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Rotary Magazin 10/2021

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Rotary Magazin 10/2021

ROTARY SCHWEIZ –

ROTARY SCHWEIZ – ROTARY SUISSE LIECHTENSTEIN – OKTOBER 2021 ROTARISCHER GASTBEITRAG EINE BERNISCH-RUSSISCHE FAMILIE 38 Die Biografie von Niklaus von Steiger greift über ein Stück Berner Lokalgeschichte hinaus und zeigt eine Familienodyssee, die weit zurückgeht und über Generationen von der Schweiz nach Russland und von dort wieder zurück in die Schweiz führt. Niklaus von Steiger wusste, dass seine Tage gezählt waren. Der medizinische Befund sprach eine ebenso deutliche Sprache wie sein schwacher Körper. Und so drängte ein Projekt zum Abschluss, das er vor Jahrzehnten begonnen hatte. Seine Biografin Inga Häusermann schreibt: «Kennengelernt habe ich Niklaus von Steiger über seine Tochter Tatjana, mit der ich seit Jugendtagen freundschaftlich verbunden bin. Wenn wir an Festen beisammensassen, ihr Vater aus seinem bewegten Leben erzählte und mich mit den Geschichten seiner Ahnen in Bann zog, hoffte ich immer, diese eines Tages zu Papier bringen zu können. Die Möglichkeit dazu ergab sich erst ein halbes Jahr vor seinem Tod.» Im Wettlauf mit der Krankheit gab der 1933 in Bern geborene Niklaus seine Lebenserinnerungen an Inga Häusermann weiter, die sie durch das Studium von umfangreichem Quel- Häusermann, Inga: «Nikolka» Niklaus von Steiger Eine bernisch-russische Familienodyssee Verlag Hier und Jetzt, Zürich 2021 lenmaterial und zahlreichen Gesprächen mit Verwandten, Freunden und Weg- gefährten zur Geschichte der Familien- odyssee erweiterte. VON BERN NACH RUSSLAND Im Jahre 1822 wanderte Rudolf von Steiger mit seiner Frau und seinen sieben Kindern nach Russland aus. Nach der Französischen Revolution und der Eroberung der alten Eidgenossenschaft verlor das Patriziat seine politische und gesellschaftliche Vormachtstellung. Manche der bernischen Patrizierfamilien waren so verarmt, dass sie sich zur Auswanderung entschlossen. Vor seiner endgültigen Entscheidung, die Schweiz mit seiner Familie zu verlassen, hatte Rudolf von Steiger Russland besucht und war angetan von diesem Land. Zudem förderte Zar Alexander I. die Einwanderung aus der Schweiz. Er räumte den Angehörigen ausländischer Adelsfamilien die Rechte und Privilegien des russischen Adels ein. Nach einer mehrmonatigen beschwerlichen Reise landete die Familie von Steiger in der Gegend von St. Petersburg, wo ein Bekannter von Rudolf die Familie aufnahm. Rudolf fand zuerst als Gutsverwalter ein Auskommen. Nach seiner Einführung in die Kreise des Adels kam er zum Posten des Verwalters der zaristischen Krongüter und zum Titel eines kaiserlichen Hofrats, der mit hohem Ansehen verbunden war. Seinen Söhnen konnte er eine standesgemässe Ausbildung finanzieren und seine fünf Töchter heirateten Männer aus der russischen Oberschicht. Der Aufstieg der Familie von Steiger setzte sich besonders mit Eduard, dem Sohn von Rudolf, fort, der in Konstantinopel die Leitung der expandierenden Schwarzmeerhandelsflotte übernahm. Seiner Vermählung mit der eleganten Bankierstochter Philomène entsprossen fünf Kinder. Eines von ihnen war Nikolai, der Grossvater unseres Protagonisten Niklaus von Steiger, ein anderes Sergej, der Grossvater von Sergius Golowin. Die bald über ganz Russland verstreuten von Steiger, die in Odessa, Konstantinopel und St. Petersburg tätig waren, erreichten in der Wirtschaft, in der zaristischen Verwaltung und im Militär angesehene Stellungen. Dieser prosperierende Clan hatte viel zu verlieren. Der Russisch-Osmanische Krieg 1877, der Erste Weltkrieg und die Russische Revolution stellten auch die russischen von Steiger vor immer neue Herausforderungen. Kriegerische Handlungen innerhalb des Landes machten Ferienhäuser und Landsitze unsicher. IN DER RUSSISCHEN KOLONIE VON BERN Die Oktoberrevolution zwang schliesslich viele von ihnen zur Rückwanderung nach Europa. Paris war eine bevorzugte Destination, weil Französisch zur Bildung der Adligen gehörte. Einige von Steiger kehrten nach Bern zurück, in die Stadt, die Rudolf von Steiger vor mehr als hundert Jahren verlassen hatte. So auch Walentina und Wladimir von Steiger, die Eltern von Niklaus. Seine Mutter nannte ihn Nikolka. Er wuchs als Russe in der russischen Kolonie in Bern auf. Man sprach Russisch und Französisch und verkehrte unter- einander. Auch der russisch-orthodoxe Glaube hielt die Diaspora zusammen und begleitete Niklaus durch sein ganzes Leben. Die grossbürgerliche Walentina behielt auch unter widrigen Umständen ihre Contenance. «Walentina war in ihrem ganzen Auftreten und in ihrer makellosen Erscheinung, was man mit dem Begriff ‹Grande Dame› zu umschreiben pflegte. Und obwohl sie in Armut lebte, war sie stets adrett gekleidet.» Sie stellte ihren russischen Landsleuten ihre Wohnung für die kirchlichen und sonstigen oft überbordenden Feste zur Verfügung, was auch zu Kündigungen führte. Wladimir eröffnete einen Feinkostladen an der Kramgasse mit aus

