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<strong>Inhalt</strong><br />

<strong>AUFSÄTZE</strong><br />

Strafprozessrecht<br />

Elektronisch überwachter Hausarrest<br />

Zur Regelung in Deutschland und Österreich<br />

Von Prof. Dr. Gudrun Hochmayr, Frankfurt (Oder) 537<br />

Die Anhörungsrüge im Verfahren der Rechtsbeschwerde<br />

gemäß §§ 116 ff. StVollzG und ihr Zusammenspiel mit der<br />

Verfassungsbeschwerde<br />

Von Wiss. Mitarbeiter Mario Bachmann, Köln 545<br />

Der Einsatz „neuer Medien“ im Dezernat des<br />

Ermittlungsrichters<br />

Von RiAG Frank Buckow, Berlin 551<br />

Europäisches Strafrecht<br />

Strafrechtsrelevante Entwicklungen in der Europäischen<br />

Union – ein Überblick<br />

Von Wiss. Mitarbeiter Dominik Brodowski, LL.M. (Univ.<br />

Pennsylvania), München 558<br />

Ausländisches Strafrecht<br />

Reglas primarias de obligación<br />

Las “reglas del derecho penal” en el concepto de derecho de<br />

H.L.A. Hart<br />

De Prof. Dr. Juan Pablo Mañalich R., Universidad de Chile 571<br />

<strong>ENTSCHEIDUNGSANMERKUNGEN</strong><br />

Strafrecht<br />

BVerfG, Beschl. v. 7.12.2011 – 2 BvR 2500/09 u.a.<br />

(Mindestanforderungen an die Schadensfeststellungen<br />

bei einem Erfüllungsbetrug)<br />

(Regierungsrat Dr. Mark Steinsiek, Diplom-Jurist/-verwaltungswirt<br />

Philipp Vollmer, Hannover) 586<br />

ENTSCHEIDUNGBESPRECHUNGEN<br />

Strafprozessrecht<br />

Zum Prüfungsumfang des Revisionsgerichts bei der<br />

sachlichen Zuständigkeit gem. § 6 StPO<br />

Von Rechtsanwältin Anja Sturm, Berlin, Rechtsanwalt<br />

Andreas Lickleder, München 591


Elektronisch überwachter Hausarrest<br />

Zur Regelung in Deutschland und Österreich<br />

Von Prof. Dr. Gudrun Hochmayr, Frankfurt (Oder)<br />

Der elektronisch überwachte Hausarrest wird in Deutschland<br />

gegenwärtig in zwei Bundesländern erprobt. In Österreich<br />

wurde im Jahr 2010 eine gesetzliche Grundlage für diese<br />

Maßnahme geschaffen. Im Hinblick auf die mögliche Einführung<br />

des elektronischen Hausarrests in weiteren deutschen<br />

Bundesländern wird in diesem Beitrag die Ausgestaltung des<br />

elektronischen Hausarrests in den genannten drei Ländern<br />

rechtsvergleichend gegenübergestellt und bewertet. Der<br />

Beitrag schließt mit Empfehlungen für die konkrete Ausformung<br />

der Maßnahme.<br />

The electronic house arrest is currently proved in two German<br />

federal states. A legal basis for this instrument was<br />

provided in Austria in 2010. Regarding the introduction of<br />

the electronic house arrest in other German federal states,<br />

this article opposes and evaluates its embodiments in a comparative<br />

manner. It concludes with suggestions for the implementation<br />

of this instrument.<br />

I. Einleitung<br />

Die hohe Auslastung der Vollzugsanstalten und die Kosten<br />

des Strafvollzugs veranlassen auch in Europa immer mehr<br />

Länder dazu, den elektronisch überwachten Hausarrest als<br />

Alternative zum stationären Freiheitsentzug einzuführen. Neben<br />

die offen pekuniären Motive tritt die Erwartung besserer<br />

Resozialisierungseffekte. Die Maßnahme vermeidet schädliche<br />

Nebenwirkungen einer Inhaftierung und wirkt verhaltenstherapeutisch<br />

auf den Überwachten ein: Durch die Festlegung<br />

der Zeiten, in denen er in der Unterkunft oder an seinem<br />

Arbeitsplatz zu sein hat, wird sein Tages- und Wochenablauf<br />

einer festen Struktur unterworfen. Dies soll ihn an einen<br />

geregelten Tagesablauf und eine sinnvolle Tätigkeit gewöhnen<br />

und seine Selbstkontrolle stärken. Die Bedingungen<br />

können durch die Auferlegung zusätzlicher Verhaltenspflichten,<br />

wie Kontakt- oder Aufenthaltsverbote, verschärft oder<br />

umgekehrt durch die Einräumung von Freizeit außerhalb der<br />

Unterkunft erleichtert werden. Verstößt der Überwachte gegen<br />

die Pflichten, drohen ihm der Widerruf des elektronischen<br />

Hausarrests und die anschließende Überstellung in die Haftanstalt.<br />

Die Einhaltung der Pflicht zur Anwesenheit in der<br />

Unterkunft bzw. zur Abwesenheit von dieser überwacht man<br />

elektronisch. Hierzu wird ein Sender fest mit dem Körper,<br />

meist dem Fußgelenk, des Überwachten verbunden, der während<br />

der Dauer der Maßnahme nicht entfernt werden darf.<br />

Der Sender übermittelt Signale an ein in der Unterkunft installiertes<br />

Basisgerät. Falls der Sender entfernt oder manipuliert<br />

wird oder der Überwachte sich zu den vorgegebenen<br />

Zeiten nicht in der Unterkunft aufhält, wird in der Überwachungsstelle<br />

Alarm ausgelöst.<br />

In Deutschland setzen den elektronisch überwachten Hausarrest<br />

bislang zwei Bundesländer ein. Seit dem Jahr 2000 er-<br />

probt ihn Hessen im Modellversuch. 1 Zehn Jahre später startete<br />

ein entsprechender Modellversuch in Baden-Württemberg.<br />

2 Nach einer kurzen Erprobung 3 führte Österreich den<br />

elektronisch überwachten Hausarrest nahezu zeitgleich ein. 4<br />

Während er in Hessen in erster Linie als Weisung im Rahmen<br />

einer Straf(-rest-)aussetzung zur Bewährung und als weniger<br />

einschneidende Maßnahme bei der Aussetzung des Vollzugs<br />

eines Haftbefehls angeordnet wird, ist das Hauptanwendungsgebiet<br />

in Baden-Württemberg und Österreich der Vollzug der<br />

Freiheitsstrafe. In Baden-Württemberg können Ersatzfreiheitsstrafen<br />

sowie Strafreste bis zu sechs Monaten im elektronischen<br />

Hausarrest vollzogen werden. In Österreich ist der Vollzug<br />

einer zeitlichen Freiheitsstrafe im elektronischen Hausarrest<br />

möglich, wenn die konkret (noch) zu verbüßende Strafzeit<br />

höchstens zwölf Monate beträgt; darüber hinaus kann die<br />

Untersuchungshaft in Form des elektronischen Hausarrests<br />

1<br />

Die Durchführung erfolgt auf der Grundlage des Erlasses<br />

des Hessischen Ministeriums der Justiz v. 20.3.2000 betreffend<br />

den Modellversuch zur Erprobung des Electronic Monitoring<br />

(Elektronische Fußfessel) im Land- und Amtsgericht<br />

Frankfurt am Main, 4104-III/9-258/91; s.a. die Richtlinien für<br />

die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter im Modellversuch<br />

„Erprobung der elektronischen Fußfessel“ im Land- und Amtsgericht<br />

Frankfurt am Main; beides abgedruckt bei Mayer,<br />

Modellprojekt elektronische Fußfessel, 2004, S. 417 ff. Ablauf<br />

und Vorgehensweise sind zusammengefasst in: Hessisches<br />

Ministerium der Justiz, Handbuch Elektronische Fußfessel,<br />

2006, passim. Ein weiterer Anwendungsbereich ist die Entlassungsfreistellung<br />

im Strafvollzug; § 16 Abs. 3 HJStVollzG<br />

v. 19.11.2007 = GVBl. I 2007, S. 758; § 16 Abs. 3 HSt-<br />

VollzG v. 28.6.2010 = GVBl. I 2010, S. 185.<br />

2<br />

Gesetz über elektronische Aufsicht im Vollzug der Freiheitsstrafe<br />

(EAStVollzG) v. 30.7.2009 = GBl. 2009, S. 360.<br />

Das Gesetz ist auf vier Jahre befristet (§ 16 EAStVollzG).<br />

3<br />

Es wurden zwei Modellversuche durchgeführt, wobei nur<br />

der zweite Versuch eine ausreichende Teilnehmerzahl hatte.<br />

Zu diesem Hammerschick/Neumann, Bericht der Begleitforschung<br />

zum Modellversuch „Elektronische Aufsicht/Überwachter<br />

Hausarrest im Rahmen des § 126 StVG“, 2008; unter<br />

www.irks.at/downloads/EA_Endbericht_IRKS.pdf (25.10.2012).<br />

Zum ersten Modellversuch im Rahmen der bedingten Entlassung<br />

a.a.O. auf S. 4 sowie Koss, Journal für Strafrecht 2007,<br />

84.<br />

4<br />

§§ 156b ff. öStVG; §§ 173a, 266 öStPO i.d.F. v. öBGBl. I<br />

2010/64; Verordnung Vollzug von Strafen und der Untersuchungshaft<br />

durch elektronisch überwachten Hausarrest (HausarrestV)<br />

= öBGBl. II 2010/279; Einführungserlass elektronisch<br />

überwachter Hausarrest v. 27.8.2010 – BMJ-V70201/<br />

0004-III 1/2010; Durchführungserlass v. 18.10.2010 zum<br />

Erlass des österreichischen Bundesministeriums für Justiz v.<br />

27.8.2010 – BMJ-VD43401/0008-VD 1/2010; Einführungserlass<br />

zu den §§ 173a, 174, und 266 öStPO v. 4.9.2010 –<br />

BMJ-S641.008/ 0003-IV 3/2010.<br />

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Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />

537


Gudrun Hochmayr<br />

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vollzogen werden. Die Einsatzbereiche wurden an anderer<br />

Stelle einer Bewertung unterzogen. 5 Hier wird im Hinblick<br />

auf die mögliche Einführung des elektronischen Hausarrests<br />

in weiteren (deutschen) Bundesländern die spezielle Ausgestaltung<br />

der Maßnahme in den genannten Ländern rechtsvergleichend<br />

gegenübergestellt und bewertet.<br />

II. Spezielle Ausgestaltung<br />

1. Unterkunft und Beschäftigung<br />

In allen in den Vergleich einbezogenen Ländern wird vorausgesetzt,<br />

dass der Betroffene über eine geeignete Unterkunft<br />

verfügt, die die technischen Voraussetzungen für die elektronische<br />

Überwachung aufweist. Meist wird das Vorhandensein<br />

eines Telefonanschlusses gefordert. 6 Dabei genügt es in Hessen<br />

und Österreich, wenn die Unterkunft von dritter Seite zur<br />

Verfügung gestellt wird. Sogar ein Heimplatz kommt in<br />

Betracht. 7 Diese Ausgestaltung wirkt zumindest ansatzweise<br />

einem „Zwei-Klassen-Vollzug“ entgegen.<br />

Für die meisten Einsatzgebiete ist es unabdingbar, dass<br />

der Überwachte eine geeignete Beschäftigung ausübt. Eine<br />

Beschäftigung ist die Grundlage dafür, verhaltensmodifizierend<br />

auf den Überwachten einzuwirken und ihn an einen<br />

geordneten Alltag zu gewöhnen. Der Begriff „Beschäftigung“<br />

wird weit verstanden. Man akzeptiert jede sinnvolle Tätigkeit.<br />

Neben einer (unselbständigen oder selbständigen)<br />

Erwerbstätigkeit kommt beispielsweise eine Ausbildung, Kinderbetreuung<br />

oder gemeinnützige Arbeit in Frage. 8 Personen,<br />

die nicht (mehr) berufstätig sind, sind somit nicht generell<br />

vom elektronischen Hausarrest ausgenommen. Sie müssen<br />

5<br />

Hochmayr, NStZ 2012 (im Druck).<br />

6<br />

§ 4 Abs. 1 lit. b und c EAStVollzG; Erlass des Hessischen<br />

Ministeriums der Justiz v. 20.3.2000 – 4104-III/9-258/91.<br />

Ohne ausdrückliches Erfordernis eines Telefonanschlusses<br />

§ 156c Abs. 1 Ziff. 2 lit. a öStVG und § 173a Abs. 1 öStPO,<br />

da die Überwachung primär mittels GSM (Global System for<br />

Mobile Communications) erfolgt; EBRV (Erläuternde Bemerkungen<br />

zur Regierungsvorlage) 772 BlgNR (Beilagen zu<br />

den. Stenographischen Protokollen des Nationalrats), 24. GP<br />

(Gesetzgebungsperiode), S. 3.<br />

7<br />

Erlass des Hessischen Ministeriums der Justiz v. 20.3.2000<br />

– 4104-III/9-258/91: In geeigneten Fällen können Wohnraum<br />

und Telefonanschluss durch einen bestimmten Verein zur<br />

Verfügung gestellt werden. EBRV 772 BlgNR, 24. GP, S. 6<br />

f.: die Wohnmöglichkeit kann auch durch einen Angehörigen,<br />

einen ehemaligen Komplizen oder einen karitativen Verein<br />

(etwa in Form eines Heimplatzes) bereitgestellt werden. In<br />

der Gesetzesbegründung des EAStVollzG werden derartige<br />

Möglichkeiten nicht erwähnt; LT-Drs. 14/4670, S. 18.<br />

8<br />

§ 156b Abs. 1 öStVG. § 4 Abs. 1 lit. e EAStVollzG spricht<br />

von einer Arbeits- oder Ausbildungsstelle oder einer entsprechenden<br />

anderweitigen Tagesstruktur. Der hessische Erlass v.<br />

20.3.2000 – 4104-III/9-258/91 fordert einfach eine sinnvolle<br />

Tagesbeschäftigung.<br />

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538<br />

<strong>ZIS</strong> 11/2012<br />

aber eine sonstige sinnvolle Tätigkeit ausüben, durch die ein<br />

strukturierter Tagesablauf sichergestellt werden kann. 9<br />

Beim Ausmaß der Beschäftigung besteht ein deutlicher<br />

Unterschied zwischen Deutschland und Österreich. In Baden-<br />

Württemberg und Hessen genügt eine Beschäftigung von<br />

mindestens 20 Stunden pro Woche. 10 § 156b Abs. 2 öStVG<br />

verlangt, dass die Beschäftigungszeiten „tunlichst der Normalarbeitszeit<br />

zu entsprechen“ haben. 11 Die Normalarbeitszeit<br />

beträgt in Österreich zurzeit 38,5 Stunden pro Woche.<br />

Die Regelung vernachlässigt, dass heute immer weniger Menschen<br />

in Vollzeitarbeitsverhältnissen beschäftigt sind. Besonders<br />

schwierig wird es sein, in Strafhaft eine Vollzeitarbeitsstelle<br />

zu finden. Zwar könne nach den Gesetzesmaterialien<br />

das geforderte Stundenausmaß auch durch die Ausübung mehrerer<br />

Beschäftigungen erreicht werden. 12 Ob sich mehrere<br />

Beschäftigungen einschließlich der erforderlichen Wegzeiten<br />

in einen Wochenplan bringen lassen, der dem Verurteilten<br />

zugemutet werden kann, ist jedoch zu bezweifeln. Realistischer<br />

und für die Zwecke von elektronischem Hausarrest<br />

ausreichend sollte man eine Beschäftigung von mindestens<br />

20 Stunden pro Woche fordern.<br />

Obwohl eine Beschäftigung ein zentraler Bestandteil des<br />

Gesamtkonzepts „elektronischer Hausarrest“ ist, entfällt in<br />

Österreich das Erfordernis für den Vollzug der Untersuchungshaft.<br />

§ 173a Abs. 1 öStPO verlangt, dass sich der Beschuldigte<br />

„in geordneten Lebensverhältnissen“ befindet. Dies ist<br />

auch ohne eine Beschäftigung möglich, etwa wenn der<br />

Beschuldigte in Rente ist, Arbeitslosengeld bezieht oder über<br />

ausreichendes Vermögen verfügt. Umgekehrt kann sich dem<br />

Einführungserlass zufolge die beabsichtigte Beschäftigung<br />

als mit elektronisch überwachtem Hausarrest unvereinbar<br />

erweisen, wenn sie die Zwecke der Untersuchungshaft<br />

gefährdet. 13 Im Unterschied hierzu ist in Hessen zur Untersuchungshaftvermeidung<br />

eine Beschäftigung erforderlich. Da<br />

ein Arbeitszwang mit der Aussetzung von Untersuchungshaft<br />

nicht vereinbar wäre (auch ein Untersuchungshäftling darf<br />

nicht zu Arbeit gezwungen werden) 14 , stellt sich hier die<br />

Frage, ob die Untersuchungshaft in Vollzug gesetzt werden<br />

darf, wenn sich der Beschuldigte weigert, weiterhin der<br />

Beschäftigung nachzugehen. 15 An den Schwierigkeiten zeigt<br />

9 Einführungserlass elektronisch überwachter Hausarrest v.<br />

27.8.2010 – BMJ-V70201/0004-III 1/2010, S. 6.<br />

10 Im Handbuch (Hessisches Ministerium der Justiz [Fn. 1],<br />

S. 7), wird allerdings eine sinnvolle Beschäftigung von mindestens<br />

25 Wochenstunden vorausgesetzt; so auch für die<br />

Entlassungsfreistellung im Jugendstrafvollzug; s. Fünfsinn,<br />

in: Müller/Sander/Válková (Hrsg.), Festschrift für Ulrich<br />

Eisenberg zum 70. Geburtstag, 2009, S. 691 (S. 703).<br />

11 Schon im zweiten Modellversuch betrug die Mindestarbeitszeit<br />

30 Wochenstunden; vgl. Hammerschick/Neumann<br />

(Fn. 3), S. 4.<br />

12 EBRV 772 BlgNR, 24. GP, S. 7.<br />

13 Einführungserlass elektronisch überwachter Hausarrest v.<br />

27.8.2010 – BMJ-V70201/0004-III 1/2010, S. 29.<br />

14 Graf, in: Hannich (Hrsg.), Karlsruher Kommentar zur<br />

Strafprozessordnung, 6. Aufl. 2008, § 116 Rn. 8.<br />

15 Mayer (Fn. 1), S. 38 f.


Elektronisch überwachter Hausarrest<br />

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sich, dass sich der Einsatz rund um die Untersuchungshaft<br />

nur mit Bruchstellen in das Gesamtkonzept integrieren<br />

lässt. 16<br />

2. Einkommen, Versicherungsschutz, Kostentragung<br />

In Österreich hängt die Bewilligung des Strafvollzugs durch<br />

elektronischen Hausarrest von weiteren materiellen Erfordernissen<br />

ab. 17 Der Verurteilte muss ein Einkommen beziehen,<br />

das seinen Lebensunterhalt deckt. Dieses braucht nicht aus<br />

der Beschäftigung zu stammen. Es kann beispielsweise auch<br />

aus Kapitalvermögen, einem Unterhaltsanspruch, einer Leistung<br />

der Arbeitslosenversicherung, einer Pensionsleistung oder<br />

aus Notstandshilfe resultieren. 18 Der Verurteilte muss kranken-<br />

und unfallversichert sein. Wegen dieses Erfordernisses<br />

wurde in den Sozialversicherungsgesetzen eine Regelung<br />

eingefügt, der zufolge die Leistungsansprüche in der Kranken-,<br />

Unfall- und Pensionsversicherung während des Vollzugs<br />

von elektronischem Hausarrest nicht ruhen. 19 Schließlich<br />

hat der Verurteilte die Kosten des elektronischen Hausarrests<br />

zu ersetzen. Diese Pflicht wird damit begründet, dass<br />

beim Vollzug in der Anstalt ebenfalls ein Kostenbeitrag zu<br />

leisten ist. 20 Die Kosten wurden in § 5 HausarrestV mit 22<br />

Euro pro Tag festgelegt. Würde durch die Erfüllung der Kostenersatzpflicht<br />

der notwendige Unterhalt des Verurteilten<br />

oder von Personen, für die er unterhaltspflichtig ist, gefährdet,<br />

ist ein verminderter Kostenbeitrag vorzuschreiben oder<br />

entfällt die Kostenersatzpflicht. 21 Soweit man sich überhaupt<br />

für einen Kostenersatz entscheidet, 22 ist eine solche Ausnah-<br />

16<br />

Zur weiteren Kritik an diesem Einsatzgebiet Hochmayr,<br />

NStZ 2012 (im Druck).<br />

17<br />

S. zum Folgenden § 156c Abs. 1 Nr. 2 sowie § 156b Abs. 2<br />

öStVG.<br />

18<br />

Vgl. EBRV 772 BlgNR, 24. GP, S. 7, 11; Einführungserlass<br />

elektronisch überwachter Hausarrest v. 27.8.2010 – BMJ-<br />

V70201/0004-III 1/2010, S. 6; s. auch Punkt 5 des Antragsformulars<br />

für die Bewilligung des elektronisch überwachten<br />

Hausarrests, im Internet abrufbar unter<br />

http://strafvollzug.justiz.gv.at/_downloads/Antrag%20Hausar<br />

rest.pdf (25.10.2012).<br />

19<br />

Z.B. § 89 Abs. 2a öASVG.<br />

20<br />

EBRV 772 BlgNR, 24. GP, S. 6; s. § 32 öStVG.<br />

21<br />

Bei der Berechnung ist eine Belastung mit bestimmten<br />

Verbindlichkeiten, wie Kreditraten für die Wohnung oder Zahlungen<br />

zur Wiedergutmachung des durch die Straftat bewirkten<br />

Schadens, zu berücksichtigen; Einführungserlass elektronisch<br />

überwachter Hausarrest v. 27.8.2010 – BMJ-V70201/<br />

0004-III 1/2010, S. 19 f.<br />

22<br />

In Baden-Württemberg wurde von einer Kostenbeteiligung<br />

wegen des erwarteten hohen Verwaltungsaufwands und der<br />

schlechten finanziellen Situation der Betroffenen abgesehen;<br />

LT-Drs. 14/4670, S. 18. Tatsächlich ist in Österreich ein Kostenersatz<br />

in erster Linie durch jene Verurteilten zu erwarten,<br />

deren primäre Freiheitsstrafe von Beginn an im elektronischen<br />

Hausarrest vollzogen wird. Dieser Anwendungsbereich<br />

ist in Baden-Württemberg nicht vorgesehen. Laut Pressemitteilung<br />

des Bundeministeriums für Justiz v. 30.08.2011<br />

meregelung unverzichtbar, damit die Vollzugsform nicht nur<br />

besser situierten Verurteilten zugutekommt.<br />

Für den Vollzug der Untersuchungshaft durch elektronischen<br />

Hausarrest gelten die genannten Erfordernisse nicht.<br />

Ob der Beschuldigte über ein Einkommen verfügt, mit dem<br />

er seinen Lebensunterhalt bestreiten kann, wird aber bei der<br />

Prüfung der „geordneten Lebensverhältnisse“ eine Rolle spielen.<br />

23<br />

3. Freizeit außerhalb der Unterkunft<br />

Die Schwere des mit elektronischem Hausarrest verbundenen<br />

Eingriffs hängt maßgeblich davon ab, ob der Überwachte in<br />

seiner Freizeit die Unterkunft verlassen darf. § 5 Abs. 4 EA-<br />

StVollzG gestattet im Vollzugsprogramm Abwesenheiten von<br />

der Unterkunft für Zwecke von Freizeit und Sport vorzusehen,<br />

ohne einen Anspruch auf Freizeit außerhalb der Unterkunft<br />

zu gewähren. Freizeit wird grundsätzlich nur am Wochenende<br />

eingeräumt. Das zulässige zeitliche Ausmaß nimmt<br />

mit der Dauer der Maßnahme zu. Es reicht von jeweils fünf<br />

Stunden samstags und sonntags in den ersten vier Wochen<br />

bis zum gesamten Wochenende (Freitag, 17.00 Uhr, bis Montag,<br />

8.00 Uhr) ab der neunten Woche. 24 Auch in Hessen darf<br />

Freizeit außerhalb der Unterkunft gewährt werden. Die Richtlinien<br />

für die Sozialarbeit 25 enthalten hierfür eine Staffelung<br />

nach der Dauer des elektronischen Hausarrests.<br />

§ 156b Abs. 2 öStVG betont, dass die Bedingungen des<br />

elektronischen Hausarrests eine den Zwecken des Strafvollzugs<br />

26 dienende Lebensführung des Verurteilten sicherzustellen<br />

haben. Das Verlassen der Unterkunft darf zur Ausübung<br />

der Beschäftigung, zur Beschaffung des notwendigen Lebensbedarfs,<br />

zur Inanspruchnahme notwendiger medizinischer Hilfe<br />

und aus sonstigen Gründen vorgesehen werden. Fraglich<br />

ist, ob die Öffnungsklausel dazu ermächtigt, in den Bedingungen<br />

Freizeit außerhalb der Unterkunft einzuräumen, wie<br />

das im vorangegangenen Modellversuch erfolgte. 27 Die Ge-<br />

(www.justiz.gv.at/internet/html/default/2c94848525f84a6301<br />

321ada5cc8538f.de.html [25.10.2012]), wurden in Österreich<br />

im ersten Jahr bei insgesamt rund 400 angehaltenen Personen<br />

und einer durchschnittlichen Anhaltedauer von knapp drei<br />

Monaten ca. 275.000 Euro an Kostenersatz vorgeschrieben.<br />

Zum Stichtag 19.5.2011 waren 22 % der Überwachten von<br />

der Kostenersatzpflicht befreit; vgl. Anfragebeantwortung der<br />

Bundesministerin für Justiz, 8266/AB, 24. GP.<br />

23<br />

Angaben hierzu sind laut des Antragsformulars für die<br />

Bewilligung des elektronisch überwachten Hausarrests (unter<br />

http://strafvollzug.justiz.gv.at/_downloads/Antrag%20Hausar<br />

rest.pdf [25.10.2012]) nicht notwendig.<br />

24<br />

§ 7 Abs. 2 EAStVollzG.<br />

25<br />

Abgedruckt bei Mayer (Fn. 1), S. 423 ff.<br />

26<br />

Der Vollzug der Freiheitsstrafe dient gem. § 20 Abs. 1<br />

öStVG nicht nur der Resozialisierung, sondern soll darüber<br />

hinaus den Unwert des der Verurteilung zugrunde liegenden<br />

Verhaltens aufzeigen.<br />

27<br />

Die Freizeitregelung im zweiten Modellversuch war großzügig.<br />

In der Regel wurden von Montag bis Freitag insgesamt<br />

zehn Stunden Freizeit eingeräumt. An den Wochenenden<br />

standen den Teilnehmern bereits zu Beginn der Maßnahme<br />

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539


Gudrun Hochmayr<br />

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setzesmaterialien erläutern, dass der Verurteilte gewisse Einschränkungen<br />

in seiner Lebensführung auf sich zu nehmen<br />

hat, damit den Zwecken des Strafvollzugs entsprochen wird.<br />

„Grundsätzlich soll das bedeuten, dass der Strafgefangene im<br />

Wesentlichen seiner Beschäftigung nachgeht und sich ansonsten<br />

in seiner Unterkunft aufhält.“ Die Bedingungen hätten<br />

aber etwa die Durchführung einer Therapie zu berücksichtigen.<br />

28 Nach § 3 Ziff. 5 HausarrestV haben die Bedingungen<br />

Festlegungen hinsichtlich wiederkehrender sozial<br />

bedingter Abwesenheiten zu enthalten. Damit kann etwa die<br />

Teilnahme an regelmäßigen Sportveranstaltungen oder an<br />

Gottesdiensten ermöglicht werden. Die Gewährung von nicht<br />

regulierter Freizeit außerhalb der Unterkunft scheint durch<br />

die Regelung nicht gedeckt. Für diese Schlussfolgerung<br />

spricht, dass dem in elektronischem Hausarrest befindlichen<br />

Verurteilten zu bestimmten Zwecken Vollzugslockerungen in<br />

Form von Ausgängen gewährt werden können. 29 Der nahezu<br />

gänzliche Ausschluss von nicht überwachter Freizeit 30 mag<br />

damit zusammenhängen, dass in Österreich auch primäre Freiheitsstrafen<br />

zur Gänze im elektronischen Hausarrest vollzogen<br />

werden können. Dennoch ist die Ausgestaltung kritisch<br />

zu betrachten. Sie vernachlässigt, dass die Vollzugsform einen<br />

möglichst reibungsfreien Übergang in die Bewährungszeit<br />

oder in die völlige Freiheit zu gewährleisten hat. Zu<br />

diesem Zweck sollte dem Verurteilten zumindest nach einem<br />

gewissen Zeitraum nicht überwachte Freizeit eingeräumt werden,<br />

um ihn schrittweise an das Leben ohne elektronische<br />

Überwachung zu gewöhnen. 31 Eine solche Ausgestaltung ist<br />

acht Stunden Freizeit pro Tag, ab dem vierten Monat jedes<br />

Wochenende 48 Stunden zur Verfügung; vgl. Hammerschick/<br />

Neumann (Fn. 3), S. 5.<br />

28<br />

EBRV 772 BlgNR, 24. GP, S. 5.<br />

29<br />

§ 156b Abs. 4 i.V.m. § 126 Abs. 2 Ziff. 4 und § 99a öStVG<br />

gestatten ein oder zwei Ausgänge im Monat in der Dauer von<br />

bis zu zwölf Stunden, bei erforderlicher Reise kann der Ausgang<br />

für bis zu 48 Stunden gewährt werden. Im Einführungserlass<br />

elektronisch überwachter Hausarrest v. 27.8.2010 –<br />

BMJ-V70201/0004-III 1/2010, S. 9, werden als mögliche Anwendungsfälle<br />

besondere familiäre Anlässe, Seelsorge und<br />

Kirchenbesuch genannt. Dabei müsse der freiheitsbeschränkende<br />

Charakter der Maßnahme gewahrt bleiben.<br />

30<br />

In der Praxis wird offenbar nicht überwachte Freizeit unter<br />

dem Titel „Bewegung im Freien“ eingeräumt. So hat das OLG<br />

Linz (Journal für Strafrecht JSt-StVG 2011/21) ein Aufsichtsprofil<br />

genehmigt, in dem für den Vollzug einer dreimonatigen<br />

Freiheitsstrafe eine Abwesenheitszeit am Wochenende<br />

als „Bewegung im Freien“ festgelegt war. Das Beispiel<br />

eines Aufsichtsprofils bei Nogratnig, in: Bundesministerium<br />

für Justiz (Hrsg.), 39. Ottensteiner Fortbildungsseminar aus<br />

Strafrecht und Kriminologie, 2011, S. 67 (S. 81), sieht „Bewegung<br />

im Freien“ im Ausmaß von zwei Stunden pro Tag<br />

vor. Da es sich nicht um sozial bedingte Abwesenheiten handelt,<br />

ist eine Rechtsgrundlage für dieses Vorgehen nicht ersichtlich.<br />

31<br />

Vgl. die Stellungnahme von Hammerschick (Institut für<br />

Rechts- und Kriminalsoziologie) zum Gesetzesentwurf unter<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

