben“?<br />
Drei Tage später war Schreiner schon<br />
wieder unterwegs. Im Lift eines Hochhauses<br />
bemerkte er ein elfjähriges<br />
Mädchen, folgte ihr bis zur Tür der elterlichen<br />
Wohnung und zog es dann gewaltsam<br />
in den Treppenflur. Er riß der Kleinen<br />
Rock und Höschen herunter, griff ihr<br />
zwischen die Beine und drückte sein<br />
Glied an das Kind.<br />
Gleich darauf, kurz bevor er gefaßt<br />
wurde, überfiel er eine 23jährige, würgte<br />
sie, betastete ihre Brust und dann den<br />
ganzen Körper. Erst als die Frau nach seinem<br />
Daumen schnappte und ihn heftig<br />
biß, ließ er von ihr ab. Gutachter Serly<br />
wertete diese Reihung von<br />
Übergriffen als „sexuelle Impulstaten“.<br />
Zu dem Zeitpunkt hatte<br />
Schreiner Probleme mit seiner<br />
Freundin, Ärger mit deren Vater<br />
und Streß im Beruf. Der<br />
Gutachter glaubte, durch Angriffe<br />
auf Frauen und Kinder<br />
wolle er sein angeschlagenes<br />
Selbstbewußtsein wiederaufrichten.<br />
Eine anhaltende und<br />
schwere seelische Abartigkeit<br />
konnte Serly nicht erkennen.<br />
Das Gericht schloß sich dem<br />
an und schickte Schreiner –<br />
voll schuldfähig – für viereinhalb<br />
Jahre ins Gefängnis. Eine<br />
Sexualtherapie bekam er nicht.<br />
Dafür eine Allgemeintherapie,<br />
die sein Selbstbewußtsein stärken<br />
sollte. Serly: „Ich versichere<br />
Ihnen, ich habe mir jede<br />
Mühe gegeben. Ich bin ihm relativ<br />
nahegekommen. Ich mache<br />
mir keinen Vorwurf.“<br />
C. LEHSTEN / ARGUM<br />
* Hinter den Sargträgern die Eltern<br />
des toten Mädchens.<br />
Schreiners früherer Anwalt zumindest<br />
schlägt sich mit Zweifeln herum.<br />
„Natürlich kommt jetzt der Gedanke, ob<br />
man nicht noch ein zweites Gutachten<br />
hätte anfordern sollen“, sagt Werner Haimayer.<br />
„Mir ist schon unwohl in der<br />
Haut.“ Der junge Anwalt geht heute von<br />
einer „Fehleinschätzung“ des Gutachters<br />
aus. Armin Schreiner war bei seinem ersten<br />
Prozeß 1993 noch sehr jung, erst 24.<br />
Haimayer: „Alle waren bestrebt, ihm die<br />
Unterbringung im Bezirkskrankenhaus<br />
zu ersparen.“<br />
Mit dem Streit um das Gutachten<br />
bricht ein ganzes Geflecht an Animositäten<br />
im Münchner Landgericht auf. Serly<br />
und mehreren Kollegen wird vorgeworfen,<br />
willige Erfüllungsgehilfen der<br />
Staatsanwaltschaft zu sein, „Hausgutachter“<br />
sozusagen. Nahezu regelmäßig<br />
werde von Gutachtern bei Kapitaldelikten<br />
in München auf „voll schuldfähig“<br />
erkannt, um möglichst harte Strafen zu<br />
ermöglichen. Im Rückschluß bedeutet<br />
das aber, so ein langjähriger Strafverteidiger,<br />
daß den Tätern häufig zu Unrecht<br />
attestiert werde, kerngesund zu sein.<br />
„Der kriegt zwar lebenslänglich, wird<br />
aber nicht therapiert, und kommt nach 15<br />
Jahren aus dem Knast raus, wie er reingegangen<br />
ist.“ Einziger Erfolg: Das Gericht<br />
könne zeigen, wie sehr es auf Law<br />
and Order hält.<br />
Für Gutachter Serly ist der Ruf nach<br />
Therapie ein „Schrei der Hilflosigkeit“.<br />
Die Therapie könne den Sexualtätern ihre<br />
Abartigkeit nicht nehmen, sondern nur<br />
versuchen, sie in einigermaßen geordnete<br />
Bahnen zu leiten. Gleichzeitig dem<br />
Schutz der Allgemeinheit gerecht zu werden<br />
und dem Anspruch auf Resozialisierung<br />
– das bedeute, so Serly, „Feuer und<br />
Eis in einen Topf schmeißen, und der<br />
Gutachter soll drin rumrühren“.<br />
DER <strong>SPIEGEL</strong> <strong>40</strong>/<strong>1996</strong> 33<br />
REUTERS