Das Wunder am Berg - Felix Hutt | journalism
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■2 Deutschland<br />
102 stern 51/2011<br />
die <strong>Berg</strong>wacht ist er tot. Die<br />
Suche wird eingestellt.<br />
Nach diesem letzten Anruf, der<br />
für einen Verstandesmenschen<br />
wie Marius Bücher bedeuten<br />
müsste, dass sein Vater nun endgültig<br />
verloren ist, passiert etwas.<br />
Bei ihm stellt sich plötzlich ein<br />
positives, fast optimistisches Gefühl<br />
ein. Er kann es sich nicht erklären.<br />
Aber solange sie die Leiche<br />
seines Vaters nicht bergen,<br />
denkt er, so lange besteht die<br />
Möglichkeit, dass er noch lebt.<br />
Und es wird ganz selts<strong>am</strong>. Er<br />
beginnt mit seinem Vater zu<br />
kommunizieren. Er visualisiert<br />
ihn <strong>am</strong> <strong>Berg</strong>. Stellt sich vor,<br />
wie er verletzt daliegt. „Halt<br />
durch“, sagt er zu ihm, „bald<br />
kommt Hilfe.“ Er kann nicht deuten,<br />
was mit ihm passiert, der junge<br />
Mathematiklehrer ist jeder Anwandlung<br />
von Esoterik unverdächtig.<br />
Aber da sei etwas gewesen,<br />
das habe ihn gezogen.<br />
Als die Suche <strong>am</strong> Dienstag eingestellt<br />
bleibt, ruft er Simon an,<br />
den Bruder seiner Freundin, ob<br />
der ihn nach Oberstdorf fahren<br />
könne. Denn er selbst geht nach<br />
einer Operation <strong>am</strong> Fuß gerade<br />
an Krücken.<br />
Eigentlich wollte die F<strong>am</strong>ilie<br />
erst <strong>am</strong> Wochenende fahren, um<br />
die Sachen von der Polizei abzuholen,<br />
die Pension zu bezahlen.<br />
Jetzt kommt Marius Bücher <strong>am</strong><br />
Mittwoch an, dem 28. September<br />
2011, fünf Tage nach dem Verschwinden<br />
seines Vaters. Er trägt<br />
feste Schuhe und hat das Suchfoto<br />
seines Vaters dabei, vielleicht hat<br />
ihn ja doch jemand gesehen. Er<br />
hat ein mulmiges Gefühl, Angst<br />
vor der Gewissheit. Und doch ist<br />
er irgendwie auch von einer anderen<br />
Gewissheit getragen.<br />
„Was hast du gespürt? Was hat<br />
dich veranlasst zu fahren?“, fragt<br />
der Vater Wochen später in der<br />
Reha in Waldbronn. „Ich weiß es<br />
nicht, Vater“, antwortet der Sohn,<br />
„ich musste es einfach tun.“<br />
Vor der Polizeistation treffen<br />
sie an diesem Mittwoch Horst Engelhardt.<br />
Über eine Stunde erklärt<br />
der in seinem Büro, wie Polizei<br />
und <strong>Berg</strong>wacht bei der Suche<br />
vorgegangen sind, zeigt <strong>am</strong> Com-<br />
puter die GPS-Aufzeichnungen<br />
der Such flüge. Auf dem Schirm<br />
wickeln die Linien der Flüge die<br />
Höfats ein wie L<strong>am</strong>ettagirlanden<br />
den Christbaum. Langs<strong>am</strong> wandelt<br />
sich Marius Büchers Gefühl<br />
von mulmig zu verzweifelt, er begreift,<br />
was alles mit welcher Akribie<br />
unternommen wurde, um seinen<br />
Vater zu finden.<br />
Gegen fünf Uhr nachmittags<br />
fährt Engelhardt Marius Bücher<br />
und Simon im blauen Landrover<br />
der Polizei an den <strong>Berg</strong>. Marius<br />
sitzt auf dem Beifahrersitz, Simon<br />
hinter ihm. Der Polizist fährt die<br />
Strecke, die Lothar Bücher genommen<br />
hat, vorbei an Weiden,<br />
dem Golfplatz, der Loipe, nach<br />
20 Minuten erreichen sie Gerstruben.<br />
Engelhardt beschreibt, wo<br />
Lothar Bücher die Sennerin nach<br />
dem Weg gefragt hat. Sie fahren<br />
weiter, rechts das Tal und links die<br />
immer steiler werdenden Hänge.<br />
Diese Hänge, und all die vergeblichen<br />
Anstrengungen von Engelhardt<br />
und seinen Leuten. Marius<br />