540<br />

<strong>ZIS</strong> 11/2012<br />

auch deshalb zu empfehlen, weil – wie beim stationären Vollzug<br />

– die Schwere des Eingriffs mit dessen Dauer zunimmt.<br />

Durch eine Freizeitregelung wird diese Wirkung abgemildert.<br />

32<br />

Für den elektronischen Hausarrest in Form der Untersuchungshaft<br />

sind die Vorgaben noch strikter. Ein Verlassen<br />

der Unterkunft darf nur zwecks Arbeit oder Ausbildung,<br />

Beschaffung des notwendigen Lebensbedarfs und notwendige<br />

medizinische Hilfe „auf der jeweils kürzesten Wegstrecke“<br />

vorgesehen werden. 33 Die restriktiveren Vorgaben werden<br />

mit dem „Wesen des Hausarrests als Vollzug der Untersuchungshaft“<br />

begründet. 34 Der Vollzug der Untersuchungshaft<br />

macht es jedoch gerade umgekehrt erforderlich, den elektronischen<br />

Hausarrest weniger eingriffsintensiv auszugestalten<br />

als den Vollzug der Strafhaft. Schließlich ist die Untersuchungshaft<br />

keine Strafe, sondern ein Mittel zur Sicherung der<br />

Durchführung des Strafverfahrens, weshalb die Haft keine<br />

Strafwirkung entfalten darf. 35 Einschränkungen in der Lebensführung<br />

sind nur in dem Ausmaß gerechtfertigt, in dem sie<br />

nach dem jeweiligen Haftgrund erforderlich sind. Nach diesem<br />

Maßstab hat sich auch die Gewährung von Freizeit außerhalb<br />

der Unterkunft zu richten. Ein pauschaler Ausschluss<br />

von Freizeit außerhalb der Unterkunft widerspricht dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz.<br />

36<br />

4. Reichweite der Überwachung<br />

Überraschenderweise bestehen hinsichtlich der Reichweite<br />

der Überwachung grundlegende Unterschiede:<br />

www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/XXIV/ME/ME_00146/in<br />

dex.shtml (25.10.2012): „Dieses Element eines ‚Freiraums‘,<br />

der gleichzeitig Verantwortung und Disziplin erfordert, erscheint<br />

einerseits in Hinblick auf die Vorbereitung auf die<br />

Zeit nach der Haft wichtig. Andererseits kann damit Problemen<br />

vorgebeugt werden, die durch die – abgesehen von Arbeitszeiten<br />

– gänzliche Beschränkung auf den Wohnraum<br />

entstehen können. Beträchtliche Einschränkungen der Lebensführung<br />

bleiben dennoch bestehen.“<br />

32<br />

Die Forderung ist entsprechend für den stationären Vollzug<br />

zu erheben, soweit nicht die Gefährlichkeit des Straftäters<br />

entgegensteht.<br />

33<br />

§ 173a Abs. 2 l. S. öStPO.<br />

34<br />

EBRV 772 BlgNR, 24. GP, S. 10.<br />

35<br />

S. die Grundsatzbestimmung des § 182 öStPO, wonach das<br />

Leben in Untersuchungshaft soweit wie möglich den allgemeinen<br />

Lebensverhältnissen angeglichen werden soll und beim<br />

Vollzug zu beachten ist, dass der Beschuldigte als unschuldig<br />

gilt.<br />

36<br />

Im hessischen Modellversuch wird den Probanden im Rahmen<br />

der Untersuchungshaftvermeidung freie Zeit ohne Vorgabe<br />

zugestanden; Mayer (Fn. 1), S. 116 ff. Auch Walter<br />

(ZfStrVo 1999, 287 [292]) fordert, die Anwesenheitspflichten<br />

auf das zur Verhinderung einer Verfahrensentziehung Erforderliche<br />

zu begrenzen.


Elektronisch überwachter Hausarrest<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

In Hessen beschränkt sich die Überwachung auf die Kontrolle,<br />

ob der Betroffene sich entsprechend dem Wochenplan<br />

in seiner Wohnung aufhält oder abwesend ist. 37<br />

Die Regelung in Baden-Württemberg 38 sieht neben der<br />

Feststellung der An- oder Abwesenheit in der Wohnung die<br />

Erstellung eines Bewegungsprofils vor. Demgegenüber kann<br />

bei einer positiven Prognose die elektronische Aufsicht für<br />

bis zu einem Drittel der Dauer des Hausarrests durch Meldeauflagen<br />

und andere Weisungen ersetzt werden. 39 Die Erstellung<br />

eines Bewegungsprofils hat sich nach der Flucht- und<br />

Rückfallgefahr des Verurteilten und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz<br />

zu richten. Die Gesetzesbegründung spricht<br />

von einer „prognosespezifischen elektronischen Aufsicht“.<br />

Im Vollzug der Ersatzfreiheitsstrafe sei von einem niedrigen<br />

Risiko, bei Entlassungsfreistellungen nach Langstrafenvollzug<br />

von einem mittleren bis hohen Risiko auszugehen. Entscheidend<br />

sei aber die individuelle Flucht- und Rückfallgefahr.<br />

40 Mit der Aufzeichnung eines Bewegungsprofils wird<br />

eine sehr eingriffsintensive Form der Überwachung zugelassen,<br />

die eine Überwachung „auf Schritt und Tritt“ ermöglicht.<br />

Die Ausgestaltung erstaunt deshalb, weil sich im hessischen<br />

Modellprojekt die Kontrolle der An- und Abwesenheit hinsichtlich<br />

der Wohnung als ausreichend erwiesen hat. Die<br />

Gesetzesbegründung lässt eine Erklärung, weshalb von der<br />

bewährten Lösung abgegangen wird, vermissen. Dieses Vorgehen<br />

erweckt den Eindruck, dass ohne Notwendigkeit ein<br />

eingriffsintensiveres Mittel zugelassen wurde. Im Hinblick<br />

auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erweist<br />

sich ferner als bedenklich, dass Regelungen fehlen, die<br />

sicherstellen, dass keine „Rundumüberwachung“ erfolgt, mit<br />

der ein umfassendes Persönlichkeitsprofil eines Beteiligten<br />

erstellt werden könnte, und die Wohnung von der Anfertigung<br />

eines Bewegungsprofils ausgenommen ist. 41 Insgesamt<br />

scheinen durch die Regelung die mit dem Bild eines „gläsernen<br />

Menschen“ verbundenen Befürchtungen bestätigt.<br />

Nach § 156b Abs. 1 öStVG ist der Betroffene 42 durch<br />

„geeignete Mittel der elektronischen Aufsicht“ zu überwachen.<br />

Richtlinien über die Art und die Durchführung der<br />

elektronischen Überwachung können durch Verordnung festgelegt<br />

werden. Die Gesetzesmaterialien weisen auf die Möglichkeit<br />

hin, das in der Unterkunft installierte Basisgerät „zusätzlich<br />

mit Stimm-, Gesichts- und Alkoholkontrolle“ zu ergänzen,<br />

„sodass im Bedarfsfall eine sehr engmaschige Kon-<br />

37<br />

Vgl. Erlass des Hessischen Ministeriums der Justiz v. 20.3.<br />

2000 – 4104-III/9-258/91; Hessisches Ministerium der Justiz<br />

(Fn. 1), S. 10.<br />

38<br />

§ 3 EAStVollzG.<br />

39<br />

§ 3 Abs. 3 EAStVollzG. Die Möglichkeit einer Entlassungsfreistellung<br />

ohne elektronische Aufsicht besteht auch<br />

nach § 16 Abs. 3 HStVollzG, § 16 Abs. 3 HJStVollzG.<br />

40<br />

LT-Drs. 14/4670, S. 16 f.<br />

41<br />

BVerfG NJW 2004, 999; BVerfG NJW 2012, 907 (909).<br />

Vgl. demgegenüber für die elektronische Aufenthaltsüberwachung<br />

im Rahmen der Führungsaufsicht die Regelung in<br />

§ 463a Abs. 4 StPO.<br />

42<br />

Die Regelung gilt aufgrund des Verweises in § 173a Abs. 1<br />

öStPO auch für Untersuchungshäftlinge.<br />

trolle ermöglicht bzw. Missbrauch weitestgehend ausgeschlossen<br />

werden kann“. 43 Obwohl in § 2 HausarrestV nur die Kontrolle<br />

der An- und Abwesenheit im überwachten Bereich vorgesehen<br />

ist, werden Presseberichten zufolge solche Alkoholkontrollen<br />

seit einiger Zeit durchgeführt. Bei Überwachten<br />

mit Alkoholproblemen wurden sogenannte Alkomaten an der<br />

Basisstation angebracht, die den Überwachten mit biometrischen<br />

Methoden identifizieren. 44 Nun ist es nicht allein eine<br />

Frage der Technik, ob nur die An- und Abwesenheit kontrolliert<br />

wird, zusätzlich eine biometrische Identifikation und<br />

automatische Alkoholkontrollen erfolgen oder gar ein Bewegungsprofil<br />

angefertigt wird. Die Methoden greifen in unterschiedlicher<br />

Tiefe in die Grundrechte des Überwachten ein<br />

und bedingen unterschiedliche verfahrensrechtliche Vorkehrungen,<br />

insbesondere zum Datenschutz. Wie weit der Eingriff<br />

in die Grundrechte reichen darf, hat der Gesetzgeber zu entscheiden.<br />

Diese Entscheidung darf nicht den Verwaltungsbehörden<br />

überlassen werden. Es ist eine gesetzliche Grundlage<br />

erforderlich, durch die der Eingriff ausreichend bestimmt<br />

und für den Bürger vorhersehbar wird. 45 § 156b Abs. 1 öStVG<br />

genügt dieser Anforderung nicht.<br />

5. Zustimmung der Mitbewohner<br />

Neben der Einwilligung des Betroffenen, die schon aus faktischen<br />

Gründen unerlässlich ist, wird für nahezu alle Einsatzbereiche<br />

die Einwilligung der Mitbewohner vorausgesetzt. 46<br />

In Baden-Württemberg und Hessen reicht die Einwilligung<br />

der erwachsenen Mitbewohner aus. Nach der österreichischen<br />

Regelung müssen alle Mitbewohner zustimmen, weil in die<br />

Lebensführung aller mit dem zu Überwachenden im gemeinsamen<br />

Haushalt lebenden Personen eingegriffen werde. 47 Ist<br />

der Mitbewohner in dieser Frage nicht einsichts- oder urteilsfähig,<br />

48 kommt es nicht etwa auf die Einwilligung des gesetzlichen<br />

Vertreters an, sondern es sind die Interessen des betroffenen<br />

Mitbewohners bei der Entscheidung über die Voll-<br />

43<br />

EBRV 772 BlgNR, 24. GP, S. 3.<br />

44<br />

Vgl. Simoner, Der Standard v. 7.3.2012 (im Internet unter<br />

http://derstandard.at/1297819756077/Zur-Fussfessel-kommtder-Alkomat<br />

[25.10.2012]); Die Presse v. 29.4.2011 (im<br />

Internet abrufbar unter http://diepresse.com/home/panorama/<br />

oesterreich/654180/Elektronische-Fussfessel_Hausarrest-mit-<br />

Alkomat [9.11.2012]).<br />

45<br />

Zu den Bestimmtheitsanforderungen Berka, Die Grundrechte,<br />

1999, Rn. 256.<br />

46<br />

§ 4 Abs. 1 lit. d EAStVollzG; § 156c Abs. 1 Ziff. 3 öStVG;<br />

vgl. die Richtlinien für die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter<br />

im Modellversuch „Erprobung der elektronischen Fußfessel“<br />

im Land- und Amtsgericht Frankfurt am Main (abgedruckt<br />

bei Mayer [Fn. 1], S. 423 ff.).<br />

47<br />

EBRV 772 BlgNR, 24. GP, S. 7 f.<br />

48<br />

Drexler, Strafvollzugsgesetz, Kommentar, 2. Aufl. 2010,<br />

§ 156c Rn. 4, geht davon aus, dass Kinder bereits ab dem<br />

siebten Lebensjahr einwilligungsfähig sind.<br />

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541


Gudrun Hochmayr<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

zugsform zu berücksichtigen. 49 Nimmt ein Mitbewohner die<br />

Einwilligung zurück, bildet dies einen Widerrufsgrund. 50<br />

Für den Vollzug der Untersuchungshaft ist in Österreich<br />

die Einwilligung der Mitbewohner nicht erforderlich. Der<br />

Gesetzesbegründung zufolge wäre ein Einwilligungserfordernis<br />

mit dem Charakter der Untersuchungshaft nicht vereinbar,<br />

da auch eine aufenthaltsbezogene Weisung, die als gelinderes<br />

Mittel die Untersuchungshaft ersetzen kann, nicht von der<br />

Zustimmung anderer Personen abhänge. 51 Für die Beurteilung<br />

der Regelung ist zunächst zu überlegen, weshalb für den<br />

Vollzug der Freiheitsstrafe durch elektronischen Hausarrest<br />

die Zustimmung der Mitbewohner gefordert wird. Dabei vermag<br />

die Begründung, die Maßnahme greife in die Lebensführung<br />

der Mitbewohner ein, 52 nicht zu überzeugen. Ein Wohnungsberechtigter,<br />

der von sich aus beschließt, die Wohnung<br />

nicht mehr zu verlassen, benötigt nicht die Erlaubnis der Mitbewohner,<br />

obwohl sein dauernder Aufenthalt ihre Lebensführung<br />

beeinträchtigt. Im Hinblick darauf kann auch der elektronische<br />

Hausarrest nicht die Einwilligung der Mitbewohner<br />

erfordern.<br />

Natürlich ist ein reibungsloses Miteinander – und damit<br />

ein erfolgreicher Verlauf der Vollzugsmaßnahme – eher gewährleistet,<br />

wenn die Maßnahme von den Mitbewohnern mitgetragen<br />

wird. 53 Dennoch wäre es vollzugsrechtlich nicht<br />

begründbar, privaten Personen Entscheidungsmacht über die<br />

Art des Vollzugs einer staatlichen Strafe einzuräumen. Dass<br />

die Vollzugsform von ihrer Zustimmung abhängt, ist auf den<br />

verfassungsrechtlichen Schutz der Wohnung und der Privatsphäre<br />

zurückzuführen. 54 Im Verlauf der Maßnahme wird die<br />

Wohnung – gegebenenfalls auch mehrmals – durch die<br />

öffentliche Gewalt betreten. Organe der Vollzugsbehörden<br />

haben die Technik in der Wohnung zu installieren und zu<br />

warten. Die betreuenden Sozialarbeiter dürfen Kontrollbesuche<br />

in der Wohnung durchführen. 55 Darin liegt der entschei-<br />

49<br />

OLG Linz Journal für Strafrecht JSt-StVG 2011/17; Einführungserlass<br />

elektronisch überwachter Hausarrest v.<br />

27.8.2010 – BMJ-V70201/0004-III 1/2010, S. 7.<br />

50<br />

§ 4 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 lit. d EAStVollzG. § 156c Abs. 2<br />

Ziff. 1 i.V.m. Abs. 1 Ziff. 3 öStVG; Einführungserlass elektronisch<br />

überwachter Hausarrest v. 27.8.2010 – BMJ-V70201/<br />

0004-III 1/2010, S. 7. Aus dem hessischen Erlass v. 20.3.2000<br />

– 4104-III/9-258/91 ergibt sich zu dieser Frage nichts.<br />

51<br />

EBRV 772 BlgNR, 24. GP, S. 10.<br />

52<br />

EBRV 772 BlgNR, 24. GP, S. 7 f.<br />

53<br />

Dieser Aspekt wird in der baden-württembergischen Gesetzesbegründung<br />

(LT-Drs. 14/4670, S. 18) hervorgehoben:<br />

„Erfahrungen im Ausland zeigen, dass elektronische Aufsicht<br />

ohne Einverständnis der im Haushalt des Gefangenen lebenden<br />

erwachsenen Personen rechtlich und faktisch nicht möglich<br />

ist.“<br />

54<br />

Vgl. Haverkamp, Elektronisch überwachter Hausarrestvollzug,<br />

2002, S. 183; Krahl, NStZ 1997, 457 (461); Streng,<br />

ZStW 111 (1999), 827 (849).<br />

55<br />

Richtlinien für die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter<br />

im Modellversuch „Erprobung der elektronischen Fußfessel“<br />

im Land- und Amtsgericht Frankfurt am Main (abgedruckt<br />

bei Mayer [Fn. 1], S. 423 ff.); § 4 Abs. 1 lit. b EAStVollzG;<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

542<br />

<strong>ZIS</strong> 11/2012<br />

dende Unterschied zu aufenthaltsbezogenen Weisungen im<br />

Rahmen der Untersuchungshaftvermeidung oder der Strafaussetzung<br />

zur Bewährung, bei denen Polizei oder Bewährungshilfe<br />

kein Recht auf jederzeitigen Zutritt zur Wohnung<br />

haben. 56 Anders als bei einer Durchsuchung der Wohnung<br />

eines Beschuldigten, die der Mitbewohner bei Vorliegen der<br />

gesetzlichen Voraussetzungen zu dulden hat, können die<br />

Zwecke des elektronischen Hausarrests auch durch die Anhaltung<br />

in der Justizvollzugsanstalt erreicht werden. Der<br />

Grundrechtseingriff ist nicht durch ein zwingendes soziales<br />

Bedürfnis legitimiert, sodass es der Einwilligung der Mitbewohner<br />

bedarf, um dem Akt den Zwangscharakter zu nehmen.<br />

Dies gilt in gleicher Weise für den elektronischen<br />

Hausarrest zum Vollzug der Untersuchungshaft, der ebenfalls<br />

mit dem Eindringen staatlicher Organe in die Wohnung verbunden<br />

ist. Daher sollte es auch hierfür der Einwilligung der<br />

Mitbewohner bedürfen.<br />

Eine weitere Frage ist, ob der Mitbewohner die Möglichkeit<br />

haben soll, die Einwilligung zurückzunehmen mit der<br />

Folge eines Widerrufs des elektronischen Hausarrests. 57 Es<br />

spricht einiges dafür, den Mitbewohner an der einmal erteilten<br />

Einwilligung festzuhalten, wenn nicht Gründe eingetreten<br />

sind, die ein weiteres Eindringen in die Wohnung und Privatsphäre<br />

durch die öffentliche Gewalt als unzumutbar<br />

erscheinen lassen. Dass nach den gegenwärtigen Bestimmungen<br />

auch eine unbegründete Rücknahme der Einwilligung<br />

zwingend zum Widerruf führt, ist mit dem Schutz der Grundrechte<br />

des Mitbewohners nicht zu rechtfertigen und verletzt<br />

die Rechte des Überwachten.<br />

6. Psychosoziale Betreuung<br />

In den Modellversuchen hat sich die intensive Betreuung des<br />

Überwachten durch Sozialarbeiter als ein wesentlicher Erfolgsfaktor<br />

erwiesen. Die Betreuung bringt eine menschliche<br />

Komponente in die unpersönlich ablaufende technische Überwachung.<br />

Das Wissen, eine Kontaktperson zu haben, die bei<br />

Problemen rund um die Uhr ansprechbar ist, wurde von den<br />

Probanden als wichtige Unterstützung empfunden. 58 Diese<br />

positiven Erfahrungen wurden auch im österreichischen<br />

Modellversuch gemacht. Andererseits gab es im Versuch eine<br />

kleine Gruppe von Personen, die sich als in der Straffälligenhilfe<br />

eher untypische Klientel darstellte und die eine Betreu-<br />

§ 3 Ziff. 9 HausarrestV; Einführungserlass elektronisch überwachter<br />

Hausarrest v. 27.8.2010 – BMJ-V70201/0004-III<br />

1/2010, S. 23 f. Die Einwilligungserklärung der Mitbewohner<br />

hinsichtlich des Vollzugs der Freiheitsstrafe hat daher in<br />

Österreich eine „uneingeschränkte Zutrittsermächtigung zur<br />

Unterkunft für Organe der Vollzugsbehörden und Mitarbeiter<br />

der mit der Sozialarbeit betrauten Einrichtung“ zu umfassen;<br />

s. den eben zitierten Einführungserlass, S. 7.<br />

56 Vgl. Stree/Kinzig, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch,<br />

Kommentar, 28. Aufl. 2010, § 56d Rn. 4: das Gericht könne<br />

nur die Weisung erteilen, zu bestimmten Zeiten dem Bewährungshelfer<br />

Zutritt zu gewähren; s.a. § 19 Abs. 1 öBewHG.<br />

57 S. hierzu die entsprechenden Widerrufsgründe in Baden-<br />

Württemberg und Österreich; Fn. 50.<br />

58 Mayer (Fn. 1), S. 290 ff.


Elektronisch überwachter Hausarrest<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

