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INFO-BRIEF N°3<br />

SEPTEMBER <strong>2011</strong><br />

FRAU GEHT VOR<br />

03/<strong>2011</strong><br />

WENN FRAUEN<br />

DAS GELD VERDIENEN<br />

FAMILIENERNÄHRERINNEN:<br />

HERAUSFORDERUNG AN POLITIK UND GESELLSCHAFT


INHALT<br />

SCHWERPUNKT: FAMILIENERNÄHRERINNEN<br />

Frischer Wind aus Europa! ------------------------------------------ 2<br />

Wechsel in der Frauenpolitik – Vom <strong>DGB</strong> zum EGB nach Brüssel<br />

Grußwort Dr. Kristina Schröder ----------------------------------- 3<br />

Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend<br />

Frauenpolitische Forderungen in neuem Licht -------------- 4<br />

Familienernährerinnen brauchen geschlechtergerechte Arbeitswelt<br />

Wer ernährt die Familie? --------------------------------------------- 5<br />

<strong>DGB</strong>-Projekt entwickelt politische Handlungsansätze<br />

INTERVIEW ---------------------------------------------------------------- 7<br />

Umdenken muss früher anfangen<br />

Neue Rollenbilder:<br />

Herausforderung an Frauen, Männer und die Politik<br />

Verantwortungslast oder Verlustängste?------------------------ 9<br />

Vom Lösen und Festhalten am männlichen Ernährermodell<br />

Doppelt belastet und am Limit ---------------------------------- 12<br />

Familienernährerinnen: Spagat zwischen Arbeit und Privatleben<br />

Hochqualifizierte Familienernährerinnen -------------------- 14<br />

Unabhängig und doch in alten Rollenmustern verhaftet<br />

Haushaltsnahe Dienstleistungen ------------------------------- 15<br />

Chance oder Zementierung der Geschlechterverhältnisse<br />

Lösungsvorschläge aus der Praxis ----------------------------- 18<br />

Online-Diskussion zeigt vielfältige Ergebnisse<br />

INTERNATIONALER FRAUENTAG ------------------------------- 20<br />

Die wichtigsten Stationen der Gleichberechtigung<br />

IV. Teil – Von den 68ern bis zur Wiedervereinigung<br />

AUSBLICK -------------------------------------------------------------- 24<br />

INFO-BRIEF 3/11<br />

2<br />

FRISCHER WIND AUS EUROPA<br />

WECHSEL IN DER FRAUENPOLITIK<br />

VOM <strong>DGB</strong> ZUM EGB NACH BRÜSSEL<br />

CLAUDIA MENNE IST SEIT JUNI <strong>2011</strong> IM BUNDES-<br />

SEKRETARIAT DES EUROPÄISCHEN GEWERK-<br />

SCHAFTSBUNDES UNTER ANDEREM ZUSTÄNDIG<br />

FÜR GLEICHSTELLUNGS- UND SOZIALPOLITIK. SIE<br />

LEITETE DEN BEREICH GLEICHSTELLUNGS- UND<br />

FRAUENPOLITIK BEIM <strong>DGB</strong> BUNDESVORSTAND<br />

VON 2005 BIS <strong>2011</strong>.<br />

Nach mehr als sechs Jahren als Herausgeberin des Infobriefes<br />

möchte ich mich in dieser Ausgabe von meinen LeserInnen und der<br />

Redaktion verabschieden und mich für die gute Zusammenarbeit in<br />

dieser Zeit bedanken. Wir haben in den vergangenen Jahren viele<br />

politische Themen bewegt und dabei einiges in Bewegung<br />

gebracht.<br />

Seit Juni <strong>2011</strong> arbeite ich nun für die deutschen und europäischen<br />

Gewerkschaften in Brüssel. Dabei bleibe ich der Gleichstellungspolitik<br />

und der Antidiskriminierungsarbeit treu. Daher ist es vielmehr<br />

ein Wechsel und kein wirklicher Abschied. Gerade das Thema dieser<br />

Ausgabe, die wachsende Zahl von Familienernährerinnen, soll auch<br />

Eingang in die Arbeit des Europäischen Gewerkschaftsbundes (EGB)<br />

finden. Während des EGB Kongresses im Mai in Athen haben wir<br />

damit begonnen, auf dieses Phänomen aufmerksam zu machen.<br />

Leider kommen aus Brüssel derzeit eher schlechte (Krisen-)Nachrichten,<br />

die auch das Vertrauen in eine gemeinsame europäische<br />

Zukunft erschüttern. Gerade jetzt kommt es darauf an, die Segel<br />

richtig zu setzen – hin auf eine wirkliche europäische Gemeinschaft,<br />

in der sozialer Fortschritt und nicht der Rotstift regiert.<br />

Ich erinnere mich noch gut an eine Ausgabe des Fraueninfobriefes<br />

aus dem Jahr 2006 mit dem Titel „Frischer Wind oder Flaute? Neue<br />

Gleichstellungspolitik für Europa“. So hoffe ich, bald vom frischen<br />

Wind aus Europa berichten zu können.<br />

Herzliche Grüße<br />

Claudia Menne


Grußwort<br />

der Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend,<br />

Dr. Kristina Schröder<br />

Sonderpublikation des <strong>DGB</strong> zum Thema Familienernährerinnen<br />

Unsere Arbeitswelt hat mit den gesellschaftlichen Entwicklungen nicht Schritt gehalten. Sie ist zugeschnitten auf den männlichen<br />

Hauptverdiener, dem eine Frau den Rücken frei hält. Aktuelle Forschungen zeigen aber, dass bereits heute in jedem fünften Mehrpersonenhaushalt<br />

Frauen das Haupteinkommen beziehen. Damit sind sie die Familienernährerinnen. Die Hälfte von ihnen leben<br />

mit ihren Kindern allein, bei der anderen Hälfte handelt es sich um Frauen, deren<br />

(Ehe-)Partner nicht erwerbstätig ist oder deutlich weniger verdient.<br />

Das weibliche Haupternährermodell ist aber kein männliches Alleinernährermodell mit umgekehrtem Vorzeichen. Denn während<br />

bei Vätern ganz selbstverständlich unterstellt wird, dass sie mit ihrem Einkommen eine Familie ernähren, reagiert bei Müttern das<br />

soziale Umfeld häufig so, als sei der Beruf nur ein „Zuverdienst“. Hinzu kommt: Familienernährerinnen leiden häufig unter einer<br />

Doppelbelastung aus Einkommenssicherung und Fürsorgeaufgaben. Oft fehlen verlässliche Partner: zuhause, in ihrem Umfeld und<br />

im Arbeitsleben.<br />

Das Bundesfamilienministerium sucht deshalb gemeinsam mit dem <strong>DGB</strong> nach Möglichkeiten, Familienernährerinnen stärker als<br />

bisher zu unterstützen. Der besseren Förderung von haushaltsnahen Dienstleistungen muss dabei in meinen Augen eine zentrale<br />

Rolle zukommen. Denn sie entlasten erwerbstätige Frauen, eröffnen ihnen neue Möglichkeiten und geben ihnen – ob als Wiedereinsteigerin,<br />

Führungskraft oder als Familienernährerin – Zeit für Verantwortung in Familie und Beruf. Die bessere Förderung<br />

haushaltsnaher Dienstleistungen erleichtert den Alltag von Frauen, die im Beruf und in der Familie stark gefordert sind.<br />

Darüber hinaus muss es darum gehen, Arbeitsbedingungen und Arbeitszeitregelungen zu entwickeln, die nicht länger auf den<br />

männlichen Alleinernährer und die weiblichen Zuverdienerin zugeschnitten sind. Dazu brauchen wir eine Arbeitswelt, die es beiden<br />

Elternteilen ermöglicht, eine Auszeit nach der Geburt zu nehmen, in Teilzeit oder flexiblen Arbeitszeitmodellen zu arbeiten,<br />

ohne dadurch ihre berufliche Entwicklung zu gefährden. Erst dadurch bekommen Frauen und Männer die Chance, sich familiäre<br />

Fürsorgeaufgaben partnerschaftlich zu teilen und für sich selbst abseits der klassischen Rollenmuster Wege der Vereinbarkeit von<br />

Beruf und Familie zu finden. Dafür setze ich mich auch im Rahmen des Unternehmensprogramms „Erfolgsfaktor Familie“ und der<br />

Initiative „Familienbewusste Arbeitszeiten“ ein.<br />

Ich begrüße und unterstütze das <strong>DGB</strong>-Projekt zur Verbesserung der Situation der Familienernährerinnen. Es wird helfen,<br />

die Situation der Familienernährerinnen bekannt zu machen und neue Handlungsansätze zu entwickeln, um Frauen als Haupternährerinnen<br />

zu entlasten. Unser gemeinsames Ziel sollte es dabei sein, faire Chancen und Familienfreundlichkeit zu<br />

Markenzeichen der deutschen Wirtschaft zu machen!<br />

Mit freundlichen Grüßen<br />

Dr. Kristina Schröder


FRAUENPOLITISCHE<br />

FORDERUNGEN IN NEUEM LICHT<br />

FAMILIENERNÄHRERINNEN BRAUCHEN<br />

GESCHLECHTERGERECHTE ARBEITSWELT<br />

INGRID SEHRBROCK, STELLVERTRETENDE<br />

VORSITZENDE DES DEUTSCHEN GEWERKSCHAFTS-<br />

BUNDES, IST UNTER ANDEREM ZUSTÄNDIG FÜR<br />

DIE ABTEILUNGEN FRAUEN, GLEICHSTELLUNGS-<br />

UND FAMILIENPOLITIK, BILDUNGSPOLITIK UND<br />

BILDUNGSARBEIT.<br />

Immer mehr Frauen verdienen 60 Prozent und mehr des<br />

Haushaltseinkommens und ernähren damit sich selbst sowie<br />

Partner und/oder Kinder. Diese Frauen sind Familienernährerinnen.<br />

Doch bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass<br />

Frauen unter ganz anderen Bedingungen Familienernährer<br />

sind, als dies Männern möglich ist – denn nach wie vor<br />

haben Frauen mit strukturellen Benachteiligungen und<br />

Hürden auf dem Arbeitsmarkt zu kämpfen. Das Politikentwicklungsprojekt<br />

„Familienernährerinnen“, das vom <strong>DGB</strong><br />

Bundesvorstand, Abteilung Frauen-, Gleichstellungs- und<br />

Familienpolitik initiiert sowie vom Bundesfrauenministerium<br />

finanziert wird, widmet sich dieser Gruppe Frauen. Dieses<br />

Schwerpunktheft ist Teil der Arbeit im Projekt.<br />

Dass heute zunehmend Frauen die Familie ernähren, ist ein Ergebnis<br />

des Umbruchs, in dem Deutschland sich nach wie vor befindet.<br />

Dabei spielt die größere Rolle nicht etwa das gestiegene<br />

Qualifikationsniveau der Frauen, wie man zunächst vermuten<br />

könnte. Vielmehr sind insbesondere die Reformen des Sozial- und<br />

Unterhaltsrechts sowie die Ausweitung prekärer und atypischer<br />

Beschäftigung ausschlaggebend.<br />

Verliert der männliche Ernährer des Haushalts seine Erwerbstätigkeit<br />

durch Arbeitsunfähigkeit oder Arbeitslosigkeit, so wird die Partnerin<br />

zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit verpflichtet. Ebenso wird<br />

heute im Fall einer Scheidung die Frau bereits nach den ersten drei<br />

INFO-BRIEF 3/11<br />

GRUSSWORT<br />

4<br />

Lebensjahren des jüngsten Kindes auf ihre Eigenverantwortung<br />

verwiesen. In beiden Fällen kann die Frau schnell zur Ernährerin der<br />

Familie werden. Und das, obwohl weder die Gesellschaft noch der<br />

Arbeitsmarkt auf Familienernährerinnen eingestellt sind. Denn<br />

Frauen, die die Familie ernähren, sind kein Rollenmodell. Vielmehr<br />

gilt das Gehalt der Frau meist als Zuverdienst, wohingegen das<br />

Haupteinkommen vom Mann zu erwirtschaften ist.<br />

Familienernährerinnen sprengen also viele Konventionen. Und es<br />

bedeutet auch: Familienernährerinnen bündeln wie in einem Brennglas<br />

alle existierenden strukturellen Benachteiligungen und Hürden,<br />

die ‚frau’ als Erwerbstätige haben kann. Und: diese wirken sich<br />

heute, in Zeiten in denen das Einkommen der Frau immer wichtiger<br />

für die Familie wird, umso gravierender aus. Entsprechend schwierig<br />

ist oft die Situation von Familienernährerinnen und ihren Familien.<br />

Da sind beispielsweise hochqualifizierte Familienernährerinnen, die<br />

zwar oft ein hinreichendes Einkommen erwirtschaften, jedoch<br />

gleichzeitig ohne feste Arbeitszeiten ihren Job machen und dennoch<br />

zusätzlich den Haushalt „schmeißen“. Da ist die flexibilisierte<br />

Arbeitswelt, die kaum Rücksicht auf familiäre Belange nimmt. Und<br />

da sind die Partner der Familienernährerinnen, die sich oft schwer<br />

tun mit der Rolle als Hausmann, die ihnen dann schwer fällt –<br />

zumal dies so in ihrem Leben nie geplant war. Diese und noch<br />

weitere Facetten des Themas „Familienernährerinnen“ sollen in<br />

dieser Ausgabe des Infobriefs näher beleuchtet werden. Wir danken<br />

allen Beteiligten für ihre Beiträge!<br />

Uns Frauenpolitikerinnen gibt das Thema „Familienernährerinnen“<br />

jedoch die Chance, alte Forderungen in einem neuen Licht zu diskutieren<br />

sowie mit einer neuen Dringlichkeit zu unterfüttern. Mit der<br />

Etablierung des Politikentwicklungsprojekts „Familienernährerinnen“<br />

sowie dem Eingehen der Strategischen Partnerschaft mit<br />

dem Bundesfrauenministerium wollen wir <strong>DGB</strong>-Frauen diesem Ziel<br />

