27.02.2022 Views

Elpis - What remains is hope

Urbanisierung, Ressourcenknappheit, Artensterben, Ozeanversauerung, Bodenerosion, Kriege: Der Mensch ist spätestens seit der industriellen Revolution zum bestimmenden Faktor für das globale Ökosystem geworden. Mit meinem Werk möchte ich durch neue Realitäten und der Verbindung mit einem bekannten und leicht zugänglichen Motiv, eingebettet in religiösen und kulturellen Kontext, Bewusstsein für die derzeitige Situation der Menschheit schaffen. Verankert in der Gegenwart, soll die moderne Gesellschaft hinterfragt werden.

Urbanisierung, Ressourcenknappheit, Artensterben,
Ozeanversauerung, Bodenerosion, Kriege: Der
Mensch ist spätestens seit der industriellen Revolution
zum bestimmenden Faktor für das globale
Ökosystem geworden.
Mit meinem Werk möchte ich durch neue Realitäten
und der Verbindung mit einem bekannten und leicht
zugänglichen Motiv, eingebettet in religiösen und
kulturellen Kontext, Bewusstsein für die derzeitige
Situation der Menschheit schaffen. Verankert
in der Gegenwart, soll die moderne Gesellschaft
hinterfragt werden.

SHOW MORE
SHOW LESS

Create successful ePaper yourself

Turn your PDF publications into a flip-book with our unique Google optimized e-Paper software.

What remains is hope

Elpis

Sonja Riemer



Elpis

altgriechisch ἐλπίς

Erwartung

von positiven Dingen: Hoffnung

verallgemeinert: Erwartung, Meinung

von negativen Dingen: Furcht, Besorgnis

In der griechischen Antike hat Elpis keine eindeutig

positive Bedeutung, sondern bezeichnet allgemein

und formal den Zukunftsbezug des einzelnen

Menschen, dem der neutrale Begriff ‹Erwartung›

entspricht. 1

1


Die Menschheit findet sich an einem Punkt wieder,

an dem die Verhältnisse auf der ganzen Erde, Natur,

Kultur und Zivilisation zur Verhandlung mit

uns selbst stehen.

Die Fähigkeit einer fiktiven Sprache und die damit

einhergehenden kollektiven Mythen und Geschichten

halten eine Gesellschaft zusammen und machen den

Homo Sapiens so erfolgreich.

Urbanisierung, Ressourcenknappheit, Artensterben,

Ozeanversauerung, Bodenerosion, Kriege: Der

Mensch ist spätestens seit der industriellen Revolution

zum bestimmenden Faktor für das globale

Ökosystem geworden. Umweltauswirkungen betreffen

den gesamten Planeten und sind mit allen Geoprozessen

der Erde verwoben. 2

Getrieben vom endlosen Streben nach Glückseligkeit,

Unsterblichkeit und Gottgleichheit, als

ultimativer Selbstschöpfer mit dem Preis einer

zunehmenden Ungleichheit und einer neuen Datenreligion,

haben wir verlernt auf die Vernunft zu

hören. 3

Nur durch den kollektiven Glauben an diese Mythen

und Symbole, können wir als Menschen in grösseren

Gruppen zusammenleben und nur damit konnte der

Mensch zur dominanten Kraft bei der Gestaltung

des Erdbildes werden. 4

Ein kollektives Symbol für Vernunft, aber auch

Unsterblichkeit, Reinheit, Schutz und Warnung,

das Menschen über den religiösen Kontext hinaus

bewegt, sind Engel. Geflügelte Wesen gelten in

vielen Kulturen und Religionen als Vermittler und

Boten zwischen den Welten und erscheinen, wenn der

Mensch in Grenzsituationen kommt. Engel warnen,

geben aber auch Hoffnung, selbst dort, wo alle

Hoffnung verloren scheint.

2 3



4 5



6 7

Sind wir an einem Punkt angekommen, an dem wir selbst die Engel nicht mehr hören?



8 9



Mit meinem Werk möchte ich durch neue Realitäten

und der Verbindung mit einem bekannten und leicht

zugänglichen Motiv, eingebettet in religiösen und

kulturellen Kontext, Bewusstsein für die derzeitige

Situation der Menschheit schaffen. Verankert

in der Gegenwart, soll die moderne Gesellschaft

hinterfragt werden.

Dabei schöpfe ich aus der christlichen Ikonographie

sowie aus Mythologie und kulturellen Überlieferungen

und überlagere bestehende Geschichten

mit neuen Erzählungen, welche durch aktuelle

Ereignisse angeregt werden. Damit werden vielschichtige

Bezüge zur kunsthistorischen Tradition

der Malerei und Plastik von der Gotik bis zur

Gegenwart geöffnet.

