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Werke aus der Sammlung Gruppo Mondiale im ... - kunse.com

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Rodin<br />

<strong>Werke</strong> <strong>aus</strong> <strong>der</strong> <strong>Sammlung</strong><br />

<strong>Gruppo</strong> <strong>Mondiale</strong><br />

<strong>im</strong> Rehmann-Museum


Rehmann-Museum Laufenburg<br />

Gast<strong>aus</strong>stellung<br />

24. 8.–23.11. 2003<br />

Auguste<br />

Rodin<br />

<strong>Werke</strong><br />

<strong>aus</strong> <strong>der</strong> <strong>Sammlung</strong><br />

<strong>Gruppo</strong> <strong>Mondiale</strong><br />

mit Texten<br />

von Roy Oppenhe<strong>im</strong><br />

und Erwin Rehmann


Inhalt<br />

Verzeichnis <strong>der</strong> Abbildungen 5<br />

Roy Oppenhe<strong>im</strong>: Rodin und die Schweiz 7<br />

Roy Oppenhe<strong>im</strong>: Zur Rodin-<strong>Sammlung</strong> <strong>der</strong> <strong>Gruppo</strong> <strong>Mondiale</strong> 9<br />

Erwin Rehmann: Eine eindringliche Auseinan<strong>der</strong> setzung mit dem Leben 13<br />

Abbildungen <strong>der</strong> <strong>Werke</strong> mit Texten von Roy Oppenhe<strong>im</strong> 18<br />

Rodin als Zeichner 75<br />

Leben und Zeit von Auguste Rodin 77<br />

4


Nummer<br />

Titel<br />

1 Die Hand Gottes 112 1902–1903 18<br />

2 Das Eherne Zeitalter 180 1876 20<br />

3 Der Ewige Frühling 65 1884 22<br />

4 Tanzbewegung A 64,5 1910–1911 24<br />

5 Tanzbewegung B 33 1910–1911 24<br />

6 Tanzbewegung D 32 1910–1911 24<br />

7 Tanzbewegung E 35 1910 24<br />

8 Der Grosse Denker 183 1903 26<br />

9 Der Kuss 85,5 1885 28<br />

10 Iris, die Götterbotin 93 1891 30<br />

11 Eva 170,5 1881 32<br />

12 Kopf des Johannes des Täufers 37 1879 34<br />

13 Bürger Andreus von Andres 43 1900 36<br />

14 Büste von Jean D’Aire 45 1886 38<br />

15 Kopf von Eustachius St. Petrus 34,5 1885 40<br />

16 Die Danaide 30 1885–1886 42<br />

17 Johannes <strong>der</strong> Täufer 54 1878 44<br />

18 Kauernde Frau 31 1880–1882 46<br />

19 Weiblicher Torso 29 1880 48<br />

20 Torso Morhardt 39 1880 50<br />

21 Fugit Amor 37 1882–1883 52<br />

22 Gefallene Karyatide, den Stein tragend 43 1881–1882 54<br />

23 Der Schatten 94 1880 56<br />

24 Kopf von Honoré de Balzac 17,5 1896 58<br />

25 Der Schreitende 85 1877–1911 60<br />

26 Torso <strong>der</strong> Adele 44 1881–1882 62<br />

27 Die Hand von Adam 32 1880 64<br />

28 Die linke Hand von Pierre Wiessant 33 1886–1900 66<br />

29 Die rechte Hand von Pierre Wiessant 32 1885–1886 68<br />

30 Handstudie 25 1885–1910 70<br />

31 Der Mann mit gebrochener Nase 25 1862–1863 72<br />

Grösse in cm<br />

Entstehung<br />

Seite<br />

5


Rodin und die Schweiz<br />

Der Rodin-Spezialist Alain Be<strong>aus</strong>ire hat <strong>im</strong> "Le Journal français" (3/2003)<br />

die Beziehungen zwischen Rodin und <strong>der</strong> Schweiz dargestellt. Dar<strong>aus</strong> entnehmen<br />

wir die folgenden Informationen.<br />

Auguste Rodin (1840–1917) hat die Schweiz <strong>im</strong> August 1895, von Italien<br />

her, bereist und hat sich drei Tage in Lugano, anschliessend in Zürich aufgehalten.<br />

Rodin galt damals schon als ein bedeuten<strong>der</strong>, international erfolgreicher<br />

Künstler. Ein Jahr später fand <strong>im</strong> Musée Rath in Genf die zweite grosse<br />

Rodin-Ausstellung überhaupt und die erste in <strong>der</strong> Schweiz statt. Auslöser<br />

dafür war <strong>der</strong> in Paris lebende und mit Rodin befreundete Schriftsteller<br />

Mathias Morhardt, <strong>der</strong> Genfer Maler Puvis de Chavannes sowie <strong>der</strong> Maler<br />

und Bildhauer Eugène Carrière – beides Künstler, mit denen Rodin seit des<br />

gemeinsamen Besuches <strong>der</strong> Kunstakademie in Paris befreundet war. Die<br />

Genfer Ausstellung von 1896 erregte weltweites Aufsehen. Gezeigt wurde<br />

Der Mann mit <strong>der</strong> gebrochener Nase, Die tragische Muse (Vergrösserung) und<br />

Der Denker (mittlere Grösse). Gewisse <strong>Werke</strong> wie etwa Kauernde Frau provozierten<br />

wegen ihrer freizügigen Posen und wurden ins Untergeschoss des<br />

Museums verbannt, was in <strong>der</strong> amerikanischen Zeitung "The Evening<br />

T<strong>im</strong>es" (Philadelphia) als "Schweizer Zensur <strong>aus</strong> moralischen Gründen"<br />

kommentiert wurde.<br />

Die Ausstellung markierte gleichzeitig den Beginn <strong>der</strong> grossen Schlussphase<br />

Rodins, die durch eine Reihe grosser <strong>Werke</strong> gekennzeichnet ist. 1896 wurden<br />

<strong>im</strong> Rahmen einer Ausstellung französischer Kunst in <strong>der</strong> Kunsthalle<br />

Basel 18 Skulpturen gezeigt. Die Stadt Basel kaufte eine Bronze-Büste von<br />

Victor Hugo an, die sich heute <strong>im</strong> Kunstmuseum Basel befindet. Das<br />

Kunsth<strong>aus</strong> Zürich stellte 1910 die Skulptur Das Gebet <strong>aus</strong>, welche <strong>im</strong> gleichen<br />

Jahr vom Kunsth<strong>aus</strong> angekauft wurde. Gruppen<strong>aus</strong>stellungen folgten<br />

1913 in Zürich, L<strong>aus</strong>anne – dann in Zürich 1917. Im Frühjahr 1918 – ein<br />

Jahr nach dem Tod Rodins – fand erstmals eine erste grosse Retrospektive,<br />

organisiert durch die Basler Kunstfreunde und das Rodin-Museum Paris,<br />

statt. Gezeigt wurden 34 Bronzen, 50 Gipsfiguren, 100 Aquarelle, Zeich-<br />

7


nungen sowie Fotos. Die <strong>Werke</strong> wurden <strong>im</strong> gleichen Jahr auch in Zürich,<br />

Genf und Bern <strong>aus</strong>gestellt. Das Interesse <strong>der</strong> Öffentlichkeit war riesig, die<br />

Debatten in <strong>der</strong> Presse kontrovers und enthusiastisch.<br />

Nach diesem Zeitpunkt wurde es <strong>aus</strong> konservatorischen Gründen <strong>im</strong>mer<br />

schwieriger, Rodin-Ausstellungen durchzuführen. 1927/28 fand noch einmal<br />

in <strong>der</strong> deutschen Schweiz eine Ausstellung von Skulpturen statt, die<br />

vom Rodin Museum Paris postum (also nach Rodins Tod) gegossen worden<br />

waren: Die Zürcher Galerie Bollag erhielt die Erlaubnis, die nachträglich<br />

produzierten <strong>Werke</strong> in Zürich und Lugano zum Verkauf anzubieten. Erst<br />

nach dem Zweiten Weltkrieg liess sich 1948 wie<strong>der</strong>um eine kleinere Schau<br />

auf die Beine stellen: die Mustermesse Basel präsentierte einige <strong>Werke</strong><br />

Rodins. 1953 folgte eine kleinere Ausstellung in Yverdon und 1984 eine<br />

grosse Rodin-Ausstellung in <strong>der</strong> Fondation Gianadda in Martigny: 100<br />

Bronzen, 7 Gipsfiguren, 60 Zeichnungen. In den 80er Jahren fand schliesslich<br />

<strong>im</strong> Kunstmuseum Bern eine Ausstellung zum Thema Auguste Rodin<br />

und Camille Claudel statt.<br />

Die aktuelle Rodin-Schau <strong>im</strong> Erwin Rehmann-Museum Laufenburg ist<br />

somit die erste bedeutende Ausstellung in <strong>der</strong> deutschen Schweiz seit<br />

1927/28. Das Erwin-Rehmann Museum Laufenburg ist <strong>im</strong> Oktober 2001<br />

neu eröffnet worden und <strong>aus</strong>schliesslich <strong>der</strong> Skulptur gewidmet. Das Museum<br />

ist um das Atelier und die Giesserei des bekannten und renommierten<br />

Schweizer Bildhauers Erwin Rehmann gebaut und beherbergt einen Teil<br />

dessen künstlerischen Werks.<br />

Wer an Auguste Rodin denkt, denkt auch sofort an Rainer Maria Rilke. Im<br />

vorliegenden Katalog greifen wir da und dort auf Rainer Maria Rilke, den<br />

grossen Lyriker zu Beginn des Zwanzigsten Jahrhun<strong>der</strong>ts, zurück. Rilke hat<br />

erstmals <strong>Werke</strong> von Rodin um die Jahrhun<strong>der</strong>twende gesehen – wahrscheinlich<br />

in Wien und Prag – und war <strong>der</strong>art von Rodin begeistert, dass er sich<br />

als Sekretär anbot. Aus <strong>der</strong> engen Zusammenarbeit ging – zwischen 1902<br />

und 1907 entstanden – ein zweiteiliges Werk unter dem Titel "Rainer Maria<br />

Rilke – Auguste Rodin" hervor. Rilkes Betrachtungen, die <strong>aus</strong> <strong>der</strong> persönli-<br />

8


chen Verbindung mit Rodin erwachsen sind, lassen uns am Erlebnis des<br />

Künstlers Rodin unmittelbar teilhaben. Die Beschreibungen <strong>der</strong> einzelnen<br />

<strong>Werke</strong> beruhen teilweise auf Texten, die uns die <strong>Gruppo</strong> <strong>Mondiale</strong> zur Verfügung<br />

gestellt hat.<br />

Zur Rodin-<strong>Sammlung</strong> <strong>der</strong> <strong>Gruppo</strong> <strong>Mondiale</strong><br />

Der Grundstein <strong>der</strong> <strong>Sammlung</strong> <strong>Gruppo</strong> <strong>Mondiale</strong> wurde von einem privaten<br />

Kunstsammler <strong>im</strong> Laufe von Jahrzehnten gelegt. Dank seiner Begeisterung<br />

und Geduld ist <strong>im</strong> Laufe vieler Jahr zehnte eine hervorragende <strong>Sammlung</strong><br />

von 57 "Gessos", Gips-Originalen von Rodinskulpturen, entstanden,<br />

von welchen exklusive Original-Bronzen gegossen wurden. Dazu gehören<br />

zentrale Schlüsselwerke <strong>aus</strong> dem Schaffen Rodins wie Der Grosse Denker,<br />

Das Eherne Zeitalter, Balzac, Eva, Die Hand Gottes, Der Kuss, Ewiger Frühling.<br />

Die Laufenburger Ausstellung zeigt 31 <strong>Werke</strong> <strong>aus</strong> <strong>der</strong> <strong>Sammlung</strong><br />

<strong>Gruppo</strong> <strong>Mondiale</strong>.<br />

Schon zu Lebzeiten Rodins sind wichtige Skulpturen in verschiedenen Grössen<br />

gegossen worden. Rodin selber exper<strong>im</strong>entierte mit unterschiedlichen<br />

D<strong>im</strong>ensionen, um die verschiedenen Wirkungen zu testen. Viele Themen<br />

wurden auch in an<strong>der</strong>em Zusammenhang weiter verwendet. Vom Grossen<br />

Denker beispielsweise existieren verschiedene Ausführungen; die Skulptur<br />

thront auch in <strong>der</strong> monu mentalen Plastik Höllentor. Ähnlich verhält es sich<br />

mit <strong>der</strong> weltbekannten Skulptur Der Kuss o<strong>der</strong> Ewiger Frühling. Vergrösserungen<br />

und Verkleinerungen <strong>der</strong>selben Skulptur waren somit schon zu<br />

Lebzeiten Rodins üblich und wurden von ihm autorisiert. Rodin selber<br />

hatte sich in seiner Lehrzeit als Gehilfe verschiedener Bildhauer beschäftigt<br />

und das Handwerk des Vergrösserns und Verkleinerns von Skulpturen<br />

erlernt.<br />

Von den Originalen <strong>der</strong> <strong>Sammlung</strong> <strong>Gruppo</strong> <strong>Mondiale</strong> wurden unter Anleitung<br />

und strenger Qualitätskontrolle durch die besten Rodin-Giesser <strong>der</strong><br />

Welt Bronzeabgüsse in einer begrenzten Auflage ("l<strong>im</strong>ited edition") herge-<br />

9


stellt. Die Anzahl <strong>der</strong> geschaffenen Original-Bronzen wurde – wie international<br />

üblich – auf eine kleine Zahl l<strong>im</strong>itiert. Jedes Exemplar ist nummeriert.<br />

