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Das Wunder am Berg - Felix Hutt | journalism

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■2 Deutschland<br />

<strong>Das</strong> <strong>Wunder</strong> <strong>am</strong> <strong>Berg</strong><br />

Fünf Tage wurde er in den Alpen vermisst: Lothar Bücher, <strong>Berg</strong>steiger aus<br />

Leidenschaft, galt als tot. NUR SEIN SOHN spürte, dass das nicht sein konnte<br />

Lediglich 2259 Meter hoch und doch wegen der steilen Grashänge eine<br />

der gefährlichsten <strong>Berg</strong>routen der Alpen: die Höfats bei Oberstdorf<br />

96 stern 51/2011


■2 Deutschland<br />

Fünf Tage lang suchte die Polizei das Gelände ab –<br />

aber es gab keine Spur des Vermissten<br />

98 stern 51/2011<br />

Knochen- und Halswirbelbrüche, ein Infarkt des Kleinhirns: Lothar Bücher, 55,<br />

überlebte, weil sein Sohn sich noch einmal auf die Suche machte


■2 Deutschland<br />

Von FeLIx HuTT (Text)<br />

und BerT HeInzLMeIer (Fotos)<br />

Der Vater und der Sohn sit-<br />

zen im Krankenzimmer<br />

der Rehaklinik und suchen<br />

nach Erklärungen.<br />

Aber sie finden keine. Nicht dafür,<br />

dass Lothar Bücher noch lebt.<br />

Und was es war, das den Sohn<br />

zum Vater in den <strong>Berg</strong> lenkte und<br />

ihn finden ließ. Im letzten Moment.<br />

<strong>Das</strong> Schulterblatt des Vaters ist<br />

zertrümmert, zwei Halswirbel<br />

und mehrere Rippen sind gebrochen,<br />

er hat einen Kleinhirninfarkt<br />

erlitten. Seine Muskeln haben<br />

sich zurückgebildet, er wiegt<br />

zu wenig, trotzdem fühlt er sich<br />

„verd<strong>am</strong>mt gut“, weil er eigentlich<br />

nicht mehr leben dürfte.<br />

Sie sind sich ähnlich, Lothar<br />

Bücher, 55, und sein Sohn Marius,<br />

30, der Mathematik <strong>am</strong> Gymnasium<br />

unterrichtet. Sie haben die<br />

gleiche Nase und Statur, Spaß da-<br />

ran, über das All, den Urknall, den<br />

Sinn von Zeit zu philosophieren.<br />

Sie erklären sich die Welt über Naturwissenschaften,<br />

nicht über Religion,<br />

für sie zählt, was sie berechnen<br />

können, was sie wissen, nicht,<br />

was sie glauben.<br />

<strong>Das</strong> Wort „<strong>Wunder</strong>“ gehört nicht<br />

zu ihrem Wortschatz. So wollen<br />

sie auch nicht nennen, was ihnen<br />

widerfahren ist. „Es war Glück“,<br />

sagt der Vater, mehr fällt ihm nicht<br />

ein. Der Sohn schweigt. Ihr Problem<br />

ist: Für Glück gibt es keine<br />

mathematische Formel. Es lässt<br />

sich nicht berechnen.<br />

Einige Wochen zuvor, <strong>am</strong><br />

23. September 2011 im Allgäu.<br />

Lothar Bücher verlässt bei Sonnenaufgang<br />

die Pension Boxler,<br />

die auf einem Plateau nordöstlich<br />

von Oberstdorf liegt, und steigt<br />

auf sein schwarzes Mountainbike.<br />

Am Abend sei er zurück,<br />

sagt er der Wirtin.<br />

Vor einer Woche hat er den Königsjodler<br />

erklommen, einen an-<br />

spruchsvollen Klettersteig in Österreich.<br />

Allein, zum ersten Mal,<br />

seine <strong>Berg</strong>freunde konnten nicht<br />

mit. <strong>Das</strong> hat ihm so viel Auftrieb<br />

gegeben, dass er gleich darauf<br />

hierhergefahren ist, wieder allein.<br />

Bücher, 1,83 Meter, 70 Kilogr<strong>am</strong>m,<br />