ROTARY SCHWEIZ – ROTARY SUISSE LIECHTENSTEIN – OKTOBER 2021 NODYSSEE der Sowjetunion eingeführten Spezialitä- jungen Existenz kam ihm die strikte, aber «Junkere 37» öffnete 1964 ihre Tore. In ten, war damit zuerst erfolgreich, musste gerechte Ordnung im Waisenhaus entge- diesem von Niklaus und seinen Freunden aber dann als Folge der Weltwirtschafts- gen. Die Burgergemeinde vermittelte ihm geführten Kleintheater wurde das Zeitge- krise den Konkurs anmelden, was gesell- eine Banklehre, mit der er trotz seiner Nei- schehen kommentiert und beurteilt. schaftlich einen tiefen Fall bedeutete. gung zu Sprachen und Geschichte einver- Prominente Schriftsteller wie Walter Wenn immer Wladimir über etwas standen war. Nach der Lehre arbeitete Matthias Diggelmann, Friedrich Dürren- Geld verfügte, fuhr er nach Campione ins Niklaus in Genf, in London und schliesslich matt und Theodor Adorno traten in der Casino, um dort zu spielen. «Das war auch in Bern. «Junkere 37» auf. Der Redner Konrad Far- der Grund, weshalb Niklaus schon als klei- Niklaus begann, ein Doppelleben zu ner von der Partei der Arbeit dürfte ein ner Bub den Weg zum Städtischen Pfand- führen, das sein ganzes Leben prägen soll- Grund gewesen sein, dass im Publikum haus kannte …, um einmal mehr im Büro te. Da verdiente sich der pragmatische immer verdeckte Ermittler der Behörden des Pfandleihers voller Scham einige der Bankangestellte und Familienvater eine sassen. «In der vom Kalten Krieg gepräg- letzten wertvollen Schmuckstücke seiner solide Existenz, während er parallel dazu ten Nachkriegszeit waren soziale oder ge- Mutter auf dem Ladentisch auszubrei- seine geisteswissenschaftlichen Interes- sellschaftliche Experimente unerwünscht.» ten.» «Als Niklaus in die erste Klasse kam, sen verfolgte. Niklaus begann, eigene Tex- Niklaus wurde in seiner Fiche als «Roter war er erstaunt, dass die anderen Kinder te zu schreiben, die er unter dem Pseudo- Bankbeamter russischer Herkunft» ver- seine Sprache nicht verstanden, und er nym «Montrichet» in der Literaturzeitschrift merkt. Man verdächtigte Niklaus und begriff nicht, weshalb viele seiner Mit- Schwarz auf Weiss veröffentlichte. «Ende Sergius zu Unrecht. Sie waren alles andere schüler ihn abschätzig behandelten oder der Fünfzigerjahre begann sich der Wider- als Kommunisten. Schliesslich hatten ihre gar mieden. Dass dies mit den antikommunistischen Ressentiments der Schweizer Bevölkerung zu tun hatte, wurde ihm erst später klar.» stand gegen die verkrusteten gesellschaftlichen Strukturen auf der einen Seite und das blinde Vertrauen in den technischen Fortschritt auf der anderen Seite zu Eltern das bolschewistische Regime am eigenen Leib erfahren. Inga Häusermann hat sich als bildende Künstlerin einen Namen gemacht. Sie 39 ZWISCHEN RUMÄNIEN UND DER SCHWEIZ regen.» Niklaus engagierte sich im Freundeskreis um seinen Cousin, den Ethnologen und Legendenforscher Sergius zeichnet, malt und modelliert. Bei Inga Häusermanns Werken geht nichts nach aussen, alles nach innen. Sie greifen nicht 1942 wurde