Um jeglichen Unfug und jegliches unerlaubte Herstellen weiterer Bron zen<br />

zu verhin<strong>der</strong>n, wurden die Gipsmodelle (Gessos) dem McLaren-Museum<br />

(Ontario/Kanada) geschenkt mit <strong>der</strong> Auflage, auf jeden weiteren Abguss zu<br />

verzichten.<br />

Die Bronzen <strong>der</strong> <strong>Gruppo</strong> <strong>Mondiale</strong> entsprechen somit den anerkannten<br />

Usancen und Kriterien des Kunsthandels. Noch ein Wort zum Thema <strong>der</strong><br />

postum (nach dem Tod des Künstlers) hergestellten Bronzen ("posthumous<br />

casts"). Als Rodin 1917 starb, wurden rund 1200 Gips- und Ton-Skulpturen<br />

gezählt. Nach Rodins Tod hat das Rodin-Museum in Paris regelmässig<br />

neue Bronzegüsse in Auftrag gegeben ("posthumous casts" – in begrenzter<br />

Auflage), welche sich heute in <strong>Sammlung</strong>en rund um den Erdball befinden.<br />

Sammler wie etwa B. Gerald Cantor (Stanford University, USA) haben postum<br />

noch Bronzeskulpturen nach Gips- und Tonfiguren Rodins her gestellt.<br />

Auch für das Kunsth<strong>aus</strong> Zürich ist 25 Jahre nach dem Tod Rodins in den<br />

Jahren 1942–1948 die zu Rodins Lebzeiten nur in Gips und unvollendet<br />

belassene gestaltete Monumentalskulptur Das Höllen tor gegossen<br />

worden.<br />

Die Möglichkeiten werden <strong>im</strong>mer spärlicher, l<strong>im</strong>itierte Bronze güsse von<br />

Rodin-Figuren herzustellen, welche dem Qualitäts krite rium <strong>der</strong> Original-<br />

Bronze entsprechen. Auch werden Ausstel lungen mit Rodin-<strong>Werke</strong>n <strong>aus</strong><br />

dem Rodin-Museum in Paris au sser halb Frankreichs <strong>im</strong>mer seltener möglich.<br />

Die in l<strong>im</strong>itierter Auflage (max. 8–12) produzierten Bronzefiguren gelten<br />

als Origi nal-Bronzen ("original-bronzes") und sind Unikate. Dabei hat<br />

<strong>Gruppo</strong> <strong>Mondiale</strong> die seit dem Altertum bekannte, aufwendige Gusstechnik<br />

<strong>der</strong> "verlorenen Form" ("lost wax process", "à cire perdue") wie<strong>der</strong> aufgenommen<br />

und angewendet: Über einem töner nen Kern wird das Bildwerk<br />

<strong>aus</strong> Wachs modelliert und mit einem <strong>aus</strong> feinem Sand bestehendem Gussmantel<br />

umgeben, <strong>der</strong> sich genau an das Wachs legt. Dieser wird bei <strong>der</strong><br />

Brennhärtung des Zementmantels her<strong>aus</strong>geschmolzen und an seiner Stelle<br />

10


fliesst die flüssige Bronze in den entstehenden dünnen Hohlraum. Die mittels<br />

verschiedenen chemischer Legierungen erzielte Patina <strong>der</strong> Oberfläche ist<br />

nach den alten Rezepten <strong>der</strong> Bronzekunst hergestellt und gibt diesen Originalbronzen<br />

ihre einzigartige Lebendig keit. Die Bronzegüsse von <strong>Gruppo</strong><br />

<strong>Mondiale</strong> begeistern Rodin-Kenner und -Liebhaber. Die 57 Rodin-<br />

<strong>Werke</strong> umfassende Skulpturen-<strong>Sammlung</strong> <strong>der</strong> <strong>Gruppo</strong> <strong>Mondiale</strong> ist eine<br />

eindrückliche private Rodin-<strong>Sammlung</strong> <strong>aus</strong>serhalb des Musée Rodin<br />

in Paris. Das bestätigt <strong>der</strong> renommierte Rodin-Kenner Jacques de Caso.<br />

Der künstlerische Stellenwert von Auguste Rodin (1840–1917) kann nicht<br />

hoch genug eingeschätzt werden, gehört Au guste Rodin doch zu den zehn<br />

bedeutendsten Künstlern <strong>der</strong> Weltkunst. Rodins Werk ist auch in wirtschaftlicher<br />

Hinsicht ein sicherer Wert: Sein Werk geniesst weltweite<br />

Anerkennung und ist in allen Museen von internationalem Rang präsent.<br />

Die Verbrei tung seines eigenen <strong>Werke</strong>s unter möglichst viele Kunstfreunde –<br />

auch nach seinem eigenen Tod – gehörte zu einem <strong>der</strong> letzten Wünsche<br />

Auguste Rodins. Dieses Vermächtnis einzulösen ist eine <strong>der</strong> würdigen Aufgaben<br />

<strong>der</strong> Nachgeborenen. Die Ausstellung <strong>im</strong> Erwin Rehmann-Museum<br />

Laufenburg bietet eine <strong>aus</strong>serordentliche Möglichkeit, ein künstlerisches<br />

Werk von Weltrang <strong>der</strong> Öffentlichkeit zugänglich zu mach en und neuen<br />

Generationen näher zu bringen. Wir sind <strong>der</strong> <strong>Gruppo</strong> <strong>Mondiale</strong> zu Dank<br />

verpflichtet.<br />

Roy Oppenhe<strong>im</strong>, künstlerischer Leiter des Rehmann-Museums.<br />

11


Eine eindringliche Auseinan<strong>der</strong>setzung mit dem Leben<br />

Wer kannte seinen Namen nicht! Wer nicht seinen "Denker", sein "Höllentor",<br />

seine "Bürger von Calais", den "Kuss", den Torso "La Marche" und<br />

das "Eherne Zeitalter"! Für mich war er schon in früher Schulzeit ein Inbegriff<br />

von Bildhauerkunst wie Miche lan gelos "David", "Laokoon", "Pietà"<br />

und "Moses". Wenn mir alle auch nur <strong>aus</strong> fotografischer Abbildung bekannt<br />

waren.<br />

Umso ergreifen<strong>der</strong> waren die ersten Begegnungen mit seinen Ori gi nalen.<br />

Erstmals <strong>im</strong> Hof des Basler Kunstmuseums. Da standen seine "Bürger von<br />

Calais": Eine Gruppe barhäuptiger Männer in herabhängenden Sackklei<strong>der</strong>n,<br />

mit nackten Armen und Füssen, zum letzten Schritt bereit, das eigene<br />

Leben zu opfern, um die Stadt vor <strong>der</strong> kriegerischen Zerstörung zu retten.<br />

In ihrer Mitte <strong>der</strong> Älteste mit Bart, den Blick zu Boden gerichtet, bedecktem<br />

Haupt und hängenden Schultern. Neben ihm in aufrechter Hal tung,<br />

stolz, dem Tod in die Augen schauend, ihr Anführer, den schweren Stadtschlüssel<br />

tragend. Drei weitere zur Nachfolge entschlossen mit einer Geste<br />

innerer Verzweiflung den Arm erhebend und einer mit beiden Händen den<br />

eigenen Kopf ergreifend. Dann als Sechster hinter ihnen einer in fatalistischer<br />

Hingabe. Eine Verlo renen-Gruppe wie in Neros Kolosseum. Eine Auflösung<br />

wie die Säulen gotisch-französischer Kathedralen ohne Turmhaupt. –<br />

Ich schämte mich, um sie herum zu gehen. Ich kam mir vor wie ein Schaulustiger<br />

auf <strong>der</strong>en Schafottplatz.<br />

Ganz an<strong>der</strong>s <strong>im</strong> oberen Stockwerk: Rodins Torso "Der Schritt". Hier packten<br />

mich die Kraft <strong>der</strong> Bewegung, sein <strong>im</strong> Licht flackern<strong>der</strong> Muskelleib,<br />

sein aufrechter, gefüllter Brustkorb und seine strammen Muskelbeine. Ohne<br />

Dekor, ohne erzählendes Motiv – nur nacktes, naturhaftes Schreiten.<br />

Ein Jahr nach Kriegsende suchte ich in Paris das Musée Rodin. Es war kein<br />

Palast, kein Pantheon, son<strong>der</strong>n Marschall Birons Wohn gebäude mit unprätentiösem<br />

Eingang an <strong>der</strong> Rue de Varenne, 77, unmittelbar neben dem<br />

Champs-de-Mars. Ich war damals <strong>der</strong> einzige Besucher des Tages. Da standen<br />

und lagen in nackter Schön heit in Marmor, Bronze o<strong>der</strong> Gips seine<br />

13


Figuren. Eine in sich ge kehrte Welt in stillem Bedenken, in unerfüllter<br />

Sehnsucht, in feinfühliger Berührung o<strong>der</strong> als unzählige kleinste Entwürfe.<br />

Und dann <strong>im</strong> Garten, von hohen Buchshecken umstanden, <strong>der</strong> "Den ker"<br />

und das "Höllentor". Neben den stereometrisch kubisch zugeschnittenen<br />

Sträuchern wirkten die Skulpturen wie erlöste Natur. Mit 500 Exponaten<br />

ein gewaltiges Lebenswerk eindringlicher Auseinan<strong>der</strong>setzung mit dem<br />

menschlichen Leben. Und als ich erstmals zur "Accadémie de la Grande<br />

Chaumière" fuhr, überfiel mich unerwartet neben dem Vavin-Metro<strong>aus</strong>gang<br />

die in den H<strong>im</strong>mel ragende Balzac-Skulptur, <strong>aus</strong> dessen umgeworfener<br />

Mönchskutte, die wie ein schroffes Gebirge empor ragt, das gewaltige, visionäre<br />

Dichterhaupt in die Weite blickt. Mit seinen aufgeflockten Haaren,<br />

buschigen Brauen und in tiefen Höhlen liegenden Adleraugen ist des Dichters<br />

Kraft auf ihr Wesen konzentriert. Eine überwältigende Einfachheit plastischen<br />

Ausdrucks. Ich erachte noch heute dies Standbild als sein bedeutendstes<br />

Meisterwerk. Ein archaischer Aufbruch direkter Betroffenheit, <strong>der</strong><br />

sich in keinen Stil einordnen lässt. Hier geht’s um die letzte Wahrheit.<br />

Bei meinem zweiten Besuch des Rodin-Museums beeindruckte mich vor<br />

allem sein Porträt "L’homme au nez cassé". Da geht’s nicht mehr um klassische<br />

Schönheit, son<strong>der</strong>n um die Menschlich keit eines vom Kainsmal<br />

geschlagenen Schicksals. Nicht um Erbar men bittet er, son<strong>der</strong>n um ein Stillestehen<br />

und eine Beachtung. Auch er hat eine Seele.<br />

Dann stand ich lange vor seinem "Höllentor". Ein dramatischer Weltuntergang<br />

wie in Michelangelos Sixtina und Dantes Inferno: "lasciate ogni speranza<br />

voi ch’entrate." Über dem Kathedralen-Portal stehen nicht Gott Vater<br />

und nicht <strong>der</strong> Erzengel Gabriel, son<strong>der</strong>n 3 Männer mit gebeugten Nacken<br />

und gesenkten Köpfen. Einan<strong>der</strong> zugekehrt, je einen Arm hängend in den<br />

eigenen Schat ten, <strong>der</strong> untrennbar an den Menschenleib gekoppelt ist. In<br />

den eines jeden und in ihren gemeinsamen Schatten!<br />

Unter ihnen, <strong>im</strong> Architrav, die zentral sitzende Gestalt des "Den kers" mit<br />

tiefsinnigem Blick in das Schattenschicksal <strong>der</strong> Mensch heit. Auf den<br />

geschlossenen Türflügeln überall Not zwischen Sehn sucht und Umarmung,<br />

14


Liebe und Verlorenheit, Absturz und Reue. Ein haltloses Versinken und<br />

Abstürzen, bis zuunterst in die Linnen des Nicht-mehr-Seins. Erst <strong>aus</strong> dem<br />

Nichts rollt’s zur Archi tektur <strong>der</strong> seitlichen Pilaster, wo <strong>im</strong> reinen Kern, <strong>im</strong><br />

frommen Helfen und Verlangen o<strong>der</strong> <strong>im</strong> Muttersein und als Partnerin ihres<br />

Begleiters ein Aufsteigen möglich wird. Bis hinauf zum Archi trav, von wo<br />

<strong>der</strong> Kreislauf von neuem beginnt, wo <strong>der</strong> Den ker <strong>der</strong> letzten Frage nachsinnt:<br />

Warum?<br />

Rodin ging’s nicht um die Verfolgung o<strong>der</strong> Erfindung eines Kunst-Stils,<br />

son<strong>der</strong>n um das Leben, das sich schicksalshaft zwischen Licht und Schatten<br />

ereignet, zwischen Buckeln und Höhlen <strong>der</strong> Skulp tur; Licht ohne Schatten<br />

wäre nichts als Heiterkeit. Das eigentliche Licht wird <strong>aus</strong> dem Dunkeln<br />

geboren. Darin liegt das Gehe<strong>im</strong> nis plastischer Lebendigkeit und plastischer<br />

Schönheit.<br />

Am Boulevard St. Michel ergatterte ich mir sein broschiertes Buch "Les<br />

Cathédrales de France". Be<strong>im</strong> Lesen strich ich zahllose Formu lierungen an.<br />