gerecht werden. Es ist nun endlich Zeit für eine geschlechtergerechte<br />

Arbeitswelt – für eine Welt in der Familienernährerinnen<br />

selbstverständlich sein können!<br />

Viel Spaß bei der Lektüre wünscht<br />

Ingrid Sehrbrock


WER ERNÄHRT DIE FAMILIE?<br />

<strong>DGB</strong>-PROJEKT ENTWICKELT<br />

POLITISCHE HANDLUNGSANSÄTZE<br />

Wie werden Frauen Familienernährerinnen? Unter welchen<br />

Bedingungen leben und arbeiten sie? Fragen, denen das von<br />

der Abteilung Frauen-, Gleichstellungs- und Familienpolitik<br />

des <strong>DGB</strong> initierte Politikentwicklungsprojekt „Modell der<br />

Familienernährerin“ nachgeht. Unter der Prämisse, die oft<br />

schwierigen Arbeits- und Lebensbedingungen der Familienernährerinnen<br />

zu verbessern, sollen neue politische Handlungsansätze<br />

entwickelt und eine gesellschaftspolitische<br />

Diskussion angestoßen werden.<br />

Die Ergebnisse der beiden von der Hans-Böckler-Stiftung finanzierten<br />

Forschungsprojekte „Flexible Familienernährerinnen“ machen es<br />

deutlich: immer mehr Frauen verdienen das Hauptfamilieneinkommen.<br />

Sie verdienen mindestens 60 Prozent des Familieneinkommens und<br />

werden als „Familienernährerin“ bezeichnet. In rund 18 Prozent aller<br />

Erwerbspersonenhaushalte in Deutschland nehmen Frauen diese Rolle<br />

ein. In neun Prozent der Paarhaushalte sind sie Hauptverdienerinnen,<br />

weitere 8,8 Prozent sind alleinerziehende Mütter.<br />

Dabei gibt es zwischen den neuen und den alten Bundesländern<br />

deutliche Unterschiede. In den neuen Bundesländern verdienen die<br />

Frauen häufiger das Haupteinkommen (15,2%) als in den alten<br />

Bundesländern (9,3%). Beinahe doppelt so viele Paare wie in den<br />

alten Bundesländern verdienen im Osten zudem gemeinsam das Geld<br />

SCHWERPUNKT<br />

INFO-BRIEF 3/11<br />

5<br />

(37,3% gegenüber 21,1%). Im Westen dagegen dominiert das<br />

männliche Ernährermodell immer noch deutlich, während es im Osten<br />

nur knapp 50 Prozent der Paarhaushalte prägt. Eine vom Bundesministerium<br />

für Familie, Senioren, Frauen und Jugend <strong>2011</strong> in Auftrag<br />

gegebene Studie „Zeit für Wiedereinstieg – Potenziale und Perspektiven“<br />

kommt zu dem Ergebnis, dass rund 23 Prozent der Mütter<br />

zwischen 25 und 60 Jahren Familienernährerinnen sind. Die Daten<br />

zeigen eindrucksvoll: Familienernährerinnen sind längst eine arbeitsmarkt-,<br />

familien- und gleichstellungspolitisch wichtige, aber oft unterschätzte<br />

Gruppe.<br />

Auch weitere Erkenntnisse aus den Forschungsprojekten sind nicht<br />

ohne gesellschaftliche Brisanz. So werden Frauen meist unfreiwillig zu<br />

Familienernährerinnen, verdienen oftmals keinen ausreichenden Lohn,<br />

um die Familie zu ernähren, arbeiten in unsicheren und prekären Jobs<br />

und tragen zusätzlich die Verantwortung für die Familienarbeit. Dabei<br />

ist die Familienernährerin kein fixierter Status oder lebenslanges<br />

Schicksal, sondern eine potenzielle und realistische Phase weiblicher<br />

Lebensbiografie. Analog gilt dies auch für Männer, die aufgrund eines<br />

modernen Partnerschaftskonzepts oder ökonomischer Rahmenbedingungen<br />

nicht mehr allein die Last des Familienernährers tragen wollen<br />

oder können. Damit gewinnt weibliches Einkommen eine Bedeutung,<br />

die ihm bis heute abgesprochen wird. Es ist in weiten Teilen der<br />

Gesellschaft kein Zuverdienst mehr. Viele Familien können nicht mehr<br />

darauf verzichten.<br />

Die veränderten Lebensformen und Geschlechterrollen bringen neue<br />

Herausforderungen an Politik und Gesellschaft mit sich, die im <strong>DGB</strong>-<br />

Politikentwicklungsprojekt diskutiert werden. Den Auftakt bildete die<br />

<strong>DGB</strong>-Bundesfrauenkonferenz im Januar 2010 mit der Vorstellung der<br />

ersten Forschungsergebnisse. Mitte Juli 2010 folgte in Leipzig eine


zweite große Fachtagung, auf der mit VertreterInnen aus Wissenschaft,<br />

Politik und Zivilgesellschaft die ersten qualitativen Ergebnisse<br />

diskutiert wurden.<br />

Das Politikentwicklungsprojekt bietet neben einer Internetpräsenz<br />

(www.familienernaehrerin.de), die Ergebnisse aus den Forschungsprojekten<br />

und Publikationen aus Wissenschaft und Medien vorstellt,<br />

auch eine interaktive Online-Diskussion (Seite 18). Darüber hinaus<br />

werden in Workshops anhand konkreter Fragen Lösungen erarbeitet,<br />

aus denen notwendige politische Handlungsansätze entwickelt<br />

werden. Aus allen im Laufe der Projektzeit gewonnenen Erkenntnissen,<br />

Vorschlägen und Meinungen wird am Ende der Projektlaufzeit<br />

ein Fahrplan (Road Map) entwickelt. Er soll Wege aufzeigen, die zu<br />

einer Verbesserung und Erleichterung der Situation von Familienernährerinnen<br />

führen. Und das ist dringend notwendig, denn die<br />

Lebensituation von weiblichen Familienernährerinnen unterscheidet<br />

sich deutlich von der des männlichen Familienernährers.<br />

75 Prozent der Familienernährerinnen sind auch als Hauptverdienerin<br />

zusätzlich für Haushaltsführung und Kindererziehung zuständig und<br />

damit doppelt belastet (Seite 15). Darüber hinaus ist die Betreuungsquote<br />

für Kinder unter drei Jahren vor allem in Westdeutschland mit<br />

17 Prozent nach wie vor gering. Die schwierige Vereinbarkeit von<br />

Familie und Beruf führt zusätzlich zu Stress und Rollenkonflikten, die<br />

sich auch negativ auf die Gesundheit von Familienernährerinnen<br />

auswirken (Seite 12). Im Zuge dieser Entwicklung ist auch die Bedeutung<br />

materieller Motive für die Berufstätigkeit von Frauen gestiegen<br />

(Seite 10). So geht es Frauen zum Beispiel bei einem beruflichen<br />

SCHWERPUNKT<br />

INFO-BRIEF 3/11<br />

6<br />

Wiedereinstieg um die finanzielle Sicherung im Alter (81%), um die<br />

Existenzsicherung der Familie (81%), um die Absicherung der Familie,<br />

wenn der Partner arbeitslos wird (77%) oder um die eigene Unabhängigkeit<br />

im Falle einer Scheidung (77%). Vor diesem Hintergrund ist es<br />

politisch zwingend notwendig, den Wiedereinstieg auch nach längerer<br />

Erwerbsunterbrechung zu erleichtern und zu fördern.<br />

Zusammenfassend ist festzustellen: Familienernährerinnen sind eine<br />

heterogene Gruppe von Frauen, denen gemeinsam ist, dass sie in<br />

voller Verantwortung den Lebensunterhalt für sich, ihre Kinder und<br />

gegebenenfalls ihren Partner erwirtschaften. Jedoch mehrheitlich<br />

nicht unter den gleichen Bedingungen wie der männliche Familienernährer.<br />

Stattdessen sind es oft eher schwierige, fragile und unfreiwillige<br />

Arrangements, in denen Frauen unter prekären Bedingungen<br />

die Familie versorgen, weil sie in der Regel weniger Geld verdienen.<br />

Zusätzlich tragen sie gleichzeitig – neben ihrem Haupteinkommensbezug<br />

– in den allermeisten Fällen weiterhin die Hauptverantwortung<br />

für die familiale Fürsorgearbeit. Allerdings gibt es auch eine kleine<br />

hochqualifizierte Gruppe von Familienernährerinnen, die durch ihre<br />

Arbeitsmarktposition, in Absprache mit ihrem bewusst beruflich<br />

weniger stark orientierten Partner, neue, bisher noch ungewöhnliche<br />

Geschlechterarrangements leben (Seite 14).<br />

Ob Arbeitsmarkt-, Sozialpolitik, Frauen- oder Männerpolitik - die<br />

immer größer werdende Gruppe von Familienernährerinnen machen<br />

eine gleichstellungspolitische Reform notwendig. Dazu sind neben<br />

politischen Veränderungen auch neue Frauen- und Männerleitbilder<br />

nötig (Seite 7). Für die Förderung eines gleichberechtigten Geschlechtermodells<br />

und die Beseitigung bestehender, widersprüchlicher sozialpolitischer<br />

Signale setzt sich das <strong>DGB</strong>-Politikentwicklungsprojekt ein.<br />

<strong>DGB</strong>-POLITIKENTWICKLUNGSPROJEKT UNTER:<br />

WWW.FAMILIENERNAEHRERIN.DE<br />

DIE FORSCHUNGSPROJEKTE „FLEXIBLE FAMILIENERNÄHRERINNEN“<br />

WURDEN IN DEN JAHREN 2008–2010 AM WIRTSCHAFTS- UND SOZIAL-<br />

WISSENSCHAFTLICHEN FORSCHUNGSINSTITUT IN DER HANS-BÖCKLER-<br />

STIFTUNG SOWIE AN DER UNIVERSITÄT DUISBURG-ESSEN<br />

DURCHGEFÜHRT. IN DEN PROJEKTEN WURDEN ZUNÄCHST AUF DER<br />

GRUNDLAGE DES SOZIOÖKONOMISCHEN PANELS DER ANTEIL DER<br />

VERSCHIEDENEN EINKOMMENSKONSTELLATIONEN BERECHNET UND<br />

ANSCHLIEßEND RUND 90 FRAUEN, DIE FAMILIENERNÄHRERINNEN<br />

SIND, IN OST- SOWIE WESTDEUTSCHLAND IN PERSÖNLICHEN INTER-<br />

VIEWS ZU IHRER LEBENSSITUATION BEFRAGT.<br />

WW.WSI.DE


UMDENKEN MUSS<br />

FRÜHER ANFANGEN<br />

NEUE ROLLENBILDER: HERAUSFORDERUNG<br />

AN FRAUEN, MÄNNER UND DIE POLITIK<br />

MARLIES BROUWERS IST SEIT 2003<br />

VIZEPRÄSIDENTIN DES KATHOLI-<br />

SCHEN DEUTSCHEN FRAUENBUNDES<br />

(WWW.FRAUENBUND.DE)<br />

UND SEIT 2008 VORSITZENDE<br />

DES DEUTSCHEN FRAUENRATES<br />

(WWW.FRAUENRAT.DE).<br />

MARTIN ROSOWSKI IST VORSTANDS-<br />

VORSITZENDER DES BUNDESFORUMS<br />

MÄNNER (WWW.BUNDESFORUM-<br />

MAENNER.DE) UND HAUPTGE-<br />

SCHÄFTSFÜHRER DER MÄNNERAR-<br />

BEIT DER EVANGELISCHEN KIRCHE IN<br />

DEUTSCHLAND.<br />

Immer mehr Frauen tragen in entscheidendem Maße zum<br />

Haushaltseinkommen bei. Das bringt neue Herausforderungen<br />

an Politik und Gesellschaft mit sich und macht ein<br />

verändertes Rollenverständnis notwendig. Über eine<br />

moderne Frauen- und Männerpolitik, neue Rollenleitbilder<br />

und politisches Umdenken sprach „Frau geht vor“ mit<br />

Marlies Brouwers, Vorsitzende des Deutschen Frauenrates<br />

und Martin Rosowski, Vorstandsvorsitzender des Bundesforums<br />

Männer.<br />

Wenn Frauen für das Haupteinkommen in der Familie<br />

sorgen, so geschieht das meist nicht freiwillig. Warum fällt es<br />

Frauen schwer, sich auf diese neue Rolle einzulassen?<br />

Brouwers: Frauen sind traditionell Zuverdienerinnen und sehen<br />

sich auch in dieser Rolle. Sie gehen meist einer Teilzeitarbeit nach<br />

oder einem Minijob, beides mit geringem Einkommen. Da ist es<br />

doppelt schwer, ein gesamtes Haushaltseinkommen zu stemmen.<br />

Zusätzlich bleiben die Hausarbeit und die Versorgung der Kinder in<br />

INFO-BRIEF 3/11<br />

INTERVIEW<br />

7<br />

der Regel weiter an ihnen hängen. Prekäre Beschäftigung, geringes<br />

Einkommen und die Doppelbelastung machen diese neue Aufgabe<br />

nicht unbedingt attraktiv. Darüber hinaus führen neue Rollenmuster<br />

in Familien zu Spannungen. Das Familiengefüge gerät durcheinander,<br />

das bedeutet eine weitere Mehrbelastung. Und wenn der<br />

Partner noch unterstützt werden muss, weil er mit seiner Rolle<br />

hadert, übernimmt die Frau auch noch die Aufgabe einer Psychologin.<br />

Rosowski: Es stimmt, die klassische Haushaltsaufteilung ist noch<br />

nicht geschlechtergerecht verteilt. Ich sehe aber auch Veränderungen.<br />

Immer mehr Männer wollen ihre Rolle nicht nur auf die<br />

Erwerbsarbeit reduzieren lassen, sie streben ebenfalls eine Balance<br />

von Familie und Job an.<br />

Dennoch fällt es Männern schwer, sich von der Rolle des<br />

Alleinernährers zu verabschieden?<br />

Rosowski: Viele Männer haben die ihnen zugewiesene Verantwortung,<br />

die Familie zu ernähren, verinnerlicht und kommen aus dem<br />

klassischen Rollentypus des Ernährers nicht so leicht heraus. Zu ihrer<br />

Identität gehört vielfach das Bewusstsein, hauptverantwortlich für<br />

den Erwerb der Familie zu sein. Wenn das plötzlich wegfällt, nicht<br />

weil das Paar ein besseres Arrangement gefunden hat, sondern weil<br />

zum Beispiel der Mann seinen Job verliert, kann das zu einer Identitätskrise<br />