Wladimir vom Internationa- Golowin, dem auch der Maler Franz in den äusseren Raum hinaus, sondern len Roten Kreuz nach Bukarest berufen. Gertsch und der Reformpädagoge Beno dringen in den inneren Raum des Betrach- Der Auftrag war, sich in den Gefangenen- Zürcher angehörten. Sie initiierten Diskus- ters ein. Weil diese Kunst aus dem Zen- lagern für die Einhaltung menschlicher sionsabende und Vorträge. Mit einem Fa- trum geschöpft ist, bewegt sie im Zentrum. Grundrechte einzusetzen. Er kam in Ru- ckelzug protestierten sie gegen den Bau Die Realität hinter der Realität scheint auf mänien zu Geld, mit dem er seiner Familie der Grauholzautobahn, weil sie das Grab ihren Werken durch. Inga Häusermanns in Bern zu einem Lebensstil verhalf, der an des sagenumwobenen Botti störte. beeindruckender Erstling im Medium der die früheren opulenten Verhältnisse in Russland anknüpfte. Aber dann wendete sich das Blatt. In der Affäre um den rumä- DIE REALITÄT HINTER DER REALITÄT Sprache fordert den Leser durch die Fülle seiner Dimensionen heraus. Da verbinden sich der Blick für das signifikante Detail mit nischen Agenten Viziano geriet Wladimir Botti, ein menschenliebender Riese, hatte dem Wissen um das Unfassbare. Im gros- zwischen die Fronten der Auseinanderset- sich im Bremgartenwald aus Kummer da- sen Finale des Buches begegnen sich an zung zwischen Rumänien und der Schweiz. rüber, dass sich alle vor ihm fürchteten, einem Fest im Hause von Niklaus Lebende Ihm wurde der Prozess gemacht, und sein lebendigen Leibes selbst begraben. und Verstorbene. Sie feiern miteinander Vermögen wurde beschlagnahmt. Der Va- Niklaus war von der Notwendigkeit von und runden Unabgeschlossenes ab. Am ter von Niklaus starb 1950 in rumänischer Märchen, Sagen und Mythen überzeugt. nächsten Morgen sieht man die Fuss- Gefangenschaft. Bald verschuldete sich «Das Leben ist ein Spiel, und die Mythen abdrücke auf dem Gartenweg, die der le- Walentina, entschloss sich in ihrer Not zur Flucht vor ihren Gläubigern und setzte sich nach Paris ab. Die Burgergemeinde von Bern erklärte sich bereit, den verwaisten Niklaus in ihrem Waisenhaus am Melchenbühlweg aufzunehmen, wo er bis zu seiner Volljährigkeit blieb. Dort fühlte sich Niklaus wohl. Nach dem Auf und Ab seiner sind seine grossen Begleiter. Das Volk muss herrliche Drachen mit Karfunkel- augen erschaffen können. Doch wenn sich diese in Fliessbänder und Käuferschlangen verwandeln, werden die Bilder zum Albtraum», sagte er. In der Berner Unterstadt entwickelte sich eine lebendige Kleintheater- und Galerieszene. Die gendäre Riese Botti hinterlassen hat. K Rot. Katrin Wiederkehr (RC Zurich Plus) schloss das Studium der Psychologie und der Religionsgeschichte mit der Promotion zur Dr. phil. ab. Als Psychotherapeutin FSP für Einzel- und Paartherapie war sie Referentin, Dozentin und Ausbilderin für personenzentrierte Psychotherapie. Daneben ist sie journalistisch tätig und hat als Sachbuchautorin verschiedene Bücher verfasst. | A zvg

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