ung als „nahezu beleidigend“ zurückwies. 59 Trotz der gegenteiligen<br />

Empfehlung im Abschlussbericht 60 wurde in der österreichischen<br />

Regelung eine Betreuung nur als verpflichtend<br />

vorgesehen, soweit dies zur Erreichung des erzieherischen<br />

Strafzwecks erforderlich ist. 61 Besteht diese Notwendigkeit<br />

nicht, ist die Sozialarbeit nur mit den ersten Erhebungen im<br />

Bewilligungsverfahren, der Erstellung eines Vorschlags für<br />

die Bedingungen des elektronischen Hausarrests und der<br />

begleitenden Kontrolle ihrer Einhaltung befasst. 62 Die Regelung<br />

scheint durch den Wunsch, die Vollzugskosten zu senken,<br />

motiviert zu sein. Sie vernachlässigt, dass eine Betreuung<br />

durch Sozialarbeiter frühzeitig auf Krisen und Probleme<br />

reagieren und Belastungen auffangen kann. Auch ist kein<br />

Grund ersichtlich, weshalb etwa einem vormals unbescholtenen<br />

Wirtschaftsstraftäter nicht zumutbar wäre, sich im Strafvollzug<br />

durch elektronischen Hausarrest mit seiner Tat auseinanderzusetzen.<br />

63 Vorzugswürdig erscheint eine Regelung wie<br />

in Baden-Württemberg, wonach die Betreuung einen festen<br />

Bestandteil des Gesamtpakets „elektronischer Hausarrest“ darstellt,<br />

deren Intensität an den Einsatzbereich anzupassen ist,<br />

aber ein gewisses Minimum nicht unterschreiten darf. 64<br />

59<br />

Hammerschick/Neumann (Fn. 3), S. 37 ff.<br />

60<br />

Hammerschick/Neumann (Fn. 3), S. 74 f.<br />

61<br />

§ 156b Abs. 1 l. S. öStVG. Dazu EBRV 772 BlgNR, 24.<br />

GP, S. 5: „Der Entwurf geht […] davon aus, dass eine sozialarbeiterische<br />

Betreuung nicht in jedem Fall notwendig sein<br />

wird, sondern Fälle denkbar sind, in denen der erzieherische<br />

Zweck des Strafvollzuges schon allein durch den Vollzug in<br />

Form des elektronisch überwachten Hausarrests selbst gewährleistet<br />

oder eine (sozialarbeiterische) Reintegrationshilfe<br />

(sonst) nicht erforderlich ist.“<br />

62<br />

Einführungserlass elektronisch überwachter Hausarrest v.<br />

27.8.2010 – BMJ-V70201/0004-III 1/2010, S. 10, 23. Im<br />

Vollzug der Untersuchungshaft ist gem. § 173a Abs. 2 öStPO<br />

sofort, nachdem ein Antrag auf elektronischen Hausarrest<br />

gestellt wurde, vorläufige Bewährungshilfe anzuordnen. Sie<br />

hat die Aufgabe, die Lebensverhältnisse und sozialen Bindungen<br />

des Beschuldigten zu ermitteln, die Bedingungen für<br />

den Vollzug des Hausarrests auszuhandeln und die begleitende<br />

Kontrolle durchzuführen. Eine intensivere Betreuung in<br />

Form von periodischen Gesprächsterminen ist dem Einführungserlass<br />

zufolge nur erforderlichenfalls anzuordnen;<br />

a.a.O., S. 30. Die Gesetzeslage ist insoweit nicht eindeutig,<br />

da § 173a Abs. 1 öStPO nur hinsichtlich der „geeigneten<br />

Mittel der elektronischen Aufsicht“ auf § 156b öStVG verweist.<br />

63<br />

Zur Notwendigkeit der „Deliktsbearbeitung“ auch für Wirtschaftsstraftäter<br />

Koss/Nogratnig, RZ 2011, 237 (242).<br />

64<br />

§ 6 Abs. 1 EAStVollzG. Laut LT-Drs. 14/4670, S. 19 hat<br />

eine „geringe Betreuung im Vollzug der Ersatzfreiheitsstrafe,<br />

mittlere Betreuung bei vollzugsöffnenden Maßnahmen, intensive<br />

Betreuung bei Entlassungsfreistellung“ zu erfolgen.<br />

Auch der hessische Erlass v. 20.3.2000 – 4104-III/9-258/91<br />

sieht eine Betreuung vor. Nach dem Handbuch (Hessisches<br />

Ministerium der Justiz [Fn. 1], S. 7) hat mindestens einmal<br />

wöchentlich ein persönlicher Kontakt zu erfolgen. Bei der<br />

Entlassungsfreistellung wird die Betreuung gem. § 16 Abs. 3<br />

III. Reaktion bei Regelverstößen<br />

Die Wirksamkeit des elektronischen Hausarrests beruht auf<br />

dem Wissen des Überwachten um die ständige Kontrolle und<br />

den klaren Konsequenzen, die ein Verstoß gegen die Bedingungen<br />

zur Folge hat. Die größte Zwangswirkung der Maßnahme<br />

geht von der Androhung der Überstellung in die Haftanstalt<br />

aus. In allen hier untersuchten Ländern wird auf schwer<br />

wiegende Regelverstöße mit einem Widerruf des elektronischen<br />

Hausarrests und der Überführung in die Haftanstalt<br />

reagiert. 65 Den österreichischen Gesetzesmaterialien zufolge<br />

ist diese Reaktion im Vollzug der Freiheitsstrafe dann geboten,<br />

wenn die Fortsetzung des elektronischen Hausarrests<br />

„nach den Zwecken des Strafvollzugs nicht mehr zielführend<br />

erscheint“. 66 Als schwerer Verstoß werden die Begehung<br />

einer Straftat, ein Fluchtversuch, Manipulation an den technischen<br />

Geräten, Täuschungen oder unbegründete grobe zeitliche<br />

Abweichungen vom Tagesprogramm zu bewerten sein.<br />

Bei weniger schweren Verstößen erfolgt eine Verwarnung 67<br />

bzw. förmliche Mahnung. Baden-Württemberg und Hessen<br />

besitzen noch eine mittlere Sanktionsstufe, nämlich die Kürzung<br />

oder Streichung der Freizeit außerhalb der Wohnung.<br />

Welche Sanktion in welchen Fällen zum Einsatz kommen<br />

soll, wird am präzisesten im Hessischen Erlass beschrieben: 68<br />

Bei leichten Verstößen reicht eine Verwarnung, bei gröberen<br />

Verstößen oder wiederholt leichten Verstößen wird die Freizeit<br />

außerhalb der Unterkunft gekürzt oder gestrichen, bei<br />

schweren Verstößen wird der Überwachte in die Anstalt überstellt.<br />

In Baden-Württemberg sind die milderen Reaktionsmöglichkeiten<br />

gem. § 8 Abs. 2 EAStVollzG dann anzuwenden,<br />

„wenn es ausreicht“. Am strengsten ist die österreichische<br />

Regelung, der zufolge der Vollzug der Freiheitsstrafe im<br />

elektronischen Hausarrest zwingend zu widerrufen ist, wenn<br />

der Überwachte trotz förmlicher Mahnung wiederholt gegen<br />

die Bedingungen verstößt. Im Vollzug der Untersuchungshaft<br />

ist der elektronische Hausarrest auf Antrag der Staatsanwaltschaft<br />

zu widerrufen, wenn der Beschuldigte die Bedingungen<br />

nicht einhält, ohne dass ein schwer wiegender oder wiederholter<br />

Regelverstoß vorausgesetzt ist. Vorzuziehen wäre<br />

eine Regelung, die die schwerste Sanktion auf gravierende<br />

Regelverletzungen beschränkt.<br />

IV. Abschließende Empfehlungen<br />

Aus dem Vergleich der Regelungen des elektronischen Hausarrests<br />

in Hessen, Baden-Württemberg und Österreich lassen<br />

sich folgende Empfehlungen ableiten:<br />

HStVollzG, § 16 Abs. 3 HJStVollzG von der Anstalt übernommen.<br />

65<br />

Die Regelungen sind zu finden in § 8 Abs. 1 und 2 EASt-<br />

VollzG und § 156c Abs. 2 Ziff. 2 öStVG, § 173a Abs. 4 öSt-<br />

PO. S.a. Erlass des Hessischen Ministeriums der Justiz vom<br />

20.3.2000 – 4104-III/9-258/91.<br />

66<br />

EBRV 772 BlgNR, 24. GP, S. 8.<br />

67<br />

Nach § 108 Abs. 2 öStVG kann auch eine formlose Abmahnung<br />

genügen.<br />

68<br />

Es handelt sich um bloße Empfehlungen.<br />

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543


Gudrun Hochmayr<br />

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Es gilt bereits durch die Ausgestaltung des Hausarrests einem<br />

„Zwei-Klassen-Vollzug“ entgegenzuwirken. Neben einer<br />

Erwerbstätigkeit sollte man jede andere sinnvolle Tätigkeit<br />

als Beschäftigung akzeptieren. Eine eigene Unterkunft sollte<br />

(anders als in Baden-Württemberg) keine Bedingung für den<br />

elektronischen Hausarrest sein. Vielmehr sollte es ausreichen,<br />

wenn dem Betroffenen eine Unterkunft von dritter Seite, wie<br />

einem karitativen Verein, zur Verfügung gestellt wird. Soweit<br />

man nicht auf einen Ersatz der Kosten des elektronischen<br />

Hausarrests verzichtet, bedarf es einer Regelung, der zufolge<br />

die Kostenersatzpflicht bei Gefährdung des notwendigen<br />

Unterhalts entfällt. Die genannten Vorkehrungen öffnen den<br />

elektronischen Hausarrest auch für sozial weniger integrierte<br />

Personen.<br />

Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass das Erfordernis<br />

einer Beschäftigung ein zentrales Element der verhaltenstherapeutischen<br />

Einwirkung auf den Überwachten ist. Allerdings<br />

sollte man die Anforderungen an das zeitliche Ausmaß der<br />

erforderlichen Beschäftigung nicht überspannen. Ein Beschäftigungsausmaß<br />

von mindestens 20 Wochenstunden, wie in<br />

Hessen und Baden-Württemberg, erscheint für die Zwecke<br />

des elektronischen Hausarrests als ausreichend. Das Erfordernis<br />

einer Beschäftigung lässt sich nur schwer mit dem Einsatz<br />

des elektronischen Hausarrests im Bereich der Untersuchungshaft<br />

vereinbaren. Dieser Umstand stellt – neben dem grundsätzlichen<br />

Problem, dass der den Haftgründen zugrunde liegenden<br />

Gefahr nur sehr beschränkt entgegengewirkt werden<br />

kann 69 – dieses Einsatzgebiet in Frage.<br />

Dem Verurteilten sollte zumindest nach einem gewissen<br />

Zeitraum Freizeit außerhalb der Unterkunft eingeräumt werden,<br />

um einen möglichst problemlosen Übergang in die<br />

Bewährungsphase oder die völlige Freiheit zu gewährleisten.<br />

Eine Freizeitregelung kann zugleich die mit der Dauer zunehmende<br />

Schwere des Hausarrests abfedern. Im Bereich der<br />

Untersuchungshaft hat sich die Gewährung von Freizeit<br />

außerhalb der Unterkunft nach der dem jeweiligen Haftgrund<br />

zugrunde liegenden Gefahr zu richten.<br />

Wegen der mit der Überwachung verbundenen Grundrechtseingriffe<br />

hat die Reichweite der Überwachung gesetzlich<br />

bestimmt zu sein. Nach den bisherigen Erfahrungen<br />

genügt es für die Zwecke des elektronischen Hausarrests,<br />

wenn mit Hilfe der elektronischen Mittel überprüft wird, ob<br />

sich der Überwachte entsprechend den Vorgaben in der Unterkunft<br />

aufhält oder von dieser abwesend ist. Vor diesem<br />

Hintergrund erscheint die in Baden-Württemberg mögliche<br />

Erstellung eines Bewegungsprofils als unverhältnismäßig.<br />

Hinzu kommt, dass gesetzliche Vorkehrungen fehlen, die<br />

verhindern, dass eine grundrechtswidrige „Rundumüberwachung“<br />

erfolgt.<br />

Der elektronische Hausarrest erfordert das auch mehrfache<br />

Betreten der Wohnung durch die öffentliche Gewalt. Im<br />

Hinblick auf den verfassungsrechtlichen Schutz der Wohnung<br />

und der Privatsphäre darf der Hausarrest deshalb nur bei Zustimmung<br />

der Mitbewohner angeordnet werden. Dies gilt (anders<br />

als nach der österreichischen Regelung) auch für den<br />

Vollzug der Untersuchungshaft durch elektronischen Hausar-<br />

69 Hochmayr, NStZ 2012 (im Druck).<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

544<br />

<strong>ZIS</strong> 11/2012<br />

rest. Nimmt ein Mitbewohner die Einwilligung zurück, sollte<br />

dieser Umstand entgegen den bisherigen Regelungen nur<br />

dann zum Widerruf des Hausarrests führen, wenn dem Mitbewohner<br />

ein weiteres Betreten der Wohnung durch die öffentliche<br />

Gewalt nicht zumutbar ist.<br />

Es empfiehlt sich, an der Betreuung des Überwachten<br />

durch Sozialarbeiter festzuhalten; diese persönliche Komponente<br />

der Überwachung hat sich nach bisherigen Erfahrungen<br />

als wesentlich für den Erfolg des elektronischen Hausarrests<br />

erwiesen. Wird gegen die Bedingungen des elektronischen<br />

Hausarrests verstoßen, empfehlen sich Sanktionen, die nach<br />

der Schwere des Verstoßes abgestuft sind. Dabei gilt es, die<br />

schwerste Sanktion in Form des Widerrufs des Hausarrests<br />

auf schwere Verstöße zu beschränken.


Die Anhörungsrüge im Verfahren der Rechtsbeschwerde gemäß §§ 116 ff. StVollzG<br />

und ihr Zusammenspiel mit der Verfassungsbeschwerde<br />

Von Wiss. Mitarbeiter Mario Bachmann, Köln*<br />

I. Einleitung<br />

Am 30.4.2003 hatte das Bundesverfassungsgericht den Gesetzgeber<br />

durch Plenarbeschluss verpflichtet, ein klares System<br />

fachgerichtlicher Rechtsbehelfe zur (Selbst-)Korrektur von<br />

Verletzungen des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 103<br />

Abs. 1 GG) zu schaffen. In ihrer Entscheidung stellten die<br />

Karlsruher Richter fest: 1<br />

„Die rechtsstaatlichen Anforderungen an die Rechtsmittelklarheit<br />

sind bei den zur Rüge eines Verstoßes gegen Art. 103<br />

Abs. 1 GG gegenwärtig verfügbaren außerordentlichen Rechtsbehelfen<br />

nicht erfüllt. Infolgedessen gibt es erhebliche Unsicherheiten<br />

bei der Entscheidung über die Frage, ob erst ein<br />

außerordentlicher Rechtsbehelf oder sogleich die Verfassungsbeschwerde<br />

einzulegen ist. […] Um den Rechtsschutz der Bürger<br />

nicht in einer rechtsstaatswidrigen Weise zu verkürzen,<br />

hat das BVerfG […] in Fällen, in denen der Weg zu den Fachgerichten<br />

wegen des Fehlens eines entsprechenden Rechtsbehelfs<br />

gar nicht eröffnet war, bisher unter bestimmten Voraussetzungen<br />

eine Verfassungsbeschwerde trotz fehlender fachgerichtlicher<br />

Entscheidung über die behauptete Versagung<br />

des rechtlichen Gehörs für zulässig gehalten. Diese Praxis<br />

widerspricht der Aufgabenverteilung zwischen Fach- und<br />

Verfassungsgerichtsbarkeit. Sie kann nur noch für eine Übergangszeit<br />

hingenommen werden. Dem Gesetzgeber wird aufgegeben,<br />

bis zum 31.12.2004 eine Lösung zu finden, […].“<br />

Am 1.1.2005 trat sodann das „Anhörungsrügengesetz“ in<br />

Kraft, durch das u.a. § 33a StPO neu gefasst und § 356a in<br />

die StPO eingefügt wurde. 2 Erstgenannte Vorschrift soll nach<br />

dem Willen des Gesetzgebers jeden Verstoß gegen Art. 103<br />

Abs. 1 GG im Beschlussverfahren erfassen. 3 § 356a StPO ist<br />

demgegenüber lex specialis für das Revisionsverfahren und<br />

gilt auch für Entscheidungen, die durch Urteil ergehen. 4 Außerdem<br />

ist die Anhörungsrüge nach dieser Vorschrift – im<br />

Unterschied zu derjenigen nach § 33a StPO – fristgebunden.<br />

Gemäß § 356a S. 2 StPO ist sie binnen einer Woche nach<br />

Kenntnis von der Verletzung des rechtlichen Gehörs zu erheben<br />

und zu begründen. Die Kenntniserlangung muss zudem<br />

glaubhaft gemacht werden (§ 356a S. 3 StPO).<br />

Die Ziele des Bundesverfassungsgerichts – Arbeitsentlastung<br />

und Schaffung von Rechtsklarheit – wurden mit vorgenannter<br />

Reform jedoch zu großen Teilen verfehlt. Zum einen<br />

ist die Zahl der bei den Karlsruher Richtern eingehenden<br />

Verfassungsbeschwerden, die eine Verletzung von Art. 103<br />

* Der Autor ist Wiss. Mitarbeiter und Doktorand am Institut<br />

für Kriminologie der Universität zu Köln bei Prof. Dr. Frank<br />

Neubacher M.A.<br />

1 Vgl. BVerfGE 107, 395 (417 f.).<br />

2 BGBl. I 2004, S. 3220. Die für das Beschwerdeverfahren<br />

vorgesehene Regelung in § 311a StPO wurde durch das Gesetz<br />

nicht verändert; vgl. zur praktisch geringen Bedeutung<br />

dieser Vorschrift Piekenbrock, AnwBl. 2005, 125.<br />

3 Vgl. BT-Drs. 15/3706, S. 17.<br />

4 Vgl. BT-Drs. 15/3706, S. 18.<br />

Abs. 1 GG geltend machen, nach wie vor beträchtlich. 5 Die<br />

davor (zwecks Rechtswegerschöpfung) einzulegende fachgerichtliche<br />

Anhörungsrüge bleibt zudem nahezu immer erfolglos:<br />

Im Zeitraum von 2007 bis 2011 waren laut Geschäftsstatistiken<br />

der Strafsenate des BGH lediglich zwei von insgesamt<br />

231 Anhörungsrügen erfolgreich, was einer Quote von<br />

gerade einmal 0,87 % entspricht. 6 Zum anderen fehlt es weiterhin<br />

an der erforderlichen Rechtssicherheit, was u.a. auf das<br />

noch nicht vollständig geklärte Verhältnis der Anhörungsrügen<br />

zur Verfassungsbeschwerde sowie auf die viel diskutierte<br />

Frage, ob eine analoge Anwendung der normierten Gehörsrügen<br />

auf andere Verfahrensgrundrechte in Betracht kommt,<br />

zurückzuführen ist und zum Teil auch an den gesetzlichen<br />

Regelungen selbst liegt. 7<br />

Im Folgenden soll zunächst untersucht werden, welche<br />

Anhörungsrüge bei Gehörsverletzungen im Rechtsbeschwerdeverfahren<br />

nach §§ 116 ff. StVollzG zu erheben ist (II.).<br />

Praktisch ist diese Problematik trotz der äußerst geringen<br />

Erfolgsquote von nicht unerheblicher Bedeutung, denn jedes<br />

Jahr erreichen mehrere hundert Verfassungsbeschwerden aus<br />

dem Strafvollzug, von denen ein großer Teil Verstöße gegen<br />

Art. 103 Abs. 1 GG behauptet, das Bundesverfassungsgericht.<br />

Immer wieder mangelt es dabei aufgrund nicht erhobener Anhörungsrüge<br />

an der gemäß § 90 Abs. 2 S. 1 BVerfGG erforderlichen<br />

Rechtswegerschöpfung, so dass die betreffenden<br />

Verfassungsbeschwerden unzulässig sind. 8 Hätte nun in all die-<br />

5<br />

Rund die Hälfte aller Verfassungsbeschwerden macht einen<br />

entsprechenden Verstoß geltend, vgl. Zuck, AnwBl. 2008, 168.<br />

6<br />

Die jährlichen Geschäftsstatistiken sind abrufbar unter<br />

http://www.bundesgerichtshof.de/DE/BGH/Statistik/Statistik<br />

Straf/statistikStraf_node.html.<br />

Der heutige Präsident des Bundesverfassungsgerichts Voßkuhle<br />

hatte bereits im Jahr 2003 in Bezug auf eine Selbstkontrolle<br />

des iudex a quo in NJW 2006, 2193 (2196 f.) vorhergesagt:<br />

„Insbesondere in den Fällen, in denen der Verfahrensfehler<br />

nicht auf einer ‚Panne‘ beruht, sondern auf falschen<br />

rechtlichen oder arbeitsstrategischen Überlegungen, kann bei<br />

realistischer Betrachtungsweise von dem jeweiligen Richter<br />

kaum erwartet werden, dass er innerhalb kürzester Zeit seine<br />

Meinung ändert und neu in die Sachprüfung einsteigt. […]<br />

Ganz abgesehen davon gehört zu den unverzichtbaren Kernelementen<br />

des gerichtlichen Rechtsschutzes die Neutralität und<br />

Distanz des agierenden Richters, der nicht Kontrolleur in<br />

eigener Sache sein darf.“<br />

7<br />

Ausführlich hierzu Eschelbach/Geipel/Weiler, StV 2010,<br />

325; kritisch auch Rieble/Vielmeier, JZ 2011, 923 (930).<br />

8<br />

Vgl. aus jüngerer Zeit etwa BVerfG BeckRS 2011, 56808;<br />

BVerfG BeckRS 2011, 56245; BVerfG, Beschl. v. 2.3.2011 –<br />

2 BvR 43/10, 86/10, 140/10; BVerfG BeckRS 2010, 51316;<br />

BVerfG BeckRS 2010, 45443; BVerfG BeckRS 2009, 38646;<br />

BVerfG BeckRS 2008, 37766; BVerfG, Beschl. v. 23.4.2008<br />

– 2 BvR 1889/07; s. zum Ganzen auch Lübbe-Wolff/Frotz,<br />

NStZ 2009, 616 f.<br />

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545


Mario Bachmann<br />

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sen Fällen gemäß § 33a StPO oder aber nach der – von ihren<br />

Voraussetzungen her deutlich strengeren – Regelung des<br />

§ 356a StPO vorgegangen werden müssen? Der vorliegende<br />

Beitrag will aber nicht nur diese Frage erörtern, sondern auch<br />

einige wichtige (Folge-)Probleme untersuchen, die sich im Zusammenspiel<br />

von Anhörungsrüge und Verfassungsbeschwerde<br />

ergeben können (III. bis VI.).<br />

II. Der Streit um die einschlägige Anhörungsrüge im<br />

Rahmen der §§ 116 ff. StVollzG<br />

1. Die verschiedenen Auffassungen<br />

Nach zum Teil vertretener Auffassung soll sich das Verfahren<br />

im Falle der Verletzung rechtlichen Gehörs durch das<br />

Rechtsbeschwerdegericht nach § 356a StPO richten. 9 Dies<br />

ergebe sich aus dem Umstand, dass die Rechtsbeschwerde im<br />

Sinne der §§ 116 ff. StVollzG revisionsähnlich ausgestaltet<br />

sei. 10 Die herrschende Ansicht will demgegenüber § 120<br />

Abs. 1 i.V.m. § 33a StPO zur Anwendung bringen und begründet<br />

dies u.a. mit dem Wortlaut des § 356a StPO, der sich<br />

allein auf das Revisionsverfahren beziehe. 11 Das Bundesverfassungsgericht<br />

hat die in Rede stehende Streitfrage in zwei<br />

jüngst ergangenen Beschlüssen 12 zwar offen gelassen. Gleichwohl<br />

hat es mit Blick auf das Grundrecht des effektiven<br />

Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) und der besonderen Situation<br />

von Gefangenen Bedenken im Hinblick auf die Anwendung<br />

des § 356a StPO erkennen lassen. 13 In zahlreichen<br />

anderen Entscheidungen hatte es sich sogar eindeutig für die<br />

h.M. ausgesprochen. So heißt es etwa in einem Nichtannahmebeschluss<br />

vom 20.5.2010: „Hat das Gericht […] den Anspruch<br />

eines Beteiligten auf rechtliches Gehör in entscheidungserheblicher<br />

Weise verletzt, ist hiergegen […] die Anhörungsrüge<br />

nach § 33a StPO, § 120 Abs. 1 StVollzG eröffnet.“<br />

14<br />

9<br />

Vgl. OLG Frankfurt a.M. NStZ-RR 2009, 30; KG Berlin,<br />

Beschl. v. 17.10.2011 – 2 Ws 340/11 Vollz; OLG Sachsen-<br />

Anhalt, Beschl. v. 23.6.2011 – 1 Ws 273/11.<br />

10<br />

Vgl. OLG Frankfurt a.M. NStZ-RR 2009, 30.<br />

11<br />

Vgl. Pohlreich, StV 2011, 574 (575); Lübbe-Wolff, AnwBl.<br />

2005, 509 (513); Calliess/Müller-Dietz, Strafvollzugsgesetz,<br />

Kommentar, 11. Aufl. 2008, § 120 Rn. 2; Laubenthal, Strafvollzug,<br />

6. Aufl. 2011, Rn. 806; OLG Hamm BeckRS 2006,<br />

07373.<br />

12<br />

Vgl. BVerfG BeckRS 2011, 56808; BVerfG BeckRS 2011,<br />

55538. Im erstgenannten Verfahren war die Streitfrage nicht<br />

entscheidungserheblich, weil der Beschluss, auf den sich die<br />

Anhörungsrüge bezog, nicht Gegenstand der Verfassungsbeschwerde<br />

war. In dem zweiten Beschluss musste sich die erkennende<br />

Kammer nicht festlegen, weil die zwischen den<br />

§§ 33a, 356a StPO hinsichtlich der Zulässigkeitsvoraussetzungen<br />

bestehenden Unterschiede im konkreten Fall nicht<br />

entscheidungserheblich zum Tragen kamen.<br />

13<br />

Vgl. BVerfG BeckRS 2011, 56808.<br />

14<br />

Vgl. BVerfG BeckRS 2010, 51316; ebenso BVerfG BeckRS<br />

2011, 56245; BVerfG, Beschl. v. 2.3.2011 –2 BvR 43/10,<br />

86/10, 140/10.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

546<br />

<strong>ZIS</strong> 11/2012<br />

2. Stellungnahme<br />

Blickt man zunächst auf den Wortlaut der einschlägigen Regelungen,<br />

zeigt sich, dass die h.M. diesen mit Recht als Argument<br />

für sich in Anspruch nimmt. § 356a StPO setzt nämlich<br />

eine Revisionsentscheidung voraus, an der es im Verfahren<br />

nach §§ 116 ff. StVollzG aber gerade fehlt. § 33a StPO<br />

verlangt hingegen lediglich einen (nicht mehr anfechtbaren)<br />

Beschluss. Damit gilt diese Vorschrift zwar nicht für Urteile.<br />

Gemäß § 119 Abs. 1 StVollzG ist über Rechtsbeschwerden<br />

im Sinne von § 116 Abs. 1 StVollzG aber ohnehin immer im<br />

Wege des Beschlusses zu entscheiden, so dass sich bei einer<br />

Vorgehensweise nach § 33a StPO in Bezug auf den Wortlaut<br />

keinerlei Schwierigkeiten ergeben.<br />

Wenn die Gegner der h.M. angesichts der Systematik der<br />

§§ 116 ff. StVollzG zu dem Ergebnis gelangen, dass die<br />

Rechtsbeschwerde gegen Entscheidungen der Strafvollstreckungskammern<br />

revisionsähnlich ausgestaltet sei, ist dies<br />

durchaus zutreffend und spiegelt sich insbesondere in ihren<br />

Zulässigkeitsvoraussetzungen wider. 15 Gemäß § 116 Abs. 1<br />

StVollzG ist sie nämlich nur statthaft, wenn die Nachprüfung<br />

zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen<br />

Rechtsprechung geboten ist. Aus dieser Nähe zur Revision<br />

werden durchaus auch konkrete Konsequenzen gezogen.<br />

So ist vorgenannter Umstand etwa maßgeblicher Grund<br />

dafür, dass § 306 Abs. 2 StPO trotz der Regelung in § 116<br />

Abs. 4 StVollzG, wonach für die Rechtsbeschwerde die Vorschriften<br />

der StPO über die Beschwerde entsprechend gelten,<br />

keine Anwendung findet. 16 Die Strafvollstreckungskammer<br />

kann der Beschwerde folglich nicht selbst Abhilfe verschaffen.<br />

Einen zwingenden Schluss im Hinblick auf die Anwendbarkeit<br />

des § 356a StPO erlaubt die Revisionsähnlichkeit des<br />

Rechtsbeschwerdeverfahrens gemäß §§ 116 ff. StVollzG für<br />

sich genommen freilich noch nicht. Unabhängig davon erweist<br />

sich eine andere systematische Erwägung im Ergebnis<br />

als weit durchschlagender als die bisher angeführten Gesichtspunkte.<br />

Deutlich wird dies anhand eines Vergleichs mit dem<br />

Jugendstrafrecht und dem im OWiG geregelten Bußgeldverfahren.<br />

Für beide Bereiche existiert mit den §§ 2 Abs. 2 JGG,<br />

46 Abs. 1 OWiG (ähnlich wie in § 120 Abs. 1 StVollzG) ein<br />

allgemeiner Verweis auf die Vorschriften der StPO. 17 Im Unterschied<br />

zum Strafvollzugsrecht wird nun aber sowohl im<br />

JGG als auch im OWiG für letztinstanzliche Entscheidungen<br />

§ 356a StPO für anwendbar erklärt. Am deutlichsten geschieht<br />

dies in § 55 Abs. 4 JGG. Dort heißt es: „Soweit ein Beteiligter<br />

nach Absatz 1 Satz 1 an der Anfechtung einer Entschei-<br />

15<br />

Vgl. Arloth, Strafvollzugsgesetz, Kommentar, 3. Aufl. 2011,<br />

§ 116 Rn. 1; Calliess/Müller-Dietz (Fn. 11), § 116 Rn. 1.<br />

16<br />

Vgl. OLG Stuttgart NStZ 1984, 528; Calliess/Müller-Dietz<br />

(Fn. 11), § 116 Rn. 8; Kaiser/Schöch, Strafvollzug, 5. Aufl.<br />

2003, § 9 Rn. 55.<br />

17<br />

Im Unterschied zu § 120 Abs. 1 StVollzG geht der pauschale<br />

Verweis in §§ 2 Abs. 2 JGG, 46 OWiG noch über die<br />

StPO hinaus. So bezieht § 46 Abs. 1 OWiG alle allgemeinen<br />

Vorschriften über das Strafverfahren – namentlich auch diejenigen<br />

des GVG und JGG – mit ein. § 2 Abs. 2 JGG verweist<br />

(noch weitergehend) pauschal auf alle allgemeinen Regelungen.