fühlt sich topfit.<br />

Er radelt hinab nach Oberstdorf,<br />

das für seine Skischanze bekannt<br />

ist. Die Allgäuer Alpen sind<br />

bei <strong>Berg</strong>freunden beliebt, sie sind<br />

nicht so überlaufen. Die Bedingungen<br />

für seine <strong>Berg</strong>tour sind<br />

ideal, es ist Altweibersommer, der<br />

Himmel wolkenlos, der Wind<br />

still, die erwartete Höchsttemperatur:<br />

25 Grad.<br />

Der Fahrtwind flattert in seiner<br />

Windjacke, im Rucksack schaukelt<br />

das Gipfelbier, das den Tag<br />

oben krönen soll. Bücher passiert<br />

Weiden, den Golfplatz, die Langlaufloipe,<br />

fährt steil die Straße<br />

den <strong>Berg</strong> hinauf.<br />

Er ist ein <strong>Berg</strong>profi. Seit vielen<br />

Jahren entkommt er dem Alltag<br />

als EDV-Koordinator in einer<br />

Verpackungsfirma durch seinen<br />

Sport. Bücher hat den Mont<br />

Blanc, das Matterhorn, die Eigernordwand,<br />

alle großen Gipfel der<br />

Alpen bestiegen. Seine Marathonbestzeit<br />

ist 2:54 Stunden. Morgens<br />

radelt er die 17 Kilometer<br />

von seiner Wohnung zur Arbeit,<br />

abends zurück, da kann Petrus<br />

anstellen, was er will. „Aktivsein<br />

im <strong>Das</strong>ein hebt die Frage nach<br />

dem Warum des Lebens auf“, lautet<br />

sein Lebensmotto. Er hat es<br />

von Reinhold Messner übernommen,<br />

den Extrembergsteiger verehrt<br />

er.<br />

Nach einer Stunde erreicht er<br />

das <strong>Berg</strong>dorf Gerstruben,<br />

steht vor einem Gasthof,<br />

die Terrasse in der Sonne lockt<br />

zum Einkehren. Aber mit dem<br />

Gemütlichen hat es Bücher nicht<br />

so. Er will die Höfats besteigen,<br />

die wegen ihres vierzackigen Gipfels<br />

oft mit einer gotischen Kathe-<br />

drale verglichen wird. Kein leichter<br />

Aufstieg. Es sind nicht seine<br />

2259 Meter Höhe, die Alpinisten<br />

von dem <strong>Berg</strong> ehrfürchtig wie von<br />

einem wilden Tier erzählen lassen,<br />

es sind die steilen Grashänge,<br />

die ihn so gefährlich machen.<br />

Die Flanken der Höfats sind berühmt<br />

für Edelweiße. Und für Abstürze,<br />

die fast immer tödlich enden.<br />

Die Hänge sind bis zu<br />

80 Grad steil und mit langem<br />

Gras bewachsen, das bei einem<br />

Sturz umbiegt und eine Oberfläche<br />

bildet, die sehr viel rutschiger<br />

ist als etwa steiniges Gelände.<br />

Stürze an der Höfats enden meist<br />

Hunderte Meter abwärts. In den<br />

vergangenen 30 Jahren konnte<br />

dort nur einmal eine <strong>Berg</strong>steigerin<br />

lebend geborgen werden.<br />

Lothar Bücher stellt sein Fahrrad<br />

an einem Holzschuppen neben<br />

der Kapelle ab und geht zu Fuß<br />

weiter. Zu seiner Linken ragen Felsen<br />

empor. Mächtige Fichten und<br />

kleine Ahornbäume bilden einen<br />

mal lichten, mal dichten Wald.<br />

Gegen neun Uhr erreicht er die<br />

Gerstruber Alpe und fragt die Sennerin<br />

nach dem Einstieg in die<br />

Höfats, der nicht ausgeschildert<br />

ist, d<strong>am</strong>it ungeübte Wanderer<br />

nicht auf die Idee kommen, sich<br />

an dem <strong>Berg</strong> zu versuchen. Bücher<br />

macht auf die Sennerin<br />

einen erfahrenen Eindruck, sie<br />

erklärt ihm den Weg: beim Hochsitz<br />

nach dem zweiten Tobel,<br />