führen. Aus dieser Entwertungssituation eine positive<br />

Einstellung zu der neuen Rolle zu entwickeln, ist schwierig. Und:<br />

Männer sind in ihrer Wertschätzung oft auf Entgelt fixiert. Es ist<br />

ein Symbol dafür, dass man integriert ist mit seiner Tätigkeit, eingebunden<br />

in den Produktionsprozess.<br />

Brouwers: Frauen finden da eher andere Dinge, aus der sie ihre<br />

Wertschätzung beziehen, ob Kindererziehung oder Ehrenamt. Aber<br />

für beide ist es eine Herausforderung. Oft kommen die Paare aus<br />

Familien, in denen ein klassisches Familienbild gelebt wird. Sie<br />

müssen sich damit auseinandersetzen, dass sie diesem Bild nicht<br />

mehr entsprechen. Zusätzlich entsteht sozialer Druck. Wie wird das<br />

neue Arrangement von der Gesellschaft, von Familie und Freunden<br />

bewertet? Wir sind dabei noch sehr in geschlechtsspezifischen<br />

Zuschreibungen gefangen.


Da sind wohl neue Rollenleitbilder für Männer und Frauen<br />

gefragt?<br />

Rosowski: Beide Seiten werden sich bewegen müssen. Männer<br />

sollten dabei lernen, sich nicht ausschließlich auf die Ernährerrolle<br />

zu fixieren, sondern einen Beruf wählen, der ihren Fähigkeiten und<br />

Neigungen entspricht. Dann ist es auch möglich, das Berufsspektrum<br />

zu erweitern und zum Beispiel Erzieher oder Altenpfleger<br />

zu werden. Die Reproduktionsarbeit und die Erwerbsarbeit müssen<br />

in einer Partnerschaft auf beider Schultern verteilt werden. Ein<br />

neues männliches Rollenbild darf nicht die Übernahme der alten<br />

Frauenrolle bedeuten. Da sind kreative Arrangements gefragt, die<br />

gemeinsam entwickelt werden müssen.<br />

Brouwers: Und Frauen dürfen sich nicht mit prekären Arbeitssituationen,<br />

mit Teilzeit und Minijobs zufriedengeben. Sie müssen<br />

Vollzeitbeschäftigung einfordern oder einen Job, in dem sie ausreichend<br />

verdienen. Umdenken muss viel früher anfangen. Auch<br />

wenn das Gehalt des Mannes im „normalen“ Leben ausreicht,<br />

reicht die Rente des Mannes auch noch für beide? Außerdem<br />

sollten Frauen sich Gedanken machen, ob sie sich im Falle einer<br />

Trennung ernähren können und wie ihre eigene Rente aussieht.<br />

Es ist wichtig, dass Frauen an ihre Altersversorgung denken. Da ist<br />

noch ganz viel Nachholbedarf.<br />

Wie kann ein neues Verständnis von Familie und Partnerschaft<br />

auf den Weg gebracht werden?<br />

Brouwers: Ich würde bei der Elternzeit anfangen. Mann und Frau<br />

bekommen jeweils sieben Monate, die sie nehmen müssen. Aber<br />

auch in der Werbung muss Schluss sein mit den klassischen Rollenbildern.<br />

Auch das hat Vorbildfunktion. Und: wir müssen den Mehrwert<br />

stärker herausstellen, der sich aus einer anderen Verteilung der<br />

Familien- und Erwerbsarbeit ergibt. Die wertvolle Zeit, die man zum<br />

Beispiel mit Kindern verbringt, das wird viel zu wenig thematisiert.<br />

Rosowski: Auf der anderen Seite darf auch Erwerbsarbeit nicht als<br />

notwendiges Übel angesehen werden. Arbeit gehört als wichtiger<br />

Bestandteil zum Leben. Es muss selbstverständlich werden, dass ein<br />

Vater nicht nur arbeitet, sondern vielfältige Optionen hat, die im<br />

INFO-BRIEF 3/11<br />

INTERVIEW<br />

8<br />

Lebensverlauf wechseln können. Der Vorschlag, die Elternzeit<br />

paritätisch aufzuteilen, kann nur gelingen, wenn wir auch das<br />

Thema Entgelt mit einbeziehen. Da ist Politik gefragt, denn solange<br />

sich Nachteile in der Einkommenssituation ergeben, fällt auch die<br />

Entscheidung für eine längere Elternzeit anders aus.<br />

Welche Konsequenzen und Forderungen für eine moderne<br />

Frauen- und Männerpolitik ergeben sich daraus?<br />

Rosowski: Es geht nicht nur um Männer- und Frauenpolitik,<br />

sondern insgesamt wird die aktuelle Sozial- und Familienpolitik<br />

dieser veränderten Situation nicht mehr gerecht. Das fängt schon<br />

beim Ehegattensplitting an, hier wird einseitig das Alleinverdienermodell<br />

gefördert – das ist ein Unding.<br />

Brouwers: Das sehen wir vom Deutschen Frauenrat genauso und<br />

fordern seit Jahren die Abschaffung des Ehegattensplittings.<br />

Darüber hinaus dürfen Frauen auch nicht länger 23 Prozent weniger<br />

verdienen als Männer. Es müssen endlich politische Voraussetzungen<br />

geschaffen werden, die den Entgeltunterschied nicht<br />

mehr zulassen. Auch die Abschaffung von Minijobs ist ein wichtiger<br />

Punkt. Wir brauchen Arbeitsplätze, die ab dem ersten Euro versicherungspflichtig<br />

sind. Für die bessere Vereinbarkeit brauchen wir mehr<br />

Kindertageseinrichtungen mit längeren Öffnungszeiten, zum<br />

Beispiel auch an Wochenenden. Wir wollen alles rund um die Uhr<br />

nutzen, aber wie Arbeitnehmerinnen mit Kindern das hinbekommen,<br />

kümmert uns wenig. Hier ist gesamtgesellschaftliche<br />

Verantwortung gefragt, insbesondere im Hinblick auf Alleinerziehende.<br />

Rosowski: Moderne Frauen- und Männerpolitik muss neben den<br />

genannten Forderungen aber noch viel mehr. Es ist eine Querschnittsaufgabe,<br />

die einen geschlechtsspezifischen Blick auf Lebensumstände<br />

und Lebenssituationen wirft. Die Frage, wie unterschiedlich<br />

Frauen und Männer von bestimmten Lebensumständen und<br />

politischen Entscheidungen betroffen sind, geht nicht nur die<br />

Familienpolitik an, sondern genauso die Arbeitsmarkt-, Sozial und<br />

Finanzpolitik. Wir müssen das Prinzip des Gender Mainstreaming<br />

wieder auf die Agenda setzten. Leider stellt die Frauen- und<br />

Männerpolitik auch im Bundesfamilienministerium „nur“ eine


INTERVIEW<br />

Ressortfrage dar. Darum brauchen wir auch geschlechtsspezifische<br />

Referate, die die Genderperspektive in alle Politikbereiche als Querschnittsaufgabe<br />

einbringen. Wir brauchen beide Blickwinkel, sonst<br />

geht es nicht.<br />

Mehr Frauen in Führungspositionen und gut bezahlten Jobs,<br />

mehr Männer, die Haushalt und Kinderbetreuung übernehmen.<br />

Wie muss eine Jungen- und Mädchenarbeit<br />

aussehen, die diese Entwicklung fördert?<br />

Brouwers: Für die Mädchen wünsche ich mir, dass sie mehr in<br />

männliche Berufe vordringen. Aber auch wenn Mädchen typische<br />

Frauenberufe anstreben, sollten sie lernen, dort Verantwortung zu<br />

übernehmen. Zum Beispiel ihren Meister machen oder sich in<br />

Führungs- und Leitungspositionen hocharbeiten. Mädchen müssen<br />

die Konsequenzen deutlicher werden. Was passiert, wenn eine Frau<br />

zum Beispiel über längere Zeit zu Hause bleibt. Eine längere Kinderzeit<br />

bedeutet leider immer noch einen Karrierebruch. Es geht um die<br />

Risiko-Folgen-Abschätzung. Mädchen müssen sich fragen, was<br />

bedeutet es für mich in zehn Jahren, wenn ich mich jetzt so<br />

entscheide. Welche Konsequenzen ergeben sich für die Zukunft?<br />

Rosowski: Ich denke, in diesem Bereich besteht auch bei Jungen<br />

Beratungsbedarf. Doch wenn wir von Förderung sprechen, müssen<br />

wir bei einer genderbewussten Arbeitsmarktpolitik ansetzen.<br />

Mädchen muss man unterstützen, ihre tatsächlichen Fähigkeiten zu<br />

entwickeln und deutlich machen, welche Verdienst- und Aufstiegschancen<br />

sie in bestimmten Berufen haben. Jungen muss man<br />

aufzeigen, welche Gefahren damit verbunden sind, rein männlich<br />

besetzte Berufe zu ergreifen. 90 Prozent aller männlichen Hauptschulabgänger<br />

wollen Kfz-Mechatroniker werden. Dort gibt es aber<br />

nur ganz geringe Kapazitäten bei höchsten Qualitätsanforderungen.<br />

Das Scheitern des Berufswunsches ist somit vielfach vorprogrammiert.<br />

Wenn wir Jungen für andere Berufe sensibilisieren wollen,<br />

müssen wir gute Vorbilder bieten. Lebensbereiche, in denen Empathie<br />

und Fürsorge eine Rolle spielen, müssen an Männerherzen<br />

herangetragen werden. Jungenarbeit auf Haushaltskurse zu reduzieren,<br />

wäre zu kurz gedacht.<br />

INFO-BRIEF 3/11<br />

9<br />

SCHWERPUNKT<br />

VERANTWORTUNGSLAST<br />

ODER VERLUSTÄNGSTE?<br />

VOM LÖSEN UND FESTHALTEN AM<br />

MÄNNLICHEN ERNÄHRERMODELL<br />

Von Carsten Wippermann<br />

CARSTEN WIPPERMANN IST PROFESSOR FÜR SOZIO-<br />

LOGIE AN DER KATHOLISCHEN STIFTUNGSFACH-<br />

HOCHSCHULE MÜNCHEN UND GRÜNDER DES DELTA-<br />

INSTITUTS FÜR SOZIAL- UND ÖKOLOGIEFOR-<br />

SCHUNG. VON 2000 BIS 2010 WAR ER DIREKTOR<br />

DER SOZIALFORSCHUNG IM INSTITUT SINUS SOCIO-<br />

VISION IN HEIDELBERG.<br />

Obwohl Frauen immer häufiger die Rolle der Familienernährerin<br />

einnehmen, gibt der männliche Partner sein<br />

bisheriges Selbstverständnis als Familienernährer meist<br />

nicht auf und sieht sich weiterhin in dieser Pflicht. Oft<br />

geschieht dies aus einem tieferliegenden Motiv: der<br />

Verdrängung der eigenen unsicheren und auch prekären<br />

Erwerbssituation und der Abwehr von Aufgaben im Haushalt<br />

und bei der Kinderversorgung.<br />

Frauen, die nach einer oft längeren familienbedingten Erwerbsunterbechung<br />

(für Kinderversorgung, Schulbegleitung, Pflege) in den<br />

Arbeitsmarkt einsteigen, haben heute eine existenzielle Funktion für<br />

die finanzielle Sicherung der Familie. Es steigt der Anteil von Familienernährerinnen,<br />

die heute mehr als 18 Prozent aller Erwerbspersonenhaushalte<br />

ausmachen, etwa die Hälfte Alleinerziehende, die Hälfte mit<br />

einem Partner. Die zunehmende ökonomische Bedeutung von Wiedereinsteigerinnen<br />

und Familienernäherinnen macht deutlich, dass das<br />

Konzept des männlichen Haupternährers, mit dem die Verwaltung,<br />

Schulen, Gesundheitsvorsorger, Arbeitgeber und andere Dienstleister<br />

die Familien immer noch selbstverständlich konfrontiert und dieses als<br />

normales Modell voraussetzt, nur noch für einen Teil gilt und eigentlich<br />

„outdated“ ist.