Die Anhörungsrüge im Verfahren der Rechtsbeschwerde gemäß §§ 116 ff. StVollzG<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

dung gehindert ist oder nach Absatz 2 kein Rechtsmittel gegen<br />

die Berufungsentscheidung einlegen kann, gilt § 356a der<br />

Strafprozessordnung entsprechend.“ Für das Bußgeldverfahren<br />

ergibt sich die Anwendbarkeit von § 356a StPO über folgenden<br />

Verweis in § 79 Abs. 3 S. 1 OWiG: „Für die Rechtsbeschwerde<br />

und das weitere Verfahren gelten, soweit dieses<br />

Gesetz nichts anderes bestimmt, die Vorschriften der Strafprozeßordnung<br />

[§§ 333 bis 358] und des Gerichtsverfassungsgesetzes<br />

über die Revision entsprechend.“ Das Fehlen einer<br />

vergleichbaren Regelung im Strafvollzugsgesetz – dort findet<br />

sich für die Rechtsbeschwerde in § 116 Abs. 4 nur ein Verweis<br />

auf die Regelungen der StPO zur Beschwerde – muss als<br />

Indiz dafür gewertet werden, dass die spezielle Anhörungsrüge<br />

nach § 356a StPO hier nicht anwendbar sein soll.<br />

Nichts anderes ergibt sich bei Berücksichtigung teleologischer<br />

Gesichtspunkte. Die Anhörungsrügen nach §§ 33a, 356a<br />

StPO dienen der Sicherung des Anspruchs auf rechtliches<br />

Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG). 18 Soll dieses grundrechtsgleiche<br />

Recht aber für das Rechtsbeschwerdeverfahren nach §§ 116<br />

ff. StVollzG wirklich effektiv gewährleistet sein, kommt nur<br />

die Anhörungsrüge nach § 33a StPO in Betracht. Die formalen<br />

Anforderungen des § 356a StPO sind nämlich für den<br />

Bereich des Strafvollzuges schlicht zu streng. Vor allem die<br />

in § 356a S. 2 StPO vorgesehene Frist von einer Woche für<br />

Einlegung und Begründung vorgenannten Rechtsbehelfs, die<br />

generell schon als viel zu knapp kritisiert wird, 19 ist für Inhaftierte<br />

unzumutbar. Mit Recht hat das Bundesverfassungsgericht<br />

diesbezüglich in seinem Beschluss vom 30.11.2011 zu<br />

bedenken gegeben, dass Strafgefangene häufig einer den Postlauf<br />

verzögernden Postkontrolle unterliegen und im Verfahren<br />

nach dem StVollzG – anders als in dem der Revision –<br />

regelmäßig anwaltlich nicht vertreten sind. 20 Wann immer es<br />

um den Rechtsschutz im Strafvollzug geht, ist zudem zu berücksichtigen,<br />

dass die Betroffenen typischerweise nach Bildungsstand,<br />

materiellen Ressourcen und Kommunikationsmöglichkeiten<br />

für den Umgang mit den Schwierigkeiten der<br />

Rechtsordnung nicht gut gerüstet sind. 21 Angesichts dieser<br />

Besonderheiten könnte von einem effektiven Rechtsschutz<br />

(Art. 19 Abs. 4 GG) nicht die Rede sein, wenn man Inhaftierte<br />

bei Gehörsverletzungen im Rechtsbeschwerdefahren auf<br />

die Rüge nach § 356a StPO verwiese und damit letztendlich<br />

eine viel zu hohe Hürde aufstellte.<br />

Was schließlich die historische Auslegung anbelangt, ist<br />

festzustellen, dass die Gesetzesmaterialien für die hier im<br />

Zentrum stehende Problematik nicht weiterführend sind. Die<br />

übrigen Auslegungsgesichtspunkte haben jedoch bereits gezeigt,<br />

dass die h.M. den Vorzug verdient. Danach ist also bei<br />

Gehörsverletzungen im Rahmen des Verfahrens nach §§ 116<br />

ff. StVollzG die Anhörungsrüge gemäß § 120 Abs. 1 StVollzG<br />

i.V.m. § 33a StPO zu erheben. Ein gegebenenfalls als Rüge<br />

18<br />

Vgl. nur Larcher, in: Graf (Hrsg.), Beck‘scher Online-Kommentar,<br />

Strafprozessordnung, Stand: 1.10.2012, § 33a Rn. 1;<br />

Wiedner, in: Graf (a.a.O.), § 356a Rn. 1.<br />

19<br />

Näher hierzu Eschelbach/Geipel/Weiler, StV 2010, 325<br />

(330).<br />

20<br />

Vgl. BVerfG BeckRS 2011, 56808.<br />

21<br />

So treffend BVerfG StV 2008, 88 (89).<br />

nach § 356a StPO bezeichneter Rechtsbehelf ist gemäß § 300<br />

StPO in eine Anhörungsrüge nach § 33a StPO umzudeuten.<br />

III. Fristvorwirkung der Verfassungsbeschwerde?<br />

Die hier vertretene Auffassung wirft nun allerdings unweigerlich<br />

die Frage auf, ob die für die Einlegung einer Verfassungsbeschwerde<br />

geltende Monatsfrist in § 93 Abs. 1 S. 1 BVerf-<br />

GG dazu führt, dass nicht fristgebundene Rechtsbehelfe wie<br />

§ 33a StPO ebenfalls innerhalb eines Monats zu erheben sind.<br />

Zum Teil wird dies mit dem Hinweis darauf bejaht, dass andernfalls<br />

der Gedanke der Rechtssicherheit, der § 93 BVerf-<br />

GG zu Grunde liege, unterlaufen werde. 22 Die Judikatur des<br />

Bundesverfassungsgerichts lässt auch in Bezug auf diese<br />

Problematik keine einheitliche Linie erkennen. Einige Entscheidungen<br />

lassen die Beantwortung der in Rede stehenden<br />

Frage ausdrücklich offen, andere sprechen sich zum Teil für,<br />

manche wiederum auch gegen eine Fristvorwirkung aus. 23<br />

In Übereinstimmung mit der h.M. ist eine Übertragung<br />

der Monatsfrist des § 93 Abs. 1 S. 1 BVerfGG auf § 33a StPO<br />

klar abzulehnen. 24 Ein fristunabhängiger Rechtsbehelf wie<br />

die Anhörungsrüge nach § 33a StPO kann nicht einfach über<br />

den Umweg des Verfassungsprozessrechts in einen solchen mit<br />

Einlegungsfrist umgedeutet werden. Dies widerspricht der Entscheidung<br />

des Gesetzgebers, eine gewisse Rechtsunsicherheit,<br />

die mit dem Verzicht auf eine Fristsetzung einhergeht, in<br />

Kauf zu nehmen. 25 Mit Recht wird ferner darauf hingewiesen,<br />

dass sich ein Beschwerdeführer auf die im Fachprozessrecht<br />

vorgesehene Fristlosigkeit eines Rechtsbehelfs verlassen<br />

können muss, weil die Lehre von der Fristvorwirkung andernfalls<br />

genau das erreichen würde, was sie eigentlich gerade<br />

vermeiden will: Rechtsunsicherheit. 26 Die Monatsfrist des<br />

§ 93 Abs. 1 S. 1 BVerfGG beginnt daher erst mit Zustellung<br />

der Entscheidung über die Anhörungsrüge zu laufen. 27<br />

IV. Anhörungsrüge und Gebot der Rechtswegerschöpfung<br />

nach § 90 Abs. 2 S. 1 BVerfGG<br />

Wie bereits erwähnt, kann eine Verfassungsbeschwerde, die<br />

ausschließlich eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches<br />

Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) rügt, mangels Rechtswegerschöpfung<br />

(§ 90 Abs. 2 S. 1 BVerfGG) nicht zulässig sein,<br />

wenn zuvor die Erhebung einer fachgerichtlichen Anhörungsrüge<br />

versäumt wurde. 28 Das gilt nicht, wenn – bei objektiver<br />

22 Vgl. Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2012,<br />

Rn. 604; Klein/Sennekamp, NJW 2007, 945 (954).<br />

23 Überblick über die verfassungsgerichtliche Judikatur bei<br />

Pohlreich, StV 2011, 574 (575).<br />

24 Vgl. Buermeyer, in: Rensen/Brink (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung<br />

des Bundesverfassungsgerichts, 2009, S. 35 (S. 44);<br />

Zuck, Das Recht der Verfassungsbeschwerde, 3. Aufl. 2006,<br />

Rn. 837; Pohlreich, StV 2011, 574 (575 f.).<br />

25 Vgl. Buermeyer (Fn. 24), S. 35 (S. 44 Fn. 29).<br />

26 Vgl. Pohlreich, StV 2011, 574 (575).<br />

27 Vgl. nur Kleine-Cosack, Verfassungsbeschwerden und Menschenrechtsbeschwerde,<br />

2. Aufl. 2007, Rn. 390 m.w.N.<br />

28 Vgl. nur Zuck, AnwBl. 2008, 168 (170) m.w.N.<br />

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Mario Bachmann<br />

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Betrachtung – lediglich andere Grundrechtsverletzungen geltend<br />

gemacht werden. 29<br />

Probleme ergeben sich aber, wenn der Beschwerdeführer<br />

neben einem Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG noch andere<br />

Verletzungen grundgesetzlicher Rechtspositionen geltend<br />

macht. Hierzu hat das Bundesverfassungsgericht im sog.<br />

„Queen Mary II“-Beschluss klargestellt, dass die unterlassene<br />

Erhebung der Anhörungsrüge nicht nur in Bezug auf Art. 103<br />

Abs. 1 GG, sondern insgesamt (also hinsichtlich aller Grundrechtsverletzungen)<br />

zur Unzulässigkeit der Verfassungsbeschwerde<br />

führt. 30 Dies gilt nach Ansicht der Karlsruher Richter<br />

jedenfalls in den Fällen, in denen sich die behauptete<br />

Gehörsverletzung auf den gesamten Streitgegenstand des fachgerichtlichen<br />

Verfahrens erstreckt. 31 Das ist durchaus überzeugend,<br />

denn wenn das Fachgericht der Rüge Abhilfe verschafft,<br />

wird das bei ihm anhängige Verfahren gemäß § 33a<br />

S. 1 StPO vollständig wieder eröffnet und es besteht die Möglichkeit,<br />

dass auch die anderen Grundrechtsverletzungen ausgeräumt<br />

werden. 32<br />

Eine Anhörungsrüge muss nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts<br />

sogar auch dann erhoben werden, wenn<br />

der Beschwerdeführer mit der Verfassungsbeschwerde eigentlich<br />

gar keine Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG geltend<br />

machen will, die Gehörsrüge aber bei objektiver Betrachtung<br />

zur Korrektur der von ihm behaupteten sonstigen Grundrechtsverstöße<br />

führen könnte. 33 Nach einem Teil der Literatur<br />

soll diese Sichtweise nur schwerlich mit dem Zweck des § 90<br />

Abs. 2 BVerfGG zu vereinbaren sein, weil der Beschwerdeführer<br />

vor Einlegung der Verfassungsbeschwerde nur verpflichtet<br />

sei, alles zu unternehmen, um diejenigen Grundrechtsverletzungen,<br />

die er tatsächlich angreifen wolle, auszuräumen.<br />

Deshalb ginge es zu weit, wenn man von ihm verlangte,<br />

auch gegen solche Verstöße vorzugehen, die er mit<br />

der Verfassungsbeschwerde eigentlich gar nicht zu rügen beabsichtige.<br />

34 Überzeugend ist diese Kritik jedoch nicht, denn<br />

nach dem Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde<br />

sind vom Betroffenen alle Möglichkeiten auszuschöpfen,<br />

die die Grundrechtsverletzung bereits auf fachgerichtlicher<br />

Ebene beseitigen können. Dies kann durchaus<br />

auch mittels einer Anhörungsrüge geschehen, die schließlich<br />

im Erfolgsfalle zu einem Nachholverfahren führt, das nicht<br />

nur Gelegenheit bietet, Verstöße gegen Art. 103 Abs. 1 GG,<br />

sondern auch solche gegen andere grundgesetzlich gewährte<br />

Rechtspositionen zu korrigieren. 35 Das Bundesverfassungsgericht<br />

hält die beschriebene Vorgehensweise jedoch dann für<br />

entbehrlich, wenn die Erhebung der Anhörungsrüge offen-<br />

29<br />

Vgl. Heinrichsmeier, NVwZ 2010, 228 (229); Desens,<br />

NJW 2006, 1243 (1246).<br />

30<br />

Vgl. BVerfG NJW 2005, 3059 f.<br />

31<br />

Vgl. BVerfG NJW 2005, 3059 (3060).<br />

32<br />

Näher hierzu (am Beispiel der zivilprozessualen Anhörungsrüge<br />

nach § 321a ZPO) BVerfG NJW 2005, 3059 (3060).<br />

33<br />

Vgl. BVerfG BeckRS 2011, 53022; BVerfG BeckRS 2011,<br />

56245.<br />

34<br />

So etwa Jost, in: Rensen/Brink (Fn. 24), S. 59 (S. 72 f.);<br />

Rieble/Vielmeier, JZ 2011, 923 (927).<br />

35<br />

Vgl. Zuck, AnwBl. 2008, 168 (170).<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

548<br />

<strong>ZIS</strong> 11/2012<br />

kundig unzulässig oder aussichtslos wäre. 36 Hinreichend gefestigte<br />

Kriterien anhand derer man dies feststellen könnte,<br />

sind der verfassungsgerichtlichen Judikatur indes nicht zu<br />

entnehmen. 37 Letztlich läuft alles auf eine Erfolgsprognose<br />

hinaus, die Zulässigkeit und Begründetheit einer Anhörungsrüge<br />

in den Blick nehmen muss. 38 Dem Beschwerdeführer<br />

wird damit eine schwierige Gratwanderung abverlangt: Sieht<br />

er aufgrund offenkundiger Aussichtslosigkeit von der fachgerichtlichen<br />

Gehörsrüge ab, läuft er Gefahr, dass die Karlsruher<br />

Richter dies anders bewerten und die Verfassungsbeschwerde<br />

als unzulässig abweisen. Erhebt er die Anhörungsrüge,<br />

besteht das Risiko der Verfristung der Verfassungsbeschwerde,<br />

denn der Beschwerdeführer soll sich letztere nach<br />

Auffassung des Bundesverfassungsgerichts nicht dadurch offen<br />

halten können, dass er einen von vornherein zum Scheitern<br />

verurteilten Rechtsbehelf einlegt. 39<br />

Bezieht sich die Rüge nach Art. 103 Abs. 1 GG nicht auf<br />

den gesamten, sondern nur auf einen abtrennbaren, eigenständigen<br />

Teil des Streitgegenstandes muss bezüglich dieses<br />

Teils die fachgerichtliche Anhörungsrüge und im Übrigen<br />

innerhalb der Monatsfrist des § 93 Abs. 1 S. 1 BVerfGG<br />

Verfassungsbeschwerde erhoben werden. 40 Nach dem klaren<br />

Wortlaut des § 33a StPO (und aller anderen entsprechenden<br />

Regelungen) wird das Verfahren nämlich nur insoweit zurückversetzt,<br />

als dies aufgrund der Rüge geboten ist. 41<br />

V. Primäre und sekundäre Anhörungsrüge<br />

Hilft das Oberlandesgericht einer erstmals im Verfahren der<br />

Rechtsbeschwerde nach §§ 116 ff. StVollzG erfolgten Verletzung<br />

des Rechts aus Art. 103 Abs. 1 GG nicht ab (sog.<br />

„primäre Gehörsrüge“), ist fraglich, ob eine solche Entscheidung<br />

über die Anhörungsrüge eigenständiger Gegenstand einer<br />

Verfassungsbeschwerde sein kann. Das Bundesverfassungsgericht<br />

hat hierzu festgestellt: „Die Entscheidung […]<br />

mit der das [Gericht] die Anhörungsrüge zurückweist, schafft<br />

keine eigenständige Beschwer. […] Die eine Nachholung<br />

rechtlichen Gehörs ablehnenden Entscheidungen nach § 356a<br />

Satz 1 StPO oder § 33a Satz 1 StPO lassen allenfalls eine bereits<br />

durch die Ausgangsentscheidung eingetretene Verletzung<br />

rechtlichen Gehörs fortbestehen, indem die ‚Selbstkorrektur‘<br />

durch die Fachgerichte unterbleibt. […] Es besteht auch kein<br />

dringendes, schutzwürdiges Interesse an einer – zusätzlichen<br />

– verfassungsgerichtlichen Überprüfung der Entscheidung<br />

nach § 356a StPO. Der Beschwerdeführer kann im Verfassungsbeschwerdeverfahren<br />

stets die Ausgangsentscheidung angreifen<br />

und auf die seiner Ansicht nach fortbestehende Gehörsverletzung<br />

hin überprüfen lassen.“ 42 Dieser Lösungsan-<br />

36<br />

Vgl. BVerfG, Beschl. v. 31.8.2011 – 1979/08 m.w.N.<br />

37<br />

Vgl. Jost (Fn. 34), S. 59 (S. 67 f.); Rieble/Vielmeier, JZ<br />

2011, 923 (928); Heinrichsmeier, NVwZ 2010, 228 (230).<br />

38<br />

Vgl. Heinrichsmeier, NVwZ 2010, 228 (230).<br />

39<br />

Vgl. BVerfG, Beschl. v. 31.8.2011 – 1979/08.<br />

40<br />

Vgl. Desens, NJW 2006, 1243 (1246); Zuck, NVwZ 2005,<br />

739 (743).<br />

41<br />

So mit Recht Desens, NJW 2006, 1243 (1246).<br />

42<br />

Vgl. BVerfG BeckRS 2007, 25632; BVerfG NStZ-RR 2007,<br />

381 (382).


Die Anhörungsrüge im Verfahren der Rechtsbeschwerde gemäß §§ 116 ff. StVollzG<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

satz verdient Zustimmung, denn er vermeidet die Entstehung<br />

eines unendlichen Rechtsweges. 43<br />

Besteht die Gehörsverletzung hingegen darin, dass das<br />

Oberlandesgericht trotz entsprechender Rüge einem Verstoß<br />

der Strafvollstreckungskammer gegen Art. 103 Abs. 1 GG zu<br />

Unrecht keine Abhilfe verschafft, 44 ist fraglich, ob es sich insoweit<br />

um eine eigenständige Gehörsverletzung handelt, die<br />

im Verfahren nach § 120 Abs. 1 StVollzG i.V.m. § 33a StPO<br />

gerügt werden kann (sog. „sekundäre Gehörsrüge“). Das ist<br />

zu bejahen. 45 Anders als in der Literatur zum Teil behauptet<br />

wird, 46 hat die hier vertretene Auffassung nicht die Gefahr<br />

eines unendlichen Rechtsmittelzuges zur Folge. Wie die Entscheidung<br />

über die primäre, kann nämlich auch diejenige<br />

über die sekundäre Gehörsverletzung kein eigenständiger Gegenstand<br />

einer Verfassungsbeschwerde sein. 47 Das Bundesverfassungsgericht,<br />

das die sekundäre Gehörsrüge zunächst<br />

für zulässig erachtet hatte, vertritt nunmehr seit 2008 die gegenteilige<br />

Ansicht, wonach die bloße Nichtheilung der Verletzung<br />

des Art. 103 Abs. 1 GG durch die Vorinstanz keinen<br />

eigenständigen Gehörsverstoß darstelle. 48 Damit scheint vorprogrammiert<br />

zu sein, dass es früher oder später zu ähnlichen<br />

Abgrenzungsschwierigkeiten bzw. Unsicherheiten kommen<br />

wird, wie es sie allgemein in Bezug auf die „offenkundige<br />

Unzulässigkeit oder Aussichtlosigkeit“ einer Anhörungsrüge<br />

bereits gibt. Mit Recht wird daher eine Präzisierung des Begriffs<br />

der „eigenständigen Gehörsverletzung“ angemahnt. 49<br />

VI. Analoge Anwendung des § 33a StPO auf die Verletzung<br />

anderer Verfahrensgrundrechte?<br />

Bislang noch ungeklärt ist die Frage, ob § 33a StPO und die<br />

übrigen gesetzlichen Regelungen zur Anhörungsrüge auf andere<br />

Verfahrensgrundrechte analog anwendbar sind. Zutreffend<br />

wird darauf hingewiesen, dass fachgerichtlicher Rechtsschutz<br />

z.B. gegen Verletzungen von Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG<br />

oder des Grundsatzes des fairen Verfahrens wohl kaum weniger<br />

geboten ist als bei Verstößen gegen Art. 103 Abs. 1<br />

GG. 50 Eine analoge Anwendung von § 33a StPO auf andere<br />

Verfahrensgrundrechte muss gleichwohl abgelehnt werden,<br />

weil es an der hierfür erforderlichen planwidrigen Regelungslücke<br />

fehlt. 51 Der Gesetzgeber hat sich nämlich bewusst auf<br />

43 Vgl. Eschelbach/Geipel/Weiler, StV 2010, 325 (330).<br />

44 Die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör ist<br />

Zulässigkeitsgrund für die Rechtsbeschwerde nach § 116<br />

Abs. 1 StVollzG, vgl. nur Calliess/Müller-Dietz (Fn. 11), § 116<br />

Rn. 3 m.w.N.<br />

45 So BVerfGK 5, 337; Zuck, AnwBl. 2008, 168 (171); offen<br />

gelassen in BVerfG NJW 2007, 3418 (3419).<br />

46 So etwa Jost (Fn. 34), S. 59 (S. 79).<br />

47 S. dazu auch Eschelbach/Geipel/Weiler, StV 2010, 325<br />

(330).<br />

48 Vgl. BVerfG NJW 2008, 2635 (2636) m. zust. Anm. Zuck;<br />

bestätigt in BeckRS 2011, 53389; BeckRS 2011, 48088.<br />

49 Vgl. Jost (Fn. 34), S. 59 (S. 81).<br />

50 Ausführlich hierzu Kettinger, ZRP 2006, 152; Kleine-Co-<br />

sack (Fn. 27), Rn. 402.<br />

51 So auch Ulrici, Jura 2005, 368 (370); Voßkuhle, NJW<br />

2003, 2193 (2199); für analoge Anwendung etwa Schenke,<br />

die Normierung fachgerichtlichen Rechtsschutzes gegen Gehörsverletzungen<br />

beschränkt. 52 Wenn die Begründung zum<br />

„Anhörungsrügengesetz“ bezüglich anderer Verfahrensgrundrechte<br />

auf außerordentliche Rechtsbehelfe (etwa die Gegenvorstellung)<br />

verweist, 53 überzeugt dies nicht. In seinem Plenarbeschluss<br />

v. 30.4.2003 hat das Bundesverfassungsgericht<br />

hinsichtlich solcher Rechtsschutzmöglichkeiten ausgeführt:<br />

„Diese genügen den verfassungsrechtlichen Anforderungen<br />

an die Rechtsmittelklarheit nicht. Die Rechtsbehelfe müssen<br />

in der geschriebenen Rechtsordnung geregelt und in ihren<br />

Voraussetzungen für die Bürger erkennbar sein. […] Das<br />

rechtsstaatliche Erfordernis der Messbarkeit und Vorhersehbarkeit<br />

staatlichen Handelns führt zu dem Gebot, dem Rechtsuchenden<br />

den Weg zur Überprüfung gerichtlicher Entscheidungen<br />

klar vorzuzeichnen.“ 54 Der Gesetzgeber hat es sich<br />

also zu einfach gemacht, als er sich mit der Schaffung des<br />

„Anhörungsrügengesetzes“ auf Gehörsverstöße beschränkt und<br />

dies damit gerechtfertigt hat, dass sich der Gesetzgebungsauftrag<br />

des Bundesverfassungsgerichts nur auf derartige Verletzungen<br />

beziehe. 55 Diesbezüglich verkennt er bereits, dass in<br />

dem konkreten Fall von den Karlsruher Richtern nur eine<br />

Entscheidung in Bezug auf Art. 103 Abs. 1 GG zu treffen<br />

war, was diese auch ausdrücklich in ihrer Plenarentscheidung<br />

hervorheben: „Der Vorlagebeschluss des Ersten Senats ist auf<br />

Rechtsschutz gegen die behauptete Verletzung des Art. 103 I<br />

GG beschränkt.“ 56 Im Interesse der Rechtssicherheit muss der<br />

Gesetzgeber daher erneut tätig werden und ein über Gehörsverletzungen<br />

hinausgehendes Rechtsbehelfssystem schaffen. 57<br />

Bis dahin sollten bei Verstößen gegen andere Verfahrensgrundrechte<br />

sicherheitshalber sowohl außerordentliche Rechtsbehelfe<br />

(insbesondere die Gegenvorstellung) eingelegt als<br />

auch die Eintragung einer Verfassungsbeschwerde im Allgemeinen<br />

Register angeregt werden, um dem Grundsatz der<br />

Subsidiarität in jedem Fall Rechnung zu tragen und vor etwaigen<br />

Überraschungen durch die verfassungsgerichtliche Judikatur<br />

bezüglich des Subsidiaritätsgrundsatzes gefeit zu sein. 58<br />

VII. Zusammenfassung<br />

Insgesamt kann somit Folgendes festgehalten werden:<br />

1. Es wäre zu begrüßen, wenn das Bundesverfassungsgericht<br />

in seiner zukünftigen Rechtsprechung deutlicher als<br />

bisher herausstellte, dass bei Verstößen gegen Art. 103 Abs. 1<br />

NVwZ 2005, 729 (736 ff.); s. auch BGH BeckRS 2011,<br />

08244, der diese Frage im Hinblick auf Art. 101 Abs. 1 S. 2<br />

GG offen gelassen hat.<br />

52<br />

Vgl. BT-Drs. 15/3706, S. 14; s. dazu auch Nasall, ZRP<br />

2004, 164 (168).<br />

53<br />

Vgl. BT-Drs. 15/3706, S. 14.<br />

54<br />

Vgl. BVerfGE 107, 395 (416).<br />

55<br />

Vgl. BT-Drs. 15/3706, S. 14.<br />

56<br />

Vgl. BVerfGE 107, 395 (408); vgl. ferner Kettinger, ZRP<br />

2006, 152; Eschelbach/Geipel/Weiler, StV 2010, 325 (330).<br />

57<br />

So auch Kettinger, ZRP 2006, 152 (153 f.); Desens, NJW<br />

2006, 1243 (1244); Treber, NJW 2005, 97 (100); Nasall,<br />

ZRP 2004, 164 (168).<br />

58<br />

Vgl. Kleine-Cosack (Fn. 27), Rn. 406; Rieble/Vielmeier, JZ<br />

2011, 923 (929).<br />

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Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />

549


Mario Bachmann<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

GG im Rechtsbeschwerdeverfahren gemäß §§ 116 ff. St-<br />

VollzG die Anhörungsrüge nach § 120 Abs. 1 StVollzG<br />

i.V.m. § 356a StPO nicht in Betracht kommt.<br />

2. Die Karlsruher Richter sollten der Lehre von der Fristvorwirkung<br />

der Verfassungsbeschwerde eine klare Absage<br />

erteilen, denn Zulässigkeitshürden dürfen nicht contra legem<br />

aufgestellt werden.<br />

3. Um dem Grundsatz der Rechtswegerschöpfung nach<br />

§ 90 Abs. 2 S. 1 BVerfGG Rechnung zu tragen, muss vor Erhebung<br />

einer Verfassungsbeschwerde stets dann eine Anhörungsrüge<br />

eingelegt werden, wenn diese nicht offenkundig<br />

unzulässig oder aussichtslos ist, und zwar auch dann, wenn<br />

der Beschwerdeführer einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1<br />

GG eigentlich gar nicht rügen will.<br />

4. Zulässig ist sowohl die primäre als auch die sekundäre<br />

Gehörsrüge, wobei die Entscheidung über die vorgenannten<br />

Rechtsbehelfe selbst nicht eigenständiger Gegenstand einer<br />

Verfassungsbeschwerde sein kann.<br />

5. Die analoge Anwendung der fachgerichtlichen Vorschriften<br />

über die Anhörungsrüge auf andere Verfahrensgrundrechte<br />

scheidet mangels planwidriger Regelungslücke aus.<br />

Außerordentliche Rechtsbehelfe verstoßen gegen den Grundsatz<br />

der Rechtsmittelklarheit, sollten aber (angesichts unsicherer<br />

Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts) in der<br />

oben (VI.) erläuterten Weise vorsichtshalber eingelegt werden.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

