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Ralf-Michael Fischer - TOBIAS-lib

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<strong>Ralf</strong>-<strong>Michael</strong> <strong>Fischer</strong> La Jetée<br />

La Jetée, gesehen als medial überformte Fluchtphantasie<br />

Auch wenn in diesem Sammelband der Bezug auf Lotte Reiniger im Vordergrund steht, soll zum<br />

Schluss die Gelegenheit genutzt werden, einen neuen Interpretationsvorschlag für La Jetée an-<br />

zudenken: Thomas Tode interpretiert die Zeitreisen und das Wiedersehen mit der Geliebten in<br />

der Vergangenheit plausibel als Phantasien, mit denen der Protagonist sich aus seiner Gefangen-<br />

schaft im unterirdischen deutschen Konzentrationslager träumt und womit er schließlich schei-<br />

tern muss. 53 Er begründet diese Deutung mit einem Text aus dem Jahr 1994, in dem Chris Marker<br />

den zweiten Teil von Hitchcocks Vertigo scharfsichtig als Wahnvorstellung, als Fiebertraum inter-<br />

pretiert, mit dem die Hauptfigur Scottie (gespielt von James Stewart) den traumatischen Tod der<br />

Geliebten zu bewältigen versucht. 54 Allerdings werden dem Publikum in La Jetée noch mehr In-<br />

formationen vorenthalten, um klare Bedeutungsfixierungen und einen unhinterfragbaren Hand-<br />

lungsverlauf zu unterstellen. Selbst der durchgehende, suggestive Augenzeugencharakter, mit<br />

dem die Fotografien die Echtheit aller Ereignisse vorgaukeln, wird instabil, weil keine Brüche<br />

zwischen Diegese und einer mutmaßlichen Traumwelt innerhalb jener erkennbar sind. Diese Of-<br />

fenheit des Films gestattet es, im Anschluss an Tode eine etwas andere Interpretationsrichtung<br />

einzuschlagen, um Facetten ins Licht zu rücken, denen bislang zu wenig Beachtung zuteil wurde.<br />

Viele Indizien sprechen für die Gefangenschaft des Protagonisten in einem deutschen Lager, da-<br />

runter die deutschen voice-over-Stimmen seiner Peiniger. Ungesichert ist hingegen, ob er wirklich<br />

in Zeitreiseversuche verwickelt ist oder ob ihm Zeitreisephantasien als imaginäre Flucht vor den<br />

Qualen wissenschaftlicher Experimente oder gegebenenfalls sogar vor einer Folter dienen, mit<br />

der ihm wichtige Informationen entrissen werden sollen. Ein vager Hinweis auf eine derartige<br />

Ausgangssituation scheint im Kommentar zur ersten Kontaktaufnahme mit der Vergangenheit<br />

auf, als „des images commencent à sourdre, comme des aveux“ 55 .Gerade die Visualisierung der<br />

ersten Zeitreise, die in bisherigen Deutungen vernachlässigt wurde, weckt Zweifel an deren Echt-<br />

heit (Abb. 10–17). Ihre 17 Einstellungen sind eigentlich Plansequenzen, also Sequenzen mit nur ei-<br />

ner einzigen Einstellung, die hier zunächst durch Schwarzblenden, dann durch Überblendungen<br />

separiert werden – die Nähe zu einer Dia-Show ist in dieser Sequenz am größten. 56 Die meisten<br />

dieser Einstellungen wirken überdies äußerst fotografisch in dem Sinn, dass es sich um in sich ab-<br />

geschlossene Kompositionen handelt, die im Gegensatz zum Erinnerungsbild des Protagonisten<br />

nicht das Gepräge eines flüchtigen Moments aufweisen.<br />

53 Vgl. Tode 2010b, 32–33 (wie Anm. 43).<br />

54 Vgl. Marker, Chris: A free replay: Notizen zu ‚Vertigo‘. In: Kämper/Tode (Hg.) 1997 (1994), 182-192, hier 187-189 (wie<br />

Anm. 43).<br />

55 Vgl. La Jetée (1962/2007), 0:11:05–0:11.12 (wie Anm. 4); zur Übersetzung vgl. La Jetée (Frankreich 1962). DVD, PAL.<br />

1:1,66. Schwarzweiß. Frz. Originalfassung m. dt. U., 26 Min. TV-Aufzeichnung (14.08.2005), 0:10:02–0:10:08: „[...] Bilder<br />

beginnen hervorzubrechen wie Geständnisse“.<br />

56 Vgl. La Jetée (1962/2007), 0:11:08–0:12:56 (wie Anm. 4).<br />

http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:21-opus-61484<br />

reflex 5.2012<br />

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