Berufstätigkeit als Existenzsicherung<br />

Bei Frauen ist in den vergangenen Jahren die Bedeutung materieller<br />

Motive für ihre Berufstätigkeit gestiegen. Das ist zum einen auf ein<br />

verändertes Rollenbild von Frauen zurückzuführen, vor allem die<br />

Bedeutung ihrer Berufstätigkeit für die aktuelle und zukünftige<br />

Existenzsicherung ihrer Familie und ihres Lebens im Alter. Zum<br />

anderen war – mit katalysatorischer Wirkung – die globale Finanzund<br />

Wirtschaftskrise 2008/2009 ein entscheidendes Ereignis. In dieser<br />

Phase verloren vor allem Vollzeit beschäftige Männer ihren Arbeitsplatz<br />

(oder waren zur Kurzarbeit gezwungen), so dass ein erheblicher<br />

Teil der Frauen – oft unfreiwillig aufgrund ökonomischer Zwänge – zu<br />

Familienernährerinnen wurden bzw. sich erstmals mit dieser Perspektive<br />

ernsthaft auseinandersetzten: Eine Alltagserfahrung und Strukturveränderung<br />

nicht nur am unteren Rand der Gesellschaft, sondern<br />

auch die soziale Mitte der Gesellschaft.<br />

Männer unterschätzen Motivation der Partnerin<br />

Dabei unterschätzen Männer meist die materielle Motivation ihrer<br />

Partnerin! Wenn Männer über die Erwerbsmotive ihrer Partnerin nachdenken,<br />

dann meinen sie primär, dass erstens der Beruf vor allem für<br />

das Selbstwertgefühl ihrer Partnerin wichtig sei; zweitens, dass ihr<br />

überwiegender Beitrag für das Familieneinkommen zwar aktuell hilfreich<br />

und vielleicht sogar notwendig sei, aber insgesamt eine vorübergehende<br />

Phase, etwas Abweichendes, Deviantes außerhalb<br />

„normaler“ Verhältnisse.<br />

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SCHWERPUNKT<br />

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INFO-BRIEF 3/11<br />

10<br />

Die zwei wichtigsten Erwerbsmotive von Frauen (finanzielle<br />

Absicherung im Alter, finanzielle Existenzsicherung der Familie)<br />

rangieren in der Projektion der Männer 2010 deutlich hinter der<br />

Selbstwert-Hypothese. Die Männer gehen 2010 sogar davon aus, dass<br />

bei Frauen die Bedeutung des Motivs „Existenzsicherung der Familie“<br />

im Vergleich zu 2008 leicht abgenommen habe. Wenn die Frau in<br />

einer Partnerschaft faktisch die Rolle der Familienernährerin übernimmt,<br />

gibt der männliche Partner sein bisheriges Selbstverständnis<br />

als Familienernährer keineswegs auf, sondern sieht sich weiterhin in<br />

dieser Pflicht.<br />

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Erwerbsmotive von Frauen – aus Sicht des Partners<br />

Der Beruf ist wichtig für das Selbstwertgefühl<br />

Etwas tun für die finanzielle Sicherung im Alter<br />

Geld verdienen für die finanzielle Existenzsicherung der Familie<br />

Eigenes Geld verdienen wollen<br />

Nicht nur als Hausfrau und Mutter wahrgenommen werden<br />

Geld für die Erfüllung von besonderen Wünschen haben<br />

Mit dem Partner eine gleichberechtigte Aufgabenverteilung in<br />

Familie und Beruf haben<br />

Haushalt und Kindererziehung allein füllen die Frau nicht aus<br />

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Wenn Männer die „Freiwilligkeit“ und persönliche Sinnhaftigkeit des<br />

Wiedereinstiegs der Frau betonen (Selbstwertgefühl, Selbstverwirklichung,<br />

nicht nur als Hausfrau und Mutter wahrgenommen werden),<br />

ist das tieferliegende Motiv die Verdrängung der eigenen unsicheren<br />

und auch prekären Erwerbssituation, sowie Abwehr von Aufgaben im<br />

Haushalt und bei der Kinderversorgung. Die Beharrung auf die eigene<br />

Rolle als Haupternährer ist Ausdruck eines Nicht-sehen- und Nichtanerkennen-wollens,<br />

dass die Partnerin (bzw. Frauen) die Funktion<br />

und Rolle als Haupternährer „natürlich“ erfüllen.<br />

Männliche Rollenmuster noch immer zu schmal<br />

Es ist zugleich Ausdruck dafür, dass die gesellschaftlichen Rollenmuster<br />

für Männer auch heute noch sehr schmal (fast eindimensional)<br />

sind und ihnen kaum attraktive Optionen bieten für den Fall, dass sie<br />

eines der standardisierten Rollenmuster (wie des Haupternährers)<br />

aufgrund äußerer Umstände nicht bedienen können. Sie kommen vor<br />

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Väter 2010<br />

Väter 2008<br />

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8


sich selbst, vor Freunden, Nachbarn und der Öffentlichkeit in erhebliche<br />

und nur schwer lösbare Legitimationsnöte. Hier ist ein Wandel<br />

von Männerbildern dringend notwendig – nur kann er nicht verordnet<br />

werden. Wenn der berufliche Wiedereinstieg einer Frau von ihrem<br />

Partner wie von der Gesellschaft primär als ihr persönliches Plus<br />

betrachtet wird, dann wird ihr auch reflexhaft zugewiesen, die alten<br />

und neuen Aufgaben für die Familie alleine zu erfüllen oder zu organisieren.<br />

Wie sehr Männer an ihrem Rollenbild als „Haupternährer der<br />

Familie“ festhalten, wird an folgenden Befunden deutlich:<br />

• Selbst wenn Männer nicht erwerbstätig sind, haben sie von sich<br />

das Selbstbild, jemand zu sein, der Karriere machen möchte.<br />

Daraus leiten sie dann mitunter Ansprüche und Freistellungen<br />

(Dispensen) innerhalb des Haushalts und der Familie ab.<br />

• Nicht erwerbstätige Männer bekunden zwar mehrheitlich<br />

(57 Prozent), dass sie gern Zeit mit ihrer Familie verbringen<br />

möchten – aber sehr viel seltener als Frauen (71 Prozent).<br />

So bieten die meisten Männer ihren Anteil zur Entlastung ihrer Partnerin<br />

meist nicht offensiv an, noch seltener gehen sie in Vorleistung.<br />

Die Gründe für dieses passive, nur reaktive Verhalten sind vor allem<br />

Orientierungsunsicherheit und Verlustsorgen, die auf eigene Rollenambivalenzen<br />

zurückzuführen sind und im Kern ihre Identität als<br />

„Haupternährer der Familie“ betreffen: Einerseits fühlen sie sich von<br />

der Last dieser Verantwortung in zunehmendem Maße unter Druck<br />

gesetzt; andererseits halten sie an dieser Rolle fest.<br />

Gleichstellungspolitische Konsequenzen gefordert<br />

Das muss Konsequenzen haben für die Gleichstellungspolitik in der<br />

Lebenslaufperspektive: Eine vordringliche Aufgabe ist es, das Thema<br />

Familienernährerin in der Weise zu stärken und die Rahmenbedingungen<br />

zu schaffen (endlich Entgeltgleichheit), dass Frauen<br />

phasenweise oder kontinuierlich die Hauptverdienerin sein können<br />

und dass die Dynamik von Lebensverläufen im Sinne der „linked<br />

lives“ es vordringlich erscheinen lässt, sich dieser Tatsache bewusst<br />

zu werden. Das erfordert Entlastung durch den Partner und echte<br />

Verantwortungsteilung – somit auch ein Umdenken von Erwerbszeit<br />

in gemeinsamer Lebenslaufperspektive: Frauen unterschätzen meist<br />

das Entlastungspotenzial ihres Partners und überschätzen ihren<br />

eigenen Kräftehaushalt. Das führt sehr häufig zu Selbstausbeutung<br />

oder zu Unzufriedenheit.<br />

INFO-BRIEF 3/11<br />

SCHWERPUNKT<br />

11<br />

Notwendig für Frauen – und insbesondere für Familienernährerinnen<br />

– sind daher zeitliche Neuverteilungen der häuslichen und Familienaufgaben<br />

zwischen den Partnern. Dazu wäre auch darüber nachzudenken,<br />

neue Wege zu gehen. In einer repräsentativen Befragung von<br />

Müttern und Vätern haben wir gefragt, ob sie sich vorstellen könnten,<br />

dass der Partner vorübergehend die eigene Arbeitszeit reduziert und<br />

hierfür einen Entgeltausgleich erhält, um den beruflichen Wiedereinstieg<br />

der Frau zu erleichtern. Das könnte zum Beispiel eine Reduzierung<br />

auf 70 Prozent der Arbeitszeit sein. Für den 30-prozentigen<br />

Lohnwegfall würde der Mann ein anteiliges staatliches Partnergeld<br />

erhalten. Die Ergebnisse sind beeindruckend: Nur 14 Prozent der<br />

Mütter und 17 Prozent der Väter zwischen 25 und 60 sagen, dass<br />

sie diese Idee nicht gut finden. Ein Viertel der Mütter und sogar ein<br />

Drittel der Väter halten die Idee hingegen ausdrücklich für gut und<br />

könnten sich vorstellen sie zu nutzen.<br />

Haushaltsnahe Dienstleistungen als Entlastung<br />

Eine ergänzende und in der Alltagspraxis hochwirksame Option sind<br />

haushaltsnahe Dienstleistungen zur zeitlichen Entlastung von<br />

erwerbstätigen Frauen. Doch gegenüber haushaltsnahen Dienstleistungen<br />

bestehen noch Vorbehalte und Hemmnisse, gerade weil<br />

man noch nicht wieder erwerbstätig ist und dieses „gegenfinanziert“<br />

ist. Die meisten Mütter haben nur wenige Informationen über den<br />

Markt der Anbieter und das Angebotsspektrum; und groß sind<br />

Unsicherheiten bezüglich der Zuverlässigkeit und Erreichbarkeit, der<br />

individuellen Passung und Qualität der haushaltsnahen Dienstleister,<br />

die aber vonnöten wären, damit man sich selbstverständlich auf diese<br />

stützten könnte.<br />

Oft erst dann, wenn der berufliche Wiedereinstieg vollzogen ist oder<br />

der Kräftehaushalt der Frau aufgebraucht ist, erkennen die Frauen<br />

(und Männer), wie wichtig haushaltsnahe Dienstleistungen schon zu<br />

einem früheren Zeitpunkt gewesen wären, wie wichtig eine stärkere<br />

Teilung der Aufgaben in Haushalt und Erziehung mit dem Partner<br />

gewesen wäre – und ist.<br />

Studien:<br />

· Zeit für Wiedereinstieg – Potenziale und Perspektiven<br />

· Haushaltsnahe Dienstleistungen – Bedarfe und Motive<br />

beim beruflichen Wiedereinstieg<br />

Untersuchungen vom DELTA-Institut für das Bundesministerium<br />

für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Mai <strong>2011</strong><br />

www.bmfsfj.de


DOPPELT BELASTET<br />

UND AM LIMIT<br />

FAMILIENERNÄHRERINNEN IM SPAGAT<br />

ZWISCHEN ARBEIT UND PRIVATLEBEN<br />

Von Christina Stockfisch<br />

DR. CHRISTINA STOCKFISCH IST LEITERIN DES<br />

PROJEKTES „VEREINBARKEIT VON FAMILIE UND<br />

BERUF GESTALTEN!“ BEIM <strong>DGB</strong>-BUNDES-<br />

VORSTAND.<br />

In Haushalten von Familienernährerinnen werden neue<br />

Alltagspraktiken familialer Lebensführung möglich und<br />

nötig. Die „Normalfamilie“ und das „Normalarbeitsverhältnis“<br />

existieren immer seltener. Die damit verbundene<br />

doppelte Entgrenzung von Arbeit und Privatleben/Familie<br />

birgt vielerlei Risiken und Belastungen für<br />

Familienernährerinnen, aber auch neue Gestaltungschancen<br />

.<br />

Das Normalarbeitsverhältnis hat in den letzten Jahrzehnten insgesamt<br />

stark an Bedeutung verloren, da „atypische“ Beschäftigungsformen<br />

wie Teilzeitarbeit, geringfügige Beschäftigung, Befristungen<br />

und Leiharbeit zunehmen. Damit einher geht eine massive Flexibilisierung<br />

in Lage, Dauer und Verteilung von Arbeitszeiten. Aber auch<br />

die räumliche Entgrenzung von Arbeit nimmt zu. Gefordert sind<br />

Mobilität und Erreichbarkeit rund um die Uhr. Diese Verfügbarkeitskultur<br />

greift in das Familienleben der Beschäftigten ein und<br />

erschwert das Zusammensein der Familienmitglieder. So wird das<br />

Familienleben immer komplexer, die räumliche und vor allem zeitliche<br />

Eingebundenheit der Eltern als auch der Kinder wächst.<br />

Gemeinsam verbrachte Zeit – geplant oder „beiläufig“ – ist jedoch<br />

für intakte Familienbeziehungen wichtig. Familien brauchen<br />

gemeinsame Routinen, wie gemeinsame Mahlzeiten, um miteinander<br />

ins Gespräch zu kommen, Konflikte zu lösen und den Alltag<br />

SCHWERPUNKT<br />

INFO-BRIEF 3/11<br />

12<br />

zu organisieren. Durch Erwerbsarbeit zu unsozialen und familienunfreundlichen<br />