So, wo Rodin schrieb:<br />

"...C’est la force qui produit la grâce; il y a perversion du goût ou perversité<br />

de l’esprit à chercher la grace dans la débilité. Les détails sont faits<br />

pour charmer, de près, et pour gonfler les lignes, de loin,…”<br />

"…Le but de l’art est d’expr<strong>im</strong>er l’essentiel. Tout ce qui n’est essentiel<br />

est étranger à l’art…”<br />

"…L’oeil est un s<strong>im</strong>ple Kodak; l’artiste, c’est le cerveau. Le subl<strong>im</strong>e est<br />

devant ma fenêtre indéchiffrable. J’attends la nuit pour entrer dans<br />

l’intérieure et pour <strong>com</strong>prendre…”<br />

"…C’est la loi qui gouverne les relations de l’ombre et de la lumière, et<br />

qui de leurs oppositions fait une harmonie…”<br />

"…Le modelé est une puissance ravie par l’étude à la loi des effets du<br />

soleil. Ainsi an<strong>im</strong>ée, cette puissance participe à la vie, s’insinue dans l’oeuvre<br />

<strong>com</strong>me le sang pour y faire circuler la beauté…”<br />

1963, anlässlich einer Schweizer Ausstellung <strong>im</strong> Pariser Musée Rodin, wur-<br />

15


den meine Plastiken erstmals mit seinem Werk konfrontiert. Und nun, 40<br />

Jahre danach, sind seine Figuren für ein Vierteljahr in meinem Laufenburger<br />

Museum neben die meinen gestellt:<br />

Das "Eherne Zeitalter" –<br />

nicht ein Sich-zur-Schau-Stellen, son<strong>der</strong>n ein Vor-Gott-Stehen mit<br />

dem eigenen, nackten Leib. Das Erwachen als Mensch, seines ins Licht<br />

Geboren-Werdens.<br />

Der "Kuss" –<br />

mit duften<strong>der</strong>, atmen<strong>der</strong> Haut. Ein vornehmes Berühren, feinfühliges<br />

Sich-Finden in Liebes-Innerlichkeit.<br />

Die "Hand Gottes"des Schöpfers –<br />

<strong>aus</strong> <strong>der</strong> die menschliche Schönheit hervorging wie eine Rosenblüte, die<br />

noch nach Jenseits duftet. Schaute Gott in seinen eigenen Spiegel?<br />

"Hände" –<br />

mit Haltung und Fingern als Sprache, als Aussagen über Heil, Glück<br />

und trauerndem Abschied. Auch Rodins eigene Künstlerhand, die sich<br />

<strong>der</strong> Schöpfung zur Verfügung hielt.<br />

"Adele" –<br />

weiblicher Torso, <strong>der</strong> <strong>im</strong> Teil nur die eigene Leiblichkeit spürt, <strong>im</strong> Sein<br />

<strong>der</strong> Schönheit lebt und atmet als Geschenk unseres Schöpfers.<br />

"Eva" –<br />

die nicht den Leib bedeckt, son<strong>der</strong>n sich ihres Versuchs gottunabhängigen<br />

Handelns schämt.<br />

"Fliehende Liebe" –<br />

nicht als bleibend gegeben, nur als Berührung, die sich <strong>im</strong>mer wie<strong>der</strong><br />

entzieht.<br />

"Iris, die Götterbotin" –<br />

fliegend als lebendige Engels-Botschaft, frei jeglichen Einwands.<br />

Ein paradiesisches Gefühl.<br />

"Johannes <strong>der</strong> Täufer" –<br />

16


<strong>der</strong> von Licht überflutete Vor<strong>aus</strong>schreiter und Kün<strong>der</strong>, dessen Körpermuskeln<br />

<strong>im</strong> Licht aufblitzen, ihre Schatten tragend und bergend.<br />

"Tänzerinnen" –<br />

die sich <strong>der</strong> Schwere entziehen, sich mit beflügeltem Glück ins Licht<br />

schwingen.<br />

Auguste Rodin hat sich nie von einem Kunststil tragen lassen. Er war stets<br />

unterwegs und versuchte als Betroffener das Wesen des Lebens weiterzugeben.<br />

Als plastische Gegenwart des menschlichen Schicksals. So entwuchs er<br />

seiner Zeit und wurde er zum Auslöser einer neuen Mo<strong>der</strong>ne. Sein Stil war<br />

seine eigene Persönlichkeit.<br />

Erwin Rehmann<br />

17


Die Hand Gottes<br />

Eines <strong>der</strong> wichtigsten <strong>Werke</strong> Rodins. Diese Skulptur ist auch bekannt unter<br />

<strong>der</strong> Bezeichnung Die Schöpfung. Die rechte Hand hält Adam und Eva, die<br />

<strong>aus</strong> <strong>der</strong> rohen, unbearbeiteten Materie her<strong>aus</strong> entstehen. Handelt es sich um<br />

die Hand Gottes o<strong>der</strong> jene des Künstlers? Erstmals wird die Marmorskulptur<br />

an <strong>der</strong> 16. Wiener Sezession von 1903 <strong>aus</strong>gestellt und ist später in Berlin,<br />

an die 17. Sezession, zu bewun<strong>der</strong>n. 1905 wird die Skulptur in <strong>der</strong> New<br />

Gallery in London und am Salon d’Au tomne in Paris gezeigt. 1906 erwirbt<br />

Albert Kahn, ein bekannter Huma nist und Kunstför<strong>der</strong>er, die Skulptur.<br />

Kahn bittet Rodin, keinen Bronze abguss <strong>der</strong> Hand Gottes herzustellen – mit<br />

Ausnahme eines einzigen, unvollständigen Abgusses, <strong>der</strong> später an das<br />

Mu sée du Luxembourg in Paris, wan<strong>der</strong>t. Die <strong>aus</strong>gestellte Version ist die<br />

grösste Version <strong>aus</strong> <strong>der</strong> Hand Gottes-Serie. Im Notizbuch Rodins steht:<br />

"Was heisst Model lieren? Es ist das Prinzip <strong>der</strong> Kreativität. ... Die Erschaffung<br />

<strong>der</strong> Welt heisst Modellieren. Wenn du an eine Hand denkst, so<br />

n<strong>im</strong>mst du ihre Um risse und die Züge des Ganzen wahr. Aber das Auge des<br />

Künstlers sieht mehr: es erkennt die unzähligen Verbindungen von Projektionen<br />

und Vertiefungen, die sich in diesem beinahe perfekten Mosaik zu<br />

einem Ganzen ergeben. Der Künstler, wenn er ein wirklicher Bildhauer ist,<br />

übersetzt dank <strong>der</strong> Kunst von Vertiefungen und Erhöhungen..."<br />

19


Das Eherne Zeitalter<br />

Die Skulptur des 36jährigen Rodin markiert den Beginn zu einer eigenen,<br />

selbständigen Künstlerlaufbahn und wird als Rodins erstes Meister werk<br />

betrachtet. Die Plastik ist ein Meilenstein <strong>im</strong> Leben des Künstlers und wird<br />

zum Massstab für alle künftigen <strong>Werke</strong>. 1898 – 22 Jahre nach <strong>der</strong> Vollendung<br />

<strong>der</strong> Skulptur – arbeitet Rodin das Werk in zwei weitere Grössen um<br />

und bis 1905 darf die Figur nur auf beson<strong>der</strong>e Anwei sungen des Künstlers<br />

in Gips und Bronze gegossen werden. Nach 1905 wird Das Eherne Zeitalter<br />

<strong>im</strong> Auftrag von Kunden in verschiedenen Varianten hergestellt. Heute<br />

gehört es zur Weltkunst und steht in vielen Museen.<br />

Rodin beginnt mit <strong>der</strong> Figur <strong>im</strong> Oktober 1875, als er mit Antoine van Rasbourgh<br />

in Brüssel arbeitet. Die Figur wird Ende 1876 fertiggestellt, als<br />

Rodin <strong>aus</strong> Italien zurückkehrt. Rodin wird durch seine Reise in den Süden<br />

geprägt; er ist tief beeindruckt von <strong>der</strong> Skulptur <strong>der</strong> Antike und <strong>der</strong> Renaissance.<br />

Rodin studiert und zeichnet die Plastiken und Fresken von Michelangelo.<br />

Nach Frankreich zurückgekehrt schlägt er einen eigenen Weg ein;<br />

Rodin will seine <strong>Werke</strong> mit <strong>der</strong> Kraft und Unmittelbarkeit seiner italienischen<br />

Vorbil<strong>der</strong> beseelen. Damit beginnt die Wandlung des Handwerkers<br />

Rodin zum Künstler Rodin.<br />

1877 wird die Skulptur Das Eherne Zeitalter erstmals <strong>im</strong> Cercle Artis tique et<br />

Littéraire in Brüssel gezeigt. Die Skulptur ruft zwiespältige Reaktionen hervor.<br />

Die einen sind von <strong>der</strong> Lebendigkeit und perfekten Technik begeistert<br />

– an<strong>der</strong>e werfen Rodin vor, er habe die <strong>aus</strong>gestellte Statue durch direkten<br />

Abguss vom Modell verfertigt. Man will nicht glauben, dass Rodin ein solches<br />

Werk frei gestalten kann. Rodin versucht, die Behauptungen, er sei ein<br />

Kopierer, zu entkräften. – Die damals erstmals aufbrechenden Feindseligkeiten<br />

gegen sein Schaffen werden ihn ein Leben lang begleiten.<br />

21


Der Ewige Frühling<br />

Das Thema des Paares ist für Rodin unerschöpflich und durchzieht sein<br />

gesamtes Schaffen. Es gestattet ihm, alle Nuancen von Zärtlichkeit, Sinnlichkeit<br />

und Leidenschaft zum Ausdruck zu bringen. Stellt Der Kuss eine<br />

Komposition <strong>im</strong> klassizistischen Stil dar, so weist Der Ewige Früh ling eher<br />

barocke und rokokoähnliche Züge auf. Der Ewige Frühling kann als Hommage<br />

an zeitgenössische Porzellanfiguren <strong>im</strong> Atelier von Albert Carrier-Belleuse<br />

und <strong>der</strong> Porzellanmanufaktur von Sèvres betrachtet werden, wo Rodin<br />

zeitweise arbeitet. Der Ewige Frühling ist eine Kom bination von zwei bestehenden<br />

Figuren, ein Vorgehen, das Rodin in späteren Jahren gerne anwendet.<br />

Eine Vorstufe ist die Figur <strong>der</strong> Medita tion, für die Camille Claudel<br />

Modell steht. Damals ist es undenkbar, einen nackten Mann gleichzeitig mit<br />

einer unbekleideten Frau als Modelle ins Atelier zu bitten; Rodin muss sich<br />

mit separaten Modell sitzungen behelfen.<br />

Die Skulptur wird oft mit <strong>der</strong> grossen und langen Liebe Rodins zu Camille<br />

Claudel in Verbindung gebracht. Das Werk wird bald zum Lieb ling <strong>der</strong><br />

Öffentlichkeit. 1898 schliesst Rodin mit <strong>der</strong> Giesserei Leblanc-Barbedienne<br />

einen Vertrag ab, <strong>der</strong> die Produktion von Abgüssen in unbeschränkter<br />

An zahl und in vier verschiedenen Grössen gestattet. – "Man hat viel von <strong>der</strong><br />

Bewegung bei Rodin gesprochen; aber sie ist nicht in den Gebärden, wo sie<br />

aufgehoben wird durch das Gleichge wicht und die angeborene Ruhe des<br />

Dinges: sie liegt in diesem t<strong>aus</strong>endfach abgewandelten Fliessen, Zögern,<br />

Stürzen und Schäumen des Lichts über das nirgends zufällige Gefälle <strong>der</strong><br />

Oberfläche. Mit dem Gehen und Kommen dieser Schatten hängt sie zusammen,<br />

mit den Dämmerungen, die <strong>aus</strong> diesen Dingen aufsteigen und in sie<br />

zurücksinken, mit dem wechselnden Umwölkt- o<strong>der</strong> Klar-Sein dieser Steine,<br />

dieser Bronze, das sich ganz von selbst einstellt. ... Es war nicht mehr irgend<br />

ein Licht, das sich bewegte wie es ihm gefiel, es war das Licht dieses Dinges,<br />

so ihm gehörig, als ob es von ihm <strong>aus</strong>strahlte. Diese Erwerbung und Aneignung<br />

des Lichts, als natürliche Folge einer überall lebendigen Oberfläche,<br />

hat Rodin als eine wesentliche Eigenschaft plastischer Dinge wie<strong>der</strong>erkannt.”<br />

(R.M.Rilke)<br />

23


Tanzbewegung A, B, D und E<br />

Rodin besucht in vorgerücktem Alter regelmässig Ballettveranstaltungen.<br />

Beeindruckt ist er von Claude Debussys "Préludes à l’après-midi d’un<br />

faune", aufgeführt von Serge Diaghilevs Ballets Russes. Der weltberühmte<br />

Tanzstar Vaslev Nijinsky beeindruckt Rodin durch choreographische Artistik<br />

und erotischen Tanzstil. Rodin, dem Tanz fanatisch zugetan, erstellt hun<strong>der</strong>te<br />

von Tanzzeichnungen und dreid<strong>im</strong>ensionale Tanzs tudien. Um 1910 tritt<br />

man Rodin fast täglich in Tanzstudios an, angeregt auch durch seine damalige<br />

Freundschaft mit Isadora Duncan, <strong>der</strong> amerikanischen Tänzerin Loie<br />

Fuller (Folies-Bergère) und <strong>der</strong> japanischen Noh-Sch<strong>aus</strong>pielerin und Tänzerin<br />

Haneko. Rodin bewun<strong>der</strong>t die akrobatischen Tanzeinlagen <strong>im</strong> "French<br />

Cancan", <strong>der</strong> gleichzeitig von Toulouse Lautrec gezeichnet und gemalt wird.<br />

Auch die Verwandtschaft dieser Tanzbewegungen mit den Tanzbil<strong>der</strong>n von<br />