einer trichterförmigen Einbuchtung,<br />

links in den <strong>Berg</strong>.<br />

Bücher bedankt sich. Er biegt<br />

etwas später hinter dem Hochsitz<br />

ab, verpasst den richtigen Einstieg<br />

und geht zu spät in den <strong>Berg</strong>.<br />

Nach einigen Metern wird das<br />

Gelände hier <strong>am</strong> Südwestgrat so<br />

steil, dass ein Fehltritt zum Absturz<br />

führen würde. Der <strong>Berg</strong>steiger<br />

hat seine Steigeisen dabei, die<br />

man eigentlich für Gletscher und<br />

Schneefelder benutzt, um besseren<br />

Halt zu haben. Noch drei bis<br />

vier Stunden bis zum Gipfel.<br />

Am nächsten Tag, S<strong>am</strong>stag dem<br />

24. September 2011, zieht sich<br />

sein Sohn Marius Bücher gegen<br />

Mittag in der Umkleide des<br />

Schwimmbads in Ettlingen gerade<br />

um, als sein Handy klingelt.<br />

Seine Mutter ist dran, sie ist be-<br />

unruhigt, erzählt, dass <strong>am</strong> Morgen<br />

die Polizei sie besucht habe,<br />

weil der Vater <strong>am</strong> Abend nicht<br />

zur Pension zurückgekehrt sei. Er<br />

werde vermisst.<br />

Marius Bücher sagt ihr, dass er<br />

gleich vorbeikommen werde. Von<br />

Ettlingen bis Waldbronn ist es nicht<br />

weit. Er schwimmt ein paar Bahnen.<br />

Denkt nach. Weiß, dass seinem<br />

Vater etwas Schlimmes widerfahren<br />

sein muss. Der ist kein<br />

Mann für riskante Aktionen, plant<br />

seine Touren akribisch und hat<br />

kein Problem, auch mal einen Gipfel<br />

sausen zu lassen, wenn zum Beispiel<br />

das Wetter kippt. Er kennt ihn<br />

gut, ihm geht es in den <strong>Berg</strong>en um<br />

das Erleben, nicht das Überleben.<br />

Die Mutter hat fast den ganzen<br />

Tag mit der Polizei in Oberstdorf<br />

telefoniert, als Marius und sein<br />

Bruder Norman eintreffen. Die<br />

Büchers sind viel zus<strong>am</strong>men, halten<br />

zus<strong>am</strong>men. Sonntags gibt es<br />

Kaffee und Kuchen, und wenn Lothar<br />

Bücher in Rom oder Barcelona<br />

Marathon läuft, reisen die anderen<br />

mit.<br />

Ob es Streit zwischen ihr und<br />

ihrem Mann gegeben habe, ob es<br />

sein könne, dass er sich abgesetzt<br />

oder umgebracht habe. Was die<br />

Polizei für Fragen stelle, sagt die<br />

Mutter. Nein, habe sie gesagt,<br />

„undenkbar“.<br />

Helga Bücher ist irritiert, erschöpft.<br />

Die Söhne übernehmen<br />

die Telefonate.<br />

Norman, der 33-Jährige, hat den<br />

Sinn für Ausdauersport von seinem<br />

Vater geerbt und professionalisiert.<br />

Er ist Extremläufer, verdient<br />

sein Geld mit Vorträgen, bei<br />

denen er Mitarbeiter von Firmen<br />

mit Berichten von seinen Ultr<strong>am</strong>arathons<br />

zu motivieren versucht.<br />

Er war oft mit seinem Vater<br />

in den <strong>Berg</strong>en, kennt sich aus.<br />

Deshalb ruft er jetzt Horst Engelhardt,<br />

59, an. Der Polizist der Alpinen<br />

Einsatzgruppe Oberstdorf<br />

leitet die Suche.<br />

Engelhardt hat schlechte Nachrichten.<br />

Er erzählt, dass Männer<br />

zu Fuß in den <strong>Berg</strong> geschickt worden<br />

seien, man mit einem Helikopter<br />

mehrfach die Hänge der<br />

Höfats abgeflogen sei. Die Sicht<br />

sei hervorragend gewesen, doch<br />

gefunden habe man niemanden.<br />