Zeiten wird dies jedoch zunehmend schwieriger.<br />

Widersprüchliche Anforderungen<br />

führen zu Rollenkonflikten<br />

Familienernährerinnen erleben diese gesellschaftlichen Veränderungen<br />

durch ein Brennglas gebündelt. Sie versuchen, die teilweise<br />

widersprüchlichen Anforderungen von Familie und Beruf zu vereinbaren.<br />

Die Folge sind Rollenkonflikte und Spannungen in der Partnerschaft<br />

und im Familienleben. Nicht zuletzt wird bei diesem<br />

täglichen Spagat die eigene Gesundheit aufs Spiel gesetzt. Die<br />

entgrenzten Anforderungen an zeitliche und räumliche Verfügbarkeit<br />

im Job und in der Familie gehen häufig auf Kosten der Eigenzeit.<br />

Meist bleibt den Familienernährerinnen kaum Zeit und Kraft für<br />

eigene Interessen und ausreichende Erholungsphasen. Meist fehlt<br />

zudem die Entlastung durch den Partner.<br />

Dieser Balanceakt kann im Alltag und im Lebensverlauf kaum allein<br />

bewältigt werden, da gerade familiale Anforderungen oft nicht<br />

verlagert werden können. Viele Familienernährerinnen arbeiten in<br />

Berufen, deren Arbeitszeitanforderungen nicht mit den üblichen<br />

Kita-Öffnungszeiten übereinstimmen. Sie brauchen soziale Netzwerke,<br />

damit keine Betreuungslücken entstehen. Der Organisationsaufwand,<br />

um Großeltern, Verwandte, Freunde und Nachbarn aktiv<br />

mit einzuspannen, ist groß aber alternativlos. Die doppelte Entgrenzung<br />

in Beruf und Familienleben bleibt jedoch nicht ohne<br />

Folgen: Überforderung, Anspannung, schlechtes Gewissen und das<br />

Gefühl, in beiden Bereichen nicht zu genügen, belasten die<br />

Familienernährerinnen.<br />

Familienernährerinnen in zeitlich belastenden Jobs<br />

Darüber hinaus sind Familienernährerinnen zumeist in Dienstleistungsberufen<br />

(Altenpflegerinnen, Krankenschwestern, Hebammen,<br />

Erzieherinnen, Verkäuferinnen) tätig, die durch schwierige<br />

Arbeitsbedingungen gekennzeichnet sind. Sie gehören außerdem zu<br />

den zeitlich am intensivsten belasteten Beschäftigtengruppen. Sie<br />

arbeiten im Schichtdienst und Berufen mit atypischen Arbeitszeiten<br />

(abends, nachts, Wochenende).<br />

Hinzu kommen Belastungen durch vom Arbeitgeber geforderte und<br />

meist nur kurzfristig angekündigte Überstunden. Die oftmals nur<br />

teilweise oder nur nach Protest durch die Betroffenen ausbezahlt


oder in Freizeit entgolten werden. Auch bei der Arbeitszeitfestlegung<br />

sind viele Arbeitgeber ignorant gegenüber der besonderen<br />

Situation von Familienernährerinnen, die meist neben dem<br />

Beruf noch für Fürsorgeaufgaben (Kindererziehung, Pflege) hauptverantwortlich<br />

sind. Viele Familienernährerinnen leiden auch unter<br />

den erwerbsbedingten Mobilitätsanforderungen, vor allem im<br />

ambulanten Pflegedienst.<br />

Überarbeitung führt zu Erschöpfungszuständen<br />

All diese Belastungen kumulieren und führen zu Überarbeitung und<br />

Erschöpfungszuständen. Insbesondere alleinerziehende Mütter und<br />

vollzeiterwerbstätige Frauen sind deshalb gesundheitlich „am<br />

Limit“. Es ist zu befürchten, dass die aktuellen Erwerbsbedingungen<br />

und die daraus resultierende Vereinbarkeitsproblematik für viele<br />

Familienernährerinnen ein Aushalten der Belastungen bis zum<br />

Rentenalter unmöglich machen. Viele Familienernährerinnen<br />

betrachten ihr gegenwärtiges Lebensarrangement als auf Dauer<br />

nicht tragbar.<br />

Das gilt jedoch nicht für alle Familienernährerinnen. Einige von<br />

ihnen – meist mit hoher Qualifikation und entsprechender Arbeitsmarktposition<br />

- leben in Absprache mit ihrem bewusst beruflich<br />

weniger orientierten Partner in veränderten Geschlechterarrangements.<br />

Diese Arbeitsteilung trägt zur Feminisierung der Erwerbswelt<br />

bei und zeigt neue Rollenbilder für Männer – jenseits der Ernährerfunktion.<br />

Hierin liegt das emanzipatorische Potenzial der Familienernährerinnen,<br />

das viel zu selten zur Geltung kommt.<br />

Partnerschaftliche Arrangements sind gefragt<br />

Doch in den meisten Paarhaushalten, in denen die Frau den Großteil<br />

zum Familieneinkommen beiträgt, werden trotz veränderter<br />

Erwerbskonstellation nach wie vor eher „klassische“ Rollen in der<br />

Fürsorge und im Haushalt gelebt. Das führt nicht zu egalitärer<br />

Arbeitsverteilung, sondern nur zu mehr Arbeit und Verantwortung<br />

für die Frauen. Hier gilt es, die Geschlechterrollen in der Erwerbswelt<br />

und in der Fürsorgearbeit aufzuweichen, damit Frauen nicht<br />

länger nur als Hinzuverdienerin wahrgenommen werden. Auch in<br />

der Fürsorgearbeit müssen partnerschaftliche Arrangements<br />

entstehen, die neue Leitbilder und Rollenzuweisungen für Frauen<br />

und Männer umsetzen.<br />

INFO-BRIEF 3/11<br />

SCHWERPUNKT<br />

13<br />

Doch ob weibliches oder männliches Ernährermodell – egalitäre<br />

Einkommenskonstellationen von Partnern weisen in jedem Fall<br />

deutliche Vorteile auf. Sie geben beiden Partnern Teilhabe- und<br />

Entfaltungschancen in Beruf und Familie und sind mit höheren<br />

Einkommen und Zufriedenheit verbunden. Dann spielt das<br />

Geschlecht nicht mehr die entscheidende Rolle bei der Gestaltung<br />

der familialen Lebensführung – Arbeits- und Familienzeiten werden<br />

für Männer und Frauen besser vereinbar.<br />

Ute Klammer, Christina Klenner und Svenja Pfahl:<br />

Frauen als Ernährerinnen der Familie: Politische<br />

und rechtliche Herausforderungen, Policy Paper 2010<br />

www.familienernaehrerin.de<br />

Karin Jurczyk, Michaela Schier, Peggy Szymenderski, Andreas<br />

Lange, G. Günter Voss: Entgrenzte Arbeit – entgrenzte Familie:<br />

Grenzmanagement im Alltag als neue Herausforderung,<br />

Edition Sigma 2009<br />

Kontakt: <strong>DGB</strong>-Bundesvorstand<br />

Projekt „Vereinbarkeit von Familie und Beruf<br />

gestalten! Familienbewusste Arbeitszeiten“<br />

Dr. Christina Stockfisch<br />

Tel. 030-24060-565<br />

christina.stockfisch@dgb.de<br />

www.familie.dgb.de


HOCHQUALIFIZIERTE<br />

FAMILIENERNÄHRERINNEN<br />

UNABHÄNGIG UND DOCH IN<br />

ALTEN ROLLENMUSTERN VERHAFTET<br />

Von Melitta Kühnlein<br />

MELITTA KÜHNLEIN IST PROJEKTLEITERIN<br />

DES <strong>DGB</strong>-POLITIKENTWICKLUNGSPROJEKTES<br />

„MODELL DER FAMILIENERNÄHRERIN“.<br />

Eine kleine Gruppe von Familienernährerinnen hat sich in<br />

Absprache mit dem Partner für die Übernahme der finanziellen<br />

Hauptverantwortung entschieden. In diesen Haushalten<br />

zeigen sich neue Wege im familiären Zusammenleben.<br />

Doch gerade diese Haushalte greifen zu ihrer<br />

Entlastung auf gering entlohnte Helferinnen zurück und<br />

bestärken damit das alte Rollenbild der Zuverdienerin.<br />

In den alten wie in den neuen Bundesländern findet sich, unter<br />

den in den beiden Forschungsprojekten „Flexible Familienernährerinnen“<br />

befragten Familienernährerinnen, eine kleine<br />

Gruppe Frauen, die den Status der Familienernährerin freiwillig<br />

übernommen haben. Sie haben in der Regel eine hohe Qualifikation,<br />

eine hohe berufliche Position und verfügen über ein überdurchschnittliches<br />

Einkommen.<br />

Hochqualifizierte Familienernährerinnen in den alten Bundesländern<br />

haben eine überdurchschnittlich starke Erwerbsorientierung<br />

und verfolgen eigene berufliche Ziele. Ein Zurückfallen in<br />

alte Rollenmuster wird von diesen Familienernährerinnen abgelehnt.<br />

Da die Frau über ein hohes Einkommen verfügt, sind die<br />

Haushalte in der Regel finanziell gut gestellt – unabhängig vom<br />

Einkommen des Mannes. Vielmehr sind die Partner beruflich<br />

weniger engagiert. Oft ist es beiden Partnern früh klar, dass die<br />

Frau die besseren beruflichen Chancen hat. Mit der Entscheidung,<br />

SCHWERPUNKT<br />

INFO-BRIEF 3/11<br />

14<br />

das Modell ‚Familienernährerin’ zu leben, erfüllen sie sich ihre<br />

Voraussetzung für die Verwirklichung der von ihnen geplanten<br />

familiären Arbeitsteilung und oft den Wunsch, die Betreuung der<br />

Kinder in der Familie zu belassen. Dementsprechend sind ihre<br />

Partner hoch familienorientiert.<br />

Alle Familienernährerinnen in Ostdeutschland zeichnen sich<br />

dadurch aus, dass sie sehr deutlich erwerbsorientiert sind und fast<br />

ausnahmslos eine Erwerbstätigkeit beider Partner anstreben. Auch<br />

hier gibt es Familienernährerinnen, die hoch qualifiziert sind und<br />

gegenüber ihrem Partner über einen Karrierevorsprung verfügen.<br />

Der Status als Familienernährerin wird von ihnen geschätzt und<br />

viele von ihnen wissen seit Beginn der Partnerschaft (wie in den<br />

alten Bundesländern auch), dass der Haushalt durch eine<br />

Familienernährerin versorgt werden wird. Der Partner ist oft ebenfalls<br />

berufstätig, verfügt jedoch über ein niedrigeres Einkommen.<br />

Familienernährerinnen und ihre Familien, die dieser kleinen Gruppe<br />

angehören, haben damit einen in Deutschland bislang unüblichen<br />

Weg eingeschlagen: eine hoch qualifizierte, beruflich gut positionierte<br />

Frau sorgt für das finanzielle Auskommen der Familie,<br />

während der Partner zugunsten der Familie beruflich kürzer tritt.<br />

Doch selbst in diesen Familien finden sich weiterhin geschlechtsspezifische<br />

Muster der Haus- und Fürsorgearbeit: zwischen den<br />

beiden Partnern kommt es nicht zu einem generellen Rollentausch.<br />

Für alle Familienernährerinnen – auch für die Hochqualifizierten –<br />

gilt, dass sie in der Regel weiterhin einen Gutteil der unbezahlten<br />

Arbeit rund um Haus und Familie übernehmen.


Die in den Forschungsprojekten zunächst angenommene Vermutung,<br />

dass Familienernährerinnen mit einem höheren<br />

Einkommen auch eine größere Verhandlungsmacht in der Familie<br />

erreichen, hat sich nicht bestätigt. Was ausschlaggebend für die<br />

gelebten Rollen in der Partnerschaft ist, sind dagegen die Rollenmuster<br />

in den Köpfen beider Partner. Viele Familienernährerinnen<br />

können sich trotz Hauptverdienerstatus nicht einfach von ihren<br />

traditionellen Rollenbildern lösen. Sie stellen deshalb oft nur<br />

wenige Ansprüche an den Partner im Hinblick auf die Übernahme<br />

unbezahlter Haus- und Fürsorgearbeit. Was jedoch eingebunden<br />

wird, sind weibliche Haushalts- und Betreuungshilfen. Diese<br />

Frauen haben jedoch ihrerseits, aufgrund der geringen Entlohnungsstruktur<br />

als Tagesmutter oder Haushaltshilfe, nicht die<br />

Chance einer eigenständigen Existenzsicherung.<br />

Einerseits etablieren damit also einige hoch qualifizierte und<br />

gut verdienende Familienernährerinnen eine stärkere Einbindung<br />

ihrer Männer in die anfallenden Haus- und Fürsorgearbeiten.<br />

Andererseits wird durch das Zurückgreifen auf haushaltsnahe<br />

Dienstleistungen in anderen Haushalten das traditionelle<br />

Ernährermodell mit einer Frau als Zuverdienerin befördert.<br />

Familienernährerinnenhaushalte forcieren damit unter den herrschenden<br />

Begebenheiten sowohl neue Paarbeziehungen als<br />

auch alte Rollenmuster.<br />

Wolfram Brehmer, Christina Klenner und Ute Klammer:<br />

Wenn Frauen das Geld verdienen – eine empirische Annäherung<br />

an das Phänomen der „Familienernährerin“<br />

WSI-Diskussionspapier Nr. 170, Juli 2010<br />

Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut<br />

in der Hans-Böckler-Stiftung<br />

www.familienernaehrerin.de<br />

SCHWERPUNKT<br />

INFO-BRIEF 3/11<br />

15<br />

HAUSHALTSNAHE<br />

DIENSTLEISTUNGEN<br />

CHANCE ODER ZEMENTIERUNG<br />

DER GESCHLECHTERVERHÄLTNISSE?<br />

JENNY HUSCHKE IST REFERENTIN IN DER<br />

ABTEILUNG FRAUEN-, GLEICHSTELLUNGS- UND<br />

FAMILIENPOLITIK BEIM <strong>DGB</strong> BUNDESVORSTAND<br />

UND DORT INSBESONDERE FÜR DIE THEMEN<br />

ARBEITSMARKT- UND BILDUNGSPOLITIK<br />

ZUSTÄNDIG.<br />

Das bisschen Haushalt … ist doch manchmal ganz<br />

schön viel. Zu der Erkenntnis kommen Frauen schnell,<br />

wenn sie Familie und Job unter einen Hut bringen<br />

müssen. Ob und wie haushaltsnahe Dienstleistungen<br />

Familienernährerinnen unterstützen können,<br />

erläutert Jenny Huschke, Referentin in der Abteilung<br />

Frauen-, Gleichstellungs- und Familienpolitik beim <strong>DGB</strong><br />

Bundesvorstand.<br />

Die Zahl der Familienernährerinnen steigt stetig. Doch ihre<br />

Arbeits- und Lebensbedingungen sind häufig wenig geeignet, um<br />

auch noch Kinder oder pflegebedürftige Angehörige gut zu<br />

betreuen und den Haushalt zu regeln. Sind sie in Teilzeit beschäftigt,<br />

dann oft unfreiwillig. Sie kombinieren nicht selten mehrere<br />

Jobs, um den Lebensunterhalt zu bestreiten. Vielleicht würden sie<br />

gerne weniger arbeiten, aber das können sie sich finanziell nicht<br />

leisten. In jedem Fall ist Teilzeit für sie kein Instrument für eine<br />

gute Work-Life-Balance. Egal unter welchen Bedingungen sie das<br />

Familieneinkommen auch erwirtschaften, der Haushalt lastet<br />

meist nach wie vor auf ihren Schultern. Zwischen den Haushaltsangehörigen<br />

wird die Haus- und Sorgearbeit noch lange nicht<br />

gerecht verteilt. Im Gegenteil: Frauen müssen meist „alles“<br />

managen.