Henri Matisse zwischen 1910 und 1912 ist spürbar. Das Ergebnis dieser<br />

Beschäftigung Rodins ist die expressive Serie von Kleinskulpturen, die<br />

Tanzbewegun gen, die zwischen 1910–1912 entstehen. Dabei spielt die anatomische<br />

Präzision und "Richtigkeit" eine untergeordnete Rolle. Viel wichtiger<br />

ist es, <strong>der</strong> Faszination des bewegten Körpers <strong>im</strong> Raum Ausdruck zu<br />

verleihen.<br />

25


Der Grosse Denker<br />

Der Denker ist wohl Rodins berühmtestes Werk. Es wurde ursprünglich für<br />

das mächtige Höllentor gestaltet, das auf Dantes berühmtes Haupt werk<br />

Inferno zurückgeht. Der Denker sollte den Dichter Dante darstellen, <strong>der</strong><br />

sich sinnend über seine Schöpfung neigt. In <strong>der</strong> Vorstellung Rodins entwickelt<br />

sich das Bild Dantes zu einer sehr viel umfassen<strong>der</strong>en Bedeutung: Es<br />

sollte die Metapher vom Menschen zum Ausdruck bringen, <strong>der</strong> sich seiner<br />

Einmaligkeit und Sterblichkeit zugleich bewusst wird und – Ebenbild Gottes<br />

– zum Kreativen, zum Künstler wird. Die Figur erinnert an antike Vorbil<strong>der</strong>,<br />

an <strong>Werke</strong> <strong>der</strong> Renaissance. Rodin exper<strong>im</strong>entiert lange mit <strong>der</strong> sitzenden<br />

Gestalt. Er analysiert die Figuren Michelangelos – etwa an den Torso<br />

von Belve<strong>der</strong>e <strong>aus</strong> dem vatikanischen Museum, die sitzende Statue des<br />

Lo ren zo di Medici o<strong>der</strong> Moses <strong>im</strong> Grabmahl Julius II. Die Idee, den rechten<br />

Ellenbogen auf das linke Knie zu setzen, die Hand ans Kinn zu legen und<br />

die Figur in <strong>der</strong> Hocke zu belassen, vermittelt den Ausdruck geballter geistiger<br />

Kraft und Konzen tration. Hier wird <strong>der</strong> Akt des Denkens – cogito ergo<br />

sum – umgesetzt und zum Sinnbild des geistig arbeitenden Menschen. "Er<br />

sitzt versunken und stumm, schwer von Bil<strong>der</strong>n und Gedanken, und all<br />

seine Kraft (die die Kraft des Handelns ist) denkt. Sein ganzer Leib ist Schädel<br />

geworden und alles Blut in seinen A<strong>der</strong>n Gehirn." (R.M.Rilke)<br />

Rodin hütet diese Arbeit mit <strong>aus</strong>sergewöhnlicher Sorgfalt. Variationen dieses<br />

Werks dürfen nur durch seine engsten Vertrauten und durch bekannte Giesser<br />

umgesetzt werden. Der erste Guss wird am Eingang zum Pantheon,<br />

Frankreichs Heldenfriedhof, aufgestellt. Auf eigenen Wunsch schmückt Der<br />

Grosse Denker auch das Grab des Künstlers und seiner Frau Rose Beuret in<br />

Meudon. Das Werk gehört zu den meist fotografierten Kunstwerken <strong>der</strong><br />

Weltkunst.<br />

27


Der Kuss<br />

Die neben dem Denker und Balzac die wohl berühmteste Skulptur Rodins<br />

geht wie an<strong>der</strong>e Liebespaare auf das literarische Werk von Dante Alighieri<br />

(1265–1321) zurück. Die erste Eingebung erhält Rodin <strong>aus</strong> <strong>der</strong> Göttlichen<br />

Komödie Dantes; später greift Rodin auf das Werk Inferno von Dante und<br />

<strong>der</strong> darin geschil<strong>der</strong>ten tragische Liebesgeschichte von Paolo und Francesca<br />

zurück*. Ursprünglich ist die Skulptur für das Höllentor vorgesehen. Später<br />

wird sie <strong>aus</strong> dem Ensemble her<strong>aus</strong>geschält und entwickelt ihr Eigenleben. –<br />

Erstmals in <strong>der</strong> abendländischen Kunstgeschichte präsentiert ein Künstler<br />

ein Liebespaar in seiner völligen Nacktheit – ohne jeden rechfertigenden<br />

Bezug auf mythologische o<strong>der</strong> literarische Vorbil<strong>der</strong>. Die Skulptur schockiert<br />

viele Zeitgenossen, wird aber nach und nach zur Metapher für das<br />

Liebes-paar schlechthin. Rodin gibt <strong>der</strong> Skulptur ursprünglich den Titel Die<br />

Liebenden. Nicht abgeschreckt von den gemischten Reaktionen anlässlich<br />

des Salons, wo die Skulptur erstmals gezeigt wird, än<strong>der</strong>t Rodin den Titel in<br />

Der Kuss um und stellt Versionen in Bronze und Marmor her. Eine Vergrösserung,<br />

1888 vom französischen Staat in Auftrag gegeben, wird dem Museé<br />

du Luxembourg 1898 überreicht. Der Kuss ist jene Skulptur, die Rodin die<br />

meisten Einnahmen bringt – vor allem auch durch die Herstellung von<br />

Marmorversionen in vier verschiedenen Grössen durch die Giesserei Barbedienne<br />

in den Jahren zwischen 1899 und 1919, wobei auch die Giesserei<br />

Alexis Rudier eine Anzahl von Exemplaren herstellt. Die Skulptur, das Sinnbild<br />

für erotische Kunst, löst noch 1952 einen Skan dal <strong>aus</strong>, als sie von <strong>der</strong><br />

Tate Gallery in London erworben wird. ”Man hat das Gefühl, als gingen<br />

hier von allen Berührungs flächen Wellen in die Körper hinein, Schauer und<br />

Schönheit, Ahnung und Kraft. Daher kommt es, dass man die Seligkeit dieses<br />

Kusses überall auf diesen Leibern zu schauen glaubt; er ist wie eine<br />

Sonne, die aufgeht, und sein Licht liegt überall." (R.M.Rilke).<br />

*Francesca wurde um 1285 von ihrem Mann zusammen mit dessen jüngerem Bru<strong>der</strong><br />

Paolo dem "Schönen", <strong>der</strong> zu Fran cesca in eine Liebesbeziehung getreten war, ermordet.<br />

29


Iris, die Götterbotin<br />

Iris, die Botschafterin <strong>der</strong> griechischen Götter, wird von Rodin 1890 begonnen<br />

und ist ursprünglich <strong>aus</strong> <strong>der</strong> Arbeit am Denkmal für Victor Hugo hervorgegangen.<br />

Das Modell besitzt eine akrobatisch-athletische Körperlichkeit.<br />

Rodin erstellt eine Reihe von Zeichnungen des Themas, bevor er die Iris in<br />

verschiedenen D<strong>im</strong>ensionen und Varianten gestaltet. Erst dann gibt er sich<br />

zufrieden mit dem Spiel von Asymmetrie, Balance und Spannung, die das<br />

fertige Werk charakterisieren. Spürbar ist Rodins Vision einer durch die<br />

Lüfte fliegenden o<strong>der</strong> zur Landung ansetzenden Botin <strong>der</strong> Götter. Dass<br />

diese Botin kein Haupt besitzt, erscheint nebensächlich, denn hier geht es<br />

um den kühnen Versuch Rodins, Bewegung und Dynamik, Schwere und<br />

Leichtigkeit bildhauerisch zu gestalten. Rodin testet die Fähigkeit eines Körper-Fragments,<br />

sich allein <strong>im</strong> Raume zu behaupten. Rodin geht in verschiedener<br />

Hinsicht an die Grenzen des Möglichen: die akrobatische Bewegung,<br />

die ungewohnte Pose, die Gestal tung <strong>der</strong> Körperdynamik. Dazu gehört auch<br />

die freie Zurschau stellung <strong>der</strong> Sexualität durch eine ungewohnt freizügige<br />

Pose. Der da mals aufkommende mo<strong>der</strong>ne Tanz, aber auch die Wie<strong>der</strong>-Entdeckung<br />

des menschlichen Körpers in seiner ganzen Ausdruckskraft mag<br />

Rodin beeinflusst haben. Denken wir nur an die gleichzeitig entstandenen<br />

Tanzstudien eines Edgar Degas o<strong>der</strong> Toulouse-Lautrec. Rodin und seine<br />

Modelle haben den Mut, ungeachtet <strong>der</strong> Skandale, die sie während ihrer<br />

Zeit erregen, ihre Sinnlichkeit frei zu entfalten und <strong>der</strong> Prü<strong>der</strong>ie ihre kühne<br />

Individualität entgegenzusetzen; so schaffen sie <strong>der</strong> Frau auf grossartige<br />

Weise Raum und Freiheit. "Die Darstellung o<strong>der</strong> die Abstraktion des<br />

Fleischlichen setzen die damals erstmals und endlich enthüllte Inti mität<br />

rückhaltlos mit ein. In dieser Hinsicht ist Rodin <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nste unter den<br />

Künstlern des beginnenden 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts. Durch seine intuitive Einsicht,<br />

sein Wissen um den Zusammenhang zwischen Kunst und gelebter<br />

Sexualität geht er Sigmund Freud vor<strong>aus</strong>." (Alain Kirili).<br />

31


Eva<br />

Rodin verbringt mehrere Wochen in Florenz und besucht die Brancacci<br />

Kapelle in Santa Maria Novella. Dort bewun<strong>der</strong>t <strong>der</strong> Künstler Masaccios<br />

berühmtes Fresko mit <strong>der</strong> Darstellung <strong>der</strong> Vertreibung von Adam und Eva<br />

<strong>aus</strong> dem Paradies. Später studiert Rodin das gleiche Thema in den Fresken<br />

von Michelangelo in <strong>der</strong> Sixtinischen Kapelle in Rom. Grosse Vor bil<strong>der</strong><br />

stehen somit am Beginn für die Gestaltung <strong>der</strong> Eva. Rodin erfasst das<br />

Thema kurz nach dem er den Auftrag für das Höllentor erhalten hat. Auch<br />

für diese Figur steht Adele Abruzzeti Modell, in zeitgenössischen Quellen als<br />

beson<strong>der</strong>s erotische Frau bezeichnet, welcher Rodin wegen <strong>der</strong> elastischen<br />

Muskeln und femininen Grazie neckisch den Namen "Panther" gibt. Rodin<br />

porträtiert Adele <strong>im</strong>mer wie<strong>der</strong>, bis er eines Tages feststellt, dass sich gewisse<br />

Formen von Sitzung zu Sitzung verän<strong>der</strong>n. Schliesslich gesteht Adele, dass<br />

sie schwanger sei... Es ist Winter und Rodins schlecht beheiztes Atelier wird<br />

Adele zu kalt und schliesslich bleibt sie ganz weg. So bleibt die Skulptur für<br />

Rodin unvollendet, aber die leichte Absenkung des Beckens, das durch die<br />

Schwan ger schaft ein wenig nach <strong>aus</strong>sen gewölbt ist, akzentuiert nur um so<br />

mehr den mütterlichen Charakter <strong>der</strong> Eva, <strong>der</strong> Urmutter <strong>der</strong> Menschheit.<br />

"Und die Eva, wie von weit in die Arme hineingebogen, <strong>der</strong>en nach <strong>aus</strong>wärts<br />

gewendete Hände alles abwehren möchten, auch den eigenen, sich<br />

verwandelnden Leib....Der Kopf senkt sich tief in das Dunkel <strong>der</strong> Arme, die<br />

sich über <strong>der</strong> Brust zusammenziehen wie bei einem Frierenden. Der Rücken<br />

ist gerundet wie be<strong>im</strong> L<strong>aus</strong>chen über den eigenen Leib, in dem eine fremde<br />

Zukunft sich zu rühren beginnt. Und es ist, als wirke die Schwerkraft dieser<br />

Zukunft auf die Sinne des Weibes und zöge sie herab <strong>aus</strong> dem zerstreuten<br />

Leben in den tiefen demütigen Knechtdienst <strong>der</strong> Mutterschaft. – Immer<br />

und <strong>im</strong>mer wie<strong>der</strong> kam Rodin bei seinen Akten auf dieses Sich-nach-innen-<br />

Biegen zurück, auf dieses angestrengte Horchen in die eigene Tiefe..."<br />

(R.M.Rilke)<br />

33


Kopf des Johannes des Täufers<br />

Es gibt verschiedene Anekdoten über Rodins Zusammentreffen mit dem<br />

Italiener namens Pignatelli <strong>aus</strong> den Abruzzen, <strong>der</strong> sich eines Morgens als<br />

Modell anbietet. Das Gesicht muss Rodin an die biblische Gestalt von<br />

Jo hannes d.Täufer erinnert haben. Vergleiche zwischen Fotos und <strong>der</strong><br />

Skulptur lassen auch die Verän<strong>der</strong>ungen erkennen, die Rodin vorn<strong>im</strong>mt.<br />

Fasziniert ist Rodin von <strong>der</strong> Verbindung zwischen einer gewissen rauen, erdhaften<br />

Kraft mit einer mystischen Ausstrahlung. In <strong>der</strong> künstlerischen<br />

Um setzung wird die Stirne höher gezogen, die Haare werden <strong>aus</strong> dem<br />

Gesicht genommen. Die Büste Johannes <strong>der</strong> Täufer ist ein kleines Mei sterwerk:<br />

das Thema ist hervorragend erfasst und künstlerisch umgesetzt – ein<br />

repräsentatives Beispiel von Rodins Bildniskunst.<br />

"Man kann sich vorstellen, dass es Augenblicke gibt (solche <strong>der</strong> Ruhe und<br />

solche <strong>der</strong> inneren Erregung), in welchen alles Leben in das Gesicht des<br />