550<br />

<strong>ZIS</strong> 11/2012


Der Einsatz „neuer Medien“ im Dezernat des Ermittlungsrichters*<br />

Von RiAG Frank Buckow, Berlin<br />

Der Bundesrat hat am 24.3.2010 den Entwurf eines „Gesetzes<br />

zur Intensivierung des Einsatzes von Videokonferenztechnik<br />

in gerichtlichen und staatsanwaltschaftlichen Verfahren“<br />

vorgelegt, der im März 2012 an Rechts- und Innenausschuss<br />

überwiesen wurde. 1 Der Gesetzentwurf sieht vor, dass die<br />

Videokonferenztechnik in die wesentlichen Verfahrensordnungen<br />

des Deutschen Rechts eingeführt wird. Die Strafprozessordnung<br />

wird in § 118a Abs. 2 S. 2 StPO dahingehend ergänzt,<br />

dass die Haftprüfung unter Verzicht auf die persönliche<br />

Anwesenheit des Beschuldigten bei zeitgleicher Bild- und<br />

Tonübertragung von dessen Aufenthaltsort durchgeführt werden<br />

kann. Gleiches ist für die Zeugen- und Beschuldigtenvernehmung<br />

bei der Polizei vorgesehen.<br />

Die Bundesrechtsanwaltskammer hat im Februar 2010<br />

den Entwurf eines „Gesetzes zur Verbesserung der Wahrheitsfindung<br />

im Strafverfahren durch verstärkten Einsatz von<br />

Bild-Ton-Technik“ vorgelegt. 2 Der Gesetzentwurf, der in den<br />

Justizverwaltungen diskutiert wurde, sieht u.a. die von der<br />

Anwaltschaft seit langem geforderte Aufzeichnung der Vernehmung<br />

des Beschuldigten auf Bild-Ton-Träger insbesondere<br />

in den Fällen (auch bei Zeugen) vor, in denen die Mitwirkung<br />

eines Verteidigers nach § 140 Abs. 1 oder. Abs. 2 StPO<br />

notwendig sein wird. § 254 StPO soll auf die Vorführung der<br />

Bild-Ton-Aufzeichnung erstreckt und die Hauptverhandlung<br />

im ersten Rechtszug vor dem Landgericht oder Oberlandesgericht<br />

auf Bild-Ton-Träger aufgezeichnet werden.<br />

Im Folgenden soll unter Bezugnahme auf die Gesetzentwürfe<br />

auf einige Aspekte des Einsatzes digitaler Medien zur<br />

Beweisgewinnung im Dezernat des Ermittlungsrichters eingegangen<br />

werden, die über diesen Tätigkeitsbereich hinausweisen<br />

und die Probleme aufzeigen, die mit der Einführung<br />

bzw. Ausweitung einer audio-visuellen Dokumentation einhergehen.<br />

I. Digitalrekorder<br />

1. Erfordernis der Aufzeichnung<br />

Es ist eine alte Forderung in den diversen Vorschlägen zur<br />

Reform des Strafverfahrensrechts, dass technische Hilfsmittel<br />

zur Aufzeichnung von Beweiserhebungen verwendet werden<br />

sollen. 3 Diese Reformwünsche, die auch auf die Aufzeichnung<br />

* Überarbeitete und abgeänderte Fassung eines Vortrages auf<br />

der 16. Alsberg-Tagung „Dokumentation im Strafverfahren“<br />

v. 26.10.2007.<br />

1<br />

BT-Drs. 17/1224, auch im Internet abrufbar unter<br />

http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/17/012/1701224.pdf<br />

(1.11.2012).<br />

2<br />

S. unter brak.de/seiten/pdf/Stellungnahmen/2010/Stn1.pdf<br />

(1.11.2012); Nack/Park, NStZ 2011, 310.<br />

3<br />

Vgl. u.a. Gesetzentwurf zur Tonaufzeichnung der Hauptverhandlung<br />

in Strafsachen, Anwaltsblatt 1993, 328; Stellungnahme<br />

des Deutschen Anwaltsvereins zu den Eckpunkten<br />

einer Reform des Strafverfahrens vom Mai 2001.<br />

der strafrechtlichen Hauptverhandlung abzielen, 4 beruhen auf<br />

dem Phänomen der sogenannten „ausgehandelten Wirklichkeit“.<br />

5 Damit wird in erster Linie gegen das <strong>Inhalt</strong>sprotokoll<br />

argumentiert, dass bei Beschuldigten- und Zeugenvernehmungen<br />

nicht den Entstehungsprozess der Aussage (Vorgespräch,<br />

Umstände der Aussage etc.) und die authentische Formulierung<br />

durch die Beweisperson umfasst.<br />

2. <strong>Inhalt</strong>s- oder Wortprotokoll?<br />

Nach herrschender Ansicht 6 erfasst die Möglichkeit einer<br />

Audioaufnahme nicht nur den „<strong>Inhalt</strong> des Protokolls“ sondern<br />

die Aussage selbst, d.h. einen Mitschnitt. Dafür geben aber<br />

weder die sprachliche Fassung des § 168a Abs. 2 S. 1 StPO<br />

noch die Gesetzesmaterialien etwas her. 7 Gleichwohl wird<br />

heute aus der Einführung des § 58a StPO geschlossen, dass<br />

eine Tonaufnahme erst recht möglich sein soll. 8 Dabei ist zu<br />

bedenken, dass § 58a StPO lediglich auf ein neues Beweismittel<br />

verweist, nämlich die Videokonserve, und nichts an<br />

dem Charakter der „vorläufigen Aufzeichnung“ gem. § 168a<br />

StPO ändert. Aus dieser muss erst das Protokoll erstellt werden.<br />

Insgesamt spricht die Formulierung des § 168a StPO,<br />

der noch aus einem „analogen Zeitalter“ stammt, eher für die<br />

Verwendung eines <strong>Inhalt</strong>sprotokolls. 9<br />

Die nicht oder nur schwer schriftlich übertragbaren non-<br />

oder paraverbalen Eigenschaften können eine Bedeutung<br />

gewinnen für die Frage der Glaubwürdigkeit. Ein Zögern des<br />

Aussagenden, Stottern o.ä. stellen einen sprachlichen Überhang<br />

dar, der sich auch bei regelgerechter Transkription in<br />

ein schriftliches Protokoll nur schwer vermittelt lässt. Man<br />

wird aus der Notwendigkeit einer unverfälschten, d.h. ohne<br />

selektive Wahrnehmung und Beweiswürdigung durch den<br />

Protokollierenden, erfolgten Aussagedokumentation schließen<br />

müssen, dass die Protokollierung sich auch auf die Authentizität,<br />

d.h. den Beleg der Urheberschaft der Aussage, die<br />

etwaige Anwendung verfahrensrechtlicher Eingriffsbefugnisse<br />

und die Gewährung strafprozessualer Fürsorgepflichten sowie<br />

die Ausübung der Amtsermittlungspflichten (Bekanntmachung<br />

mit dem Verfahrensgegenstand, Rechte gem. §§ 55,<br />

4<br />

Meyer-Mews, NJW 2004, 716; Uetermeier, NJW 2002,<br />

2298.<br />

5<br />

Vgl. Eisenberg, Das Beweisrecht der StPO, 7. Aufl. 2011,<br />

Rn. 1332.<br />

6<br />

Rieß, in: Erb u.a. (Hrsg.), Löwe/Rosenberg, Die Strafprozessordnung<br />

und das Gerichtsverfassungsgesetz, Bd. 5, 26.<br />

Aufl. 2008, § 168a Rn. 22 ff.<br />

7<br />

Kühne, StV 1991, 103; vgl. BT-Drs. 8/976, S. 40 ff.<br />

8<br />

Rieß (Fn. 6), § 168a Rn. 24.<br />

9<br />

Vgl. Dittmar, Transkription, 3. Aufl. 2009, S. 23; das Standardwerk<br />

der Transkription in den Sozial- und Sprachwissenschaften<br />

führt zum Unterschied zu juristischen Protokollen<br />

aus: „Während Transkriptionen authentische Formaspekte der<br />

Kommunikation und Konversation wiedergeben, sollen Protokolle<br />

authentische <strong>Inhalt</strong>e als gültige ‚Wahrheiten‘ wiedergeben.“<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

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551


Frank Buckow<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

136 StPO) bezieht und sich das Protokoll nicht bloß auf den<br />

durch den Vernehmenden vermittelten <strong>Inhalt</strong> beschränkt.<br />

3. Technische Fragen<br />

Digitalrekorder sind analogen Systemen vorzuziehen. Nach<br />

dem heutigen Stand der Technik sind Digitalrekorder kleine<br />

Geräte, die in der Vernehmungssituation selbst nicht auffallen<br />

und damit keine „technische Hürde“ darstellen. Die Qualität<br />

der integrierten Mikrofone ist hervorragend. 10 Die Aufnahme<br />

kann nach der Transkription auf eine CD oder DVD<br />

gebrannt und der Akte beigegeben werden. Eine versehentliche<br />

Löschung ist nach einer Finalisierung nicht mehr möglich.<br />

Eine gewünschte Passage des Textes muss nicht durch<br />

mühsames Vor- oder Zurückspulen auf einem Band gesucht,<br />

sondern kann über eine Index-Ansicht ohne Zeitverlust gefunden<br />

werden. Ferner ist eine einfache Überspielung vom<br />

Digitalrekorder und Verarbeitung, d.h. Transkription auf einem<br />

Computer möglich.<br />

Audiodateien unterliegen einer mehr- oder weniger starken<br />

Audiodatenkompression, um Speicherplatz zu sparen. Normale<br />

Diktiergeräte verwenden oft DSS-Dateiformate, die eine<br />

schlechte Tonqualität aufweisen, ähnlich wie normale MP3-<br />

Player. 11 Die Aufnahme sollte in dem unkomprimierten Format<br />

WMA (Windows Media Audio) oder in AIFF (Audio<br />

Interchange File Format) erfolgen, die über eine ausgezeichnete<br />

Qualität verfügen.<br />

4. Transkription<br />

Da es sich nach § 168a Abs. 2 StPO bei der Aufnahme mit<br />

einem Digitalrekorder lediglich um eine „vorläufige“ Aufzeichnung<br />

handelt (und nicht um das Beweismittel an sich),<br />

muss eine Transkription, d.h. eine Verschriftung der Aufnahme<br />

erfolgen.<br />

Hier beginnen Schwierigkeiten, die von den Gesetzentwürfen<br />

nicht erfasst werden und in der forensischen Praxis zu<br />

Problemen führen.<br />

Es gibt keine allgemein verbindlichen Regeln zur Transkription<br />

in der Rechtswissenschaft und -praxis. In den Sozial-<br />

und Sprachwissenschaften existieren dagegen mehrere Transkriptionssysteme<br />

und -richtlinien. 12<br />

Die Übertragung der Audiodaten in die Schriftform stellt<br />

bereits eine Interpretation und Reduktion der Daten dar, die<br />

sich auf die spätere Auswertung und Beweiswürdigung aus-<br />

10<br />

Der Verf. benutzt den digitalen Linear PCM Recorder LS-5<br />

der Fa. Olympus.<br />

11<br />

Kuckartz/Dresing/Rädiker/Stefer, Qualitative Evaluation,<br />

2007, S. 26.<br />

12<br />

Statt vieler: Kuckartz, Einführung in die computergestützte<br />

Analyse qualitativer Daten, 3. Aufl. 2010, S. 45; Dresing/<br />

Pehl, Praxisbuch Interview und Transkription, 4. Aufl. 2012;<br />

unter www.audiotranskription.de (1.11.2012) findet sich eine<br />

gute Übersicht.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

552<br />

<strong>ZIS</strong> 11/2012<br />

wirkt. 13 Das geeignete Transkriptionssystem ist zu definieren,<br />

d.h. die Regeln, wie Sprache in eine fixierte Form übertragen<br />

wird, sind festzulegen. 14 Es muss vorher Klarheit darüber<br />

bestehen, was transkribiert wird und welche sprachlichen<br />

Phänomene später überhaupt interpretiert werden sollen. 15<br />

Als Transkriptionssystem bietet sich die sogenannte „literarische<br />

Umschrift“ 16 für juristische Zwecke an, die im Falle<br />

der Notwendigkeit einer vollständigen Texterfassung die<br />

Umgangssprache nebst Dialekten und sonstigen Besonderheiten<br />

ohne Korrekturen erfasst. Es gilt die Grundregel: „Verschrifte<br />

weitgehend das, was du hörst, weitgehend so, wie du<br />

es hörst.“ 17<br />

Bei der „kommentierten Transkription“ werden sowohl<br />

verbale als auch nonverbale Informationen mit Notationszeichen<br />

erstellt, die über das Wortprotokoll hinausgehen. Zum<br />

Beispiel werden für kurze Pausen zwei Punkte verwendet.<br />

Eine Betonung oder laute Äußerung wird durch Unterstreichung<br />

markiert etc. 18 Die für die Interpretation ebenfalls<br />

wichtige Körpersprache der Beweisperson kann so natürlich<br />

nicht erfasst werden. „Notation“ meint dabei die schriftliche<br />

Fixierung der Kommunikation und der damit zusammenhängenden<br />

Prozesse mit vereinbarten Symbolen. 19 Eine Übertragung<br />

für den Strafprozess sollte sich an der „literarischen<br />

Umschrift“ und „kommentierten Transkription“ orientieren.<br />

Der Übertragung kommt deshalb besondere Bedeutung<br />

zu, weil sich sonst die Probleme wiederholen, die bei der<br />

Verwendung des sogenannten <strong>Inhalt</strong>sprotokolls in ähnlicher<br />

Weise auftreten. In die Übertragung müssen deshalb Dialektfärbungen,<br />

Pausen, Betonungen, alle paraverbalen Äußerungen<br />

wie Lachen, Seufzen, zustimmende bzw. bestätigende<br />

Äußerungen, Redundanzen, Wort- und Satzabbrüche, Versprecher,<br />

gleichzeitiges Sprechen etc. aufgenommen werden. 20<br />

Für die Transkription sollten deshalb u.a. Regeln für folgende<br />

Probleme aufgestellt und von einer entsprechend geschulten<br />

Kanzleikraft berücksichtigt werden:<br />

Festlegung von Sprecherbeitragsüberlappungen, Notierung<br />

von Feedbacksignalen („Hm“ etc.), Wortabbrüchen, Pausenfestlegungen,<br />

Akzenten, Dehnungen von Lauten, der Anhebung<br />

der Stimme, Vokalisierungen wie Lachen, schweres<br />

Atmen, verursachter Umgebungsgeräusche durch die Kommunikationsteilnehmer,<br />

Vermerken der Sprechgeschwindigkeit<br />

und -pausen (Prosodie).<br />

Die Transkription sollte mit entsprechenden Transkriptionsprogrammen<br />

nach Einspielen der Audiodatei in einen<br />

Computer erfolgen, und gegebenenfalls Zeit und Textmarken<br />

aufweisen, um insbesondere bei umfangreichen Texten später<br />

13<br />

S. Höld, in: Buber/Holzmüller (Hrsg.), Qualitative Marktforschung,<br />

Konzept – Methoden – Analysen, 2. Aufl. 2009,<br />

S. 657.<br />

14<br />

Kuckartz (Fn. 12), S. 37 ff.<br />

15<br />

Kuckartz (Fn. 12), S. 37 ff.<br />

16<br />

Höld (Fn. 13), S. 616.<br />

17<br />

Kruse, zitiert bei Höld (Fn. 13), S. 661.<br />

18<br />

Höld (Fn. 13), S. 661.<br />

19<br />

Höld (Fn. 13), S. 661.<br />

20<br />

Vgl. Kuckartz (Fn. 12), S. 43; Dittmar (Fn. 9), S. 52, 234;<br />

Kallmeyer/Schütze, Studium Linguistik, Bd. 1, 1976, S. 1 ff.


Der Einsatz „neuer Medien“ im Dezernat des Ermittlungsrichters<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

eine bessere Handhabung zu ermöglichen. 21 Die Grenzen der<br />

Übertragbarkeit fangen an, wenn mehrere Verfahrensbeteiligte<br />

Fragerügen erheben oder Dolmetscher beteiligt sind.<br />

Beschuldigte oder Zeugen mit Migrationshintergrund unterscheiden<br />

sich dabei nicht nur durch Werthaltungen, sondern<br />

auch durch eine andere soziale Wahrnehmung und Kommunikation,<br />

die zu Mehrdeutigkeiten führen kann und ganz neue<br />

Anforderungen nicht nur an eine interkulturelle Gesprächsführung,<br />

sondern auch an die Übertragung stellt.<br />

Ein weiteres Problem der Verwendung von Tonträgern<br />

stellt der Zeitverlust dar. Selbst bei Verwendung einer modernen<br />

Übertragungssoftware und eines programmierbaren Fußschalters,<br />

mit deren Hilfe die Aufnahme beispielsweise in ein<br />

Word-Dokument überführt werden kann, entspricht die Transkriptionsdauer<br />

einem Verhältnis von 1 zu 5 bis 1 zu 10, 22<br />

d.h. eine Stunde Vernehmung entspricht mindestens fünf Stunden<br />

Übertragungszeit. Eine Stunde Aufnahme ergibt ca. 25-<br />

60 Seiten schriftliche Übertragung. 23<br />

Inwieweit in Zukunft automatisierte Übersetzungssysteme<br />

24 bei der Vernehmung von Ausländern Abhilfe schaffen<br />

können, bleibt abzuwarten. Eine Verkürzung der Übertragungszeiten<br />

könnte durch eine Kombination von Spracherkennung<br />

und Audioaufnahme erreicht werden. 25 Das setzt<br />

voraus, dass die Übertragungsperson, deren Stimme an das<br />

Spracherkennungssystem angepasst wurde, die vorläufige Aufzeichnung<br />

von der Digitalaufnahme in das Spracherkennungssystem<br />

spricht und der Text dann automatisch verschriftet<br />

wird. Dabei werden allerdings die non- und paraverbalen<br />

Äußerungen des Vernommenen unterschlagen. 26 Ein<br />

sehr eindringliches Transkriptionsbeispiel stellt der 1. Frankfurter<br />

Auschwitz-Prozess von 1963-1965 dar. Das Frankfurter<br />

Schwurgericht hatte beschlossen (ebenso später das OLG<br />

Stuttgart in den Verfahren gegen Mitglieder der RAF in<br />

Stammheim 1975-1977) 27 , die Aussagen der Angeklagten und<br />

Zeugen, nebst Befragungen und Kontroversen zwischen Pro-<br />

21 Eine Transkriptionssoftware findet sich u.a. kostenfrei bei<br />

www.audiotranskription.de (1.11.2012).<br />

22 Kuckartz (Fn. 11), S. 29, das entspricht auch den Erfahrun-<br />

gen des Verf.<br />

23 Kuckartz, zitiert bei Höld (Fn. 13), S. 664 s. auch Fn. 42.<br />

24 Vgl. z.B. die Programme von Languageweaver (unter<br />

Languageweaver.com [1.11.2012]), die bereits als forensische<br />

Software eingesetzt werden. Angelsächsische Gerichte<br />

verwenden LiveNote oder RealLegal E-Transcript, in dem<br />

das gesprochene Wort in der Verhandlung über Protokolleingabe<br />

live verschriftet und über einen Stream als Transkription<br />

auf die Bildschirme anderer Verfahrensbeteiligter überspielt<br />

wird, vgl.<br />

http://store.westlaw.com/reallegal/default.aspx (1.11.2012).<br />

25 http://www.audiotranskription.de/spracherkennung-interviews<br />

(1.11.2012).<br />

26 Versuche ergaben keine Beschleunigung, Dresing/Pehl/<br />

Lombardo, Forum Qualitative Social Research Sozialforschung<br />

9 (2008), Art. 17, abrufbar unter<br />

www.qualitative-research.net/index.php/fqs/article/view/418/<br />

906 (1.11.2012).<br />

27 Schönherr, Die Stammheim Ton-Bänder, 2008 (Audio-CD).<br />

zessbeteiligten, auf Tonbänder aufzunehmen, um über eine<br />

Erinnerungsstütze für die Urteilsfindung zu verfügen.<br />

Das Fritz-Bauer-Institut Frankfurt am Main und das Staatliche<br />

Museum Auschwitz-Birkenau haben 2004 (2. Aufl. 2007)<br />

eine Dokumentation 28 nebst umfangreichen Hörbeispielen und<br />

einer Transkription herausgegeben, die die ganze Palette der<br />

Schwierigkeiten einer sachgerechten Übertragung gerade bei<br />

ausländischen Zeugen belegt. Es wird in einer Vorbemerkung<br />

die Art und Weise der Transkription beispielhaft erläutert und<br />

die Verwendung bestimmter Zeichen in einer Art Legende<br />

erklärt. Die Transkription selbst zeigt aber auch, dass sich der<br />

über die reine Wortbedeutung hinausgehende Informationsgehalt<br />

des gesprochenen Wortes in seinem jeweiligen Kontext<br />

und der konkreten Sprechsituation nur schwer erfassen<br />

lässt. Z.B. werden Zeugen bei der Schilderung von Tötungsdelikten<br />

leiser, weinen oder geraten mit ihrer Schilderung ins<br />

Stocken.<br />

Der Gesetzentwurf der Bundesrechtsanwaltskammer sieht<br />

zwar keine Verschriftung für das Hauptverhandlungsprotokoll<br />

vor dem Landgericht oder Oberlandesgericht vor, aber weiterhin<br />

die Geltung des § 168a StPO in unveränderter Fassung<br />

für das Ermittlungsverfahren mit allen zuvor aufgezeigten<br />

Problemen.<br />

5. Einführung in die Hauptverhandlung<br />

In der Hauptverhandlung kann die Audioaufnahme einer Vernehmung<br />

bisher als „berichtende Tonaufnahme“ eingeführt<br />

werden. 29<br />

Die obergerichtliche Rechtsprechung lässt zumindest eine<br />

zusätzliche und ergänzende Verwertung nach der mündlichen<br />

Aussage der Beweispersonen zu. 30 Unter entsprechender Anwendung<br />

von § 253 StPO kann die aufgenommene Vernehmung<br />

zur Unterstützung des Gedächtnisses des Vernehmungsbeamten<br />

verwertet werden. Bei der Vernehmung von Beschuldigten<br />

ist die wörtliche Audioaufnahme in der Hauptverhandlung<br />

abspielbar, da § 254 StPO nicht entgegensteht.<br />

Es besteht nicht die Gefahr einer verfälschenden Protokollierung,<br />

die nach der gesetzlichen Wertung nur bei richterlichen<br />

Protokollen ausgeschlossen wäre. 31<br />

Die Audioaufnahme ist jedoch in den Fällen des Zeugnisverweigerungsrechts<br />

im Rahmen des § 255a Abs. 1 StPO nicht<br />

direkt einführbar, sondern nur die Vernehmung des Ermittlungsrichters.<br />

Der Bundesgerichtshof hat für die Videokonserve<br />

eines zeugnisverweigerungsberechtigten Zeugen außerhalb<br />

des Anwendungsbereichs des § 255a Abs. 2 StPO entschieden,<br />

dass sie die Aussage des Ermittlungsrichters im Rahmen<br />

des § 252 StPO aufgrund der gesetzgeberischen Wertung<br />

nicht ersetzen kann, obwohl sie das verlässlichere Be-<br />

28<br />

Fritz Bauer Institut Frankfurt a.M./Staatliches Museum<br />

Auschwitz-Birkenau, Der Auschwitz-Prozeß, 2. Aufl. 2007<br />

(DVD); vgl. Wojak, Auschwitz-Prozeß 4 Ks 2/63, 2004,<br />

S. 266 f.<br />

29<br />

Eisenberg (Fn. 5), Rn. 2283 ff.<br />

30<br />

BGH NJW 1960, 1582.<br />

31<br />

Vgl. BGHSt 27, 135; BGH NStZ 2009, 280.<br />

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553


Frank Buckow<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

weismittel wäre. 32 Dies diskutiert der Entwurf der BRAK leider<br />

nicht.<br />

II. Videovernehmung<br />

Die Videovernehmung eines Beschuldigten ist bisher gesetzlich<br />

nicht geregelt. Sie bedarf der ausdrücklich erklärten Einwilligung<br />

des Beschuldigten.<br />

Allerdings wäre eine entsprechende richterliche Videovernehmung<br />

nach geltendem Recht nicht nach § 254 StPO<br />

einzuführen, da diese Vorschrift aus dem Katalog des § 255a<br />

Abs. 1 StPO ausgeschlossen wurde. 33 Die audiovisuelle Vernehmung<br />

des Beschuldigten empfiehlt sich schon deshalb, weil<br />

bereits Nr. 45 Abs. 2 RiStBV vorsieht, bedeutsame Teile der<br />

Vernehmung wörtlich in eine Niederschrift aufzunehmen und<br />

ein Geständnis mit den Worten des Beschuldigten wiederzugeben.<br />

Der Entwurf der Bundesrechtsanwaltskammer zu § 136<br />

Abs. 4 n.F. StPO sieht die Pflicht zur audiovisuellen-Aufzeichnung<br />

der Beschuldigtenvernehmung in den Fällen einer<br />

zu prognostizierenden Mitwirkung eines Rechtsanwalts gem.<br />

§ 140 Abs. 1 und 2 StPO und eine Einführung in die Hauptverhandlung<br />

über § 254 Abs. 3 StPO vor. Damit wird dann<br />

auch jede Vernehmung durch den Haftrichter gem. §§ 127 f.,<br />

115, 115a, 117 f. StPO bei Festnahmen aufgrund bestehenden<br />

Haftbefehls oder mit der Zielrichtung des Haftbefehlserlasses<br />

(auch im Rahmen von Haftprüfungen) aufzeichnungspflichtig,<br />

da § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO zu beachten ist.<br />

In der Praxis ergeben sich die folgenden Probleme:<br />

1. Die Videoaufnahme sollte Datum und Uhrzeit (in Echtzeit)<br />

beinhalten.<br />

2. Den Zeugen, insbesondere Kindern, ist die audiovisuelle<br />

Vernehmung zu erklären. Sie ist nicht heimlich durchzuführen.<br />

Bei Kindern, aber auch bei erwachsenen Zeugen,<br />

kann die Situation der Videovernehmung „triggern“, d.h. die<br />

Erinnerung an Traumata erzeugen. 34 Das ist insbesondere bei<br />

Opfern sexueller Gewalt der Fall, die bei der Tat fotografiert<br />

oder gefilmt wurden.<br />

3. Es sollten zwei Kameras im Einsatz sein. Die eine Kamera<br />

sollte alle im Vernehmungsraum anwesenden Personen<br />

aufnehmen (eventuell eine Rundumkamera). Eine weitere<br />

Kamera sollte speziell den zu vernehmenden Zeugen aufnehmen<br />

und „Zoom“-Einstellungen ermöglichen.<br />

Bei der Aufzeichnung mit zwei Kameras und einer etwaigen<br />

späteren Bildbearbeitung im Rahmen einer Videoanalyse<br />

wäre analog der Verfahrensweise bei Telefonüberwachungsaufnahmen<br />

die originäre Rohfassung der Aufnahme versiegelt<br />

zu hinterlegen (bei Verwendung einer DVD als Speichermedium:<br />

nach deren Finalisierung). 35<br />

4. Das in der Praxis häufig praktizierte Mitlaufenlassen<br />

von Diktiergeräten o.ä. zur späteren Protokollübertragung erübrigt<br />

sich, da es (teilweise kostenfreie) Übertragungssoft-<br />

32<br />

BGH NStZ 2004, 390.<br />

33<br />

Vgl. Diemer, NJW 1999, 1667 (1673).<br />

34<br />

Englisch: Auslösen.<br />

35<br />

Das Finalisieren einer CD-R, d.h. das Schreiben eines <strong>Inhalt</strong>sverzeichnisses,<br />

ist notwendig, um eine CD-R oder DVD-<br />

R von einem CD- oder DVD-Laufwerk lesen zu lassen.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

554<br />

<strong>ZIS</strong> 11/2012<br />

ware gibt, mit deren Hilfe die Audiotranskription direkt am<br />

PC von der Videoaufnahme erfolgen kann. 36<br />

5. Es ist umstritten, ob „Zoomen“ erlaubt ist. Unter Bezugnahme<br />

auf die Polygraphen-Entscheidung des Bundesgerichtshofes<br />

37 scheint eine ohne Einwilligung des Zeugen erfolgende<br />

Dokumentation der Vernehmung in detaillierter<br />

Form, die über die Aufnahme einer „normalen“ Gesprächssituation<br />

hinausgeht, unzulässig zu sein. 38 Die Frage ist dann,<br />

ab welcher Kameraeinstellung mit welchem Winkel etc. ein<br />

Grundrechtseingriff in das informationelle Selbstbestimmungsrecht<br />

und die Persönlichkeit des Zeugen vorliegt, wenn man<br />

die Regeln für die sequenzielle Videowahlgegenüberstellung<br />

i.S.d. §§ 58 Abs. 2, 81a StPO betrachtet. 39 Der Bundesgerichtshof<br />

verlangt außerdem im Rahmen von Glaubwürdigkeitsbegutachtungen<br />

im Interesse einer besseren Dokumentation<br />

Audio- und gegebenenfalls Videoaufnahmen, da nur<br />

dann eine Beurteilung erfolgen kann, welche Aussagequalitäten<br />

bei den Schlussfolgerungen zur Glaubhaftigkeitseinschätzung<br />

verwertet werden können. 40<br />

Die Digitalisierung lässt ohnehin die Analyse und Evaluierung<br />

in einem Umfang zu, der über die Bearbeitungsmöglichkeiten<br />

analoger Medien weit hinausgeht. 41 Im Spannungsfeld<br />

zwischen dem Gebot des „bestmöglichen Beweises“ und<br />

dem Verbot der „Wahrheitsermittlung um jeden Preis“ ist angesichts<br />

der fortschreitenden Digitalisierung Spielraum für<br />

die Bearbeitung der Videodaten, d.h. nicht deren Verfälschung,<br />

sondern der Transkription, Analyse und Präsentation. 42<br />

6. Das technische Handling sollte nicht dem Richter überlassen<br />

werden, da dieses sowohl ihn als auch den Zeugen zu<br />

sehr ablenkt. Es sollte eine Steuerung der Einstellungen und<br />

der Aufnahmen außerhalb des Vernehmungsraumes durch eine<br />

weitere Person erfolgen. Diese Person sollte über ein Headset<br />

mit dem Richter verbunden sein und von diesem Anweisungen<br />

zur Aufnahme erhalten können. Ebenso sollten bei<br />

kindlichen Zeugen anwesenheits- und frageberechtigte Personen<br />

über das Headset an den Richter Fragen stellen oder Einwände<br />

erheben können, die der Richter dann zu berücksichtigen<br />

hat. In einigen Fällen wird die Kommunikation über<br />

Computer abgewickelt, d.h. der Richter erhält die zu stellenden<br />

Fragen über einen Bildschirm angezeigt, ohne dass die<br />

Beweisperson davon Kenntnis erlangt.<br />

36<br />

www.audiotranskription.de (1.11.2012); Schwab, Online-<br />

Zeitschrift zur verbalen Interaktion 2006, 70, abrufbar unter<br />

http://www.gespraechsforschung-ozs.de/heft2006/px-schwab.<br />

pdf (1.11.2012).<br />

37<br />

BGH NJW 1999, 657.<br />

38<br />

Vgl. Rieck, „Substitut oder Komplement?“, Die Videofernvernehmung<br />

von Zeugen gem. § 247a StPO, 2003, S. 186 ff,<br />

189.<br />

39<br />

Vgl. BGH NStZ 2005, 458 zum anthropologischen Identitätsgutachten.<br />

40<br />

S. BGH NStZ 2001, 45; BGH NJW 1999, 2746.<br />

41<br />

Vgl. Knoblauch/Schnettler/Raab/Soeffner, Video Analysis,<br />

Methodology and Methods, Qualitative Audiovisual Data<br />

Analysis in Sociology, 2006, passim.<br />

42<br />

Zur mimischen Lügenerkennung Geipel/Pavlicek, DRiZ<br />

2007, 235; Geipel/Nill, DRiZ 2007, 250.


