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medizin&technik 01.2020

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TITELTHEMA Das Innenleben des Kunst - herzens: Die Aufgabe der Pumpe übernimmt bei Rein - heart ein Linearmotor, der – wie im Lautsprecher – mit geringem Eneergieaufwand eine Membran bewegt. Versorgt wird das System über eine Induktionsspule, die der Patient in einem schmalen Batterie - gürtel trägt (Bild: Reinheart TAH) plantat sollte vor allem jenen Menschen helfen, die von der Retinitis pigmentosa betroffen sind – einer Krankheit, bei der der Körper die Netzhaut selbst zerstört. Das Implantat sollte wie ein lichtempfindlicher Fotochip in einer Kamera vor die geschädigte Netzhaut gesetzt und mit dem Sehnerv verknüpft werden. Retina Implant: Nach Jahren kam das wirtschaftliche Aus Vor Jahren hatte sich in Reutlingen die Retina-Implant AG gegründet, die das Implantat zur Produktreife bringen sollte. Doch im März 2019 entschieden die Aktionäre, die Gesellschaft aufzulösen. Obwohl die Fortschritte vielversprechend waren, Patienten erste Chips implantiert wurden und sie grob-gepixelte Bilder erkennen konnten. Doch letztlich waren die Hürden zu hoch: Während beim Cochlea- Implantat wenige Kanäle für ein Hörerlebnis ausreichen, müssen für ein ansprechendes Bild viele Pixel nebeneinander in den Sehnerv eingespielt werden. Für René von Metzen ist der Ansatz trotzdem vielversprechend: „Technisch hätte man das weiter entwickeln können. Die Entscheidung zur Auflösung der AG hatte sicher auch wirtschaftliche Gründe.“ Die Geschichte des Retina-Implantats zeigt, wie lange es dauern kann, technischen Ersatz für ein Organ zu entwickeln. Ein weiteres Beispiel sind Kunstherzen. Die so genannten Ventrikulären Unterstützungssysteme – kurz VAD für Ventricular assist device – unterstützen nur eine Herzkammer und sind damit kein ganzheitlicher Organersatz. Vollständige Kunstherzen wiederum werden von außen über Schläuche und einen Kompressor betrieben, ein lautes Gerät, das man auf einem Wägelchen mit sich führen muss. Auch wenn das keine Dauerlösung ist, hilft es Menschen, die von einer irreparablen Schädigung betroffen sind und auf ein Spenderherz warten. Reinheart soll helfen, bis es biotechnische Herzen gibt Eine Alternative entwickelt seit mehreren Jahren die Reinheart TAH GmbH, ein Spin-off der RWTH Aachen. Ihr künstliches Herz pumpt Blut mithilfe von Membranen, die von einem verschleißfreien Linearmotor bewegt werden. Ähnlich wie bei einem Lautsprecher wird die Bewegung über Magnetspulen erzeugt. Ein externer Kompressor ist nicht nötig. Das System soll künftig fünf bis acht Jahre lang arbeiten – ganz ohne Wartung. Eine weitere Besonderheit: Das Reinheart-System soll drahtlos von außen mit Strom versorgt werden, über eine Induktionsspule. Der Patient muss also nur einen schmalen Batteriegürtel tragen. „Rein - heart wird vielen Patienten, die heute auf das Kunstherz mit Kompressor angewiesen sind, den Alltag wesentlich erleichtern“, sagt Heiko De Ben, technischer Direktor beim Unternehmen Reinheart. „Nicht zuletzt, weil es für viele stigmatisierend ist, ein Kompressor-Gerät in der Öffentlichkeit zu nutzen.“ Inzwischen sind alle technischen Komponenten entwickelt. Bis zur klinischen Studie aber sind noch Tests nötig. Bis die Experten das Herz erstmals einem Menschen einpflanzen können, werden noch mindestens vier Jahre vergehen. Für Heiko De Ben ist die Entwicklung eines Herzens höchst anspruchsvoll. „Das Herz ist ja kein simpler Ballon, sondern eine komplex gebaute hydraulische Pumpe.“ Es bestehe nicht nur aus Muskeln, sondern aus verschiedenen Geweben. Viele Fasern durchziehen das Organ, die den Blutfluss optimieren. „Natürlich wäre es großartig, wenn man ein komplettes Herz biotechnisch herstellen könnte – aber bis dahin werden noch mindestens 20 Jahre vergehen. In dieser Zeit kann das ‚Reinheart‘ gute Dienste leisten.“ Ein Ersatzherz, das es mit einem echten aufnehmen könnte, fehlt bislang also. Und ein Herz aus dem 3D-Drucker ist bis auf weiteres nicht in Sicht. „Man wird sich einem Organersatz aus lebenden Zellen in den kommenden Jahren daher langsam annähern“, ist Prof. Dr. Thomas Scheibel, Leiter des Lehrstuhls für Biomaterialien an der Universität Bayreuth, überzeugt. Zunächst werde man versuchen, kleinere Defekte am Herzen zu reparieren, etwa Herzmuskelzellen, die durch einen In- 32 medizin&technik 01/2020