Mannes eingetreten ist. Solche Augenblicke wählt Rodin, wo er ein männliches<br />

Porträt geben will; o<strong>der</strong> besser: er schafft sie. Er holt weit <strong>aus</strong>. Er gibt<br />

nicht dem ersten Eindruck recht und nicht dem zweiten und von allen<br />

nächsten keinem. Er beobachtet und notiert. Er notiert Bewegungen, die<br />

keines Wortes wert sind, Wendungen und Halb-Wendungen, vierzig Verkürzungen<br />

und achtzig Profile. Er überrascht sein Modell in seinen<br />

Gewohnheiten und Zufälligkeiten, bei Ausdrücken, die erst <strong>im</strong> Entstehen<br />

sind, bei Müdigkeit und Anstrengungen. Er kennt alle Übergänge in seinen<br />

Zügen, weiss, woher das Lächeln kommt und wohin es zurückfällt. Er erlebt<br />

das Gesicht des Menschen wie eine Szene, an <strong>der</strong> er selbst teiln<strong>im</strong>mt, er<br />

steht mitten drin und nichts was passiert ist ihm gleichgültig o<strong>der</strong> entgeht<br />

ihm. Er lässt nichts von dem Betreffenden erzählen, er will nichts wissen als<br />

was er sieht. Aber er sieht alles." (R.M.Rilke)<br />

35


Bürger Andreus von Andres<br />

In <strong>der</strong> Mitte seines Lebens beginnt Rodin, Reduktionen von erfolgreichen<br />

und beliebten Figuren herzustellen. Dazu gehört diese kleine Version des<br />

Bürgers Andreus von Andres, eine <strong>der</strong> sechs Gestalten in <strong>der</strong> Gruppe Die Bürger<br />

von Calais. Die Skulptur wird fünf Jahre nach Abliefe rung des Denkmals<br />

an die Stadt Calais erstellt. Das Denkmal lehnt sich an die historische Gegebenheit<br />

an, als sich König Edward III. 1347 – anlässlich <strong>der</strong> Belagerung von<br />

Calais durch die Englän<strong>der</strong> – bereit erklärt, die Bevölkerung unter <strong>der</strong><br />

Bedingung zu verschonen, dass sechs <strong>der</strong> angesehensten Bürger mit blossem<br />

Haupt, nackten Füssen und einem Strick um den Hals zum König kämen,<br />

um ihm den Stadtschlüs sel <strong>aus</strong>zuhändigen und ihr Leben zu opfern. Dank<br />

<strong>der</strong> Intervention <strong>der</strong> Königin werden die sechs Bürger begnadigt; <strong>der</strong><br />

erniedrigende Gang durch das feindliche Heerlager von Edward III. bleibt<br />

den Todesmutigen aber nicht erspart. Rodin erhält den Auftrag <strong>der</strong> Stadt<br />

Calais, die historische Szene darzustellen. "Rodin ist sie Stoff genug; er fühlt<br />

sofort, dass es in <strong>der</strong> Geschichte einen Augenblick gab, wo etwas Grosses<br />

geschah, etwas, was von Zeit und Namen nicht wusste, etwas Unabhängiges<br />

und Einfaches. Er wandte alle Aufmerksamkeit dem Moment des Aufbruchs<br />

zu. Er sah, wie diese Männer ihren Gang begannen; er fühlte, wie in jedem<br />

noch einmal das ganze Leben war, was er gehabt hatte, wie je<strong>der</strong>, beladen<br />

mit seiner Vergangenheit, dastand, bereit, sie hin<strong>aus</strong>zutragen <strong>aus</strong> <strong>der</strong> alten<br />

Stadt. Sechs Männer tauchten vor ihm auf, von denen keiner dem an<strong>der</strong>n<br />

glich. ... Je<strong>der</strong> einzelne hatte auf seine Art den Entschluss gefasst und lebte<br />

diese letzte Stunde auf seine Weise, feierte sie mit seiner Seele und litt sie an<br />

seinem Leibe, <strong>der</strong> am Leben hing. In seiner Erin ne rung stiegen Gebärden<br />

auf, Gebärden <strong>der</strong> Absage, des Abschiedes, des Verzichts." (R.M.Rilke)<br />

Andreus von Andres hat Angst, verbirgt sein Gesicht in den Händen, er torkelt,<br />

stürzt schon fast ohnmächtig vorne über. Andreus umklammert seinen<br />

Kopf, wie um sich zu sammeln, um noch einen Augenblick allein bei sich<br />

zu sein. Die ganze Werkgruppe Die Bürger von Calais ist heute u.a. auch <strong>im</strong><br />

Innenhof des Kunstmuseums Basel zu betrachten.<br />

37


Büste von Jean D’Aire<br />

Jean D’Aire ist eine weitere <strong>der</strong> sechs berühmten Figuren <strong>aus</strong> <strong>der</strong> Werkgruppe<br />

Die Bürger von Calais. Wahrscheinlich ist diese Verkleinerung des für<br />

die Werkgruppe gestalteten Kopfes für die grosse Retrospektive <strong>im</strong> Rodin-<br />

Pavillon an <strong>der</strong> Welt<strong>aus</strong>stellung Paris <strong>im</strong> Jahr 1900 produziert worden. Jean<br />

D’Aire wurde <strong>aus</strong>erwählt, den Schlüssel für das Stadttor und sein Leben<br />

König Edward III. von England <strong>im</strong> Jahr 1347 anzutragen. Rodin gestaltet<br />

die Büste streng realistisch. Dazu gehört auch <strong>der</strong> um den Nacken geschlungene,<br />

Unheil verkündende Strick. Sein Gesicht ist Ausdruck tiefer Trauer.<br />

Ein weinen<strong>der</strong> Held – zu Rodins Zeiten ein Bruch mit <strong>der</strong> traditionellen<br />

Vorstellung, dass Helden nie weinen. Rodin wird durch die massive Kritik<br />

gezwungen, in späteren Fassungen auf die Tränen zu verzichten. Der letzte<br />

grosse Auftrag vor Rodins Tod ist die Gestaltung einer neuen Version <strong>der</strong><br />

Bürger von Calais.<br />

39


Kopf von Eustachius St. Petrus<br />

Eustachius war ein christlicher Märtyrer, eine <strong>der</strong> grossen Nothelfer und<br />

Heiligen in <strong>der</strong> christlichen Geschichte des Mittelalters. Rodin erinnert sich<br />

dieser tapferen und mutigen Gestalt <strong>der</strong> Geschichte, als er von <strong>der</strong> Stadt<br />

Calais den Auftrag für die berühmte Figurengruppe Die Bürger von Calais<br />

(1884–1886) erhält. Ein vom Alter gezeichnetes Gesicht, voller weiser Entschlossenheit,<br />

Vornehmheit und Ergebenheit in das unvermeidliche Schick-<br />

sal, den bevorstehenden Tod. Die Büste verkörpert Rodins Meisterschaft<br />

späterer Jahre. Die Formgebung ist locker und offen; Haut und Muskeln<br />

werden nur angedeutet und kaum naturalis tisch <strong>aus</strong>gearbeitet. Rodin<br />

bezieht sich auf die historische Bedeutung des mit telalterlichen Eustachius;<br />

ihn mag auch eine Prophetengestalt vorgeschwebt haben, wie sie auf einem<br />

Grabmal des nie<strong>der</strong>ländischen Bild hauer Cl<strong>aus</strong> Sluter (spätes 14. Jahrhun<strong>der</strong>t)<br />

zu sehen ist.<br />

41


Die Danaide<br />

Die Figur lehnt sich an die griechische Sage <strong>der</strong> Danaiden an. Die Töchter<br />

König Danaos’ von Argos liessen sich von den 50 Söhnen ihres Onkels<br />

Aigyptos freien. Auf den Rat ihres Vaters erdolchte aber jede in <strong>der</strong> Hochzeitsnacht<br />

ihren Bräutigam – bis auf die Jüngste, welchen ihren Lynkeus <strong>aus</strong><br />

Liebe schonte. – Es gibt wenige Skulpturen Rodins, die so rasch die Bewun<strong>der</strong>ung<br />

des Publikums erringen wie Die Danaide. Sie entspricht <strong>der</strong> Vorstellung<br />

einer perfekten Skulptur. Man n<strong>im</strong>mt an, das Modell sei Camille<br />

Claudel gewesen. Rodin stellt die Plastik 1890 <strong>im</strong> Salon <strong>aus</strong> und erhält<br />

anschliessend eine Reihe von Bestellungen für Mar mor-Editionen. Eine<br />

kleinere Ausgabe in Bronze folgt <strong>im</strong> Jahr 1900. – Die Danaide gehört zu<br />

jenen Skulpturen, mit denen Rodin die Verzweif lung und Erwartung des<br />

Todes zum Ausdruck bringen. Dabei bedient er sich einer Formensprache,<br />

welche die Figuren nie<strong>der</strong>geschlagen und in sich gekehrt und dennoch in<br />

ihrer ganzen Sinnlichkeit darstellt. Danaide hat sich <strong>aus</strong> den Knien in ihr<br />

fliehendes Haar nie<strong>der</strong>geworfen. "Es ist wun<strong>der</strong>bar, um diesen Marmor langsam<br />

herumzugehen: den langen, langen Weg um die reichentfaltete Rundung<br />

dieses Rückens, zu dem sich <strong>im</strong> Stein wie in einem grossen Weinen<br />

verlierenden Gesicht, zu <strong>der</strong> Hand, die, wie eine letzte Blume, noch einmal<br />

leise vom Leben spricht, tief <strong>im</strong> ewigen Eise des Blockes." (R.M.Rilke)<br />

43


Johannes <strong>der</strong> Täufer<br />

In den Jahren 1871–1877 verbringt Rodin abwechslungsweise in Brüssel<br />

und Paris, wo er als Assistent bei verschiedenen Bildhauern Arbeit findet.<br />

Eigentlich hätte er die Kunstakademie vorgezogen, aber mehrmalige Versuche<br />

waren fehlgeschlagen, die Aufnahmeprüfung zu bestehen. Sein Kampf<br />

um Unabhängigkeit geht unvermin<strong>der</strong>t weiter und allmählich gelingt es<br />

ihm, durch eigene Arbeiten Anerkennung und Einkommen zu finden. Der<br />

35jährige Rodin beginnt nach seiner Rückkehr um 1877/78 mit <strong>der</strong> Arbeit<br />

an grösseren Skulpturen, die eine neue, fruchtbare Le bensphase begründen.<br />

Dazu gehört die Skulptur Johannes <strong>der</strong> Täufer. Als Modell diente ihm ein<br />

Italiener namens Pignatelli, dessen physische Kraft und mystische Ausstrahlung<br />

ihn augenblicklich an die biblische Gestalt des Johannes des Täufers<br />

erinnert. "Eine Figur mit redenden, erreg ten Armen, mit dem grossen<br />

Gehen dessen, <strong>der</strong> einen An<strong>der</strong>en hinter sich kommen fühlt. Der Körper<br />

dieses Mannes ist nicht mehr unerprobt: die Wüsten haben ihn durchglüht,<br />

<strong>der</strong> Hunger hat ihm weh getan, und alle Dürste haben ihn geprüft. Er hat<br />

bestanden und ist hart geworden. Der hagere Asketenleib ist wie ein Holzgriff,<br />

in dem die weite Gabel seines Schrittes steckt. Er geht. Er geht, als<br />

wären alle Weiten <strong>der</strong> Welt in ihm und als teilte er sie <strong>aus</strong> mit seinem<br />

Gehen. Er geht. Seine Arme sprechen von diesem Gang und seine Finger<br />

spreizen sich und scheinen in <strong>der</strong> Luft das Zeichen des Schreitens zu<br />

machen." (R.M.Rilke).<br />

Johannes <strong>der</strong> Täufer ist <strong>der</strong> erste Gehende <strong>im</strong> Werk Rodins. Es kommen<br />

viele nach: Der Schreitende, Die Bürger von Calais.<br />

45


Kauernde Frau<br />

"Bildhauerei", sagt Rodin, "ist die Kunst <strong>der</strong> Formgebung". Rodin ist auf<br />

<strong>der</strong> steten Suche nach <strong>aus</strong>sergewöhnlichen, neuen, expressiven Formen, was<br />

sich in <strong>der</strong> Darstellung von Posen zeigt, die man üblicherweise als Verrenkung<br />

bezeichnen würde. Dazu gehört die Figur <strong>der</strong> kauernden Frau, die<br />

auch den Titel Frau, den rechten Fuss haltend trägt. Sie ist, wie an<strong>der</strong>e Figuren<br />

auch, ursprünglich für das Höllentor vorgesehen gewesen. Rodin setzt<br />

sich in dieser Figur über die Konventionen seiner Zeitgenossen hinweg,<br />

indem er sein Modell, die von Rodin geschätzte Adele Abruzzeti, in einer<br />

Pose darstellt, welche zumindest als kühn bezeichnet werden kann. Rodin<br />

lässt sich stets von <strong>der</strong> Suche nach Wahrheit leiten; das ist ihm wichtiger als<br />

irgendwelche Konzessionen an den Zeitgeist und sogenannt ästhetische<br />

Erfor<strong>der</strong>nisse. Prü<strong>der</strong>ie ist ihm völlig fremd. Sein inneres Feuer, seine Neugierde,<br />

seine Verehrung des Menschen in seiner Körperlichkeit und Emotionalität<br />

lässt ihn auch nicht Halt machen vor den Grenzen <strong>der</strong> Scham. Dafür<br />

zeugen viele seiner Figuren, u.a. auch die Kauernde Frau o<strong>der</strong> Iris, die Götterbotin.<br />