Hoher Bedarf an Unterstützung<br />

Familienernährerinnen haben ohne Frage einen hohen Bedarf an<br />

Unterstützung und Entlastung. Die Arrangements, diese oft<br />

komplexen Anforderungen zu managen, sind vielfältig. Häufig sind<br />

sie nur mit einem ausgefeilten sozialen Netzwerk überhaupt zu<br />

bewältigen. Ob haushaltsnahe Dienstleistungen Familienernährerinnen<br />

unterstützen und entlasten können oder eher alte Rollenverteilungen<br />

zementieren, kommt auf die Ausgestaltung an. Aus Sicht<br />

der Haushalte, in denen Frauen die Familie (hauptsächlich) ernähren,<br />

können haushaltsnahe Dienstleistungen eine Unterstützung sein. Die<br />

zentrale Frage dabei lautet: wie werden haushaltsnahe Dienstleistungen<br />

angeboten und sind sie bezahlbar? Einige Familienernährerinnen<br />

sind hoch qualifiziert und arbeiten in gut oder sehr gut<br />

bezahlten Jobs. Sie leben zum Beispiel in Einkommensverhältnissen,<br />

in denen die PartnerInnen ein weiteres Einkommen beisteuern. Für<br />

zwei gut verdienende PartnerInnen – mit und ohne Kinder – ist es<br />

machbar, Dienstleistungen einzukaufen.<br />

Eine Frage des Einkommens und der Prioritätensetzung<br />

Wieder andere Frauen leben das traditionelle Ernährermodell nur mit<br />

„vertauschten“ Rollen, wenn der Partner kein oder kaum eigenes<br />

Einkommen hat und das Einkommen der Frau für den Lebensunterhalt<br />

ausreicht. Hier sind haushaltsnahe Dienstleistungen eine Frage<br />

der Prioritätensetzung, wofür im Haushalt Geld ausgeben wird.<br />

Denn: in Haushaltskonstellationen mit der „vertauschten“ Alleinernährerrolle<br />

übernimmt der Partner in der Regel nicht im gleichen<br />

Maße Haushalt- und Sorgearbeit wie im „klassischen“ männlichen<br />

Alleinverdienermodell.<br />

SCHWERPUNKT<br />

INFO-BRIEF 3/11<br />

16<br />

Es kommt also wesentlich darauf an, wie die Kosten für haushaltsnahe<br />

Dienstleistungen getragen und gefördert werden.<br />

Grundsätzlich müssten Kosten arbeitgebender Haushalte auch<br />

von der Steuerschuld absetzbar sein. Haushalten mit geringer<br />

oder keiner Steuerschuld (z.B. aufgrund niedriger Einkommen)<br />

sind aus Gründen der Verteilungsgerechtigkeit andere Entlastungswege<br />

zu eröffnen.<br />

Wachsende Schicht unsichtbarer Dienstbotinnen<br />

Aus Sicht der Beschäftigten in Haushalten ist die Frage, ob haushaltsnahe<br />

Dienstleistungen Familienernährerinnen entlasten oder<br />

ob sie alte Rollenbilder festschreiben, schon schwieriger zu beantworten.<br />

Denn hier gerät allzu schnell aus dem Blick, dass auch<br />

Beschäftigte im Haushalt ein Recht auf gute und existenzsichernde<br />

Arbeit, auf Tariflöhne und Arbeitsschutz haben. Erfahrungen<br />

zeigen, dass die steigende Erwerbstätigkeit vieler Frauen<br />

mit einer wachsenden Schicht „unsichtbarer Dienstbotinnen“<br />

einhergeht. Dies bedeutet eine steigende Migration insbesondere<br />

weiblicher Arbeitskräfte, die oft ebenfalls Familie haben, die sie an<br />

ihren Heimatorten zurücklassen. Nicht selten sind diese Beschäftigten<br />

im Haushalt sogar selbst Familienernährerinnen. Hier wird<br />

die traditionelle Arbeitsteilung auf Frauen im Niedriglohnsektor<br />

(mit und ohne Migrationsgeschichte) verlagert.<br />

Rechte und Pflichten für Haushalte als Arbeitgeber<br />

Haushalte sind Arbeitgeber und haben damit Rechte und<br />

Pflichten. Zwischen Arbeitgebern in Privathaushalten und in der<br />

Wirtschaft sollte lediglich hinsichtlich des Anmelde- und Abrech-


nungsverfahren unterschieden werden. Obwohl sie sich in der<br />

Praxis häufig vermischen, müssen haushalts- und personenbezogene<br />

Dienstleistungen differenziert betrachtet werden. Als<br />

Grundsatz gilt: Tätigkeiten, die eine fachliche Qualifikation erfordern<br />

und/oder für die es eine professionelle Ausbildung gibt (z.B.<br />

Gesundheitsversorgung, Hauswirtschaft oder Gebäudereinigung),<br />

müssen adäquat vergütet werden. Auch Beschäftigte im Haushalt<br />

haben Anspruch auf geltende Arbeits- und Lohnstandards wie<br />

Tarifverträge und Arbeitsnormen.<br />

Eine aktuelle Studie der Hans-Böckler-Stiftung benennt als<br />

zentralen Ansatz zur Förderung regulärer Beschäftigung im Haushalt<br />

den Ausbau einer kostengünstigen und bedarfsgerechten<br />

Infrastruktur für die Betreuung von Kindern und älteren<br />

Menschen. Ergänzend sollten Dienstleistungsunternehmen (kleinere)<br />

Jobs im Haushalt zu sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung<br />

bündeln – und zwar in Dienstleistungsagenturen. Diese<br />

funktionierten aber, so die Studie, nur mit staatlicher Unterstützung<br />

und müssten subventioniert werden. Dies ist eine Frage politischer<br />

Willensbildung.<br />

SCHWERPUNKT<br />

INFO-BRIEF 3/11<br />

17<br />

Ausbau und Förderung haushaltsnaher Dienstleistungen<br />

Die <strong>DGB</strong>-Frauen haben sich in den vergangenen Jahren für den<br />

Ausbau und die Förderung haushaltsnaher Dienstleitungen<br />

ausgesprochen. Wir präferieren Pool- oder Agenturlösungen als<br />

Anbieter von Dienstleistungen und damit als Arbeitgeber für<br />

DienstleisterInnen. Diese sind ohne finanzielle Förderung aber<br />

nicht oder nur vereinzelt marktfähig. Ob und wie eine Subventionierung<br />

sozial gerecht gestaltet werden kann, muss diskutiert<br />

werden. Wahlmöglichkeiten zwischen Dienstleistungen im Haushalt<br />

und/oder in der öffentlichen Infrastruktur müssen gegeben<br />

sein, wie zum Beispiel die Pflege zu Hause oder in entsprechenden<br />

Pflegeeinrichtungen. Anforderungen an haushaltsnahe<br />

Dienstleistungen müssen konkret beschrieben werden und die<br />

Bedarfe der KundInnen sowie der Beschäftigten berücksichtigen.<br />

Familienernährerinnen als Katalysator<br />

Bei der Debatte um Wahlfreiheit gilt es auch, gesellschaftliche<br />

Rahmenbedingungen zu diskutieren und einzufordern: Was<br />

verstehen wir mit Blick auf das Thema unter gesellschaftlicher<br />

Verantwortung, unter guter öffentlicher Daseinsvorsorge? Und wie<br />

treten wir, bei aller Wahlfreiheit<br />

und dem gebotenen Respekt für<br />

Menschen und ihre individuellen<br />

Bedürfnisse, einer Verlagerung<br />

von Aufgaben der öffentlichen<br />

Daseinsvorsorge zurück in die<br />

Haushalte entgegen? Denn wir<br />

wissen, die Aufgaben in den Haushalten<br />

liegen bis heute mehrheitlich<br />

in den Händen von Frauen,<br />

als Töchter, Schwiegertöchter,<br />

Ehefrauen. Hier hat die Diskussion<br />

erst begonnen. Der Blick auf die<br />

Familienernährerinnen mit ihren<br />

sehr unterschiedlichen Lebenssituationen<br />

und Bedarfen kann<br />

als Katalysator wirken.<br />

Karin Gottschall, Manuela Schwarzkopf: Irreguläre<br />

Arbeit in Privathaushalten. Rechtliche und institutionelle<br />

Anreize zu irregulärer Arbeit in Privathaushalten in<br />

Deutschland. Bestandsaufnahme und Lösungsansätze.<br />

Reihe: Arbeitspapier, Arbeit und Soziales, Nr. 217.<br />

Düsseldorf 2010, Hrsg.: Hans-Böckler-Stiftung


LÖSUNGSVORSCHLÄGE<br />

AUS DER PRAXIS<br />

ONLINE-DISKUSSION ZEIGT<br />

VIELFÄLTIGE ERGEBNISSE<br />

KATRIN MENKE IST MITARBEITERIN IM <strong>DGB</strong>-<br />

POLITIKENTWICKLUNGSPROJEKT „MODELL DER<br />

FAMILIENERNÄHRERIN“.<br />

Was bedeutet es, wenn Frauen die Familie ernähren?<br />

Dieser Frage ist das Politikentwicklungsprojekt „Modell<br />

der Familienernährerin“ des <strong>DGB</strong> auf seiner Internetplattform<br />

nachgegangen und hat zum Mitdiskutieren aufgerufen.<br />

Hautnah berichten Betroffene über Rollenkonflikte,<br />

Belastungen des Alltags und bieten praktische Verbesserungsvorschläge.<br />

Projektmitarbeiterin Katrin Menke stellt<br />

erste Ergebnisse einer qualitativen Auswertung vor.<br />

Wie sich der Alltag als Familienernährerin gestaltet, lässt sich aus<br />

vielen Beiträgen im Internet ablesen. Unabhängig davon, ob der<br />

Status der Alleinerziehenden oder die besseren Karriereaussichten<br />

Frauen zur Ernährerin der Familie machen, Familienernährerinnen<br />

kämpfen stets (mindestens) an zwei Fronten. An der beruflichen<br />

Front gegen schlechte Arbeits(zeit)bedingungen und geringe Bezahlung<br />

sowie an der privaten Front gegen eine tradierte Hausarbeitsteilung<br />

und stereotype Erwartungen von Dritten. Auf der Internetplattform<br />

drückt eine Frau dies so aus: „Als Familienernährerin<br />

habe ich brutal wenig Zeit, zwei Kinder und zwei Jobs, um so viel<br />

Geld zu haben, dass wir gerade mal so leben können. Ich mache die<br />

Erziehung, den Haushalt, Kontakt zur Schule, Elternabende“.<br />

Es fehlt an Rollenalternativen<br />

Doch auch die gesellschaftliche und familiale Rolle der Partner von<br />

Familienernährerinnen bzw. von Männern insgesamt wird diskutiert.<br />

So gibt ein Mann zu bedenken: „Viele Partner sind (…) unfreiwillig<br />

SCHWERPUNKT<br />

INFO-BRIEF 3/11<br />

18<br />

Nicht-Familienernährer und empfinden die zahllosen Ausschlüsse<br />

und Entfunktionalisierungen schlicht als demütigend“. Das<br />

Problem: Eine alternative Rolle zu der des Familienernährers gibt es<br />

für Männer bis dato kaum. So wissen einige (männliche) Teilnehmer<br />

der Online-Diskussion zu berichten, dass der Mann nur als „Vollerwerbstier“<br />

und nicht „in der Versorgungsrolle“ akzeptiert werde.<br />

„Vereinbarkeit der Familie und des Berufes bei den Männern<br />

scheint in der Gesellschaft ein Tabuthema zu sein.“<br />

Egal ob Frau oder Mann, Familienernährerin oder Hausmann – sie<br />

alle bringen die gleichen Themen und dieselben Forderungen auf<br />

den virtuellen Tisch. Diese sind breit gefächert und beginnen bei A<br />

wie Arbeitszeiten, über H wie Hausarbeitsteilung und E wie Entlohnung<br />

bis hin zu R wie Rollenbilder. Dass es in Deutschland noch<br />

immer viel zu tun gibt, darüber sind sich alle auf der Plattform<br />

einig. Eine Frau bringt das Problem auf den Punkt: „Obwohl sich<br />

schon viel verbessert hat, fehlen in der BRD noch immer die nötigen<br />

Rahmenbedingungen“.<br />

Forderungen an Politik, Arbeitgeber und Gewerkschaften<br />

Die meisten, die sich an der Online-Diskussion beteiligen, haben<br />

konkrete Verbesserungsvorschläge, die Familienernährerinnen, ihre<br />

Kinder und Partner unterstützen und entlasten würden. Diese<br />

betreffen in vielen Aspekten nicht nur die Politik, sondern auch<br />

Arbeitgeber und Gewerkschaften.<br />

Neue Arbeitszeitmodelle gewünscht<br />

Unter dem Stichwort „Zeit“ fordern DiskutantInnen einerseits<br />

verbindliche familienfreundliche und selbst- bzw. mitbestimmte<br />

Arbeitszeitmodelle von Seiten der Arbeitgeber. „Besonders größere<br />

Betriebe müssen gesetzlich dazu verpflichtet werden, damit Eltern<br />

überhaupt arbeiten können.“ Andererseits wünschen sich viele<br />

mehr Zeit und sprechen mit ihren Forderungen nach „einer Verringerung<br />

der wöchentlichen Arbeitszeit“ oder „zusätzliche freie Tage<br />

für erwerbstätige Elternteile“ direkt die Gewerkschaften an.<br />

Ebenfalls thematisiert wird die unzureichende Integration von<br />

Frauen in den Arbeitsmarkt. „Frauen arbeiten vor allem Teilzeit und<br />

im Niedriglohnsektor, bzw. werden sogar schlechter bezahlt für die<br />

gleiche Arbeit.“ Die Mindestforderungen der DiskutantInnen lauten<br />

daher „gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ und ein „Mindestlohn“.