farkt abgestorben sind. „Der nächste Schritt wäre der Austausch von Teilen eines Organs.“ Ein vollständiges Organ mit allen Funktionen aber werde noch viele Jahre auf sich warten lassen. Thomas Scheibel ist Experte für Materialien aus Spinnenseide, die er über sein Unternehmen Amsilk GmbH mit Sitz in Planegg an die Kosmetik- und Textilindustrie verkauft. An der Universität Bayreuth entwickelt er medizinische Lösungen. Online weiterlesen Mehr dazu, wie Spenderorgane mithilfe von Technik verbessert werden können, und über transparente Organe als Muster fürs Bioprinting lesen Sie im Online-Magazin unter www.medizin-und-technik.de/ onlineweiterlesen Spinnenseide ist extrem strapazierfähig und löst keine Immunreaktion aus. In modifizierter Form kann sie für Medizinprodukte genutzt werden. So lässt Scheibels Team aktuell Nervenzellen an einer Schiene aus Spinnenseide entlangwachsen. Und natürlich arbeitet Scheibel auch am großen Thema „Herz“. Es ist bereits gelungen, die Seide so zu modifizieren, dass darauf Herzmuskelzellen wachsen. Das ist etwas Besonderes, denn beim lebenden Herzen funktioniert das nicht. Stirbt ein Teil des Muskels durch einen Infarkt, bildet sich dort funktionsloses Bindegewebe, denn Herzmuskelzellen sind nicht in der Lage sich auszubreiten. Doch auf der Spinnenseide funktioniert das. Scheibel möchte nun abgestorbene Bereiche des Herzmuskels aus einem Seidengerüst nachformen und dieses Implantat mit dem Herzen verschmelzen. Das wäre ein erster Schritt zur Herzreparatur. Die aktuelle Arbeit in seinem Labor lässt hoffen: Seit mehr als drei Monaten wachsen auf einem größeren Seidengerüst Herzmuskelzellen. Und die können sogar etwas, das das gedruckte Mini-Herz aus Tel Aviv nicht vermochte: synchron schlagen. Tim Schröder Wissenschaftsjournalist in Oldenburg Weitere Informationen Über Oliver Schwarz und den Bereich Bionik und Medizintechnik am Fraunhofer IPA: http://hier.pro/6mX8p Über Dr.-Ing. René von Metzen und seine Arbeiten am NMI: http://hier.pro/ilrNC Über das RWTH-Aachen-Spin-off Reinheart TAH: www.reinheart.de Über Prof. Scheibel und die Bayreuther Arbeiten zur Spinnenseide: https:// fiberlab.de 01/2020 medizin&tec hn i k 33

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