"Scheint es Ihnen nicht auch, dass unsere ganze Kultur Vorstellung und weitergegebene<br />

Lüge ist, solange wir dulden, dass das Wort "erotisch" irgend<br />

wann an<strong>der</strong>s als in frommster, schauerndster Ehrfurcht gedacht o<strong>der</strong> <strong>aus</strong>gesprochen<br />

sei. – Der Name des Eros, <strong>der</strong> <strong>im</strong> Munde des Sokrates ein Sternbild<br />

geworden ist, wie können wirs ertragen, ihn in den Ecken, an schlechten,<br />

schmutzigen Orten versteckt zu finden, die wir doch nichts an<strong>der</strong>es<br />

haben, kein Wort, – keine Gebärde –: nichts, um Das zu nennen, was allein<br />

uns das Recht gibt da zu sein und eine Hoffung da zu bleiben? Der Vorwurf,<br />

den geringe Lippen dem <strong>Werke</strong> Rodins entgegengezischt haben: er<br />

muss nur in einen reinen Mund kommen, um dieses <strong>Werke</strong>s Erhebung und<br />

Hymne zu sein; denn in diesen Dingen ist uns <strong>der</strong> Eros des Sokrates ...wie<strong>der</strong>gekommen<br />

–: dieser süsseste, leichteste Eros, dieser reine Geist, dieser<br />

weite unbescheidene Begehrer..." (R.M.Rilke)<br />

47


Weiblicher Torso<br />

Über die Geschichte dieser Kleinskulptur ist wenig bekannt. Die Skulptur<br />

zeigt eine Frau mit geschlossenen Augen. Schläft o<strong>der</strong> träumt sie? – wir<br />

wissen es nicht. Rodin wählt die Form des Torsos, welche es ihm gestattet,<br />

Teile wegzulassen, die er für die Gestaltung <strong>der</strong> Grund<strong>aus</strong>sage als überflüssig<br />

erachtet. – Die zarte, poetische Figur ist ursprünglich Teil für die Monumentalskulptur<br />

Das Höllentor, welche um 1880 in Auftrag gegeben wird.<br />

Best<strong>im</strong>mt ist dieses Monumentalwerk als Eingangspforte für das zu Rodins<br />

Zeit in Planung befindliche Musée des Arts Décoratifs in Paris.<br />

49


Torso Morhardt<br />

Rodin trifft Mathias Morhardt, einen jungen Schweizer Kunstkritiker und<br />

Schriftsteller, erstmals <strong>im</strong> Jahr 1888. Morhardt wird einer <strong>der</strong> engagiertesten<br />

Anhänger und Verteidiger Rodins in <strong>der</strong> Sache Honoré de Balzac. Die<br />

Skulptur ist um 1890 entstanden. Wahrscheinlich ist das Studium antiker<br />

Skulpturen, die nur in Fragmenten zu uns gekommen sind, für die Idee des<br />

Torsos <strong>aus</strong>schlaggebend gewesen. Dass <strong>der</strong> Kopf, die Beine und auch Hände<br />

fehlen, fällt nicht ins Gewicht. Im Zentrum steht Rodins Bewun<strong>der</strong>ung des<br />

muskulösen Rumpfes, <strong>der</strong> kräftigen Schenkel – <strong>der</strong> wuchtigen Körperformen.<br />

Die neuen schöpferischen Möglichkeiten, die sich Rodin in <strong>der</strong> Form<br />

des Torsos anbieten, regen ihn zu verschiedenen Exper<strong>im</strong>enten an. Rodin<br />

versucht her<strong>aus</strong>zufinden, wie wenig nötig ist, um ein <strong>aus</strong> wenigen Einzelteilen<br />

bestehendes Gan zes, in sich St<strong>im</strong>miges, zu erreichen. In <strong>der</strong> Folge schafft<br />

Rodin eine Reihe von Arbeiten in unterschiedlichen Vollständigkeitsgraden.<br />

Die körperliche Ganzheit ist nicht erfor<strong>der</strong>lich, um Rodins Visionen von<br />

Kreativität und Phantasie wirksam werden zu lassen. Die unvollständige<br />

Form, das Fragment regt den Betrachter geradezu zwingend an, die Skulptur<br />

als Ganzes in seiner Vorstellung zu vervollständigen, d.h. sich selbst einzubringen.<br />

Hier bricht die Sprache Rodins deutlich hervor, die sich <strong>im</strong>mer<br />

mehr vom Motivischen entfernt und in jene Sphäre vordringt, in <strong>der</strong> es um<br />

Fragen des Volumens <strong>im</strong> Raum, um Fragen von positiven und negativen<br />

Formen, um das reine Spiel <strong>der</strong> Flächen in <strong>der</strong> Ambivalenz von Licht und<br />

Schatten geht. Der Schritt in die "ungegenständliche" Kunst ist nicht mehr<br />

fern.<br />

51


Fugit Amor<br />

Fugit Amor – eigentlich "entfliehende Liebe" – trägt auch den Titel Je suis<br />

belle. Das Thema taucht zudem in <strong>der</strong> Skulptur Gier und Wollust auf. Die<br />

Skulptur n<strong>im</strong>mt Bezug auf die in Dantes Inferno geschil<strong>der</strong>te tragische Liebesgeschichte<br />

von Paolo und Francesca <strong>aus</strong> R<strong>im</strong>ini, die an mehreren Stellen<br />

<strong>im</strong> Höllentor erscheint, in <strong>der</strong> wohl spektakulärsten grossformatigen Skulptur<br />

des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts, die heute unter an<strong>der</strong>em neben dem Eingang des<br />

Kunsth<strong>aus</strong>es Zürich steht. Fugit Amor lässt sich in <strong>der</strong> Mitte des linken Türflügels<br />

und über dem rechten Tür flügel entdecken, wo die identischen<br />

Gestalten spiegelverkehrt dargestellt sind. Das Thema: die zeitlose Liebe<br />

zwischen Mann und Frau. Die beiden Figuren kommen, so sehr sie sich<br />

auch nacheinan<strong>der</strong> strecken, nie zusammen. Sie liegen Rücken auf Rücken,<br />

beide von hinten gebogen. Er greift über seinen eigenen Kopf nach ihr,<br />

während sie nach hinten entgleitet. Ein tragisches, bitteres Sinnbild für jene<br />

Erkenntnis, die be sagt: je mehr man etwas zu fassen versucht, desto eher<br />

entgleitet es uns. Die packende, grandiose Darstellung des Schicksals, das<br />

die Lieben den trennt – Romeo und Julia, Orpheus und Eurydike, Francesca<br />

und Paolo. In seinem Bemühen, das Flüchtige festzuhalten, lässt sich eine<br />

Parallele zum gleichzeitig entstehenden Impressionismus erkennen. Rodin<br />

stellt 1889 mit dem Maler Claude Monet zusammen <strong>aus</strong>. Die Impressionisten<br />

hegen die Absicht, "l’état passager", den Zustand des Übergangs, einzufangen.<br />

Bekanntlich halten sie jene Sujets fest, die den ständigen Wech sel in<br />

sich tragen: die Licht- und Farbenwechsel eines Kathedra lenpor tals, eines<br />

Heustocks u.a. Das Thema hat auch einen Bezug zu Rodins eigenem Leben.<br />

Rodin – verbunden mit Rose Beuret, die ihm auch einen Sohn schenkt –<br />

begegnet 1883 Camille Claudel, einer 24 Jahre jüngeren hübschen Frau<br />

(und Schwester des berühmten Dichters Paul Claudel). Camille wird Rodins<br />

Muse, Modell, Geliebte und Mitarbei terin. Beide trennen sich nach fast<br />

30jähriger Bindung. Camille beendet ihr Leben, vergrämt und depressiv in<br />

einer Irrenanstalt.<br />

53


Gefallene Karyatide, den Stein tragend<br />

Die Karyatide (griech.) ist eine weibliche Statue in langem Gewand, welche<br />

anstelle einer Säule das Gebälk eines Tempels trägt. In <strong>der</strong> klassischen Baukunst<br />

und später in <strong>der</strong> neueren Baukunst wird die Karyatide auch als freiplastische<br />

Statue eingesetzt. Rodin arbeitet während seiner Lehrzeit in Brüssel<br />

– u.a. bei <strong>der</strong> Neugestaltung <strong>der</strong> Börse; dort lernt er die Funktion <strong>der</strong><br />

säuletragenden Figuren kennen und gestaltet selber Karyatiden. Rodin<br />

n<strong>im</strong>mt sich des Themas in einer äusserst freien Art und Weise an. Die vom<br />

Gewicht nie<strong>der</strong>gedrückte Frau ist sehr kompakt und dicht gestaltet. Das<br />

Gefühl <strong>der</strong> unter dem Gewicht <strong>der</strong> Last Nie<strong>der</strong> gedrückten erinnert an<br />

Michelangelos Sterben<strong>der</strong> Sklave. Ursprünglich für das Höllentor vorgesehen<br />

hat Rodin die Figur später als eigenständiges Werk behandelt. R.M.Rilke<br />

schreibt dazu: "Nicht mehr die aufrechte Figur, die leicht o<strong>der</strong> schwer das<br />

Tragen eines Steines erträgt, unter den sie sich doch nur gestellt hat, als er<br />

schon hielt; ein weiblicher Akt, kniend, gebeugt, in sich hineingedrückt und<br />

ganz geformt von <strong>der</strong> Last, <strong>der</strong>en Schwere wie ein fortwähren<strong>der</strong> Fall in alle<br />

Glie<strong>der</strong> sinkt. Auf jedem kleinsten Teil dieses Leibes liegt <strong>der</strong> ganze Stein<br />

wie ein Wille, <strong>der</strong> grösser war, älter und mächtiger, und doch hat seines<br />

Tragens Schicksal nicht aufgehört. Er trägt, wie man <strong>im</strong> Traum das Unmögliche<br />

trägt, und findet keinen Ausweg."<br />

55


Der Schatten<br />

Eines <strong>der</strong> dramatischsten <strong>Werke</strong> Rodins. Die Skulptur gehört in die Gruppe<br />

<strong>der</strong> Drei Schatten, eine dreifache Version des Adam. Die Gruppe krönt<br />

heute das Höllentor und n<strong>im</strong>mt das Thema des <strong>aus</strong> dem Gar ten Edens vertriebenen<br />

Menschen auf. Der Titel Der Schatten geht auf die literarischen<br />

Vorbil<strong>der</strong> Inferno und Purgatorio von Dante zurück.<br />

Ursprünglich hat Rodin das Paar Adam und Eva für die Flankierung des<br />

Höllentors vorgesehen, das <strong>der</strong> Künstler 1880 als staatlichen Auftrag für die<br />

Gestaltung des Musée des Arts Décoratifs in Paris erhält. Rodin verzichtet<br />

später auf die beiden Figuren und gestaltet Adam neu. Als Modell dient ihm<br />

ein Gewichtheber, wor<strong>aus</strong> sich die stark <strong>aus</strong>geprägte Partie des Oberkörpers<br />

verstehen lässt. Aus dem einen Adam schafft Rodin schliesslich drei beinahe<br />

identische Adamfiguren und krönt mit dieser Dreiergruppe das Höllentor –<br />

über <strong>der</strong> Hauptfigur Der Denker. Die 3 Schatten drängen sich zusammen,<br />

die Köpfe auf die Schultern des an<strong>der</strong>n gelegt. Alle halten sich gegenseitig<br />

die linke Hand und blicken in die Tiefe, wo sich das dramatische Geschehen<br />

des Weltuntergangs abspielt. Geneigt <strong>der</strong> Kopf und Körper, <strong>der</strong> Arm<br />

hängt nach unten, eine sinkende Kurve. Bedrückung und Schwere des<br />

Schicksals werden spürbar.<br />

57


Kopf von Honoré de Balzac<br />

Als Balzac stirbt, ist Rodin 10 Jahre alt. Drei Jahrzehnte später erhält Rodin<br />

einen staatlichen Auftrag für ein Balzac-Denkmal. Eine gewaltige Her<strong>aus</strong>for<strong>der</strong>ung,<br />

einen verstorbenen Dichter von dieser Bedeutung post mortem darzustellen.<br />

Rodin hat Balzac eine Grösse gegeben, welche die Gestalt des<br />

Schrift stellers überragt. Rodin hat diesen <strong>aus</strong>sergewöhnlichen Balzac nicht<br />

nur <strong>im</strong> Grunde seines Wesens erfasst, er hat auch an den Grenzen dieses<br />

Wesens nicht Halt gemacht. Um sich ein Bild Balzacs zu machen, be sucht<br />

Rodin Balzacs He<strong>im</strong>at, die Landschaf ten <strong>der</strong> Tourraine, die in Balzacs<br />

Büchern <strong>im</strong>mer wie<strong>der</strong> aufsteigen. Rodin liest die Briefe des Dichters an<br />

seine Zeitgenossen, er versucht, sich die t<strong>aus</strong>end Figuren <strong>aus</strong> Balzacs<br />