Der Einsatz „neuer Medien“ im Dezernat des Ermittlungsrichters<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

Die rechtliche Einordnung eines „Technikers“, der im<br />

Falle des § 58a StPO das audiovisuelle „Protokoll“ führt, ist<br />

bisher nur ansatzweise und vereinzelt behandelt worden. 43<br />

Der Techniker übernimmt die Verantwortung für die ordnungsgemäße<br />

Errichtung des „audiovisuellen Protokolls“. Fraglich<br />

ist dann, ob dem Techniker die Qualität eines Urkundsbeamten<br />

der Geschäftsstelle zukommen muss. 44<br />

7. Die Videoaufnahme muss die gesamte Vernehmung,<br />

d.h. das Vorgespräch, die Belehrung, Pausen und das Ende<br />

der Vernehmung aufzeichnen. Es sind auch generell die Bestimmungen<br />

des § 168a StPO zu beachten. Der Zeuge soll,<br />

sofern es sich nicht um ein Kind handelt, das Protokoll genehmigen<br />

und wenn möglich bei vorläufigen Aufzeichnungen<br />

unterschreiben bzw. befragt werden, ob er auf das erneute<br />

Vorspielen der Aufzeichnung verzichtet. Ferner ist er über<br />

sein Widerspruchsrecht nach § 58a Abs. 2 und 3 StPO zu belehren.<br />

Dies kann weitgehend in Form der Videoaufnahme<br />

geschehen. Eine Unterschrift wird in der Praxis in der Regel<br />

auf einem Mantelbogen, der die Belehrungen etc. enthält, für<br />

das zu fertigende Protokoll geleistet, auf dem sich auch die<br />

vorerwähnten Hinweise und Belehrungen i.S.d. §§ 168a, 58a<br />

StPO befinden. Ob diese Praxis der Intention des Gesetzgebers<br />

zuwider läuft, ist angesichts der lückenhaften Regelung<br />

des § 58a StPO und seinem unklaren Verhältnis zu § 168a<br />

StPO fraglich.<br />

8. Zum Protokoll: In der Regel wird bei § 58a StPO von<br />

der Zuziehung eines Protokollführers abgesehen werden können.<br />

Es ist aber auch der Fall denkbar, dass ein Protokollführer<br />

während der Videovernehmung anwesend ist und ein <strong>Inhalt</strong>sprotokoll<br />

durch den vernehmenden Richter diktiert wird,<br />

was wiederum die Videoaufnahme dokumentiert. Hier wird<br />

in besonders eindringlicher Weise klar, dass sich die Videoaufnahmen<br />

in ihrer rechtlichen Qualität erheblich von der<br />

vorläufigen Aufzeichnung i.S.d. § 168a StPO unterscheiden.<br />

Die Videoaufnahme wird nebst Audiospur zum eigenständigen<br />

Beweismittel und steht insoweit unter Berücksichtigung<br />

des § 255a StPO auf einer höheren Stufe als die vorläufige<br />

Aufzeichnung, die lediglich zum Nachweis der unrichtigen<br />

Überragung in das höherrangige Wortprotokoll herangezogen<br />

werden darf. Der Unterschied liegt in dem visuellen Element.<br />

Insoweit ist es fragwürdig, ob überhaupt Genehmigungen und<br />

Unterschriftleistungen nach § 168 a StPO zu verlangen sind,<br />

da von dem Zeugen und den an der Verhandlung Beteiligten<br />

(vgl. den ausdrücklichen Wortlaut des § 168a Abs. 3 S. 1<br />

StPO), also auch Anwälten, Zeugenbeiständen, Staatsanwälten,<br />

nicht verlangt werden kann, den durch die Situation der<br />

Vernehmung vermittelten „visuellen Informationsgehalt“ der<br />

Videovernehmung zu genehmigen. Der Gesetzgeber hatte nach<br />

dem ursprünglichen Entwurf 45 eine vollständige wortwörtliche<br />

Übertragung der Videovernehmung ausgeschlossen, da nur<br />

Teile davon verfahrensrelevant sein sollten und der Schreib-<br />

43 Ausführlich Helmig, Anwendbarkeit und Zweckmäßigkeit<br />

der Videotechnik zum Schutz von Zeugen vor Belastungen<br />

durch das Strafverfahren, 2000, S. 103 f.<br />

44 Vgl. Helmig (Fn. 43), S. 104; vgl. zum Justizangestellten<br />

als Protokollführer: BGH NStZ 1984, 564.<br />

45 Bundesratsentwurf, BT-Drs. 13/4983, S. 5.<br />

dienst der Gerichte nicht überlastet werden sollte. Eine Klärung<br />

wurde der richterlichen Praxis überlassen.<br />

Die Bundesregierung war dem entgegengetreten, da für<br />

jede richterliche Untersuchungshandlung die §§ 168, 168a<br />

StPO gelten. Entsprechende Regelungen sollten in die RiSt-<br />

BV aufgenommen werden. 46 Das ist bis heute nicht geschehen.<br />

Es ist umstritten, ob lediglich eine Verschriftung des Videos,<br />

d.h. eine <strong>Inhalt</strong>sangabe, erfolgen 47 oder ein Protokoll<br />

i.S.d. § 168a StPO gefertigt werden soll. § 58a StPO trifft dazu<br />

keine generelle Aussage. Nur im Falle des Widerspruchs<br />

des Zeugen gegen eine Überlassung einer Kopie der Aufzeichnung<br />

seiner Vernehmung an die zur Akteneinsicht Berechtigten,<br />

ist eine Übertragung der Aufzeichnung in ein schriftliches<br />

Protokoll vorgesehen (s. § 58a Abs. 3 S. 1 und 2 StPO).<br />

Es sollte dann eine vollständige Übertragung i.S.d. § 168a<br />

StPO stattfinden, da es sich hinsichtlich des Audiobestandteils<br />

der Videovernehmung um eine vorläufige Aufzeichnung<br />

handelt und sich die weitere Aktenbearbeitung, sei es der<br />

Papierakte, sei es der elektronischen Akte, bisher noch vordringlich<br />

am Wort orientiert. 48<br />

9. Die Mitwirkungsrechte des Beschuldigten und eines<br />

Verteidigers sind in besonderer Weise zu beachten, um eine<br />

Verwertung der audiovisuellen Vernehmung durch Transfer<br />

in die Hauptverhandlung zu ermöglichen.<br />

Im strengsten Fall gem. § 255a Abs. 2 StPO, bei dem es<br />

um Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung, Tötungsdelikte<br />

und ähnlich schwere Delikte geht, kann die konservierte<br />

audiovisuelle Vernehmung die Zeugenaussage in der<br />

Hauptverhandlung nur ersetzen, wenn der Beschuldigte und<br />

sein Verteidiger Gelegenheit hatten, an der richterlichen Vernehmung<br />

mitzuwirken. Das gilt selbst dann, wenn nur der<br />

Verteidiger an der Vernehmung teilgenommen hat. 49 In den<br />

Fällen des § 255 a Abs. 1 StPO kann das Recht auf konfrontative<br />

Befragung gem. Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK verletzt sein,<br />

wenn der Beschuldigte ausgeschlossen wird und über die<br />

Fälle des §§ 140 Abs. 1 und 2 StPO hinaus zur Wahrnehmung<br />

des Fragerechts kein Verteidiger bestellt wird. 50 In diesen<br />

Fällen wird der Beweiswert des richterlichen Vernehmungsergebnisses<br />

derart gemindert, dass andere gewichtige<br />

Gesichtspunkte außerhalb der Aussage vorliegen müssen, um<br />

das Ergebnis der richterlichen Vernehmung zu bestätigen.<br />

III. Einsatz der Videotechnik im Rahmen der Haftprüfung<br />

Reformvorschläge zur Art und Weise der Durchführung einer<br />

Haftprüfung beruhen auf dem Gedanken der Kosteneinsparung<br />

z.B. für Gefangenentransporte, auf Gesichtspunkten der<br />

Verfahrenserleichterung für die Beteiligen (Transportumstände<br />

46<br />

Bundesregierung, BT-Drs. 13/4983, S. 10.<br />

47<br />

Wiesneth, Handbuch für das ermittlungsrichterliche Verfahren,<br />

2006, Rn. 588.<br />

48<br />

Vgl. zur Einordnung von Vernehmungsperson, Videokonserve<br />

und Protokoll Kölbel, NStZ 2005, 220, wobei die Problematik<br />

des transkribierten Wortprotokolls nicht behandelt<br />

wird.<br />

49<br />

BGH NJW 2004, 1605.<br />

50<br />

BGH NJW 2007, 237; BGH NJW 2000, 3505.<br />

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Frank Buckow<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

und Wartezeiten für die Beschuldigten sowie Terminkollisionen,<br />

Fahrtwege für die Verteidiger) und auf Sicherheitsgesichtspunkten<br />

(Fluchtgefahr bei Transporten, Sicherheitsbedarf<br />

bei Gewalttätern etc.).<br />

1. Der Einfluss technischer Aspekte der Videokonferenz<br />

Er bezeichnet den Oberbegriff einer technisch vermittelten<br />

audiovisuellen Telekommunikationsform, die leitungsgebunden<br />

über ISDN oder andere Netze erfolgt. 51 Die klassische<br />

Videokonferenzform wird mit zwei Bildschirmen oder einem<br />

geteilten Bildschirm auf jeder Seite der Konferenzteilnehmer<br />

durchgeführt. Dadurch sieht der Konferenzteilnehmer einmal<br />

das Gegenüber und zum anderen auf einer Art Kontrollbildschirm<br />

oder einem Kontroll-Bildausschnitt das Bild, das dem<br />

anderen Teilnehmer übertragen und vor Augen geführt wird.<br />

Es kann bei der Übertragung des Videosignals in Abhängigkeit<br />

von der bereit stehenden Übertragungskapazität und dem<br />

Umfang des übertragenen Datenmaterials zu Verzögerungen<br />

vor allem des Audiosignals bis zu einer Sekunde kommen. 52<br />

Auch die Bildauflösung und die Bildwiederholungsrate sind<br />

von Bedeutung, da Verluste von Details und damit der veränderten<br />

Wahrnehmung des Gegenübers entstehen können. 53 Es<br />

handelt sich aufgrund der technisch bedingten teilweisen Verschiebung<br />

und den Asynchronitäten „um zwei Sequenzen von<br />

Kommunikationsereignissen“, die auf die Erwartung der jeweiligen<br />

Kommunikationsteilnehmer trifft, sich nur „einer<br />

ungeteilten Sequenz“ gegenüber zu sehen. 54 Die Wahrnehmung<br />

der Teilnehmer einer Videokonferenz unterscheidet sich<br />

von einer „direkten“ Kommunikation erheblich. Der Teilnehmer<br />

sieht auf dem eigenen Monitor (oder einem zweiten)<br />

das Videobild seiner eigenen Person und das Videobild des<br />

Gegenübers sowie eventuell noch das Videobild eines über<br />

eine Dokumentenkamera oder über ein Anwendungsprogramm<br />

(application sharing) eingeblendetes Schriftstück. Es<br />

kommt praktisch nicht zu einem gleichzeitigen direkten Au-<br />

51<br />

Pohl/Schmitz/Schulte, Videokonferenz als Form technisch<br />

vermittelter Kommunikation, 2006, S. 1.<br />

52<br />

Friebel/Loenhoff/Schmitz/Schulte, kommunikation@gesellschaft<br />

2003, Art. 1 S. 8, abrufbar unter<br />

http://www.soz.uni-frankfurt.de/K.G/<strong>Inhalt</strong>_alt.html#<strong>Inhalt</strong>_J<br />

g._4_2003: (1.11.2012).<br />

53<br />

Friebel/Loenhoff/Schmitz/Schulte, kommunikation@gesellschaft<br />

2003, Art. 1 S. 8 (vgl. Fn. 52).<br />

54<br />

Friebel/Loenhoff/Schmitz/Schulte, kommunikation@gesellschaft<br />

2003, Art. 1 S. 13 (vgl. Fn. 52); vgl. auch Meier, Arbeit<br />

als Interaktion, Videodokumentationen als Voraussetzung<br />

für die Untersuchung von flüchtigen Telekooperationsprozessen,<br />

1998, http://www.uni-giessen.de/~g31047/bericht2.pdf<br />

(1.11.2012).<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

556<br />

<strong>ZIS</strong> 11/2012<br />

genkontakt („eye contact dilemma“). 55 Die „raum-zeitliche<br />

Einheit“ der Verhandlung wird aufgelöst. 56<br />

Bei der Videokonferenz kann es zu Beeinträchtigungen<br />

der sogenannten „Backchannel-Kommunikation“ kommen.<br />

„Backchannel“-Signale sind Zwischenbemerkungen bzw.<br />

Zwischenlaute wie „mhm“ oder non- und paraverbale Signale<br />

der Gestik etc. 57 Derartige Signale kommen in der Videokonferenz<br />

aufgrund der Zeitverzögerung verspätet beim Gegenüber<br />

an, sie werden nicht vollständig übertragen oder es fehlt<br />

an einem Interpretationsrahmen mangels direkten Blickkontakts.<br />

58 Gänzlich andere und positive Erfahrungen hat Rieck<br />

hinsichtlich des Augenkontakts und der Tonverzögerung gemacht,<br />

59 so dass sich je nach der Qualität der technischen Anlage<br />

und der Übertragungswege die kommunikativen Probleme<br />

wesentlich verbessern lassen. Die Verwendung der Videokonferenz<br />

erfordert aber eine Medienkompetenz der Teilnehmenden,<br />

um Fehlinterpretationen zu vermeiden.<br />

Die gesamte Kommunikationsform unterscheidet sich auch<br />

bei Optimierung der technischen Gegebenheiten z.B. durch<br />

Probleme der Selbstwahrnehmung u.ä. erheblich von einer<br />

nichttechnisch vermittelten Kommunikation. 60 Der Bundesgerichtshof<br />

hat 1999 für die Videokonferenz i.S.d. § 247a<br />

StPO zu bedenken gegeben, „dass sich eine auf Distanz befragte<br />

Person dem durch Frage und Antwort entstehenden<br />

Spannungsverhältnis eher wird entziehen können, als in direktem<br />

Kontakt in ein und demselben Raum. Durch die technisch<br />

bedingte Distanz wird es zudem schwieriger sein, im<br />

Vorfeld der Aussage Hemmungen abzubauen, Vertrauen zu<br />

erwecken, sich selbst einen hinreichenden Eindruck von der<br />

individuellen Eigenart der Auskunftsperson und ihrem nonverbalen<br />

Aussageverhalten zu verschaffen“. 61<br />

Jedem Vernehmenden ist das Phänomen bekannt, dass bei<br />

der Beteiligung von Dolmetschern vor der Übersetzung in die<br />

Gerichtssprache Rückfragen durch diese an den Zeugen oder<br />

Beschuldigten erfolgen, die der Klarstellung des Gesagten dienen<br />

sollen. Der Vernehmende muss darauf achten, dass wörtlich,<br />

d.h. auch inhaltlich Unverständliches übersetzt wird und<br />

keine „Glättung“ durch den Dolmetscher erfolgt oder der<br />

Dolmetscher gar den Sinn der Frage oder des Vorhalts der<br />

Beweisperson erst erklärt, ohne dazu vom Vernehmenden auf-<br />

55<br />

Körschen/Pohl/Schmitz/Schulte, Forum Qualitative Social<br />

Research Sozialforschung 2002, Art. 19, im Internet unter<br />

http://www.qualitative-research.net/fqs-texte/2-02/2-<br />

02koerschenetal-d.htm#g51 (1.11.2012).<br />

56<br />

S. Marxen/Weinke, Inszenierungen des Rechts, Schauprozesse,<br />

Medienprozesse und Prozessfilme in der DDR, 2006,<br />

passim.<br />

57<br />

Braun, Kommunikation unter widrigen Umständen?, Fallstudien<br />

zu einsprachigen und gedolmetschten Videokonferenzen,<br />

2004, S. 52.<br />

58<br />

Braun (Fn. 57), S. 54.<br />

59<br />

Rieck (Fn. 38), S. 128 ff.<br />

60<br />

Friebel/Loenhoff/Schmitz/Schulte, kommunikation@gesellschaft<br />

2003, Art. 1 S. 8 (vgl. Fn. 52).<br />

61<br />

S. BGH NJW 1999, 3788; ähnliche Probleme ergeben sich<br />

bei der fernmündlichen Anordnung von Zwangsmaßnahmen,<br />

die unter Richtervorbehalt stehen.


Der Einsatz „neuer Medien“ im Dezernat des Ermittlungsrichters<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

gefordert worden zu sein. Ethnische und kulturelle Unterschiede,<br />

die ohnehin eine gesonderte Problematik in der<br />

Sinnerfassung einer Aussage darstellen, werden dadurch noch<br />

verschärft. Bei Videokonferenzen kann sich diese Problematik<br />

zuspitzen, da die technisch bedingten Sprechpausen, insbesondere<br />

die verzögerte Tonübertragung, dazu führen können,<br />

dass der Dolmetscher von dem Vernommenen in den<br />

Pausen befragt wird oder sich weiter äußert und der Dolmetscher<br />

das Gefragte oder Gesagte weitergeben muss. Es<br />

kommt dann zu Überlappungen des Gesprächsverlaufs, was<br />

einerseits der Dokumentation nicht förderlich ist und andererseits<br />

den Dolmetscher, der ja wörtlich zu übertragen hat, in<br />

eine Art „Moderatorenrolle“ bringt, die zwischen Gericht,<br />

Staatsanwaltschaft, Verteidigung und dem Zeugen/Beschuldigten<br />

zu vermitteln sucht. 62 Die bei der Videokonferenz<br />

bestehenden Probleme der Wahrnehmung des Gesprächsverlaufs<br />

aufgrund der Zeitverzögerung, der Wechsel der Sprecher,<br />

durch ungewollte Pausen oder Überlappungen und damit<br />

einhergehende Wiederholungen der Gegenseite, durch „Backchannel“-Signale,<br />

der Gestik oder durch bestätigende und<br />

sonstige Lautäußerungen 63 , können sich dadurch verstärken.<br />

2. Rechtliche Aspekte<br />

a) Der Gesetzentwurf sieht keine Regelungen zu Fragen der<br />

Protokollierung, der Dokumentation einer Beweisaufnahme<br />

im Rahmen des Haftprüfungsverfahrens oder der Aufzeichnung<br />

der Haftprüfung selbst (anders bei dem Entwurf zu einer<br />

Neufassung des § 91a der Finanzgerichtsordnung) vor.<br />

Inwieweit die §§ 168e S. 4, 247a StPO analog Anwendungen<br />

finden können, ist problematisch, da sie sich auf Zeugenaussagen<br />

beziehen.<br />

b) Handelt es sich überhaupt um eine Vernehmung im<br />

Rahmen der audiovisuellen Haftprüfung in Form einer Videokonferenz?<br />

Dies wird man bejahen können, da der vernehmende<br />

Richter den Beschuldigten in amtlicher Funktion gegenübertritt<br />

64 und es dabei keine Rolle spielen kann, dass sich<br />

der Vernehmende und der Beschuldigte nicht zugleich an<br />

einem Ort befinden.<br />

c) Sollen Schriftstücke (z.B. ergänzende oder neue Haftbefehlsanträge<br />

der Staatsanwaltschaft) dem Beschuldigten verlesen<br />

oder (über einen PC) an seinen Aufenthaltsort überspielt<br />

werden? Zum rechtlichen Gehör gehört nicht zwangsläufig<br />

die Verlesung. 65 Die sich dann aber oft anschließende<br />

„Verkündung“ i.S.d. § 115 StPO verlangt aber zumindest eine<br />

mündliche Erörterung. Dem Beschuldigten sind Vernehmungsbehelfe<br />

wie Pläne, Skizzen oder Lichtbilder in geeigneter<br />

Weise zur Kenntnis zu bringen, ohne dass dies durch<br />

die technische Übertragung verhindert oder beeinträchtigt<br />

wird. In den USA und beim Bundespatentgericht wird in der<br />

Hauptverhandlung eine Dokumentenkamera verwendet, die<br />

62<br />

Braun (Fn. 57), S. 54, 122.<br />

63<br />

Braun (Fn. 57), S. 31 ff.<br />

64<br />

Vgl. BGH NStZ 1995, 410; BGH NJW 2007, 2706; Bay-<br />

OblG NZV 2005, 494.<br />

65<br />

Für das Selbstleseverfahren bei Anklagesätzen vgl. LG<br />

Mühlhausen NStZ 2007, 358.<br />

Schriftstücke etc. in digitale Signale transformiert und so<br />

jedem Teilnehmer am Bildschirm zugänglich macht. 66<br />

Dazu kommt, dass der Gesetzentwurf des Bundesrates<br />

zwar die Erleichterung der Haftprüfung ermöglichen will, jedoch<br />

den Fall des § 115a StPO gerade nicht regelt. Damit ist<br />

die Festnahme eines Beschuldigten zur Verkündung oder<br />

zum Erlass eines Haftbefehls (§ 128 StPO) an einem anderen<br />

Ort als dem des zuständigen Haftgerichts gemeint. Gerade<br />

hier sind die Zeitersparnis und der unnötige Transport zu berücksichtigen,<br />

wenn der Beschuldigte im Wege der Videokonferenztechnik<br />

direkt von seinem zuständigen Richter vernommen<br />

werden könnte, anstatt den Umweg über den Richter<br />

des Ergreifungsortes zu gehen.<br />

d) In diesem Zusammenhang wird unter anwaltlicher Beratung<br />

häufig darauf verzichtet, den Beschuldigten zu einer<br />

Äußerung zu veranlassen. Vielmehr äußert sich dann der Verteidiger<br />

oder reicht ein vorbereitetes Schriftstück mit einer<br />

Sacheinlassung zu den Akten. Diese Praxis, die von Verteidigern<br />

auch als „Herunterdefinieren des Tatvorwurfs“ bezeichnet<br />

wird, erfüllt nicht die Voraussetzungen des § 136 StPO,<br />

da die Vernehmung grundsätzlich durch mündliche Befragung<br />

und mündliche Antworten des Beschuldigten selbst erfolgen<br />

muss. Derartige Verfahrensweisen könnten durch die<br />

„technische Distanz“ und die damit möglicherweise einhergehende<br />

Entpersonalisierung“ begünstigt werden. 67 Dem Richter<br />

obliegt bei Verhandlungen im Rahmen einer Videokonferenz<br />

daher eine besondere Schutzpflicht.<br />

66 Vgl. Siemer/Beskind/Bocchino/Rothschild, Effective Use of<br />

Courtroom Technology, A Lawyer´s Guide to Pretrial and<br />

Trial, 2002, passim; http://www.bundespatentgericht.de/cms/<br />

(1.11.2012).<br />

67 Vgl. Strafprozess „als ISDN-vermittelter Chat-Group“,<br />

Fischer, JZ 1998, 820.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

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557


Strafrechtsrelevante Entwicklungen in der Europäischen Union – ein Überblick*<br />

Von Wiss. Mitarbeiter Dominik Brodowski, LL.M. (Univ. Pennsylvania), München**<br />