Betreuungsmöglichkeiten auf Erwerbstätige ausrichten<br />

Als verbesserungswürdig deklarieren viele in der Online-Diskussion<br />

nach wir vor die unzureichende Betreuungsinfrastruktur in Deutschland.<br />

So berichtet eine Diskutantin: „Ich habe meine beiden Kinder<br />

in Frankreich großgezogen und von dem guten Betreuungssystem<br />

profitiert“. Der Wunsch nach verlässlicher Ganztagsbetreuung von<br />

Kindern schwingt in vielen Beiträgen mit. Es sind jedoch nicht nur<br />

die reinen Öffnungszeiten der staatlichen Schul- und Betreuungseinrichtungen,<br />

die sich stärker auf erwerbstätige Mütter und fürsorgende<br />

Väter einstellen müssten. So ärgert sich eine Diskutatin<br />

über Schul- und Kitaveranstaltungen während der Kernarbeitszeiten,<br />

bei denen „dann natürlich erwartet wird, dass Mütter<br />

kommen“, während eine andere beklagt, dass in der Elternsprechstunde<br />

die LehrerInnen ihrer Kinder am liebsten stets mit ihr und<br />

nicht mit ihrem Partner sprechen wollen.<br />

Die Überwindung traditioneller männlicher und weiblicher Rollenleitbilder<br />

ist der Online-Diskussion zufolge eine weitere Baustelle. In<br />

der häuslichen Arbeitsteilung müssten sich Männer mehr engagieren<br />

und Frauen ihren Partnern auch mehr zutrauen. Eine Diskutantin<br />

glaubt, dass Frauen oft an ihrem Partner herummäkelten,<br />

„weil diese die häuslichen Aufgaben nicht nach ihren weiblichen<br />

Vorstellungen erledigen“ und sich so die Doppelbelastung aus<br />

Beruf und Familie auch selbst aufbürdeten. „Warum“, fragt die<br />

Diskutantin, „gibt es keinen Kurs für Frauen und Paare, die auf den<br />

Rollentausch vorbereiten, wo es doch ansonsten alle möglichen<br />

Seminare für neue Lebenslagen gibt?“<br />

Gleichstellung verschiedener Lebensformen<br />

Insgesamt gilt es, auch von Seiten der Politik zu erkennen, dass<br />

Deutschland „eine freie, multikulturelle pluralistische Gesellschaft“<br />

ist, in der „klassische Familien, Regenbogenfamilien, Hausmänner,<br />

Alleinerziehende, muslimische Großfamilien, Patchworkfamilien“<br />

gleichgestellt sein müssen. Vor diesem Hintergrund wird im Online-<br />

Forum konkret eine Modernisierung der Steuerklassen mit der klaren<br />

Vorgabe gefordert: „Die günstigste Steuerklasse gehört dorthin, wo<br />

Kinder leben!“ Für viele DiskutantInnen ist unbegreiflich, warum<br />

Ehepaare ohne Kinder durch das Ehegattensplitting steuerliche<br />

Vorteile erhalten, nicht aber unverheiratete Paare mit Kindern.<br />

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die meisten Teilnehmerinnen<br />

und Teilnehmer klare Vorschläge zur Verbesserung der Arbeits- und<br />

SCHWERPUNKT<br />

INFO-BRIEF 3/11<br />

19<br />

Lebensbedingungen von Familienernährerinnen mitbringen, die sie als<br />

„Selbstverständlichkeiten“ ansehen und die es endlich umzusetzen<br />

gilt. In ihnen stecken viele aktuelle frauenpolitische Forderungen.<br />

Lust, mit zu diskutieren?<br />

Schreiben Sie uns Ihre Meinung unter:<br />

www.familienernaehrerin.de/diskussion<br />

Alle Zitate sind Beiträgen der Online-Diskussion<br />

entnommen und auf der Website einsehbar.


DIE WICHTIGSTEN STATIONEN<br />

DER GLEICHBERECHTIGUNG<br />

IV. TEIL – VON DEN 68ERN<br />

BIS ZUR WIEDERVEREINIGUNG<br />

Von Claudia Menne<br />

Die stetige Zunahme der weiblichen Erwerbstätigkeit seit<br />

dem Zweiten Weltkrieg brachte keine tief greifende<br />

gesellschaftliche Neubewertung der Frauenarbeit mit sich.<br />

Obwohl in den Jahren der Arbeitskräfteknappheit die stille<br />

Reserve der Hausfrauen für den Arbeitsmarkt immer<br />

wieder rekrutiert wird, kann von einer Gleichberechtigung<br />

von Frauen auf dem Arbeitsmarkt nicht die Rede sein.<br />

Durch die Verantwortung für Haushalt und Familie bleiben<br />

die Zeit- und Kraftreserven für die Erwerbsarbeit nach wie<br />

vor eingeschränkt.<br />

In der zweiten Hälfte der 60er Jahre machen Frauen mehr als ein<br />

Drittel aller Erwerbstätigen in der Bundesrepublik aus, über<br />

70 Prozent sind in schlecht bezahlten Stellen beschäftigt,<br />

50 Prozent üben ihre Tätigkeit als angelernte Beschäftigte aus.<br />

Durch die Eingruppierung in so genannte Leichtlohngruppen<br />

werden sie zusätzlich diskriminiert.<br />

Frauenbeschäftigung nach wie vor unterbezahlt<br />

Vieles bleibt bis heute unverändert. So kommt es Mitte der 60er<br />

Jahre zu einem Pflegenotstand in den bundesdeutschen Krankenhäusern.<br />

Trotz Erhöhung des Pflegepersonals um etwa 30.000<br />

Personen seit 1960 werden weiterhin 25.000 Stellen benötigt.<br />

Niedrige Gehälter und miserable Arbeitsbedingungen, wie ständig<br />

wechselnde Arbeitszeiten, massive Überstunden, Dauerschichten<br />

und geringe Aufstiegsmöglichkeiten, zeichnen die Arbeit in der<br />

Pflege aus. Der Beruf der Krankenschwester wird – damals wie<br />

heute - in erster Linie von Frauen ausgeübt.<br />

Geschlechterverhältnisse werden öffentlich diskutiert<br />

Die erste deutsche Frauenbewegung brachte im 19. Jahrhundert die<br />

Frauenfrage erstmals an die Öffentlichkeit. Das Ende der 60er Jahre<br />

wird zur Geburtsstunde der neuen zweiten Frauenbewegung, die im<br />

Zuge der 68er Bewegung nicht ohne den Impuls der Studenten-<br />

100 JAHRE INTERNATIONALER FRAUENTAG<br />

INFO-BRIEF 3/11<br />

20<br />

bewegung zu denken ist. Sie rückt in den USA und in Westeuropa<br />

die bis dato als „privat“ tabuisierten Themen und Probleme der<br />

persönlichen Paarbeziehungen und des Geschlechterverhältnisses<br />

ins Zentrum der politischen Auseinandersetzung. Sie bildet die Basis<br />

der Kritik und des Widerstandes. Liebe, Sexualität, Kinderwunsch,<br />

Hausarbeit, Beziehungsmuster galten bis zu diesem Zeitpunkt als<br />

naturhaft fixiert, als privat nicht veränderbar. Die geschlechtsspezifische<br />

Arbeitsteilung, ihre Diskriminierung und die Verfügung über<br />

den weiblichen Körper sind zentrale Themen der Frauenbewegung.<br />

Die Kritik der Feministinnen an den patriarchalen Strukturen<br />

verfolgt einen universalistischen Ansatz. Die Diskriminierung und<br />

Entwertung von Weiblichkeit und Frauenarbeit wird in einem weltweiten<br />

Zusammenhang gesehen und in Beziehung zur Ausbeutung<br />

und Entmündigung von Frauen in der so genannten Dritten Welt<br />

und in den angeblich emanzipationsfreundlichen sozialistischen<br />

Staaten gesetzt. Diese Aufbruchstimmung geht einher mit dem<br />

Regierungswechsel von 1969. Willy Brandt wird zum Bundeskanzler<br />

gewählt. Unter dem Motto „Mehr Demokratie wagen“ sollen nun<br />

auch die ungleichen Lebenslagen von Frauen und Männern verändert<br />

werden.<br />

Bildungsreform stärkt Frauen<br />

Die Bildungsreformen in den 70er Jahren kommen insbesondere<br />

Frauen zugute. Dem Arbeitsmarkt sollen neue qualifizierte Kräfte<br />

zugeführt werden. Insgesamt profitierten Frauen in allen westlichen<br />

Industrienationen von diesem Wandel. Mit dem Erfolg, dass wir im<br />

Jahr 2010 von der am besten ausgebildeten Frauengeneration aller<br />

Zeiten sprechen können.


<strong>DGB</strong> verabschiedet Programm für Arbeitnehmerinnen<br />

Auch der <strong>DGB</strong> beschließt 1969 auf seinem 8. Ordentlichen Bundeskongress<br />

in München sein Programm für Arbeitnehmerinnen. Dieses<br />

Programm bildet die Grundlage für alle weitergehenden Forderungen<br />

des <strong>DGB</strong> zur Situation der Frauen im Arbeitsleben. Hervorgerufen<br />

durch die Erfahrungen der ersten Rezession von 1966/67<br />

und der damit verbundenen Verdrängung der Frauen aus dem<br />

Erwerbsleben, fangen Arbeitnehmerinnen an, sich gegen frauenfeindliche<br />

Arbeitsbedingungen und Diskriminierung zu wehren.<br />

In ihrem Programm heißt es: „Die Frauen sichern durch ihre berufliche<br />

Tätigkeit nicht nur ihre Existenz. Sie entwickeln durch sie ihre<br />

Fähigkeiten und erhalten Impulse zur Entfaltung ihrer Persönlichkeit.<br />

Die Volkswirtschaft kann auf die Leistung der Frauen heute<br />

weniger denn je verzichten. Technische und strukturelle Veränderungen<br />

haben den Beitrag der Frauen unentbehrlich gemacht. Die<br />

Gesellschaft ist auf die Fähigkeiten und Leistungen der Frauen im<br />

Arbeitsleben angewiesen, damit eine fortschrittliche und humane<br />

Politik durchgesetzt werden kann. Deshalb müssen Staat, Gesellschaft<br />

und Wirtschaft in ihrem eigenen Interesse und aus der<br />

Verpflichtung zur sozialen Gerechtigkeit auch den Frauen die<br />

Grundrechte der Menschen, insbesondere das Recht auf Arbeit,<br />

garantieren. Dazu bedarf es in erster Linie der Aufhebung der sozialen<br />

Schranken, der Beseitigung aller Diskriminierungen und des<br />

Abbaus der gesellschaftlichen Vorurteile.“<br />

Die gesellschaftspolitische Diskussion in Westdeutschland spiegelt<br />

wider, was im anderen Teil Deutschlands als selbstverständlich gilt.<br />

Denn in der DDR ist das Recht auf Arbeit in der Verfassung verankert.<br />

Auch der Streit darüber, ob Kinderbetreuung außerhalb des<br />

Elternhauses sinnvoll und notwendig ist, ist vor diesem Hintergrund<br />

zu sehen, hatte doch die DDR die Kinderbetreuung zur staatlichen<br />

Aufgabe gemacht.<br />

„Kinderfrage“ wird zur Triebfeder<br />

Gerade durch das Engagement der 68er Frauen entstehen vor allem<br />

in Berlin und später in vielen anderen Städten der Bundesrepublik<br />

antiautoritäre Kinderläden als Gegenentwurf zur familiären oder<br />

staatlichen Betreuungssituation. Die „Kinderfrage“ hat ab 1968<br />

eine zentrale Bedeutung in der neuen Frauenbewegung. Die Unzufriedenheit<br />

darüber, dass Frauen allein die Verantwortung für die<br />

Kindererziehung tragen, während sich ihre Männer politisch enga-<br />

100 JAHRE INTERNATIONALER FRAUENTAG<br />

INFO-BRIEF 3/11<br />

21<br />

gieren, wird zur Triebfeder für die Frauen, die ihren Weg aus dem<br />

Mütterghetto suchen. Es geht ihnen dabei nicht nur um Selbsthilfe,<br />

um mehr Zeit für politische Arbeit und Bildung, sondern auch um<br />

ein emanzipatorisches Gegenmodell.<br />

Die Frauenbewegung setzt sich auch für die Stärkung der Rechte<br />

lesbischer Frauen ein. Sie unterstützt den Kampf der Lesben und<br />

Schwulen gegen Diskriminierung und unterstützt ihre Forderung<br />

nach Respektierung der Homosexualität und Gleichberechtigung im<br />

Sinne der Menschenrechte.<br />

Selbstbestimmung über den eigenen Körper<br />

Die Forderung der Frauenbewegung über die Selbstbestimmung des<br />

eigenen Körpers ist verknüpft mit der Forderung nach einem Schwangerschaftsabbruch<br />

ohne Bestrafung (Debatte um den § 218). Die<br />

Liberalisierung und Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs<br />

wird vehement geführt. 1971 erfährt dieser Kampf einen vorläufigen<br />

Höhepunkt mit der Stern-Aktion „Wir haben abgetrieben“. An dieser<br />

Selbstbezichtigungskampagne, die auf konservativer und katholischer<br />

Seite auf massive Kritik stößt und zu Strafanzeigen führt, beteiligen<br />

sich 374 Frauen. Mehr als 3.000 Unterschriften werden vom Sozialistischen<br />

Frauenbund Berlin, den Roten Frauen aus München und der<br />

Frauenaktion 70 aus Frankfurt am Main gesammelt.<br />

In Italien tobt zur gleichen Zeit ein heftiger Streit um das Scheidungsrecht.<br />