Romanen vorzustellen. – Schliess lich geht er ans Werk. Er verweigert die<br />

sklavische Nachahmung <strong>der</strong> sichtbaren Realität. Rodin will nicht so sehr<br />

den körperlichen Aspekt des Schriftstellers, son<strong>der</strong>n seine Persönlichkeit in<br />

ihrer Substanz erfassen und künstlerisch gestalten. Er vereinfacht die<br />

Formen mit äusserster Kühnheit. Er schafft, würde man heute sagen, das<br />

erste ex pressive Bildnis <strong>der</strong> Kunst. "Nichts von alledem, was ich bisher<br />

gemacht habe, hat mich so sehr zufriedengestellt, nichts hat mich bisher so<br />

viel gekostet, nichts stellt so zutiefst die Quintessenz dessen dar, was ich<br />

für das ge he<strong>im</strong>e Gesetz meiner Kunst halte."<br />

Rodins Werk wird heftigst kritisiert und zuerst mehrheitlich abgelehnt.<br />

Rodin kauft die Statue zurück und stellt sie bei sich auf. Es vergehen Jahrzehnte,<br />

bis die Menschen zu spüren beginnen, um was es Rodin geht. Der<br />

<strong>aus</strong>gestellte Kopf ist nach vier Jahren Beschäftigung mit dem Thema Balzac<br />

entstanden. Es gibt mindestens zwanzig Skulpturen von Balzacs Kopf und<br />

mindestens so viele von Balzacs Figur. Sicherlich ist auch einiges <strong>aus</strong> Rodins<br />

eigenem Wesen in die Bildnis-Skulptur miteingeflossen.<br />

"Ein Bildnis schaffen hiess für ihn, in einem gegebenen Gesichte Ewigkeit<br />

suchen, jenes Stück Ewigkeit, mit dem es teilnahm an dem grossen Gange<br />

ewiger Dinge." (R.M.Rilke)<br />

59


Der Schreitende<br />

Zwischen 1898 und 1906 überarbeitet Rodin verschiedene seiner wichtigsten<br />

Skulpturen, in einer Zeit, in <strong>der</strong> viele <strong>Werke</strong> in Marmor gemeisselt werden,<br />

als Vorbereitung auf die grossangelegte Rodin-Retrospektive in einem<br />

Rodin gewidmeten Pavillon anlässlich <strong>der</strong> Welt<strong>aus</strong>stellung von 1900. Zu<br />

den Arbeiten gehören die Vergrösserung des Denkers, Verklei ne rungen und<br />

Güsse des Ehernen Zeitalters und die Überarbeitung <strong>der</strong> Plastik Johannes <strong>der</strong><br />

Täufer. Die Skulptur Der Schreitende ist in diesem Zusammenhang entstanden<br />

und existiert in verschiedenen D<strong>im</strong>ensi o nen. Rodin vergrössert einmal<br />

die Skulptur um das Doppelte, einmal verkleinert er sie um die Hälfte <strong>der</strong><br />

ursprünglichen Form. Rodin exper<strong>im</strong>entiert mit <strong>der</strong> Frage <strong>der</strong> Grösse und<br />

<strong>der</strong>en Wirkung und erstellt um 1877–78 eine Reihe von Entwürfen vor<br />

allem einzelner Teile – <strong>im</strong> Hin blick auf die Bewältigung des Themas Johannes<br />

<strong>der</strong> Täufer. Dabei mö gen auch Anlehnungen und Erinnerungen an griechische<br />

und römische Statuen eine Rolle spielen. Die absichtliche "Verstümmelung"<br />

und Unvoll kommenheit ist für Rodin Konzentration auf das<br />

Wichtige und Wesentliche. Das Fragment, wie Rodin es versteht, n<strong>im</strong>mt in<br />

seinem Schaffen eine Bedeutung an, die so vor Rodin nicht existiert. Rodin<br />

n<strong>im</strong>mt sich die Freiheit, den menschlichen Körper, ob nun in sorgfältig <strong>aus</strong>gearbeiteten<br />

Details, o<strong>der</strong> nur skizzenhaft dargestellt, "unvollständig" zu<br />

gestalten. So belässt Rodin alle unfertigen, fehlerhaften Stellen <strong>im</strong> Ton, als<br />

wollte er den Prozess <strong>der</strong> künstlerischen Auseinan<strong>der</strong>setzung zum festen Teil<br />

<strong>der</strong> Arbeit machen und uns bewusst machen.<br />

Im Schreitenden geht es um das Motiv <strong>der</strong> Bewegung, um die Frage nach<br />

dem Wesen und dem Wesentlichen, um die Wahrheit. Es geht Rodin somit<br />

um die <strong>im</strong> Inneren des Körpers wirkenden Kräfte, die sich schliesslich in<br />

einer Bewegung entladen. Er wird damit Wegbereiter für die körperlosen<br />

Ovoiden <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne – etwa von Brancusi o<strong>der</strong> Hans Arp.<br />

61


Torso <strong>der</strong> Adele<br />

Selten erscheint <strong>der</strong> Name des Modells schon <strong>im</strong> Titel eines Werks. Diese<br />

Skulptur stellt eine Ausnahme dar: Adele Abruzzeti ist eine be kannte, von<br />

Rodin bewun<strong>der</strong>te Frau, die dem Künstler für verschiedene Figuren – insbeson<strong>der</strong>e<br />

für die weiblichen Gestalten <strong>im</strong> Höllentor – Modell steht. Rodin<br />

exper<strong>im</strong>entiert mit verschiedenen, auch völlig ungeahnten, oft provozierenden<br />

Posen, um die bildhauerische Qualität des menschlichen Körpers bis an<br />

die Grenzen <strong>aus</strong>zuloten. Ähnlich verhält es sich bei <strong>der</strong> Figur Kauernde Frau<br />

o<strong>der</strong> Frau, ihren rechten Fuss haltend. Torso <strong>der</strong> Adele findet eine Fortsetzung<br />

in einer Reihe verwandter Skulpturen, u.a. auch <strong>im</strong> Werk Der Ewige Frühling.<br />

63


Die Hand von Adam<br />

Wenige Skulpturen drücken Rodins Bewun<strong>der</strong>ung für Michelangelo so sehr<br />

<strong>aus</strong> wie Adam, ein männlicher Akt, <strong>der</strong> ursprünglich für die seitliche Türe<br />

<strong>im</strong> Höllentor best<strong>im</strong>mt ist und die Eingangspforte am geplanten Musée des<br />

Arts Décoratifs in Paris schmücken sollte.<br />

In <strong>der</strong> <strong>aus</strong>gestellten Linken Hand Adams ist die geballte Kraft jener Formen<br />

spürbar, wie sie Michelangelo in verschiedenen Szenen <strong>der</strong> Sixtinischen<br />

Kapelle <strong>im</strong> Vatikan o<strong>der</strong> in den Figuren <strong>der</strong> Medici in <strong>der</strong> Sakristei von San<br />

Lorenzo in Florenz zur Darstellung bringt. Die Hand scheint etwas zu breit<br />

zu sein <strong>im</strong> Verhältnis zum Handgelenk; dies entspricht wohl Rodins<br />

Absicht, den Ausdruck von Schwere und Kraft zu intensivieren.<br />

65


Die linke Hand von Pierre Wiessant<br />

Pierre Wiessant ist einer <strong>der</strong> sechs Bürger von Calais, dargestellt <strong>im</strong> weltberühmten<br />

Denkmal Die Bürger von Calais. Die Gruppe steht unter an<strong>der</strong>em<br />

in Calais, aber auch <strong>im</strong> Innenhof des Kunstmuseums Basel.<br />

Die linke Hand von Pierre Wiessant ist be<strong>im</strong> Handgelenk vom Arm getrennt.<br />

Wie Rainer Maria Rilke sagt, ist Rodin ein Meister <strong>der</strong> Gestaltung von<br />

Händen. Die Hand und <strong>der</strong> Kopf sind nach Auffassung Rodins die <strong>aus</strong>drucksreichsten<br />

Körperpartien und Rodin das Thema <strong>der</strong> Hand <strong>im</strong>mer wie<strong>der</strong><br />

aufgenommen. "Eine Hand, die sich auf eines an<strong>der</strong>en Schulter o<strong>der</strong><br />

Schenkel legt, gehört nicht mehr ganz zu dem Körper, von dem sie kam: <strong>aus</strong><br />

ihr und dem Gegenstand, den sie berührt und packt, entsteht ein neues<br />

Ding, ein Ding mehr, das keinen Namen hat und niemandem gehört; und<br />

um dieses Ding, das seine best<strong>im</strong>mten Grenzen hat, handelt es sich. ....<br />

Es fängt bei den Stellen <strong>der</strong> stärksten Berührung an; dort, wo etwas Neues<br />

entsteht." (R.M.Rilke)<br />

67


Die rechte Hand von Pierre Wiessant<br />

Pierre Wiessant ist eine <strong>der</strong> sechs Figuren <strong>aus</strong> <strong>der</strong> Skulpturengruppe Die<br />

Bürger von Calais. – Die rechte Hand ist die einzige Hand, die sich nach<br />

oben öffnet: ein Gestus <strong>der</strong> Bitte o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Verzweiflung? Die Hand ist<br />

zudem überd<strong>im</strong>ensioniert gestaltet – <strong>im</strong> Verhältnis zum Körper von Pierre<br />

Wiessant. Das Gestalten von Händen ist ebenso schwierig und anspruchsvoll<br />

wie das Formen eines Gesichtes. Die Hand – pars pro toto – sagt viel<br />

<strong>aus</strong> über die Persönlichkeit des Menschen. Rodin hat während seines ganzen<br />

Lebens <strong>im</strong>mer wie<strong>der</strong> Handstudien gemacht und versucht, die Hand als<br />

Ausdruck <strong>der</strong> Gesamtpersönlichkeit zu erfassen. Rodin weiss, dass <strong>der</strong><br />

menschliche Körper <strong>aus</strong> vielen "Schauplätzen des Lebens" (R.M.Rilke)<br />

besteht. Jede Stelle, also auch die einzelne Hand, hat die Kraft, die Fülle des<br />

Ganzen zu reflektieren.<br />

69


Handstudie<br />

Greift diese Hand zu o<strong>der</strong> öffnet sie sich? Greift die Hand nach oben o<strong>der</strong><br />

zieht sie etwas nach unten? Rodin schafft eine scheinbar zufällige Mehrdeutigkeit<br />

und überlässt dem Betrachter die Interpretation und Deutung. So<br />

sehen die Einen in dieser Handstudie ein Fragment, die an<strong>der</strong>n eine in sich<br />

abgeschlossene Kleinskulptur. Ein schönes Beispiel für Rodins Absicht,<br />

durch ein Detail o<strong>der</strong> Einzelmotiv eine Reihe unterschiedlicher Bedeutungen<br />

hervorzurufen.<br />

"Es gibt <strong>im</strong> <strong>Werke</strong> Rodins Hände, selbständige, kleine Hände, die, ohne<br />

irgend zu einem Körper zu gehören, lebendig sind. Hände, die sich aufrichten,<br />

gereizt und böse, Hände, <strong>der</strong>en fünf gesträubte Finger zu bellen scheinen<br />

wie die fünf Hälse eines Höllenhundes. Hände, die gehen, schlafende<br />

Hände, und Hände, welche erwachen; verbrecherische, erblich belastete<br />

Hände und solche, die müde sind, die nichts mehr wollen, die sich nie<strong>der</strong>gelegt<br />

haben in irgend einem Winkel, wie kranke Tiere, welche wissen, dass<br />

ihnen niemand helfen kann. Aber Hände sind schon ein komplizierter<br />

Organismus, ein Delta, in dem viel fernherkommendes Leben zusammenfliesst,<br />

um sich in den grossen Strom <strong>der</strong> Tat zu ergiessen. Es gibt eine<br />

Geschichte <strong>der</strong> Hände, sie haben tatsächlich ihre eigene Kultur, ihre beson<strong>der</strong>e<br />

Schönheit; man gesteht ihnen das Recht zu, eine eigene Entwicklung<br />

zu haben, eigene Wünsche, Gefühle, Launen und Liebhabereien. Rodin, <strong>der</strong><br />

durch die Erziehung, die er sich gegeben hat, weiss, dass <strong>der</strong> Körper <strong>aus</strong> lauter<br />

Schauplätzen des Lebens besteht, eines Lebens, das auf je<strong>der</strong> Stelle individuell<br />

und gross werden kann, hat die Macht, irgendeinem Teil dieser weiten<br />

schwingenden Fläche die Selbständigkeit und Fülle des Ganzen zu<br />

geben." (R.M.Rilke)<br />

71


Der Mann mit gebrochener Nase<br />

Der Mann mit <strong>der</strong> gebrochenen Nase ist das erste Porträt Rodins und eine<br />

realistische Schil<strong>der</strong>ung des Clochards Bibi, <strong>der</strong> damals bei verschiedenen<br />

Künstlern als Modell die Runde machte, um sich ein Taschengeld zu verdienen.<br />

1913 beschreibt Rodin sein Vorgehen wie folgt: "Mit dieser Figur<br />

betrachte ich zuerst das Gesicht von vorne, das rechte und dann das linke<br />

Profil. Dann versuche ich, den Ton so zu kneten, dass er diesen 3 Ansichten<br />

entspricht. Dann erst befasse ich mich mit den Übergängen. Dann drehe<br />

und wende ich die Plastik Schritt um Schritt und verän<strong>der</strong>e fortwährend die<br />

verschiedenen Ansichten..." – In diesem Frühwerk ist Rodins Art, durch ein<br />

Gesicht zu gehen, schon <strong>aus</strong>gebildet. Man spürt die unbegrenzte Hingabe<br />

an die Realität, die Ehrfurcht vor je<strong>der</strong> Linie, die das Schicksal gezogen hat,<br />

sein Vertrauen zum Leben, das schafft, wo es entsteht. Das Werk wurde<br />

vom Salon, wo er <strong>aus</strong>stellen wollte, abgelehnt. Rodin setzt sich in diesem<br />

Werk von <strong>der</strong> gekünstelten, banalen und manierierten Auffassung seiner<br />