Man habe nach <strong>Berg</strong>dohlen, Krähen<br />

und Adlern Ausschau gehalten,<br />

weil diese Aasfresser über<br />

Leichen kreisen. Ohne Erfolg. Ein<br />

Kollege der <strong>Berg</strong>wacht habe oben<br />

auf der Höfats im Gipfelbuch<br />

nachgesehen, ob der Vater sich<br />

eingetragen habe. Habe er nicht.<br />

Alles spreche für einen Absturz<br />

beim Aufstieg, die Chancen, den<br />

zu überleben, seien sehr gering.<br />

Die Büchers sollten sich auf das<br />

Schlimmste gefasst machen.<br />

Am Sonntag werden die Nachrichten<br />

nicht besser. Polizisten<br />

haben Almen, Krankenhäuser<br />

und Pensionen abgeklappert, sagt<br />

Engelhardt, die Suchmeldung<br />

über die Presse blieb ohne Rückmeldung.<br />

Wieder sind erfahrene<br />

Männer der <strong>Berg</strong>wacht ins Gelände<br />

gegangen, haben die Suche auf<br />

angrenzende Gebiete erweitert,<br />

der Helikopter sei den ganzen Tag<br />

langs<strong>am</strong> an der Höfats entlanggeflogen<br />

– nichts. Die Wahrscheinlichkeit,<br />

dass Lothar Bücher noch<br />

lebe, sei sehr gering.<br />

Die Büchers nehmen die Botschaften<br />

ruhig auf, Emotionen zu<br />

zeigen ist nicht ihre Art. Sie sprechen<br />

über die Möglichkeiten, die<br />

sie haben, sind sich einig, dass<br />

sie den Rettungskräften vertrauen<br />

können. <strong>Das</strong>s es falsch wäre,<br />

jetzt aufzubrechen und auch<br />

noch in den <strong>Berg</strong> zu gehen. <strong>Das</strong><br />

würde die systematische Suche<br />

nur behindern.<br />

Sie beginnen über das zu sprechen,<br />

was auf sie zukäme, wenn<br />

der Vater und Ehemann verschollen<br />

bliebe: Anrufe bei Bekannten,<br />

Verwandten, Versicherungen, bei<br />

seiner Arbeit, bei einem Bestattungsinstitut.<br />

Aber wie beerdigt<br />

man einen Toten, dessen Leiche<br />

man nicht findet?<br />

Am Montagvormittag berichtet<br />

Engelhardt von etwas Dunklem,<br />

das sie aus dem Helikopter<br />

in einer Mulde gesehen haben.<br />

Etwas später ruft er wieder an.<br />

Es sei nur ein Baumst<strong>am</strong>m gewesen.<br />

Am Nachmittag ist er wieder<br />

<strong>am</strong> Apparat: „Wir wissen<br />

nicht mehr, was wir noch tun<br />

können.“ Lothar Bücher ist jetzt<br />

seit mehr als drei Tagen in der<br />

Höfats. Für Engelhardt und ➔<br />

nahe der Gerstruber Alpe begann<br />

Lothar Bücher den riskanten Aufstieg<br />

erst von oben gesehen wird deutlich,<br />

wie steil die Hänge an der Höfats sind<br />

Hier wurde Bücher gefunden: Horst engelhardt<br />

von der Oberstdorfer Polizei<br />

51/2011 stern 101


■2 Deutschland<br />

102 stern 51/2011<br />

die <strong>Berg</strong>wacht ist er tot. Die<br />

Suche wird eingestellt.<br />

Nach diesem letzten Anruf, der<br />

für einen Verstandesmenschen<br />

wie Marius Bücher bedeuten<br />

müsste, dass sein Vater nun endgültig<br />

verloren ist, passiert etwas.<br />

Bei ihm stellt sich plötzlich ein<br />

positives, fast optimistisches Gefühl<br />

ein. Er kann es sich nicht erklären.<br />

Aber solange sie die Leiche<br />

seines Vaters nicht bergen,<br />

denkt er, so lange besteht die<br />

Möglichkeit, dass er noch lebt.<br />

Und es wird ganz selts<strong>am</strong>. Er<br />

beginnt mit seinem Vater zu<br />