Aber nicht nur in Italien, sondern auch in anderen europäischen<br />

Ländern gilt 1970 noch die Unauflösbarkeit der Ehe.<br />

Eine eigenständige Frauenkultur entsteht<br />

Das Selbstbestimmungsrecht der Frauen auch in sexueller Hinsicht<br />

geht einher mit Aufklärungskampagnen, einer neuen Mode und mit<br />

massiver Kritik an der Werbung und der Frauenverachtung in den<br />

Medien. 1976 wird das erste Frauenhaus gegründet, im gleichen<br />

Jahr findet die erste Sommeruniversität für Frauen zum Thema


Frauen und Wissenschaft statt. Ende der 70er Jahre entwickeln sich<br />

die ersten autonomen Frauenprojekte, Frauenbuchläden öffnen ihre<br />

Pforten, überregionale Zeitschriften von Frauen für Frauen entstehen,<br />

die bekanntesten sind Emma und Courage.<br />

Gerichtlicher Sieg um die Entgeltgleichheit<br />

Ende der 70er Jahre entscheiden auch die ersten Gerichte zugunsten<br />

der Frauen bei der Frage nach gleicher Bezahlung für gleiche Arbeit,<br />

denn die Verdienste der Frauen liegen im Schnitt ein Drittel unter denen<br />

der Männer. Auch im Angestelltenbereich gibt es deutliche<br />

Einkommensgefälle zwischen Männern und Frauen. In Essen klagen die<br />

ersten 29 Arbeiterinnen eines Fotolaborbetriebs, in Hamm wird ihre<br />

Klage vor dem Landesarbeitsgericht in 2. Instanz abgewiesen. Dieser<br />

skandalöse Umgang mit dem Problem löst eine Welle von Solidaritätsbezeugungen<br />

aus. Mehr als 90.000 Solidaritätsunterschriften werden<br />

gesammelt, Demonstrationen und Kundgebungen unterstützen den<br />

Arbeitskampf der Frauen. Zwei Jahre später gewinnen die Arbeiterinnen<br />

schließlich ihren Prozess vor dem Bundesarbeitsgericht in Kassel.<br />

Wiederbelebung des Internationalen Frauentages<br />

Die UNO deklariert das Jahr 1975 zum Jahr der Frau und der Gleichberechtigung<br />

der Geschlechter, der 8. März als Internationaler Tag<br />

der Frau wird wiederbelebt. Dies hat auch Konsequenzen in Deutschland.<br />

Die 10. Bundesfrauenkonferenz des <strong>DGB</strong> fordert 1981 den<br />

<strong>DGB</strong>-Bundesvorstand auf, den Internationalen Frauentag zu fördern.<br />

So sollen die <strong>DGB</strong>-Kreise die Kreisfrauenausschüsse bei der Durchführung<br />

von Aktionen zum 8.März unterstützen. Die Begründung:<br />

Der Internationale Frauentag eigne sich besonders gut dafür, die<br />

Probleme der erwerbstätigen Frauen öffentlich darzustellen und auf<br />

immer noch bestehende Widersprüche zwischen Verfassungsgebot<br />

und Wirklichkeit hinzuweisen.<br />

100 JAHRE INTERNATIONALER FRAUENTAG<br />

INFO-BRIEF 3/11<br />

22<br />

1982 folgt der 12. Ordentliche Bundeskongress der Forderung der<br />

Frauen und beschließt: „Der 8. März wird als Internationaler Frauentag<br />

des <strong>DGB</strong> in allen seinen Gliederungen begangen. Dabei sollen<br />

insbesondere die aktuellen Probleme der arbeitenden Frauen dargestellt<br />

und die Forderungen der Gewerkschaften formuliert werden.“<br />

Die in den eigenen Reihen kontrovers geführte Diskussion, ob die<br />

Durchführung des Internationalen Frauentages eine organisationspolitische<br />

Aufgabe ist, wird mit dieser Beschlusslage beendet. Auf<br />

130 Veranstaltungen in den <strong>DGB</strong>-Kreisen zum Internationalen Frauentag<br />

1983, machen Frauen und ihre Familien auf ihre Wünsche und<br />

Forderungen aufmerksam, die sich mit Blick auf die bevorstehende<br />

Bundestagswahl an Politiker und Arbeitgeber richten.<br />

Kampf um Mitbestimmung<br />

Angelehnt an das Motto des Internationalen Frauentages 1983<br />

„Frauen kämpfen für Mitbestimmung“ lautet der Aufruf des <strong>DGB</strong>-<br />

Bundesvorstandes: „Wir kämpfen für Mitbestimmung – gegen<br />

Unternehmerwillkür und Sozialabbau. Wir kämpfen für Frieden und<br />

Abrüstung. Wir wollen keinen Frauendienst in der Bundeswehr.<br />

Gewerkschaftsfrauen wollen mehr Mitbestimmung am Arbeitsplatz,<br />

im Betrieb und in der Verwaltung, im Unternehmen, in der Wirtschaft,<br />

in der Politik, weil Frauenlöhne immer noch geringer sind,<br />

Frauenarbeitsplätze in großem Umfang vernichtet werden, Ausbildungsplätze<br />

für Mädchen Mangelware sind, Frauen Beruf und<br />

Familie noch immer schwer miteinander vereinbaren können,


Frauenarbeit durch Rationalisierung immer mehr zur Hetze wird und<br />

Frauen durch Sozialabbau ihre Rechte immer schwerer durchsetzen<br />

können. Frauen sind im Interesse der Erhaltung des Friedens gegen<br />

Aufrüstung und gegen ihren Einsatz in der Bundeswehr. Deshalb:<br />

Frauen traut Euch! Macht mit! Nicht ducken, mitbestimmen! Mitbestimmen<br />

in Beruf und Gesellschaft!“<br />

1983 beschließt der <strong>DGB</strong>, jedes Jahr ein eigenes Motto zum Internationalen<br />

Frauentag herauszugeben und Plakate für die verschiedenen<br />

<strong>DGB</strong>-Gliederungen zu drucken, um das Motto bekannt zu<br />

machen. Von diesem Zeitpunkt an erscheint jeweils zum 8. März ein<br />

<strong>DGB</strong>-Reader, in dem zentrale Forderungen und Themen des Internationalen<br />

Frauentages aufbereitet werden. Zum ersten Mal werden<br />

diese Materialien als Ausgabe 2/1983 der Zeitschrift „Frauen und<br />

Arbeit“ herausgegeben.<br />

Protest der Gewerkschaftsfrauen<br />

1983 kommt es auf dem Bonner Münsterplatz zu einer Abschlusskundgebung<br />

nach einem Protestmarsch von 30.000 Gewerkschafterinnen.<br />

Auf dieser größten Frauendemonstration nach dem<br />

Zweiten Weltkrieg protestieren die Gewerkschafterinnen gegen<br />

Sozialabbau, Verschlechterung des Mutterschutzes und der Renten.<br />

Diese Kundgebung gegen die frauen- und familienfeindliche Politik<br />

der Bundesregierung in Bonn ist ein markantes Beispiel für den<br />

Anspruch einer eigenständigen Frauenpolitik innerhalb der Gewerkschaften.<br />

Die Gewerkschafterinnen wollen Frauenfragen stärker in der<br />

Gesamtorganisation verankern und machen mit gezielten Aktionen<br />

auf die vielfältigen Formen der Diskriminierung aufmerksam. Zum<br />

100 JAHRE INTERNATIONALER FRAUENTAG<br />

INFO-BRIEF 3/11<br />

23<br />

Teil ist der Frauenprotest von Erfolg gekrönt. Im Jahr 1986 tritt eine<br />

Neuregelung der gesetzlichen Rentenversicherung in Kraft, wonach<br />

demjenigen Elternteil, der sich der Erziehung eines Kindes in dessen<br />

erstem Lebensjahr widmet, diese zwölf Monate als Pflichtversicherungszeit<br />

für die Rente anerkannt werden.<br />

Internationaler Frauentag im vereinten Deutschland<br />

Im wiedervereinten Deutschland und insbesondere in den neuen<br />

Bundesländern findet der 8. März zunächst nur wenig öffentliche<br />

Beachtung. Auch in den alten Bundesländern sind die Befürworterinnen<br />

durch die neue Situation eher entmutigt. Doch schon 1993<br />

kündigt sich in den ostdeutschen Städten und Gemeinden eine<br />

Wiederbesinnung auf diesen Tag an. Die Erkenntnis, dass der Internationale<br />

Frauentag auch nach dem Untergang des Staatssozialismus<br />

seine Berechtigung hat, setzt sich durch. Er wird erneut<br />

zum Anlass genommen, Frauen zu mobilisieren und aufzufordern,<br />

sich für ihre Rechte einzusetzen.<br />

Zu den Themen des Internationalen Frauentages gehören nach wie<br />

vor der Kampf gegen den §218, die Verdrängung der Frauen auf<br />

dem Arbeitsmarkt sowie Forderungen nach konkreten Gleichstellungsgesetzen,<br />

echter Frauenförderung und Eigenständigkeit.<br />

Verstärkt rücken auch Menschenrechtsverletzungen in den Blickpunkt<br />

sowie Diskriminierungen und Gewalt gegen ausländische<br />

Frauen.


AUSBLICK<br />

WORKSHOPS UND VORTRÄGE<br />

Um das Thema Familienernährerinnen weiter in die Öffentlichkeit zu tragen, bietet das <strong>DGB</strong>-<br />

Politikentwicklungsprojekt „Modell der Familienernährerin“ Workshops, Vorträge und Tagungen<br />

an. Dabei werden Diskussionen um Geschlechterrollen angestoßen sowie konkrete Schritte erarbeitet,<br />

welche politischen und gesellschaftlichen Veränderungen notwendig sind, um die Lebensund<br />

Arbeitsbedingungen von Familienernährerinnen zu verbessern. Einen Vortrag zur Erwerbssituation<br />

von Frauen und Familienernährerinnen hält Projektleiterin Melitta Kühnlein am 3. November<br />

auf der Tagung zum Welttag des Mannes des Zentrums für Frauen- und Geschlechterforschung<br />

der Universität Leipzig und dem FraGes-Verein Leipzig e.V. in Kooperation mit LEmann e.V..<br />

Am 15. November ist das <strong>DGB</strong>-Politikentwicklungsprojekt in der Agentur für Arbeit in<br />

Memmingen zu Gast und lädt zu einem Vortrag mit anschließender Diskussionsrunde ein.<br />

Im Dezember gibt es einen Open Space Workshop in Berlin unter dem Titel „(Alles) anders als<br />

gedacht“. Vertreterinnen und Vertreter aus Gewerkschaften, Arbeitgeberverbänden, Frauen- und<br />

Männerorganisationen, Kirchen und Sozialverbänden sowie betroffene Frauen sind eingeladen,<br />

Strategien und Wege zu diskutieren, wie die (Arbeits- ) Welt zu gestalten ist, damit Familienernährerinnen<br />

die nötige Unterstützung erfahren und selbstverständlich werden. Nähere Informationen<br />

zum Projekt und den Veranstaltungen unter: www.familienernaehrerin.de<br />

ABONNEMENT-BESTELLUNG<br />

HIERMIT BESTELLE ICH EIN ABONNEMENT DES INFO-BRIEFES „FRAU GEHT VOR“<br />

ZUM PREIS VON 13 EURO • DER INFO-BRIEF ERSCHEINT VIERTELJÄHRLICH.<br />

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STRALAUER PLATZ 33 – 34<br />

10243 BERLIN<br />

IMPRESSUM<br />

HERAUSGEBERIN<br />

INGRID SEHRBROCK<br />

<strong>DGB</strong> BUNDESVORSTAND<br />

V.I.S.D.P.: ANJA WEUSTHOFF<br />

ABTEILUNG FRAUEN-,<br />

GLEICHSTELLUNGS- UND<br />

FAMILIENPOLITIK<br />

HENRIETTE-HERZ-PLATZ 2<br />

10178 BERLIN<br />

FAX: 030 – 240 60 -761<br />

REDAKTION<br />

BRITTA JAGUSCH<br />

FRANKFURT<br />

GRAFIK<br />

PRINTNETWORK PN GMBH<br />

BERLIN<br />

DRUCK + VERTRIEB<br />

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BERLIN<br />

ENTGELT BEZAHLT, POSTVERTRIEBSSTÜCK A 14573

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