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Rotary Magazin 10/2021

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Rotary Magazin 10/2021

ROTARY SCHWEIZ –

ROTARY SCHWEIZ – ROTARY SUISSE LIECHTENSTEIN – OKTOBER 2021 DIE ROTARISCHE VIER-FRAGEN-PROBE SEIT PAUL HARRIS HAT SICH DIE GESELLSCHAFT VERÄN 42 «Die rotarische Community im Jahr 2021 ist eine andere als jene zu Paul Harris’ und Herbert J. Taylors Zeiten», erklärt Rot. Antonio Loprieno. Der ehemalige Rektor der Universität Basel regt deshalb an, die seit 1932 gültige Vier-Fragen-Probe zu überdenken und zu aktualisieren. Herr Professor, Sie sind seit 2003 Mitglied des RC Basel. Welchen Stellenwert hat Rotary für Sie persönlich? Antonio Loprieno: Rotary gibt mir die Möglichkeit, einer Gemeinschaft, von der ich viel profitiere, etwas zurückzugeben. Ins Modell Rotary kann ich sowohl meine beruflichen Erfahrungen als auch einen Teil meiner persönlichen Lebenserfahrung einbringen. Für die Festschrift zum 50-Jahr- Jubiläum des RC Sissach-Oberbaselbiet haben Sie einen bemerkenswerten Beitrag zur Aktualität der rotarischen Ethik verfasst. Wo drückt Sie der Schuh? Die Gesellschaft, so wie sie Paul Harris und Herbert J. Taylor noch gekannt haben, hat sich in vielerlei Hinsicht verändert. Die rotarische Community im Jahr 2021 ist eine andere. Als Geisteswissenschaftler frage ich mich: Wie soll man Ideale, welche anfangs des zwanzigsten Jahrhunderts mit dem Verständnis amerikanischer Kultur beschrieben worden sind, heute interpretieren? Wie kann man solche Werte als innovative Vorgaben für die heutige Gesellschaft verstehen? Die in der Gründerzeit von Rotary definierten Grundwerte entsprechen nicht mehr den Anforderungen unserer Zeit? Ja. Meine Bedenken lassen sich mit empirischen Erfahrungen unterlegen. Zu ihnen gehört etwa die Schwierigkeit, die Rotary hat, um in bestimmten gesellschaftlichen Gruppen neue Mitglieder zu gewinnen. Rotary ist nicht mehr überall gleichermassen attraktiv. Es stimmt, dass Rotary in den USA mit Rekrutierungsschwierigkeiten kämpft, weniger aber in westlichen europäischen Ländern. Wenn Rotary in unseren Regionen geringere Nachwuchssorgen hat, freut mich das. Tatsache ist aber: Unsere Gesellschaft weist heute eine grössere Vielfalt aus als jene in den Zeiten von Paul Harris. Also müssen wir uns überlegen, wie Rotary den Ansprüchen dieser vielfältigeren Gesellschaft gerecht werden kann. Aus Ihrer Sicht ist für Rotary die 1932 von Herbert J. Taylor definierte Vier- Fragen-Probe von eminent ethischer Natur. Sagen Sie uns dazu etwas mehr. Ethik hat grundsätzlich mit Haltung zu tun. Die Vier-Fragen-Probe zielt auf das persönliche Verhalten jedes Rotary-Mitglieds. Im gegenseitigen respektvollen Verhältnis der Persönlichkeiten zueinander erkennen wir ein Spiegelbild ihrer Kultur. Sie stellen eine Neuformulierung der rotarischen Verhaltensgrundsätze zur Diskussion. Statt «Ist es wahr?» fragen Sie «Ist es plausibel?». Was zählt mehr: Wahrheit oder Plausibilität? Lassen Sie mich diesen Vorschlag am Beispiel der COVID-19-Pandemie erläutern. Das Virus hat uns das Potenzial, aber auch die Grenzen der Wissenschaft vor Augen geführt. In der Wissenschaft geht es nie darum, die uneingeschränkte Wahrheit aufzudecken, sondern darum, Un- sicherheit zu minimieren. Es geht darum, das Feld des Möglichen so auszuloten, dass etwas als besonders wahrscheinlich, das heisst, als plausibel erscheint. Was traditionell als wahr beschrieben worden ist, kann man heute nicht mehr als solches auf globaler Ebene verstehen. Wir Wissenschaftler sind darauf sensibilisiert worden, dass Wahrheit eigentlich einer uneingeschränkten Plausibilisierung entspricht. Letzten Endes handelt es sich deshalb beim Begriff Wahrheit nicht um ein wissenschaftliches, sondern um ein religiöses Konzept. Statt «Ist es fair für alle Beteiligten?» fragen Sie: «Ist es fair für die meisten Beteiligten?» Das Wort «fair» rührt von der Tradition der christlichen Nächstenliebe und des liberalen Wettbewerbs her. In unserer heutigen, vielfältigen Gesellschaft müssen wir uns aber auch mit anderen Wertvorstellungen auseinandersetzen. Vor hundert Jahren galt Fairness als etwas Absolutes. Soll man also, dem Zeitgeist folgend, jahrhundertealte Werte ausser Kraft setzen? Sicher nicht. Aber, gerade um dem Gewicht von Fairness weiterhin Rechnung zu tragen, braucht es Anpassungen. Wenn ich frage, «Ist es fair für die meisten Beteiligten?», meine ich nicht, man könne Fairness-Regeln mal so, mal anders auslegen. Genauso, wie ich zwischen «wahr» und «plausibel» differenziere, suche ich eine überzeugende Begründung für jenes Handeln, dem sich eine Mehrheit der Involvierten anschliessen kann. Alle Beteiligten werden wir damit nie erreichen können, die meisten jedoch sollten wir. Statt «Wird es Freundschaft und guten Willen fördern?» fragen Sie: «Wird es Vertrauen fördern?»