10 11



Religiöse Ikonographie, Motive, Figuren und

Gemälde mit ihren Legenden, sind Teil unserer

Kultur und bilden eine eigene Ausdrucksform um

Geschichten zu erzählen, die auch ausserhalb

des religiösen Kontextes verstanden werden.

Das Motiv des Engels gilt innerhalb dieser

Geschichten sowohl in allen monotheistischen

abrahamitischen Religionen, als auch in vielen

Kulturen als Bote, was sich auch in deren

Namensgebung erkennen lässt. Das griechische

angelos, lateinisch angelus, ist bei den Franzosen

ange, bei den Engländern angel und im

deutsprachigen Raum Engel. Es bedeutet nichts

anderes als das hebräische, biblische malach

oder das arabische malak – Bote.

In der Kunstgeschichte finden sich über alle

Epochen Engelsdarstellungen. Sie sind zu einem

festen Bestandteil der Kulturgeschichte

geworden, die sich über Medium, Kultur und

Zeit erstreckt. Während die zeitgenössische

Vorstellung des Aussehens eines Engels im 4.

Jahrhundert nach Christus entstand, kann die

Präsenz von Engeln oder engelsgleichen Figuren

in der Kunst viele Tausende Jahre zurückverfolgt

werden. Die Darstellung von Wesen

Lamassu

721-705 v. Chr.

mit angedeuteten oder tatsächlichen Schwingen

findet sich schon in Abbildungen alt-ägyptischer

Gottheiten. In der assyrischen Kultur

war der Lamassu, eine Hybridfigur mit Stierkörper,

menschlichem Kopf und grossen Flügeln,

eine Schutzgottheit. Wegen seiner Rolle als

Beschützer und der Schönheit seiner mythologischen

Erscheinung war dieses Wesen Gegenstand

der assyrischen Kunst.

Nike von Samothrake

190 v. Chr.

Ab dem 5. Jahrhundert v. Chr. inspirierten in

Griechenland zwei fliegende Gestalten die Engel

in der Kunst: Eros und Nike.

Der erste geflügelte Engel lässt sich auf das

vierte Jahrhundert vor Christus datieren und

im damaligen Byzanz lokalisieren. In den folgenden

Jahrhunderten kam es im Rahmen der frühchristlichen

Kunst vermehrt zu Mosaiken, Gemälden

und anderen Darstellungen, die Engel

abbildeten.

Gotische Darstellungen zeigen, beeinflusst von

der byzantanischen Kunst, prachtvoll gekleidete

Jünglinge mit mächtigen Schwingen. Da die

Kunst im Mittelalter vor allem durch die katholische

Kirche vorangetrieben wurde, sind Engel

in dieser Epoche in prunkvollen religiösen Gemälden

und Skulpturen zu finden.

Mit Beginn der italienischen Renaissance ging

die prunkvolle, ausgeschmückte Darstellung der

Engel zurück, wenngleich sie nach wie vor in

der Kunst vertreten waren. Ihre Gestalt wurde

stärker vermenschlicht. Grund dafür war das

gesteigerte Interesse der Künstler an der naturalistischen

Darstellung. 5 Von den realistischeren

Darstellungsformen der Renaissance

beeinflusst, zeigten die Künstler des Neoklassizismus

die Engel in naturalistischer Weise.

Zusätzlich löste sich die Einbindung der Engel

von religiösen Darstellungen. 6

Giovanni Bellini„ Toter Christus, von Engeln gestützt“

1475

Berlinde de Bruyckere, „Engelkeel“

2021

Künstler wie Wassily Kandinsky (Das jüngste

Gericht, 1911), Marc Chagall (Der Engelsturz,

1923/1933/1947), Slavador Dali (Der gefallene

Engel, 1960) oder Robert Rauschenberg (Coca-

Cola Plan, 1958) interpretierten die Darstellung

je nach Kunstrichtung und Zeitgeschehen

und verdeutlichten damit die sozialen und ökonomischen

Umbrüche des 20. Jahrhunderts. 7 Wie

die abstrahierten Engel von Keith Haring oder

den Skulpturen von Berlinde de Bruyckere, haben

Engel in der Gegenwartskunst nicht mehr

denselben religiösen Stellenwert wie in der

Vergangenheit, sondern sind von der Vorstellung

eines Engels, wie er in Mythen, Geschichten,

Literatur und Kunstgeschichte dargestellt

wird, inspiriert.