kommunizieren. Er visualisiert<br />

ihn <strong>am</strong> <strong>Berg</strong>. Stellt sich vor,<br />

wie er verletzt daliegt. „Halt<br />

durch“, sagt er zu ihm, „bald<br />

kommt Hilfe.“ Er kann nicht deuten,<br />

was mit ihm passiert, der junge<br />

Mathematiklehrer ist jeder Anwandlung<br />

von Esoterik unverdächtig.<br />

Aber da sei etwas gewesen,<br />

das habe ihn gezogen.<br />

Als die Suche <strong>am</strong> Dienstag eingestellt<br />

bleibt, ruft er Simon an,<br />

den Bruder seiner Freundin, ob<br />

der ihn nach Oberstdorf fahren<br />

könne. Denn er selbst geht nach<br />

einer Operation <strong>am</strong> Fuß gerade<br />

an Krücken.<br />

Eigentlich wollte die F<strong>am</strong>ilie<br />

erst <strong>am</strong> Wochenende fahren, um<br />

die Sachen von der Polizei abzuholen,<br />

die Pension zu bezahlen.<br />

Jetzt kommt Marius Bücher <strong>am</strong><br />

Mittwoch an, dem 28. September<br />

2011, fünf Tage nach dem Verschwinden<br />

seines Vaters. Er trägt<br />

feste Schuhe und hat das Suchfoto<br />

seines Vaters dabei, vielleicht hat<br />

ihn ja doch jemand gesehen. Er<br />

hat ein mulmiges Gefühl, Angst<br />

vor der Gewissheit. Und doch ist<br />

er irgendwie auch von einer anderen<br />

Gewissheit getragen.<br />

„Was hast du gespürt? Was hat<br />

dich veranlasst zu fahren?“, fragt<br />

der Vater Wochen später in der<br />

Reha in Waldbronn. „Ich weiß es<br />

nicht, Vater“, antwortet der Sohn,<br />

„ich musste es einfach tun.“<br />

Vor der Polizeistation treffen<br />

sie an diesem Mittwoch Horst Engelhardt.<br />

Über eine Stunde erklärt<br />

der in seinem Büro, wie Polizei<br />

und <strong>Berg</strong>wacht bei der Suche<br />

vorgegangen sind, zeigt <strong>am</strong> Com-<br />

puter die GPS-Aufzeichnungen<br />

der Such flüge. Auf dem Schirm<br />

wickeln die Linien der Flüge die<br />

Höfats ein wie L<strong>am</strong>ettagirlanden<br />

den Christbaum. Langs<strong>am</strong> wandelt<br />

sich Marius Büchers Gefühl<br />

von mulmig zu verzweifelt, er begreift,<br />

was alles mit welcher Akribie<br />

unternommen wurde, um seinen<br />

Vater zu finden.<br />

Gegen fünf Uhr nachmittags<br />

fährt Engelhardt Marius Bücher<br />

und Simon im blauen Landrover<br />

der Polizei an den <strong>Berg</strong>. Marius<br />

sitzt auf dem Beifahrersitz, Simon<br />

hinter ihm. Der Polizist fährt die<br />

Strecke, die Lothar Bücher genommen<br />

hat, vorbei an Weiden,<br />

dem Golfplatz, der Loipe, nach<br />

20 Minuten erreichen sie Gerstruben.<br />

Engelhardt beschreibt, wo<br />

Lothar Bücher die Sennerin nach<br />

dem Weg gefragt hat. Sie fahren<br />

weiter, rechts das Tal und links die<br />

immer steiler werdenden Hänge.<br />

Diese Hänge, und all die vergeblichen<br />

Anstrengungen von Engelhardt<br />

und seinen Leuten. Marius<br />

Büchers Optimismus schwin det.<br />

Noch ein paar Meter, dann werden<br />

sie wenden, dann geht es zurück.<br />

Sein Verstand sagt ihm, dass<br />

es das war.<br />

Engelhardt fährt etwas langs<strong>am</strong>er,<br />

zeigt auf einen Hang zur Linken,<br />

erklärt, wo der Vater wahrscheinlich<br />

in den <strong>Berg</strong> gestiegen<br />

sei. Simon rutscht auf der Rückbank<br />

hinter den Fahrersitz, d<strong>am</strong>it<br />