ROTARY SCHWEIZ – ROTARY SUISSE LIECHTENSTEIN – OKTOBER 2021 DERT • • • DIE BEGRIFFE FREUNDSCHAFT UND GUTER WILLE SIND MIR ZU VAGE, WEIL SIE MISSVERSTANDEN WERDEN KÖNNEN, VERTRAUEN HINGEGEN NICHT • • • Dadurch möchte ich die bisher gültige For- nicht alle Menschen das Gleiche. Rotari- mel weiter entwickeln. Auf die Frage, wes- sche Grundwerte sollten also so formu- halb er jemanden als Freund bezeichnet, liert sein, dass eine grosse Mehrheit mit antwortete der französische Philosoph Überzeugung hinter ihnen stehen kann. Michel de Montaigne: «Parce que c’était Wenn uns das gelingt, haben wir schon lui, parce que c’était moi.» Weil er es war, viel erreicht. weil ich es war. Das ist der Vertrauensbeweis. Vertrauen verstehe ich als eine Art unbeschriebener Solidarität, die Menschen untereinander verbindet. Die Be- Mit anderen Worten: Sie plädieren dafür, dass wir uns wieder vermehrt auf einen Konsens einigen. Rot. Antonio Loprieno, geboren am 20. Juli 1955, studierte bis zu seiner Promotion im Jahr 1979 an der Universität Turin Ägyptologie, Sprachwis- 43 griffe Freundschaft und guter Wille sind Genau, ich wage den Versuch, die Kul- senschaft und Semitistik. Unter ande- mir zu vage, weil sie missinterpretiert wer- tur der Konsensfindung zu reanimieren. rem lehrte er von 1989 bis 2000 als den können, Vertrauen hingegen nicht. ordentlicher Professor für Ägyptolo- Es braucht einen langen Atem, um an gie und Leiter des Department for Ich behaupte: Jemand, dem ich der Verfassung und in den Richtlinien Near Eastern Languages and Cultures nicht vertrauen kann, kann nicht von Rotary International etwas an der University of California in Los mein Freund sein. verändern zu können. Wie möchten Angeles und war gleichzeitig auch Diesen Vorbehalt teile ich. Aber Sie Sie erreichen, dass Ihre Überlegungen Gastprofessor an der Hebräischen können auch einer Person Vertrauen weit über unsere schweizerisch- Universität in Jerusalem, an der École schenken, mit der Sie nicht befreundet liechtensteinischen Distrikte wahr- Pratique des Hautes Études in Paris sind. Vertrauen ist eine Tugend im klassi- genommen werden? und an der Universität Heidelberg. schen Sinn. Ich bin Wissenschaftler, kein Politiker. Anschliessend wurde er ordentlicher Deshalb stelle ich keinen Anspruch auf Professor für Ägyptologie an der Uni- Anstelle von «Wird es dem Wohl aller eine Implementierung meiner Überlegun- versität Basel, Studiendekan der Philo- Beteiligten dienen?» fragen Sie: gen. Aber ich war im Verlauf meiner Kar- sophisch-Historischen Fakultät und «Wird es dem Wohl der meisten riere in genügend Exekutivämtern tätig, Präsident der Planungskommission. Beteiligten dienen?» um zu wissen, was passiert, wenn man Zwischen 2005 und 2015 stand er der Beobachten Sie mal, wie Abstim- Denkanstösse auslöst. Wer weiss, viel- Universität Basel als Rektor vor. Nach mungskampagnen bei uns funktionieren. leicht wird unser Interview in Evanston seinem Rücktritt aus dieser Führungs- Erinnern Sie sich daran, wie die letzten gelesen. Vielleicht kommt jemand unserer funktion präsidierte er weiterhin nam- Präsidentenwahlen in Amerika abgelau- Rotary-Leader auf die Idee, zu meinem hafte Institutionen in Deutschland, fen sind. In den letzten 20 Jahren stellen Thema eine Debatte zu lancieren. Und Frankreich und Österreich sowie in der wir eine zunehmende Polarisierung fest. selbstverständlich stelle ich mich mit Freu- Schweiz, darunter die Akademien der Auch hat sich, nicht zuletzt unter dem de und Begeisterung zur Verfügung, um Wissenschaften Schweiz. Loprieno ist Einfluss sozialer Medien, eine Art Wut- in Rotary Clubs oder in weiteren Kreisen Ehrendoktor der Université de Stras- bürgertum entwickelt. Vieles, das in un- über eine Aktualisierung der Vier-Fra- bourg. serer Welt passiert, liegt auf Messers Schneide. In dieser Komplexität erwarten gen-Probe zu reden. K PDG Paul Meier | A zvg

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