Büchers Optimismus schwin det.<br />
Noch ein paar Meter, dann werden<br />
sie wenden, dann geht es zurück.<br />
Sein Verstand sagt ihm, dass<br />
es das war.<br />
Engelhardt fährt etwas langs<strong>am</strong>er,<br />
zeigt auf einen Hang zur Linken,<br />
erklärt, wo der Vater wahrscheinlich<br />
in den <strong>Berg</strong> gestiegen<br />
sei. Simon rutscht auf der Rückbank<br />
hinter den Fahrersitz, d<strong>am</strong>it<br />
er besser sehen kann. Auf einmal<br />
schreit er: „Da liegt doch einer!“<br />
Marius Bücher denkt: <strong>Das</strong> könnte<br />
er sein. Dann: Blödsinn. Engelhardt<br />
schaut den Hang hoch, flüstert:<br />
„Da liegt einer.“ Marius Bücher<br />
kann es kaum hören, spürt<br />
aber, dass der Polizist nicht an<br />
einen Wanderer denkt, der sich<br />
da oben, 40 Meter im Hang, ausruht.<br />
Engelhardt reißt die Tür auf,<br />
rennt los, Simon hinterher, Marius<br />
Bücher versucht auf Krücken<br />
zu folgen, schmeißt sie weg, klettert<br />
auf Händen und Füßen. Engelhardt<br />
erreicht den Mann als<br />
Erster, ruft: „Er ist es.“<br />
Dann kniet der Sohn neben<br />
dem Vater. „Du hast es geschafft,<br />
du lebst“, sagt der Sohn, leise und<br />
immer wieder, Tränen stehen in<br />
seinen Augen.<br />
Lothar Büchers Kleidung ist voller<br />
Moos, er trägt nur einen Socken,<br />
riecht nach Schweiß und Fäkalien.<br />
Sein Gesicht ist blau angelaufen.<br />
Er muss gestürzt und mit<br />
dem Kopf aufgeschlagen sein, er<br />
hat einen Kleinhirninfarkt erlitten.<br />
Der <strong>Berg</strong>wanderer ist kaum ansprechbar,<br />
weiß in dem Moment<br />
nicht, warum er hier <strong>am</strong> <strong>Berg</strong> liegt.<br />
Er weiß nicht, wie er gestürzt ist,<br />
und auch nicht, wo. In der Nähe<br />
der Stelle, an der er liegt, oder etwas<br />
weiter oben, <strong>am</strong> glatten Grashang.<br />
Sein Blick geht ins Leere.<br />
Und er weiß nicht, dass es schon<br />
fünf Tage sind, die man ihn vermisst<br />
hat. Seine Lippen haben Risse,<br />
er ist abgemagert und völlig<br />
ausgetrocknet, fünf Tage ohne<br />
Wasser. Sanitäter lernen, dass man<br />
nach drei Tagen stirbt.<br />
Auch der erfahrene Polizist<br />
Horst Engelhardt sucht nach Erklärungen<br />
für das, was er noch<br />
nicht erlebt hat. Der Verletzte<br />
muss während der Suche in einer<br />
Mulde oder unter einem Baum<br />
gelegen haben, ohne Bewusstsein<br />
und deshalb unfähig, irgendein<br />
Zeichen zu geben. Nur so kann er<br />
sich erklären, dass Bücher vom<br />
Hubschrauber aus nicht zu entdecken<br />
gewesen sei.<br />
Er kann noch nicht lange an<br />
der Stelle gelegen haben, an<br />
der sie ihn fanden, weil ihn<br />
sonst Wanderer bemerkt hätten.<br />
Er muss sich erst in den letzten<br />
Stunden den <strong>Berg</strong> hinuntergearbeitet<br />
haben, zentimeterweise.<br />
Als hätte er auf seinen Sohn gewartet.<br />
Es wird ein Rätsel bleiben. Lothar<br />
Bücher weiß bis heute nicht,<br />
was nach dem Einstieg geschehen<br />
ist. Er erinnert sich auch Wochen<br />
nach dem Unfall nicht, sosehr er<br />
nachdenkt. „Da ist nichts, alles ist<br />
schwarz. Blackout“, sagt er. Und<br />
er wird wohl niemals sagen können,<br />
was ihn an diese Stelle gezogen<br />
hat, an der der Sohn ihn fand.<br />
Lothar Bücher glaubt nicht an<br />
ein <strong>Wunder</strong>, an Gott, an ein<br />
Leben nach dem Tod. Auch wenn<br />
sein eigenes längst begonnen<br />
hat.<br />
2<br />
Mit Recherchen von<br />
Moritz Baumstieger<br />
Vater und Söhne: Lothar Bücher mit Marius (r.) und<br />
norman im Garten der rehaklinik Waldbronn