12 13



14 15



„Der Körper ist der gemeinsame Nenner und die

Bühne für unsere Freuden und unsere Sorgen. Durch

den Körper wird ausgedrückt, wer wir sind, wie wir

leben und sterben.“ 8

Kiki Smith

Körpermodell „Elpis“

Draht

10 x 20 cm

Skizze „Elpis“

Bleistift/Tusche auf Papier

21 x 29 cm

16 17



Körperplastik „Elpis“

80 x 130 cm

Das Leiden beschäftigt seit Jahrhunderten die

Kunst. In der bildenden Kunst sind Schmerz, Melancholie

und Verwundung allgegenwärtig, jedoch

auch Hoffnung, Auferstehung und Genesung. Dieses

Spannungsverhältnis macht die Kunst zur essenziellen,

zur elementaren menschlichen Botschaft. 9

Körperplastik „Elpis“

Gips mit Handabguss aus Giessharz

Die „Elpis“ Körperplastik spiegelt das Leid wider,

zeigt Verletzlichkeit und macht bewusst, das

alles vergänglich ist. Die Körperhaltung ist angelehnt

an ikonographische Leidensdarstellungen

aber auch an Körperabgüsse aus Pompeji. Dafür

wurde auf Basis eines Skeletts ein Drahtgeflecht

aufgebaut, welches die Sehnen und Muskeln imitiert.

Dieser Aufbau wurde mit Gips verfestigt

und daraus ein lebensgrosser, liegender Körper

modelliert. Für die Hände und Füsse wurden Abgüsse

aus Giessharz angefertigt.

18 19



Um die körperliche Erscheinung des Engels zu verstärken,

sind Flügel angedeutet, welche jedoch

von der gängigen Vorstellung abweichen. Der verwendetete

harte und spitze Draht kontrastiert

mit der verletzlichen Haut der Körperplastik und

eröffnet Bezüge zu Stacheldraht und dem damit

verbundenen Einsperren, Wegsperren.

Studie Flügel

Auszug aus Skizzenbuch „Elpis“

Bleistift auf Transparentpapier

20 21



22 23



Schicht für Schicht sind die Lagen der Haut mit

verschiedenen Papieren aufgebaut. Deren durchscheinende

Oberflächen machen darunterliegende

Farben und Strukturen sichtbar und die Verletzlichkeit

fühlbar.

24 25



„The skin is the container of the soul.“ 10

Berlinde de Bruyckere

Himalaya Papier, verschiedenen Farben, (30g/m 2 und 80g/m 2 ),

Zeitungspapier

auf Gipskörper

26 27



28 29



Im Rahmen der Ausarbeitung des Projektes enstand

ein Text mit Botschaften zur aufgegriffenen Thematik

(siehe Seite 47). Diese Botschaften sind

auf der Haut der Skulptur sichtbar.

Durchbrüche und Verletzungen an unterschiedlichen

Stellen gehen unter die Haut, machen das Leid eindrücklich

sichtbar und offenbaren das intensive

Gefühl des Schmerzes.

30 31



32 33



Die Gestalt des Engels als geschundener Körper,

als Beweis der Existenz und gleichzeitig Abbild

des Leids, Leben und Tod, Einsamkeit und Fragilität

sowie der Zerstörungskraft der Menschheit.

Die realistische Ausarbeitung tritt in den Hintergrund,

es zeigen sich widerstrebende Kräfte

welche einerseits durch die Hautfarbe oder Körperform

Nähe zur Wirklichkeit schaffen, andererseits

durch fehlende Details und Verzerrungen die

Verfremdung unterstreichen. Durch das Verpacken

in Luftpolsterfolie wird aus dem Körper ein Gegenstand.

Damit wird die „geistlose Ojektivität“ von

Hegel 11 neu interpretiert: statt den durch den

Menschen unterworfenen technologischen Prozessen

und Dingen ein Eigenleben zu geben, wird aus einem

beseelten Geschöpf ein industrieller Gegenstand,

ein „Ding zum Wegwerfen“. 12

34 35





38



40 41



42 43



45



In the scent of the burning forest,

the roots reach out for water, that disappeared

when the flesh of the earth was torn open,

to fill the mouths of the overrun planet.

Now that everything has disappeared,

mantled in concrete, buried in waste,

burned in wars, the cinders falling like snow

and dust filling the mouths and covers the faces.

The machines fall silent as the bees and birds

have fallen silent.

Too few listen to the messengers, are willing to

see the signs.

The echoes of the past break the hearts of the

unborn as the world silently slows to a stop

and the sun stops somewhere beyond the rim of

the horizon.

Only the wind drowns out the groans of those who

are still there.

What remains is hope.