er besser sehen kann. Auf einmal<br />

schreit er: „Da liegt doch einer!“<br />

Marius Bücher denkt: <strong>Das</strong> könnte<br />

er sein. Dann: Blödsinn. Engelhardt<br />

schaut den Hang hoch, flüstert:<br />

„Da liegt einer.“ Marius Bücher<br />

kann es kaum hören, spürt<br />

aber, dass der Polizist nicht an<br />

einen Wanderer denkt, der sich<br />

da oben, 40 Meter im Hang, ausruht.<br />

Engelhardt reißt die Tür auf,<br />

rennt los, Simon hinterher, Marius<br />

Bücher versucht auf Krücken<br />

zu folgen, schmeißt sie weg, klettert<br />

auf Händen und Füßen. Engelhardt<br />

erreicht den Mann als<br />

Erster, ruft: „Er ist es.“<br />

Dann kniet der Sohn neben<br />

dem Vater. „Du hast es geschafft,<br />

du lebst“, sagt der Sohn, leise und<br />

immer wieder, Tränen stehen in<br />

seinen Augen.<br />

Lothar Büchers Kleidung ist voller<br />

Moos, er trägt nur einen Socken,<br />

riecht nach Schweiß und Fäkalien.<br />

Sein Gesicht ist blau angelaufen.<br />

Er muss gestürzt und mit<br />

dem Kopf aufgeschlagen sein, er<br />

hat einen Kleinhirninfarkt erlitten.<br />

Der <strong>Berg</strong>wanderer ist kaum ansprechbar,<br />

weiß in dem Moment<br />

nicht, warum er hier <strong>am</strong> <strong>Berg</strong> liegt.<br />

Er weiß nicht, wie er gestürzt ist,<br />

und auch nicht, wo. In der Nähe<br />

der Stelle, an der er liegt, oder etwas<br />

weiter oben, <strong>am</strong> glatten Grashang.<br />

Sein Blick geht ins Leere.<br />

Und er weiß nicht, dass es schon<br />

fünf Tage sind, die man ihn vermisst<br />

hat. Seine Lippen haben Risse,<br />

er ist abgemagert und völlig<br />

ausgetrocknet, fünf Tage ohne<br />

Wasser. Sanitäter lernen, dass man<br />

nach drei Tagen stirbt.<br />

Auch der erfahrene Polizist<br />

Horst Engelhardt sucht nach Erklärungen<br />

für das, was er noch<br />

nicht erlebt hat. Der Verletzte<br />

muss während der Suche in einer<br />

Mulde oder unter einem Baum<br />

gelegen haben, ohne Bewusstsein<br />

und deshalb unfähig, irgendein<br />

Zeichen zu geben. Nur so kann er<br />

sich erklären, dass Bücher vom<br />

Hubschrauber aus nicht zu entdecken<br />

gewesen sei.<br />

Er kann noch nicht lange an<br />

der Stelle gelegen haben, an<br />

der sie ihn fanden, weil ihn<br />

sonst Wanderer bemerkt hätten.<br />

Er muss sich erst in den letzten<br />

Stunden den <strong>Berg</strong> hinuntergearbeitet<br />

haben, zentimeterweise.<br />

Als hätte er auf seinen Sohn gewartet.<br />

Es wird ein Rätsel bleiben. Lothar<br />

Bücher weiß bis heute nicht,<br />

was nach dem Einstieg geschehen<br />

ist. Er erinnert sich auch Wochen<br />

nach dem Unfall nicht, sosehr er<br />

nachdenkt. „Da ist nichts, alles ist<br />

schwarz. Blackout“, sagt er. Und<br />

er wird wohl niemals sagen können,<br />

was ihn an diese Stelle gezogen<br />

hat, an der der Sohn ihn fand.<br />

Lothar Bücher glaubt nicht an<br />

ein <strong>Wunder</strong>, an Gott, an ein<br />

Leben nach dem Tod. Auch wenn<br />

sein eigenes längst begonnen<br />

hat.<br />

2<br />

Mit Recherchen von<br />

Moritz Baumstieger<br />

Vater und Söhne: Lothar Bücher mit Marius (r.) und<br />

norman im Garten der rehaklinik Waldbronn

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