Zeit ab und erweist Michelangelo, den er verehrt, die Reverenz. Wahrheit ist<br />

ihm wichtiger als das – oft verlogene – Schönheitsideal seiner Zeit.<br />

"In einer Art von blindem Glauben hatte er den Homme au nez cassé<br />

geschaffen, ohne zu fragen, wer <strong>der</strong> Mann war, dessen Leben in seinen Händen<br />

noch einmal verging. Er hatte ihn gemacht, wie Gott den ersten Menschen<br />

gemacht hat, ohne die Absicht, etwas an<strong>der</strong>es zu wirken als das Leben<br />

selbst, namenloses Leben." (R.M.Rilke)<br />

73


Rodin als Zeichner<br />

Rodin ist ein begabter Zeichner. Vor<strong>aus</strong>setzung ist die in Jahrzehnten <strong>der</strong><br />

bildhauerischen Arbeit erworbene Erfahrung in <strong>der</strong> visuellen und taktilen<br />

Erfassung <strong>der</strong> Modelle. Die tägliche Beschäftigung mit den Gesetzen des<br />

menschlichen Körpers, die Auseinan<strong>der</strong>setzung mit <strong>der</strong> dritten D<strong>im</strong>ension,<br />

das Studium von Licht und Schatten, <strong>der</strong> Dialog von negativen und positiven<br />

Formen – all das hat zu einem virtuosen und souveränen Umgang mit<br />

dem Zeichenstift geführt. Es scheint, dass sich die Kenntnisse und Erfahrungen<br />

so fest eingeprägt haben, dass Rodins sein Finger ohne Rückkoppelung<br />

an das Bewusstsein zu führen vermag. Rodin erfasst seine Modelle<br />

<strong>im</strong>mer als Gesamtkörper – stets offen für unerwartete, von <strong>der</strong> Norm<br />

ab wei chende Formen. Rodins Zeichnungen und Aquarelle zeugen von<br />

Selbstvertrauen, von Rodins Meisterschaft und geistiger Freiheit. Manche<br />

Zeichnung ist <strong>aus</strong> dem Gedächtnis her<strong>aus</strong> entstanden. Die Zeichnungen<br />

und Aquarelle sind Produkte <strong>der</strong> geistigen Verdichtung und gleichzeitig poetische<br />

Dokumente <strong>der</strong> Auseinan<strong>der</strong>setzung mit <strong>der</strong> sichtbaren Wirklichkeit.<br />

Beson<strong>der</strong>s beeindruckend ist die Leichtigkeit und Eleganz, die Spontaneität<br />

und Sicherheit, mit <strong>der</strong> Rodin seine Figuren erfasst.<br />

"Er ist jetzt bereit und weise. Nichts erschrickt mehr vor ihm. Die grossen<br />

Gesetze kommen zu ihm wie die Tiere zur Tränke. Das All macht sich klein<br />

für ihn und kommt in seine Hand, kommt in jene seltsamen, unbeschreiblichen<br />

Blätter, die vielleicht die Vollendung seines <strong>Werke</strong>s sind: <strong>der</strong> Duft, <strong>der</strong><br />

von <strong>der</strong> Reife <strong>aus</strong>geht. Die unabsehbare Fülle seiner Erfahrung – (nein,<br />

nicht seiner –: <strong>der</strong> Erfahrung <strong>der</strong> Jahrt<strong>aus</strong>ende, in die er sich, still und willig,<br />

eingestellt hat) gibt sich in diesen letzten Zeichnungen als – Umriss hin.<br />

Die schwingenden Konturen ruhen<strong>der</strong> und bewegter Leiber – ja: sobald<br />

man es <strong>aus</strong>spricht entfernt man sich davon / wie ein Fallen<strong>der</strong> / – wie kann<br />

man sagen, was das für Leiber sind?" (R.M.Rilke)<br />

75


Leben und Zeit von Auguste Rodin<br />

1840<br />

12. November: Auguste Rodin wird als Sohn<br />

des Polizeibeamten François Auguste-René<br />

Rodin in Paris geboren.<br />

1840: Claude Monet und Odilon<br />

Redon werden geboren.<br />

1844<br />

Rose Beuret wird geboren.<br />

1844: William Turner malt sein Bild<br />

Regen, Dampf und Geschwindigkeit.<br />

1850: Honoré de Balzac stirbt.<br />

1853<br />

Besuch <strong>der</strong> École Spéciale de Dessin et de<br />

Mathématiques (Schule für Zeichnen und<br />

Mathematik).<br />

1853: Van Gogh wird geboren.<br />

Erstes Fotoatelier Nadar in Paris.<br />

1854–1857<br />

Studium an <strong>der</strong> École des Arts décoratifs.<br />

Rodin versucht in diesen Jahren dre<strong>im</strong>al,<br />

an <strong>der</strong> École des Beaux-Arts aufgenommen<br />

zu werden. Verdient sich den Unterhalt<br />

als Dekorateur und Stuckateur bei verschiedenen<br />

Bildhauern.<br />

1855: Welt<strong>aus</strong>stellung Paris.<br />

1856: Sigmund Freud wird geboren.<br />

1862<br />

Nach dem Tod seiner Schwester tritt er in<br />

den Orden <strong>der</strong> "Pères du Saint-Sacrement"<br />

77


ein. Der Abt ermutigt ihn, sein Leben <strong>der</strong><br />

Kunst zu widmen. Rodin verlässt den Orden.<br />

1864<br />

Arbeitet für den Bildhauer Albert Ernest<br />

Carrier-Belleuse (1824–1887).<br />

Trifft auf Rose Beuret, die ihm 1866 einen<br />

Sohn (Auguste Beuret, †1934) schenkt.<br />

1864<br />

Camille Claudel (†1943) wird geboren.<br />

1865: Manet – Skandal mit dem<br />

Bild Olympia.<br />

1871<br />

Rodin folgt Carrier-Belleuse nach Brüssel,<br />

trennt sich aber nach heftigen Konflikten<br />

von ihm und führt in <strong>der</strong> Folgezeit öffentliche<br />

Aufträge <strong>aus</strong>. Rodin arbeitet mit<br />

Van Rasbourg zusammen.<br />

1870: Jules Verne schreibt Zwanzigt<strong>aus</strong>end<br />

Meilen unter dem Meer.<br />

1870/71: Krieg zwischen Frankreich<br />

und Preussen, <strong>der</strong> mit einer Katastrophe<br />

für Frankreich endet.<br />

Rodin wird als Gefreiter eingezogen,<br />

wird aber bald als kriegsuntauglich erklärt.<br />

1872: Baubeginn am Gotthardtunnel<br />

(Fertigstellung 1882).<br />

1874<br />

Arbeiten an <strong>der</strong> Börse von Brüssel.<br />

Karyatiden von Saint-Gilles.<br />

78


1874: Erste Ausstellung <strong>der</strong> Impressionisten.<br />

1875<br />

Skulptur Der Mann mit gebrochener Nase.<br />

Reise nach Florenz und Rom. Rodin studiert<br />

die grossen Meisterwerke <strong>der</strong> Renaissance.<br />

Michelangelo wird zum grossen Vorbild.<br />

1876<br />

Entstehung <strong>der</strong> Skulptur Das eherne Zeitalter.<br />

1877<br />

Rückkehr nach Paris. Reise durch Frankreich<br />

zwecks Studium <strong>der</strong> gotischen Kathedralen.<br />

1879–1882<br />

Rodin arbeitet in <strong>der</strong> Porzellanmanufaktur<br />

in Sèvres.<br />

1879: Albert Einstein, Stalin und<br />

Trotzki werden geboren.<br />

1880<br />

Er erhält den Auftrag, ein Portal für das<br />

Musée des Arts décoratifs zu gestalten.<br />

Für das Höllentor dient Dantes Inferno<br />

zum Vorbild. Das Portal, das er mit 182<br />

kleinen Figuren als visuelle Analogie zum<br />

Zusammenbruch <strong>der</strong> traditionellen Moral<br />

des <strong>aus</strong>gehenden Jahrhun<strong>der</strong>ts gestaltet,<br />

bleibt unvollendet.<br />

79


1881<br />

Erste Reise nach London.<br />

1881: Picasso wird geboren. Dostojewski<br />

stirbt.<br />

1883<br />

Erste Begegnung mit Camille Claudel,<br />

<strong>der</strong> Schwester Paul Claudels.<br />

Karl Marx stirbt. Mussolini wird geboren.<br />

Friedrich Nietzsche schreibt "Also<br />

sprach Zarathustra".<br />

1884<br />

Rodin erhält den Auftrag für das Denkmal<br />

Die Bürger von Calais. Das Eherne Zeitalter<br />

wird <strong>im</strong> Les Jardins du Luxembourg aufgestellt.<br />

1887<br />

Camille Claudel wird Gehilfin, Modell und<br />

Geliebte Rodins.<br />

Renoir malt Die grossen Badenden.<br />

Gauguin reist nach Panama und Martinique.<br />

Le Corbusier wird geboren.<br />

1889<br />

Rodin erhält vom Staat den Auftrag für ein<br />

Denkmal zu Ehren von Victor Hugo (1802–1885).<br />

Da er sich jedoch entschliesst, den Dichter<br />

unbekleidet und von Musen umgeben darzustellen,<br />

wird <strong>der</strong> Entwurf abgelehnt und die Statue<br />

bleibt unvollendet.<br />

1898: Welt<strong>aus</strong>stellung Paris – Einweihung<br />

des Eiffelturms. Adolf Hitler und<br />

Charlie Chaplin werden geboren.<br />

80


1890: Ferdinand Hodler malt Die<br />

Nacht. Vincent Van Gogh stirbt.<br />

1891<br />

Rodin erhält von <strong>der</strong> "Société des Gens de<br />

Lettres" den Auftrag zu einem Porträt von<br />

Honoré de Balzac (1799-1850).<br />

Max Ernst wird geboren.<br />

1894<br />

Trennung von Camille Claudel. Übersiedlung<br />

nach Meudon, wo Rodin, inzwischen<br />

berühmt, viele junge Autoren und Künstler<br />

empfängt. Zahlreiche Ausstellungen, auch<br />

in den USA, und erste Ehrentitel von<br />

Universitäten.<br />

1894: Beginn <strong>der</strong> Affäre Dreyfus in<br />

Frankreich.<br />

1895: Erster Film <strong>der</strong> Gebrü<strong>der</strong><br />

Lumière.<br />

1900<br />

171 seiner <strong>Werke</strong>, darunter zum ersten Mal<br />

auch das Höllentor, werden <strong>im</strong> Pavillon<br />

Rodin auf <strong>der</strong> Welt<strong>aus</strong>stellung in Paris<br />

<strong>aus</strong>gestellt.<br />

1902: Cézanne: Die grosses Badenden.<br />

1903: Tod von Gauguin und Pissarro.<br />

Erster Flug <strong>der</strong> Gebrü<strong>der</strong> Wright.<br />

1904: Puccini: Madame Butterfly.<br />

1905: Albert Einstein erfindet die Relativitätstheorie.<br />

1905/06<br />

Rainer Maria Rilke arbeitet als Sekretär Rodins.<br />

81


Der Grosse Denker wird gegenüber dem Pantheon<br />

aufgestellt. Bernard Shaw lässt sich von Rodin<br />

porträtieren. Reise Rodin/Rilke nach Spanien.<br />

Krach. Rilke wird entlassen (später versöhnen<br />

sich die beiden wie<strong>der</strong>).<br />

1906: Eröffnung des S<strong>im</strong>plon-Tunnels.<br />

1907<br />

Bezug des Stadtateliers <strong>im</strong> Hôtel Biron, das heute<br />

das Musée Rodin beherbergt. König Edward VII.<br />

besucht Rodin. Rodin erhält den Ehrendoktor<br />

<strong>der</strong> Universität Oxford. Rodin setzt sich mit dem<br />

Expressionismus <strong>aus</strong>einan<strong>der</strong>.<br />

1909<br />

Porträt Gustav Mahler.<br />

1909: Blériot überquert mit dem<br />

Flugzeug den Ärmelkanal. Gründung<br />

<strong>der</strong> Bewegung Der Sturm in Berlin.<br />

Erstes Manifest des Futurismus.<br />

1912: Wassily Kandinsky: Über das<br />

Geistige in <strong>der</strong> Kunst.<br />

1913<br />

Camille Claudel wird interniert (stirbt 1943<br />

in <strong>der</strong> Anstalt von Montdevergues)<br />

1913: Apollinaire: Die Maler des<br />

Kubismus. Duchamps: Die ersten<br />

Readymade. Kandinsky und Malevitsch<br />

präsentieren abstrakte Malerei.<br />

Das schwarze Quadrat.<br />

1914<br />

Veröffentlichung <strong>der</strong> Schrift Les Cathédrales<br />

82


de France, welche seine Studien architektonischer<br />

Details und Betrachtungen über die<br />

Gotik enthält.<br />

1914: Kriegserklärung Erster Weltkrieg<br />

1916: Dada in Zürich<br />

1917<br />

Januar: Rodin heiratet Rose Beuret.<br />

Februar: Rose Beuret stirbt.<br />

17. November: Auguste Rodin stirbt<br />

in Meudon. Begräbnis in Meudon.<br />

Der Denker schmückt das Grab von<br />

Auguste und Rose Rodin.<br />

1917: Ausbruch <strong>der</strong> russischen Revolution<br />

(Lenin). Erste Ausstellung des<br />

Dadaismus in Zürich.<br />

83


© Rehmann-Museum / Erwin Rehmann<br />

© Fotos: <strong>Gruppo</strong> <strong>Mondiale</strong><br />

Gestaltung: Gerhard Kunsemüller, Laufenburg<br />

Druck: Binkert Druck AG, Laufenburg<br />

Auflage: 5000


Sch<strong>im</strong>elrych 12<br />

CH–5080 Laufenburg<br />

Tel. +41 62 874 42 70<br />

Fax +41 62 874 42 73<br />

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