Sonja Riemer

2021

46 47



48 49



Quellenverzeichis

Schriftquellen

1 Link, 1974, «Hoffnung». In: Ritter (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie

2 Lucht, 2020, Ethische und philosophische Überlegungen zum Anthropozän

3 Harari, 2017, Homos Deus

4 Harari, 2015, Eine kurze Geschichte der Menschheit

5 Mendelsohn, 1907, Die Engel in der bildenden Kunst: Ein Beitrag zur Kunstgeschichte

der Gotik und der Renaissance

6 Marek, Schulz, 2015, Kanon Kunstgeschichte: Einführung in Werke, Methoden und

Epochen

7 Schade, Zum Bild des Engels in der modernen Kunst

8 Weidemann, Larass, Klier, 2018, 50 Künstlerinnen, die man kennen sollte.

9 Maaz, Leidensdarstellung in der Kunst. Zwischen Schmerz und Auferstehung. https://

www.deutschlandfunkkultur.de/leidensdarstellung-in-der-kunst-zwischen-schmerzund-100.html,

06.12.2021

10 de Bruyckere, Surfaces are Containers of the Souls, https://www.hauserwirth.com/

ursula/13518-berlinde-de-bruyckere-surfaces-containers-souls, 25.11.2021

11 Hegel, 1927, Vorlesungen über die Ästhetik I. Band

12 Hausmann, 1972, Gegenwart und Psychoanalyse des Gegenstandes. In: Willy Rotzler,

Objekt-Kunst.

Abbildungen

S. 4 & 5 (v.l.n.r.)

Martin Gerten, „Europas Böden werden immer unfruchtbarer“, https://www.fr.de/meinung/gastbeitraege/europas-boeden-droht-der-burn-out-90120448.html,

21.11.2021

Keystone, „Toter Seevogel“, https://www.srf.ch/radio-srf-virus/aktuell/umwelt-einmeer-aus-plastik-wie-kunststoff-unsere-ozeane-verseucht,

21.11.2021

Corbis, „Atombombe“, https://www.spiegel.de/geschichte/geheimprojekt-a119-dieatombombe-auf-dem-mond-a-947837.html,

21.11.2021

dpa, „Zwischen Ruß und Revolte: Umweltbewegung in der DDR“, https://www.mdr.de/

geschichte/ddr-umweltschuetzer-umweltkatastrophe100.html, 26.11.2021

Press Office of Armenian Defense Ministry Pan Photo, „Kriege, Kriesen, Corona“,

https://www.zdf.de/nachrichten/politik/konfliktbarometer-2020-100.html, 21.11.2021

AP, „KZ Bergen-Belsen“, https://www.spiegel.de/geschichte/holocaust-forscher-zaehlen-mehr-als-175-000-juedische-opfer-in-deutschland-a-1127900.html,

21.11.2021

Getty Images, „Der achte Kontinent besteht aus Müll“, https://www.welt.de/dieweltbewegen/sonderveroeffentlichungen/nachhaltigeverpackungen/article118387922/Der-achte-Kontinent-besteht-aus-Muell.html,

21.11.2021

„Zerstörerische Naturgewalt: So ensteht ein Waldbrand“, https://weather.com/de-DE/

wissen/wetterphaenomene/video/zerstorerische-naturgewalt-so-entstehen-waldbrande,

21.11.2021

„Stadt frisst Mensch - Chinas Kampf um Wohnraum“, https://www.zdf.de/dokumentation/

zdfinfo-doku/stadt-frisst-mensch-chinas-kampf-um-wohnraum-100.html, 26.11.2021

Oceancare, „Plastikverschmutzung“, https://www.oceancare.org/de/unsere-arbeit/meeresschutz/plastikverschmutzung/,

21.11.2021

AP, „Überschwemmung“, https://www.pressreader.com/germany/graenzbote/20210717/281582358642298,

21.11.2021

UNHCR/B. Loyseau, „Flüchtlinge“, https://www.unhcr.org/dach/ch-de/ueber-uns/wemwir-helfen/fluechtlinge,

25.11.2021

S. 12 & 13

Marie-Lan Nguyen, „Lamassu“, https://fo.wikipedia.org/wiki/Lamassu, 25.11.2021

muratart, „Ursprung, Bedeutung und Vermächtnis der Nike von Samothrake“, https://

www.daskreativeuniversum.de/nike-von-samothrake/, 24.11.2021

Christoph Schmidt, „Toter Christus von Engeln gestützt“, https://www.tagesspiegel.

de/kultur/mantegna-und-bellini-in-berlin-das-traumpaar-der-renaissance/24052472.

html, 25.11.2021

„Engelkeel“, https://www.bonnefanten.nl/en/exhibitions/berlinde-de-bruyckere

25.11.2021

S.8-9, 14-52

Eigene Abbilungen, Sonja Riemer, 2021/22

50 51



Studienjahr Kunst

Spezialisierung 2021/22

SKDZ Schule für Kunst und Design

Zürich

Hooray! Your file is uploaded and ready to be published.

Saved successfully!

Ooh no, something went wrong!