Das Europäische Parlament hat sich im Diskurs über eine<br />

europäische Kriminalpolitik zu Wort gemeldet; die Kommission<br />

hat einen Vorschlag zur Harmonisierung des strafrechtlichen<br />

Schutzes der finanziellen Interessen der Europäischen<br />

Union vorgelegt; der Rat der Europäischen Union hat sich<br />

auf Regelungen zu spezifischen transnationalen Ermittlungsmaßnahmen<br />

im Rahmen der Europäischen Ermittlungsanordnung<br />

geeinigt; der Gerichtshof hat über die Anwendbarkeit<br />

des Opferschutz-Rahmenbeschlusses auf juristische Personen<br />

geurteilt – diese vier Schlaglichter mögen exemplarisch<br />

stehen für die vielfältigen Entwicklungen im Bereich<br />

der Europäisierung des Strafrechts von November 2011 bis<br />

Oktober 2012, die hier im Anschluss an <strong>ZIS</strong> 2011, 940 im<br />

Überblick vorgestellt und einer ersten Bewertung unterzogen<br />

werden.<br />

The European Parliament taking part in the discourse on a<br />

EU criminal policy, the Commission tabling a proposal to<br />

harmonize criminal laws on the protection of the EU’s financial<br />

interests, the Council agreeing on rules on specific<br />

cross-border investigation techniques in the European Investigation<br />

Order, the Court judging on the application of the<br />

Framework Decision on the Standing of Victims to corporations<br />

– these four examples may illustrate the diverseness in<br />

the activities in EU Criminal Justice between November 2011<br />

and October 2012. Following up on <strong>ZIS</strong> 2011, 940, this<br />

fourth instalment continues the overview on these and other<br />

matters of EU Criminal Justice.<br />

I. Strafrechtsverfassung<br />

1. Europäische Kriminalpolitik – ein EU-Ansatz zum Strafrecht<br />

Das Europäische Parlament knüpfte mit seiner Entschließung<br />

vom 22.5.2012 zum EU-Ansatz zum Strafrecht 1 an die vorangegangenen<br />

Positionspapiere des Rates und der Kommission<br />

zur EU-Kriminalpolitik an, 2 konzentriert sich dabei aller-<br />

* Fortsetzung von <strong>ZIS</strong> 2010, 376; <strong>ZIS</strong> 2010, 749 und <strong>ZIS</strong><br />

2011, 940.<br />

** Der Verf. ist Wiss. Mitarbeiter am Lehrstuhl für Strafrecht,<br />

Strafprozessrecht und Wirtschaftsstrafrecht der Ludwig-Maximilians-Universität<br />

München (RiOLG Prof. Dr.<br />

Joachim Vogel). Alle in diesem Bericht aufgeführten EU-<br />

Rechtsakte und EU-Rechtsetzungsvorgänge sind in der Datenbank<br />

http://www.eurocrim.org/ (31.10.2012) verfügbar.<br />

1<br />

Entschließung des Europäischen Parlaments vom 22.5.2012<br />

zum EU-Ansatz zum Strafrecht (2010/2310 [INI]).<br />

2<br />

Zu Ratsdok. 11155/11 und KOM (2011) 573 endg. v. 20.9.<br />

2011 vgl. zuvor Brodowski, <strong>ZIS</strong> 2011, 940 (942). Über die<br />

a.a.O. bereits erwähnte Literatur vgl. nunmehr auch Heger,<br />

Recht und Politik 2012, 88; Muñoz de Morales Romero, El<br />

legislador penal europeo, legitimidad y racionalid, 2011,<br />

passim; Prittwitz, in: Ambos (Hrsg.), Europäisches Strafrecht<br />

post-Lissabon, 2011, S. 29. Zur thematisch verwandten EU-<br />

Strategie der inneren Sicherheit – Ratsdok. 7120/10 – veröf-<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

558<br />

dings auf die materiell-strafrechtlichen Entwicklungen, also<br />

auf den Bereich der Strafrechtsharmonisierung.<br />

In seiner Entschließung betont das Europäische Parlament<br />

die Bedeutung strafrechtlicher Grundprinzipien wie Verhältnismäßigkeit<br />

(Buchstabe E), Schuldprinzip (Buchstabe J),<br />

ultima ratio (Buchstabe I) und Normenbestimmtheit (Buchstabe<br />

K). Hinreichendes gegenseitiges Vertrauen erkennt es<br />

als conditio sine qua non für das Prinzip gegenseitiger Anerkennung<br />

an (Buchstabe F). Ferner verweist es auf den Grundsatz<br />

ne bis in idem, auf die Unschuldsvermutung und auf<br />

weitere Rechte beschuldigter Personen (4.). Schließlich fordert<br />

es u.a. die Einsetzung einer interinstitutionellen Arbeitsgruppe,<br />

die Prinzipien und Arbeitsmethoden ausarbeiten soll,<br />

um in Zukunft ein kohärentes europäisches Strafrecht verwirklichen<br />

zu können.<br />

2. Beitritt zur EMRK 3<br />

Der von einer Arbeitsgruppe vorgelegte Entwurf eines Beitrittsabkommens<br />

zum Beitritt der EU zur Europäischen Konvention<br />

zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten<br />

(EMRK) 4 ist auf ein geteiltes Echo gestoßen: Manche<br />

Mitgliedstaaten kritisieren die Reichweite des Beitritts und<br />

die drohenden Konsequenzen hinsichtlich der Kompetenzverteilung<br />

zwischen der EU und den Mitgliedstaaten. Auch die<br />

Ausübung des Stimmrechts durch den Vertreter der EU im<br />

Ministerkomitee bedürfe noch weiterer Klärung. 5 Indes einigte<br />

man sich im Rat der Europäischen Union – Justiz und<br />

Inneres – auf dessen 3162. Tagung am 26./27.4.2012 darauf,<br />

dass auf Basis dieses Entwurfs die Verhandlungen mit dem<br />

Europarat und dessen (weiteren) Mitgliedstaaten rasch aufzunehmen<br />

seien. 6 Im Rahmen der ersten beiden Verhandlungsrunden<br />

am 21.6.2012 sowie vom 17. bis 19.9.2012 unterbreitete<br />

die Kommission als Verhandlungsführerin der EU umfangreiche<br />

Änderungswünsche, 7 welche bei Nichtmitgliedstaaten<br />

auf merklichem Unmut gestoßen sind. 8<br />

So soll nach Auffassung der Kommission in Art. 59 Abs.<br />

2 EMRK-E ausdrücklich klargestellt werden, dass Konventionsverletzungen<br />

bei der Umsetzung und Durchführung („implement“)<br />

von Unionsrecht durch die Mitgliedstaaten allein<br />

diesen und nicht auch der EU zuzurechnen sind. Hinsichtlich<br />

der – oft intergouvernemental geprägten – Maßnahmen im<br />

Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik soll<br />

der Kommission zufolge entscheidend sein, ob sich eine<br />

fentlichte die Kommission ihren ersten Jahresbericht, KOM<br />

(2011) 790 endg. v. 25.11.2011.<br />

3<br />

Vgl. zuletzt Brodowski, <strong>ZIS</strong> 2011, 940; Kohler/Malferrari,<br />

EuZW 2011, 849; Obwexer, EuR 2012, 115.<br />

4<br />

CDDH (2011) 009.<br />

5<br />

Ratsdok. 18117/11.<br />

6<br />

Vgl. Ratsdok. 9171/12, S. 16.<br />

7<br />

Vgl. 47+1 (2012) R01, S. 2; 47+1 (2012) R02, S. 2 ff.;<br />

Ratsdok. 16385/11 (nicht öffentlich).<br />

8<br />

Vgl. 47+1 (2012) 002, S. 2 f. sowie 47+1 (2012) R01, S. 2<br />

Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />

f.


Strafrechtsrelevante Entwicklungen in der Europäischen Union – ein Überblick<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

Zurechenbarkeit zur EU und ihrem Rechtsrahmen aus der<br />

Rechtsprechung des EuGH (!) ergibt. Weitere Kritik richtet<br />

sich gegen die geplante Änderung der Geschäftsordnung des<br />

Ministerkomitees, der zufolge das (qualifizierte) Votum der<br />

Nichtmitgliedstaaten bei der Überwachung von gegen die EU<br />

ergangenen Urteilen entscheidend sein soll, um Abstimmungen<br />

„en bloc“ der EU-Mitgliedstaaten zugunsten der EU zu<br />

verhindern. Die EU möchte dies durch ein bloßes „gentlemen's<br />

agreement“ ersetzen, demzufolge ein – allerdings nicht<br />

bindendes – Schlichtungsverfahren durchzuführen wäre. Es<br />

ist zu befürchten, dass durch diese Änderungen – und durch<br />

die der EU eingeräumte Möglichkeit, Vorbehalte gem. Art.<br />

57 Abs. 1 EMRK anzubringen – die Durchschlagskraft der<br />

EMRK in Bezug auf das Recht der EU in erheblichem Maße<br />

gemindert wird.<br />

3. Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung –<br />

Datenschutz<br />

Der von der Kommission vorgelegte Vorschlag für [eine]<br />

Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zum<br />

Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener<br />

Daten und zum freien Datenverkehr (Datenschutz-<br />

Grundverordnung) 9 wirft die verfassungsrechtliche Frage auf,<br />

inwieweit der Schutz personenbezogener Daten auch zukünftig<br />

am Maßstab des Grundgesetzes zu prüfen sein wird, wenn<br />

Daten im Auftrag des Staates von privaten Unternehmen vorgehalten<br />

werden, wie dies etwa bei der Vorratsdatenspeicherung<br />

von Verbindungsdaten oder bei der geplanten Vorratsdatenspeicherung<br />

von Fluggastdatensätzen der Fall ist. Der<br />

für Fragen des Datenschutzrechtes zuständige Richter des<br />

Bundesverfassungsgerichts Masing kritisiert diesbezüglich,<br />

dass die geplante Vollharmonisierung – die auch den privaten<br />

und nicht-kommerziellen Meinungsaustausch erfassen könne<br />

– zu einem strukturell schlechteren Grundrechtsschutz führen<br />

werde. An die Stelle der deutschen Grundrechte würde die<br />

Europäische Grundrechtecharta treten, zu deren Auslegung<br />

der Europäische Gerichtshof in einem langatmigen Vorabentscheidungsverfahren<br />

berufen sei. Eine Verfassungsbeschwerde<br />

zum Europäischen Gerichtshof sei nicht gegeben; die<br />

Beschwerde zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte<br />

wiederum diene nur der Gewährleistung eines Mindeststandards.<br />

10 Allerdings ist zu berücksichtigen, dass die<br />

genuin straf- und polizeirechtliche Datenerhebung in einer<br />

Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zum<br />

Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener<br />

Daten durch die zuständigen Behörden zum Zwecke<br />

der Verhütung, Aufdeckung, Untersuchung oder Verfolgung<br />

von Straftaten oder der Strafvollstreckung sowie zum<br />

freien Datenverkehr geregelt werden soll. 11 Deren Umsetzung<br />

in deutsches Recht kann – unter Berücksichtigung der aus der<br />

Europafreundlichkeit des Grundgesetzes folgenden Ein-<br />

9<br />

KOM (2011) 11 endg. v. 25.1.<br />

10<br />

Masing, SZ v. 9.1.2012, S. 10 f.; s. auch Masing, NJW<br />

2012, 2305.<br />

11<br />

Vorschlag in KOM (2012) 10 endg. v. 25.1.2012; vgl.<br />

hierzu Hornung, Zeitschrift für Datenschutz 2012, 99; Kugelmann,<br />

DuD 2012, 581.<br />

schränkungen – auch am Maßstab des Grundgesetzes geprüft<br />

werden. Jener Vorschlag für eine Richtlinie ist gleichwohl<br />

nicht ohne Anlass für Kritik: So sieht Art. 7 des Entwurfs es<br />

für ausreichend an, wenn der Zweck der Datenverarbeitung<br />

„zur Wahrnehmung einer gesetzlichen Aufgabe“ notwendig<br />

ist. Ein solch weicher Rahmen setzte damit gerade keine<br />

normenklare und normenbestimmte Eingriffsgrundlage voraus,<br />

sondern sähe allein in der Zweckbestimmung „Strafverfolgung“<br />

eine ausreichende Eingriffsbefugnis auch für erhebliche<br />

datenschutzrelevante Eingriffe.<br />

Sowohl der Vorschlag für eine Richtlinie (dort Art. 55)<br />

als auch der Vorschlag für eine Verordnung (dort Art. 78)<br />

sehen vor, dass die Mitgliedstaaten wirksame, angemessene<br />

und abschreckende Sanktionen festlegen, die bei Verstößen<br />

gegen die jeweiligen Bestimmungen zu verhängen sind; dies<br />

wird bei der Verordnung noch ergänzt durch verwaltungsrechtliche<br />

Sanktionen (Art. 79), die von den datenschutzrechtlichen<br />

Aufsichtsbehörden bei bestimmten Verstößen verhängt<br />

werden können. Die Sanktionen müssen demnach nicht<br />

zwingend strafrechtlicher Natur sein. Ob durch diese Neuregelung<br />

daher dem Datenschutzrecht ein schärferes Schwert<br />

als §§ 43, 44 BDSG in die Hand gelegt wird, bleibt abzuwarten.<br />

Zwischenzeitlich erhob der Bundesrat gegen diese Kommissionsvorschläge<br />

eine Subsidiaritätsrüge; auch andere Mitgliedstaaten<br />

haben in den Gremien des Rates ihre Bedenken<br />

hinsichtlich der Subsidiarität geäußert. Darüber hinausgehend<br />

kritisieren diese die Reichweite der Richtlinie und zweifeln<br />

deren Rechtsgrundlage an, soweit diese auch die rein innerstaatliche<br />

Datenerhebung und -verarbeitung erfassen soll. 12<br />

4. Opt-out des Vereinigten Königreichs<br />

Die britische Koalitionsregierung erwägt, von der in Art. 10<br />

Abs. 4 Protokoll Nr. 36 über die Übergangsbestimmungen 13<br />

eingeräumten Möglichkeit Gebrauch zu machen, aus dem<br />

acquis im Bereich der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit<br />

in Strafsachen auszusteigen. Konsequenz wäre,<br />

dass sämtliche vor dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon<br />

ergangenen Rechtsakte ab dem 1.12.2014 nicht mehr<br />

gegenüber dem Vereinigten Königreich gälten; das Vereinigte<br />

Königreich müsste die sich hieraus ergebenen Kosten tragen<br />

(Art. 10 Abs. 4 UAbs. 3 Protokoll Nr. 36). Das Vereinigte<br />

Königreich könnte indes beantragen, an einzelnen Rechtsakten<br />

des acquis im Bereich der polizeilichen und justiziellen<br />

Zusammenarbeit in Strafsachen auch weiterhin teilzunehmen<br />

(Art. 10 Abs. 5 S. 1 Protokoll Nr. 36), was u.a. für den Europäischen<br />

Haftbefehl diskutiert wird. Allerdings muss der Rat<br />

einem solchen Antrag einstimmig zustimmen (Art. 10 Abs. 5<br />

S. 2 Protokoll Nr. 36 i.V.m. Art. 4 Protokoll Nr. 19 über den<br />

in den Rahmen der Europäischen Union einbezogenen<br />

Schengen-Besitzstand). 14<br />

Von alledem unberührt bleiben unter dem Vertrag von<br />

Lissabon ergangene Rechtsakte, bei denen das Vereinigte<br />

Königreich ohnehin sein „Opt-In“ erklären muss (Protokoll<br />

12 Ratsdok. 8596/12.<br />

13 ABl. EU 2012 Nr. C 326 v. 26.10.2012, S. 322.<br />

14 ABl. EU 2012 Nr. C 326 v. 26.10.2012, S. 290.<br />

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559


Dominik Brodowski<br />

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Nr. 21 über die Position des Vereinigten Königreichs und<br />

Irlands hinsichtlich des Raums der Freiheit, der Sicherheit<br />

und des Rechts 15 ).<br />

II. Institutionen<br />

1. Europäisches Parlament<br />

Aus Protest über eine Entscheidung des Rates, einen Rechtsakt<br />

zur Evaluierung des Schengen-Rechtsrahmens auf Art. 70<br />

AEUV zu stützen und daher nicht das gem. Art. 77 Abs. 2 lit.<br />

e AEUV zumindest mögliche ordentliche Gesetzgebungsverfahren<br />

zu beschreiten, unterbrach das Europäische Parlament<br />

am 14.6.2012 die interinstitutionellen Konsultationen hinsichtlich<br />

der Reform des Schengen-Rechtsrahmens, der Rahmenbeschlüsse<br />

über Angriffe auf Informationssysteme, 16<br />

über die Europäische Ermittlungsanordnung (s. hierzu noch<br />

unten V. 2.), über die Vorratsdatenspeicherung von Fluggastdatensätzen<br />

(s. hierzu noch unten IV. 6.) sowie des EU-<br />

Haushalts, soweit letzterer Fragen der Inneren Sicherheit<br />

betrifft. 17 Inzwischen sind die entsprechenden Triloge allerdings<br />

wiederaufgenommen worden; Entscheidungen im Plenum<br />

des Europäischen Parlaments über diese Gesetzgebungsverfahren<br />

werden aber derzeit noch blockiert.<br />

Am 14.3.2012 setzte das Europäische Parlament einen<br />

Sonderausschuss „Organisiertes Verbrechen“ ein. Dieses 41köpfige<br />

Gremium unter dem Vorsitz von MdEP Sonia Alfano<br />

(ALDE/IT) soll zum einen eine Lagebewertung der organisierten<br />

Kriminalität, Korruption und Geldwäsche, zum anderen<br />

Handlungskonzepte präventiver und repressiver Art entwerfen.<br />

Angesichts der zunächst auf ein Jahr begrenzten Amtszeit<br />

des Sonderausschusses ist bereits bald mit ersten Zwischenberichten<br />

zu rechnen. Erste Diskussionspapiere fordern<br />

eine Stärkung der Vermögensabschöpfung – auch auf nichtstrafrechtlichem<br />

Wege – (s. hierzu noch unten III. 5.) und<br />

regen eine Harmonisierung der Strafbestimmungen hinsichtlich<br />

organisiert-krimineller Vereinigungen an. 18<br />

Hinsichtlich der Immunität von Mitgliedern des Europäischen<br />

Parlaments stellte der Gerichtshof fest, dass die Immunität<br />

eines Parlamentariers einer Bestrafung wegen beleidigender<br />

Äußerungen dann nicht entgegensteht, wenn das Mitglied<br />

des Europäischen Parlaments sich außerhalb der Räumlichkeiten<br />

des Parlaments geäußert und die Äußerungen keinen<br />

direkten, offensichtlichen inhaltlichen Bezug zu seiner<br />

parlamentarischen Tätigkeit haben. Ob diese Bedingungen erfüllt<br />

seien, sei jeweils durch das nationale Gericht festzustellen.<br />

19<br />

15 ABl. EU 2012 Nr. C 326 v. 26.10.2012, S. 295.<br />

16 Zuletzt Ratsdok. 11566/11; vgl. hierzu Brodowski, <strong>ZIS</strong><br />

2011, 940 (945) m.w.N.<br />

17 Pressemitteilung des Europäischen Parlaments 20120614<br />

IPR46824.<br />

18 Zusammenfassend das Arbeitsdokument PE496.559v01-00<br />

des Berichterstatters Iacolino (EPP / IT).<br />

19 EuGH, Beschl. v. 19.1.2012 – C-496/10 (Patriciello).<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

560<br />

<strong>ZIS</strong> 11/2012<br />

2. Kommission<br />

Dem Arbeitsprogramm der Kommission für 2012 20 zufolge<br />

ist dieses Jahr noch mit einer Überarbeitung der Statuten von<br />

Europol 21 und Eurojust 22 zu rechnen; 2013 sollen Legislativmaßnahmen<br />

zur Errichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft,<br />

zur gegenseitigen Anerkennung von Rechtsverlusten<br />

(wie Berufsverboten) und zur Prozesskostenhilfe bzw. Pflichtverteidigung<br />

in Strafverfahren folgen. Entgegen der Angabe<br />

im Arbeitsprogramm wird sich die Aktualisierung der Vorratsdatenspeicherungs-Richtlinie<br />

noch bis 2013 verzögern<br />

(s. hierzu noch unten IV. 5.). 23<br />

Durch Beschluss v. 21.2.2012 setzte die Kommission eine<br />

20-köpfige Expertengruppe für die EU-Strafrechtspolitik ein, 24<br />

welche „die Arbeiten der Kommission zur weiteren Gestaltung<br />

der EU-Strafrechtspolitik unterstützen und zu allen<br />

relevanten Fragen beratend tätig werden“ soll und die am<br />

19.6.2012 ihre Arbeit aufgenommen hat. Neben Vertretern<br />

der Strafrechtswissenschaft – aus Deutschland Helmut Satzger<br />

– wurden auch Strafverteidiger, Richter und Strafverfolger<br />

in dieses Gremium berufen, so auch Frau RAin Dr. Margarete<br />

von Galen.<br />

3. Gerichtshof<br />

Der Gerichtshof hat sich – mit Genehmigung des Rates – eine<br />

neue Verfahrensordnung gegeben, die gemäß deren Art. 210<br />

zum 1. November 2012 in Kraft getreten ist. 25<br />

4. Europäische Staatsanwaltschaft 26<br />

Im Juni 2012 legte eine Gruppe von Strafrechtswissenschaftlern<br />

unter der Koordination von Katalin Ligeti eine Modell-<br />

Verfahrensordnung für eine Europäische Staatsanwaltschaft<br />

vor. 27 Deren bloßer Modellcharakter, der mit einem Verordnungsentwurf<br />

nicht verwechselt werden darf, wird insbesondere<br />

dadurch offensichtlich, dass einige Bestimmungen<br />

maßgeblich davon abhängen, für die Verfolgung welcher Kriminalitätsbereiche<br />

die Europäische Staatsanwaltschaft zuständig<br />

werden soll – begrenzt auf die Verfolgung von Straftaten<br />

zu Lasten des EU-Haushalts (sog. „PIF“, protection des<br />

intérêts financiers) 28 oder erweitert auf weitere Deliktsberei-<br />

20<br />

KOM (2011) 777 endg. v. 15.11.2011.<br />

21<br />

Bislang: Beschluss des Rates über die Errichtung des Europäischen<br />

Polizeiamts (Europol) = ABl. EU 200 Nr. L 121,<br />

S. 37; zum Reformbedarf aufgrund des Vertrags von Lissabon<br />

vgl. Albrecht/Janson, EuR 2012, 230; Brodowski, <strong>ZIS</strong><br />

2011, 940 (943) m.w.N.<br />

22<br />

Bislang: Beschluss des Rates über die Errichtung von Eurojust<br />

zur Verstärkung der Bekämpfung der schweren Kriminalität<br />

= CONSLEG 2002D0187 v. 4.6.2009.<br />

23<br />

Vgl. Malmström, FAZ v. 3.7.2012, http://www.faz.net/gq4-713uq<br />

(31.10.2012).<br />

24<br />

ABl. EU 2012 Nr. C 53, S. 9.<br />

25<br />

ABl. EU 2012 Nr. L 265, S. 1.<br />

26<br />

Vgl. zuvor Brodowski, <strong>ZIS</strong> 2011, 940 (942) m.w.N.;<br />

s. zudem Böse, RW 2012, 172.<br />

27<br />

Verfügbar unter http://www.eppo-project.eu/ (31.10.2012)<br />

28<br />

S. hierzu noch unten III. 1.


Strafrechtsrelevante Entwicklungen in der Europäischen Union – ein Überblick<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

che („PIF+“). Andererseits stellt diese Modell-Verfahrensordnung<br />

ein in sich geschlossenes, vollständiges System dar<br />

und könnte sich aus diesem Grund als Grundlage eines Legislativvorschlags<br />

der Kommission eignen.<br />

Diese Modell-Verfahrensordnung sieht unter anderem<br />

vor, dass Ermittlungsmaßnahmen, die von einem zuständigen<br />

Gericht eines Mitgliedstaats auf Antrag der Europäischen<br />

Staatsanwaltschaft angeordnet wurden, europaweit ausgeführt<br />

werden dürfen. Nachträglicher Rechtsschutz gegen in Grundrechte<br />

eingreifende Ermittlungsmaßnahmen soll durch einen<br />

europäischen Spruchkörper gewährt werden. Hinsichtlich der<br />

Ermittlungsmaßnahmen differenziert das Modell drei Grundtypen,<br />

die mit unterschiedlichen Eingriffshürden verbunden<br />

sind: Ermittlungsmaßnahmen ohne Zwangswirkung (z.B. Anfragen<br />

in öffentlichen Registern), Zwangsmaßnahmen ohne<br />

Richtervorbehalt (z.B. Beschlagnahmen, bestimmte „production<br />

orders“ und Standortbestimmung) und Zwangsmaßnahmen<br />

mit Richtervorbehalt (z.B. Durchsuchungen, Telekommunikationsüberwachung<br />

und Überwachung von Finantransaktionen).<br />

Aus deutschem Blickwinkel bemerkenswert ist insbesondere<br />

die Bestimmung in Art. 27 Abs. 6 des Entwurfs, demzufolge<br />

Zeugnisverweigerungsrechte nur in begrenztem Umfang<br />

gelten und einer Abwägung mit Strafverfolgungsinteressen<br />

zugänglich sein sollen: Ärzte, Geistliche, Journalisten<br />

usw. sollen sich nicht auf ihr Zeugnisverweigerungsrecht<br />

berufen dürfen und von einem Richter zur Aussage verpflichtet<br />

werden können, wenn deren Aussagen „unverzichtbar“<br />

seien für die Ermittlungen.<br />

5. Europäisches Zentrum zur Bekämpfung der Cyberkriminalität<br />

29<br />

In ihrer Mitteilung „Kriminalitätsbekämpfung im digitalen<br />

Zeitalter: Errichtung eines europäischen Zentrums zur Bekämpfung<br />

der Cyberkriminalität“ 30 schlug die Kommission<br />

vor, dieses – auch EC3 genannte – Zentrum bei Europol anzusiedeln.<br />

Die Errichtung eines solchen Zentrums war in der<br />

EU-Strategie der Inneren Sicherheit gefordert worden. 31 Ab<br />

Januar 2013 soll das Zentrum Informationen über Cyberkriminalität<br />

zusammentragen, um ein fundiertes, aktuelles Lagebild<br />

über die Bedrohungslage im Internet liefern zu können.<br />

Darüber hinausgehend soll es nationale Strafverfolgungsbehörden<br />

bei Ermittlungen unterstützen, etwa durch die Bereitstellung<br />

von forensischer Expertise oder auch durch entsprechende<br />

Schulungen für nationale Richter, Staatsanwälte<br />

und Polizeibeamte. Schließlich soll das Zentrum auch enge<br />

Kooperationen mit der Privatwirtschaft pflegen und etwa<br />

Informationen über aktuelle Bedrohungen austauschen. Der<br />

Rat der Europäischen Union – Justiz und Inneres – stimmte<br />

diesem Vorschlag auf seiner 3172. Tagung am 7./8.6.2012<br />

zu. 32<br />

29<br />

S. hierzu Ellermann/Drewer, Datenschutz-Berater 2012,<br />

151.<br />

30<br />

KOM (2012) 140 endg. v. 28.3.2012.<br />

31<br />

S. KOM (2010) 673 endg. v. 22.11.2010; Ratsdok. 5842/10,<br />

sowie Brodowski, <strong>ZIS</strong> 2011, 940 (941) m.w.N.<br />

32<br />

Schlussfolgerungen des Rates in Ratsdok. 10603/12.<br />

6. OLAF 33<br />

Kommission, Rat und Europäisches Parlament konnten sich<br />

weitgehend auf eine umfassende Modifikation der Verordnung<br />

über die Untersuchungen des Europäischen Amts für<br />

Betrugsbekämpfung (OLAF) einigen; noch nicht abschließend<br />

geklärt ist jedoch der Zugang von OLAF zu den Büros<br />

der Mitglieder des Europäischen Parlaments. 34 Der Kompromisstext<br />

sieht vor, dass die nationalen Strafverfolgungsbehörden<br />

und bei transnationalen Fällen Eurojust umfassend<br />

über Verdachtsmomente – auch solche, denen OLAF nicht<br />

nachgeht (Art. 3 Abs. 6, Art. 4 Abs. 8) – und Ermittlungsergebnisse<br />

zu informieren ist (Art. 9 Abs. 5, Art. 10 Abs. 2,<br />

Art. 10a Abs. 1 UAbs. 2). Rechtsschutz bei Verfahrensverstößen<br />

von OLAF soll primär durch einen Überwachungsausschuss<br />

und einen Verfahrensprüfer gewährt werden (Art. 11,<br />

Art. 11a).<br />

7. Europäische Agentur für das Betriebsmanagement von IT-<br />

Großsystemen 35<br />

Die Europäische Agentur für das Betriebsmanagement von<br />

IT-Großsystemen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und<br />

des Rechts 36 wird zum 1.12.2012 ihre Arbeit aufnehmen.<br />

III. Materielles Strafrecht<br />

1. Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Union 37<br />

Gestützt auf Art. 325 Abs. 4 AEUV legte die Kommission<br />

einen Vorschlag für [eine] Richtlinie des Europäischen Parlaments<br />

und des Rates über die strafrechtliche Bekämpfung<br />

von gegen die finanziellen Interessen der Europäischen Union<br />

gerichtetem Betrug vor, 38 welche das – noch immer nicht<br />

von allem Mitgliedstaaten ratifizierte 39 – Übereinkommen<br />

über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen<br />

Gemeinschaften und den diesbezüglichen Protokollen 40 erset-<br />

33<br />

Vgl. zuvor Brodowski, <strong>ZIS</strong> 2011, 940 (943).<br />

34<br />

Ratsdok. 12735/12 ADD 1 (nicht öffentlich); Pressemitteilung<br />

des Europäischen Parlaments 20121008IPR53194;<br />

Kommissionsvorschlag in KOM (2011) 135 endg. v. 17.3.<br />

2011.<br />

35<br />

Vgl. zuvor Brodowski, <strong>ZIS</strong> 2011, 940 (943).<br />

36<br />

Verordnung (EU) Nr. 1077/2011 des Europäischen Parlaments<br />

und des Rates v. 25.10.2011 zur Errichtung einer Europäischen<br />

Agentur für das Betriebsmanagement von IT-Großsystemen<br />

im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des<br />

Rechts = ABl. EU 2011 L 286, S. 1.<br />

37<br />

Vgl. zuvor Brodowski, <strong>ZIS</strong> 2011, 940 (943 f.).<br />

38<br />

KOM (2012) 363 endg. v. 11.7.2011; s. zuvor KOM (2001)<br />

272 endg. v. 23.5.2011 sowie KOM (2002) 577 endg. v. 16.10.<br />

2002.<br />

39<br />

Vgl. KOM (2012) 363 endg. v. 11.7.2011, S. 4 f. bei und<br />

mit Fn. 6.<br />

40<br />

Dies sind, in chronologischer Reihenfolge:<br />

Übereinkommen vom 26.7.1995 aufgrund von Artikel K.3<br />

des Vertrags über die Europäische Union über den Schutz der<br />

finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften<br />

(ABl. EG 1995 Nr. C 316, S. 49),<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />

561


Dominik Brodowski<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

zen soll. Der Vorschlag konzentriert sich auf die Harmonisierung<br />

des materiellen Strafrechts und lässt somit die verfahrensrechtlichen<br />

Fragen im Hinblick auf die für 2013 geplante<br />

Legislativmaßnahme zur Errichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft<br />

41 außen vor.<br />

Die Mitgliedstaaten sollen dazu verpflichtet werden, Betrug<br />

(Art. 3) und betrugsähnliche Straftaten (Art. 4) – hierzu<br />

sollen auch Geldwäsche, Bestechung, Bestechlichkeit und<br />

eine missbräuchliche Verwendung von Geldern durch Amtsträger<br />

zählen – sowie deren Versuch und die Teilnahme hieran<br />

unter Strafe zu stellen. Im Vergleich zu sonstigen Harmonisierungsinstrumenten<br />

bemerkenswert sind die „Allgemeine[n]<br />

Bestimmungen“ im Titel III des Vorschlags: Über<br />

Mindesthöchststrafen – fünf bzw. bei bandenmäßiger Begehung<br />

zehn Jahre Freiheitsstrafe – hinausgehend schreibt der<br />

Richtlinienvorschlag auch Mindeststrafen 42 vor, namentlich<br />

sechs Monate Freiheitsstrafe, sofern ein gewisser Mindestschaden<br />

(100.000 Euro bei Betrug, 30.000 Euro bei Geldwäsche<br />

und Korruption) überschritten ist (Art. 8). Auch sollen<br />

der Richtlinie unterfallende Straftaten frühestens nach fünf<br />

Jahren verjähren dürfen; bei einer „effektive[n] Aufnahme<br />

der Ermittlungen oder der Strafverfolgung“ soll die Verjährung<br />

zumindest innerhalb der ersten zehn Jahre unterbrochen<br />

werden.<br />

Der Kommissionsvorschlag ist gleichwohl als zurückhaltend<br />

zu bezeichnen. Die Kommission hat als Regelungsmodell<br />

die Richtlinie gewählt und versucht somit nicht, über eine<br />

Verordnung unmittelbare, europäische Strafnormen einzuführen.<br />

43 Auch sieht sie davon ab, nähere Definitionen über<br />

die Beihilfe und Anstiftung, Versuch und Vollendung, Vorsatz<br />

und Fahrlässigkeit vorzugeben. 44<br />

Erstes Protokoll vom 27.9.1996 zum Übereinkommen über<br />

den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen<br />

Gemeinschaften (ABl. EG 1996 Nr. C 313, S. 2),<br />

Protokoll vom 29.11.1996 betreffend die Auslegung des<br />

Übereinkommens über den Schutz der finanziellen Interessen<br />

der Europäischen Gemeinschaften durch den Gerichtshof der<br />

Europäischen Gemeinschaften im Wege der Vorabentscheidung<br />

(ABl. EG 1997 Nr. C 151, S. 2),<br />

Übereinkommen vom 26.5.1997 über die Bekämpfung der<br />

Bestechung, an der Beamte der Europäischen Gemeinschaften<br />

oder der Mitgliedstaaten der Europäischen Union beteiligt<br />

sind (ABl. EG 1997 Nr. C 195, S. 2) und<br />

Zweites Protokoll zum Übereinkommen über den Schutz der<br />

finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften<br />

vom 19.6.1997 (ABl. EG 1997 Nr. C 221, S. 12).<br />

S. zu alledem Fromm, HRRS 2008, 87 m.w.N.<br />

41<br />

S. hierzu oben II. 4.<br />

42<br />

Vgl. hierzu bereits Brodowski, <strong>ZIS</strong> 2011, 940 (940, 942)<br />

unter Verweis auf KOM (2011) 573 endg. v. 20.9.2011.<br />

43<br />

Zum Streitstand, ob Art. 325 Abs. 4 AEUV auch zum Erlass<br />

einer Verordnung ermächtigt, s. nur Krüger, HRRS 2012,<br />

311 mit umfangreichen Nachw.<br />

44<br />

Dies war in KOM (2011) 293 endg. v. 26.5.2011, S. 13<br />

noch als Möglichkeit erörtert worden.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

562<br />

<strong>ZIS</strong> 11/2012<br />

2. Insiderhandel und Marktmanipulation 45<br />

Auf seiner 3162. Sitzung am 26./27.4.2012 erzielte der Rat<br />

der Europäischen Union – Justiz und Inneres – eine partielle<br />

allgemeine Ausrichtung hinsichtlich Art. 5-12 einer Richtlinie<br />

des Europäischen Parlaments und des Rates über strafrechtliche<br />

Sanktionen für Insider-Geschäfte und Marktmanipulationen.<br />

46 Dies betrifft damit die Bestimmungen hinsichtlich<br />

Versuch, Anstiftung und Beihilfe (Art. 5) und hinsichtlich<br />

der Rechtsfolgen – auch für juristische Personen –<br />

(Art. 6, 7). Der 14. Erwägungsgrund, demzufolge „weitestmöglich“<br />

auch die Strafbarkeit auf juristische Personen auszudehnen<br />

sei, wurde dahingehend entschärft, dass effektive,<br />

verhältnismäßige und abschreckende Sanktionen ausreichen.<br />

Mindesthöchststrafen sollen entgegen dem Wunsch einiger<br />

Mitgliedstaaten vorerst nicht durch die Richtlinie vorgegeben<br />

werden; dies wird aber nach vier Jahren einer Evaluation zu<br />

unterziehen sein (Art. 9).<br />

Die partielle allgemeine Ausrichtung klammert die maßgeblich<br />

von den wertpapierhandelsrechtlichen Fragestellungen<br />

abhängigen Delikte vorerst aus (Art. 3 und Art. 4). Diesbezügliche<br />

Diskussionen in den Gremien des Rates kreisen<br />

um die Frage, wie gewährleistet werden kann, dass die strafrechtlichen<br />

Sanktionen nur bei „schwersten Fällen“ („most<br />

serious facts“) greifen. Neben subjektiven Einschränkungen<br />

wird dabei erwogen, an die Höhe des Gewinns, an das Volumen<br />

des bemakelten Geschäfts, an den Kurseffekt der Manipulation<br />

und an die Pflichtwidrigkeit des Verhaltens anzuknüpfen<br />

(Art. 4 Abs. 3). Insider-Geschäfte sollen dann als<br />

schwerwiegend gelten, wenn die Insider-Informationen durch<br />

kriminelles oder anderweitig pflichtwidriges Verhalten erlangt<br />

wurden (Art. 3 Abs. 6 lit. b, d) oder wenn sie ein – nach<br />

Maßgabe des nationalen Rechts – werthaltiges Finanzinstrument<br />

betreffen (Art. 3 Abs. 6 lit. a). Ferner sollen Verstöße<br />

von Amtsträgern zu kriminalisieren sein (vgl. Art. 3 Abs. 6<br />

lit. c, Art. 4 Abs. 3 lit. b). 47 Im Lichte des nemo tenetur-<br />

Grundsatzes wird es für problematisch erachtet, dass die<br />

wertpapierhandelsrechtlichen Verordnungen umfangreiche<br />

Auskunfts- und Mitwirkungspflichten vorsehen. Hier hatte<br />

die Ratspräsidentschaft vorgeschlagen, ein Verwertungsverbot<br />

für Informationen zu normieren, die von einem Beschuldigten<br />

ohne gebührende Beachtung des Rechts auf Selbstbelastungsfreiheit<br />

erlangt wurden („collected from the suspected<br />

or accused person without due regard to the privilege<br />

against self-incrimination“). 48 Der aktuelle Kompromissvorschlag<br />

enthält jedoch keine solche Klausel, sondern weist<br />

lediglich darauf hin, dass die Verhängung von Administrativsanktionen<br />

nach der wertpapierhandelsrechtlichen Verord-<br />

45<br />

Vgl. zuvor Brodowski, <strong>ZIS</strong> 2011, 940 (945 f.); aus dezidiert<br />

strafrechtlicher Sicht s. zudem Schork/Reichling, StraFo<br />

2012, 125; s. ferner Hellgardt, AG 2012, 154; Kalss, EuZW<br />

2012, 361; Koch, BB 2012, 1365; Salewski, Gesellschaftsund<br />

Wirtschaftsrecht 2012, 265; Teigelack, BB 2012, 1361;<br />

Walla, BB 2012, 1358.<br />

46<br />

Ratsdok. 9019/12; s. zuvor KOM (2011) 654 endg. v.<br />

20.10.2010.<br />

47<br />

Ratsdok. 14511/12; zuvor Ratsdok. 12089/12.<br />

48<br />

Ratsdok. 12089/12.


Strafrechtsrelevante Entwicklungen in der Europäischen Union – ein Überblick<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

nung eine parallele Strafverfolgung unberührt lässt (Art.<br />

8a). 49<br />

Diese potentielle Parallelität von Administrativsanktionen<br />

und Kriminalstrafen betrachten einige Mitgliedstaaten im<br />

Lichte von Art. 4 Protokoll Nr. 7 zur EMRK, Art. 50 GRC<br />

(ne bis in idem) und der hierzu ergangenen Rechtsprechung<br />

des EGMR sowie des EuGH für grundsätzlich problematisch<br />

und verlangen, die Richtlinie und die Verordnung um Regelungen<br />

zu ergänzen, welche Konflikte zwischen den beiden<br />

Sanktionsmodellen ausschließen. 50<br />

Die Verhandlungen über die wertpapierhandelsrechtlichen<br />

Verordnungen haben im Vergleich zu den Vorschlägen der<br />

Kommission u.a. zu Ausnahmeregelungen für akzeptierte<br />

Marktpraktiken (Art. 8a), zu Ausnahmetatbeständen bei Insidergeschäften<br />

(Art. 7a) und zu einem Verbot der Verbreitung<br />

von Insiderinformationen außerhalb des dafür vorgesehenen<br />

Weges (Art. 7b) geführt. 51<br />

Ein erstes Stimmungsbild im Europäischen Parlament<br />

zeigte einerseits Kritik an der Reichweite der vorgesehenen<br />

Pönalisierungsverpflichtungen, besonders hinsichtlich der<br />

Fahrlässigkeitsdelikte und der Einführung einer Versuchsstrafbarkeit;<br />

andererseits aber seien Mindesthöchststrafen zu<br />

definieren. Schließlich schlug die Kommission im Zuge der<br />

bekannt gewordenen Manipulationen des LIBOR-Benchmarks<br />

ihrerseits Änderungen vor: 52 Sie will auch derartige<br />

Praktiken bei Kriminalstrafe unterbunden wissen.<br />

Hinsichtlich des bestehenden Rechtsrahmens entschied der<br />

EuGH, 53 dass bei zeitlich gestreckten Entscheidungsvorgängen<br />

– im konkreten Fall handelte es sich um das Ausscheiden<br />

des Vorstandsvorsitzenden der Daimler AG – auch bereits<br />

Zwischenschritte Insider-Informationen darstellen und Publizitätspflichten<br />

nach sich ziehen können.<br />

3. Sexuelle Ausbeutung von Kindern, Kinderpornographie 54<br />

Rat und Europäisches Parlament nahmen den Kompromiss<br />

hinsichtlich der Richtlinie 2011/93/EU des Europäischen Parlaments<br />

und des Rates v. 13.12.2011 zur Bekämpfung des<br />

sexuellen Missbrauchs und der sexuellen Ausbeutung von<br />

Kindern sowie der Kinderpornografie sowie zur Ersetzung<br />

des Rahmenbeschlusses 2004/68/JI des Rates an. 55 Die Umsetzungsfrist<br />

läuft bis zum 18.12.2013 (Art. 27 Abs. 1); der<br />

49 Ratsdok. 14511/12.<br />

50 Ratsdok. 14598/12.<br />

51 Ratsdok. 14601/12; zuvor Ratsdok. 13313/12; Ratsdok.<br />

11183/12 sowie KOM (2011) 651 endg. v. 20.10.2010; KOM<br />

(2011) 652 endg. v. 20.10.2010.<br />

52 KOM (2012) 420 endg. v. 30.7.2012; KOM (2012) 421<br />

endg. v. 30.7.2012.<br />

53 EuGH, Urt. v. 28.6.2012 – C-19/11 (Geltl v. Daimler AG)<br />

m. Anm. u. Bespr. Kocher/Widder, BB 2012, 1817; Schall,<br />

ZIP 2012, 1288; Szesny, Gesellschafts- und Wirtschaftsrecht<br />

2012, 292.<br />

54 Vgl. zuvor Brodowski, <strong>ZIS</strong> 2011, 940 (945); s. zudem<br />

Brand, DRiZ 2011, 318.<br />

55 ABl. EU 2011 Nr. L 335, S. 1; Berichtigung des Titels in<br />

ABl. EU 2011 Nr. L 18, S. 7.<br />

begrenzte Umsetzungsbedarf in Deutschland wurde bereits<br />

zuvor skizziert. 56<br />

4. Gegenseitige Anerkennung von Visa und Fahrerlaubnissen<br />

Zwei aktuelle Entscheidungen des EuGH betreffen die Frage,<br />

inwieweit administrative Entscheidungen eines anderen Mitgliedstaates<br />

– auch wenn diese unter tatsächlichen oder rechtlichen<br />

Mängeln leiden – anzuerkennen sind und somit einer<br />

strafrechtlichen Ahndung entgegenstehen: In einem (beschleunigten)<br />

Vorabentscheidungsverfahren befand der Gerichtshof,<br />

dass jemand auch dann wegen Einschleusens von Ausländern<br />

bestraft werden kann, wenn die eingeschleusten Drittstaatsangehörigen<br />

über ein Visum verfügen, das sie durch arglistige<br />

Täuschung erlangt haben und das nicht zuvor annulliert<br />

worden ist. Einem solchen erschlichenen Visum kommt mithin<br />

– auch im europäisierten Visakodex – keine Sperrwirkung<br />

zu. 57 Anders jedoch die vom Gerichtshof fortgesetzte<br />

Rechtsprechung hinsichtlich der Anerkennung von Fahrerlaubnissen<br />

der zufolge von anderen Mitgliedstaaten ausgestellte<br />

Fahrerlaubnisse grundsätzlich anzuerkennen sind. Eine<br />

Ausnahme erkennt der Gerichtshof lediglich dann an, wenn<br />

der Inhaber der Fahrerlaubnis zum Zeitpunkt deren Erteilung<br />

keinen Wohnsitz im ausstellenden Mitgliedstaat hatte. Dieser<br />

Umstand muss jedoch aufgrund von unbestreitbaren, vom<br />

Ausstellungsmitgliedstaat herrührenden Informationen feststehen.<br />

58<br />

5. Sicherstellung und Einziehung von Vermögen<br />

Mit ihrem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen<br />

Parlaments und des Rates über die Sicherstellung und Einziehung<br />

von Erträgen aus Straftaten in der Europäischen Union<br />

59 intendiert die Kommission, den bestehenden europäischen<br />

Rechtsrahmen 60 nur teilweise zu ersetzen, so dass eine<br />

56 Brodowski, <strong>ZIS</strong> 2011, 940 (945).<br />

57 EuGH, Urt. v. 10.4.2012 – C-83/12 PPU (Minh Khoa Vo).<br />

58 EuGH, Urt. v. 1.3.2012 – C-467/10 (Akyüz) m. Anm.<br />

Dauer, NJW 2012, 1940.<br />

59 KOM (2012) 85 endg. v. 12.3.2012.<br />

60 Dies sind:<br />

Gemeinsame Maßnahme 98/699/JI v. 3.12.1998 betreffend<br />

Geldwäsche, die Ermittlung, das Einfrieren, die Beschlagnahme<br />

und die Einziehung von Tatwerkzeugen und Erträgen aus<br />

Straftaten (ABl. EG 1998 Nr. L 333, S. 1),<br />

Rahmenbeschluss des Rates 2001/500/JI v. 26.6.2001 über<br />

Geldwäsche sowie Ermittlung, Einfrieren, Beschlagnahme und<br />

Einziehung von Tatwerkzeugen und Erträgen aus Straftaten<br />

(ABl. EG 2001 Nr. L 182, S. 1),<br />

Rahmenbeschluss des Rates 2003/77/JI v. 22.7.2003 über die<br />

Vollstreckung von Entscheidungen über die Sicherstellung<br />

von Vermögensgegenständen oder Beweismitteln in der Europäischen<br />

Union (ABl. EU 2003 Nr. L 96, S. 45),<br />

Rahmenbeschluss des Rates 2005/212/JI v. 24.2.2005 über<br />

die Einziehung von Erträgen, Tatwerkzeugen und Vermögensgegenständen<br />

aus Straftaten (ABl. EU 2005 Nr. L 68, S. 49)<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

und<br />

Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />

563


Dominik Brodowski<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

weitere Fragmentierung des geltenden Rechts zu befürchten<br />

ist: Da sich das neue Instrument auf Art. 83 Abs. 1 AEUV<br />

stützt, kann es nur Vorgaben betreffend der Abschöpfung von<br />

Erträgen aus bestimmten Straftaten enthalten (Art. 2 Abs. 6);<br />

ferner ist zu vermuten, dass sich nicht alle Mitgliedstaaten an<br />

der Richtlinie beteiligen (vgl. Art. 14).<br />

Obwohl nur „begrenzte statistische Daten“ über die tatsächlichen<br />

Erträge aus Straftaten vorliegen, erachtet die<br />

Kommission die derzeitige Vermögensabschöpfung für unzureichend.<br />

Die Mitgliedstaaten sollen daher Maßnahmen ergreifen,<br />

so dass Tatwerkzeuge, Erträge aus – bestimmten<br />

(Art. 2 Abs. 6) – Straftaten (Art. 3 Abs. 1) und deren wirtschaftliche<br />

Surrogate (Art. 3 Abs. 2) nach rechtskräftigen<br />

Verurteilungen eingezogen werden können. Darüber hinausgehend<br />

sollen Vermögenswerte abgeschöpft werden können,<br />

wenn „ein Gericht es aufgrund konkreter Tatsachen für wesentlich<br />

wahrscheinlicher hält, dass die betreffenden Vermögensgegenstände<br />

aus ähnlichen kriminellen Aktivitäten der<br />

verurteilten Person stammen und nicht aus anderen Tätigkeiten“<br />

(Art. 4 Abs. 1) – es soll also nicht auf die Überzeugung<br />

des Gerichts ankommen, sondern auf den in ausländischen<br />

Zivilrechtsordnungen üblichen Standard einer überwiegenden<br />

Wahrscheinlichkeit (preponderance of evidence). Diese sehr<br />

weitgehende Möglichkeit einer Vermögensabschöpfung solle<br />

nur dann nicht möglich sein, wenn diese andere (vermutete)<br />

Tat verjährt oder bereits abgeurteilt ist (Art. 4 Abs. 2). Im<br />

Vorfeld sollen die Mitgliedstaaten Möglichkeiten zur Sicherstellung<br />

vorhalten, die bei Gefahr in Verzug auch ohne vorherige<br />

richterliche Anordnung ergriffen werden können (Art.<br />

7).<br />

Der Rat der Europäischen Union – Justiz und Inneres –<br />

begrüßte in einer ersten Stellungnahme diesen Vorschlag.<br />

Manche Mitgliedstaaten und Mitglieder des Europäischen<br />

Parlaments schlagen jedoch vor, die Abschöpfung von Vermögensgegenständen<br />

noch weitergehend am aufgezeigten<br />

„zivilrechtlichen“ Modell (civil forfeiture) , d.h. mit variableren<br />

Anforderungen an das Beweismaß, zu orientieren und<br />

selbst nach einem Freispruch eine Vermögensabschöpfung<br />

vornehmen zu können, wenn nur die überwiegende Wahrscheinlichkeit<br />

für die Inkriminierung des Vermögens spreche.<br />

So wirbt Irland für seine zwei parallel anwendbaren Verfahrensmodelle,<br />

die sich nicht nur in personam gegen verurteilte<br />

Personen, sondern auch in rem gegen inkriminiertes Vermögen<br />

richten. 61 Indes wird erwogen, die erweiterte Vermögensabschöpfung<br />

nach Art. 4 an das Vorliegen weiterer<br />

Merkmale – wie etwa eine Mindestfreiheitsstrafe, einen Mindestbetrag<br />

an abzuschöpfendem Vermögen oder das Vorliegen<br />

eines schweren Falles – zu knüpfen. 62<br />

Rahmenbeschluss des Rates 2006/783/JI v. 6.10.2006 über<br />

die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung<br />

auf Einziehungsentscheidungen (ABl. EU 2006 Nr. 328,<br />

S. 59).<br />

61 Ratsdok. 10759/12; s. hierzu auch die Antwort Finnlands,<br />

Ratsdok. 11965/12, sowie das Diskussionspapier Ratsdok.<br />

12680/12.<br />

62 Ratsdok. 14826/12.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

564<br />

<strong>ZIS</strong> 11/2012<br />

In engem thematischem Zusammenhang steht ein Diskussionspapier<br />

der zypriotischen Ratspräsidentschaft über die<br />

Effektuierung von Finanzermittlungen, das die Einführung<br />

eines automatisierten Abrufsystems von Kontoinformationen<br />

(in Deutschland § 24c KWG) in sämtlichen Mitgliedstaaten<br />

anregt. 63<br />

6. Schutz geistigen Eigentums<br />

Auf Vorlage des 1. Strafsenats des BGH 64 hatte der Gerichtshof<br />

in einem Verfahren zu urteilen, in dem das maßgebliche<br />

Verhalten – der Vertrieb von Einrichtungsgegenständen im<br />

„Bauhaus“-Stil – am Erfolgsort (Deutschland) strafrechtlich<br />

relevant war, am Handlungsort (Italien) jedoch nicht. Der<br />

Gerichtshof befand, dass sich der Händler nicht auf das niedrigere<br />

urheberrechtliche Schutzniveau in Italien berufen dürfe,<br />

da er sein Gewerbe maßgeblich auf den anderen Mitgliedstaat<br />

(Deutschland) ausgerichtet habe: so etwa durch zielgerichtete<br />

Werbung, spezifische Lieferungssysteme und „spezifische<br />

Zahlungsmodalitäten“. 65<br />

IV. Strafverfahrensrecht<br />

1. Beschuldigtenrechte – Übersicht<br />

Auf dem Internetportal e-Justice der Kommission sind zusammenfassende<br />

Informationen über die Rechte von Beschuldigten<br />

in Strafverfahren für jedes der 27 Mitgliedstaaten der<br />

Europäischen Union veröffentlicht 66 und werden nun nach<br />

und nach in die verschiedenen Amtssprachen übersetzt. Diese<br />

dienen nicht nur Beschuldigten als erste Information über die<br />

ihnen drohenden Verfahrensschritte, sondern können auch für<br />

Verteidiger, Strafverfolger und Gerichte einen nützlichen<br />

Ausgangspunkt darstellen für die Bearbeitung transnationaler<br />

Sachverhalte.<br />

2. Recht auf Belehrung in Strafverfahren 67<br />

Rat und Europäisches Parlament konnten sich auf einen Kompromiss<br />

hinsichtlich einer Richtlinie über das Recht auf Belehrung<br />

in Strafverfahren einigen, 68 welche der Gewährleistung<br />

und auch der Fortentwicklung des Mindeststandards an<br />

Belehrungspflichten dient, wie sie bereits Art. 5 Abs. 2,<br />

Art. 6 Abs. 3 lit. a EMRK und die korrespondierende Rechtsprechung<br />

des EGMR vorsehen. Der ursprüngliche Kommissionsvorschlag<br />

69 ist in mehrerlei Hinsicht entschärft: So sind<br />

63 Ratsdok. 14597/12.<br />

64 BGH NStZ-RR 2011, 178.<br />

65 EuGH, Urt. v. 21.6.2012 – C-5/11 (Donner).<br />

66 e-justice.europa.eu/content_rights_of_defendants_in_criminal_proceedings_-169-de.do<br />

(Stand: 31.10.2012).<br />

67 Vgl. zuvor Brodowski, <strong>ZIS</strong> 2011, 940 (946 f.); s. zudem<br />

Corell/Sidhu, StV 2012, 246; Gatzweiler, StraFo 2011, 293;<br />

Philipp, EuZW 2012, 84. Allgemein zum „Fahrplan zur Stärkung<br />

der Verfahrensrechte von Verdächtigten oder Beschuldigten“<br />

(ABl. EU 2009 Nr. C 295, S. 1) Blackstock, European<br />

Criminal Law Review 2 (2012), 20; Spronken, European<br />

Criminal Law Review 1 (2011), 212.<br />

68 ABl. EU 2012 Nr. L 142, S. 1.<br />

69 KOM (2010) 392 endg. v. 20.7.2010.


Strafrechtsrelevante Entwicklungen in der Europäischen Union – ein Überblick<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

Bußgeldverfahren vor einer Verwaltungsbehörde aus dem Anwendungsbereich<br />

der Richtlinie ausgenommen (Art. 2 Abs. 2),<br />

so ist eine schriftliche Belehrung – etwa unter Zuhilfenahme<br />

des im Anhang beigefügten Musters – nur bei einer Festnahme<br />

erforderlich (Art. 4). Die ursprünglich vorgesehenen, weitgehenden<br />

Akteneinsichtsrechte wurden aufgeweicht (Art. 7):<br />

So ist Untersuchungshäftlingen bzw. ihren Verteidigern nur<br />

Einsicht in solche Aktenbestandteile zu gewähren, die für die<br />

Haftprüfung essenziell seien. Für das Hauptverfahren wurde<br />

eine merkwürdige Formel vereinbart: Einerseits ist davon die<br />

Rede, dass dem Beschuldigten oder seinem Verteidiger „Einsicht<br />

in zumindest [sic!] alle im Besitz der zuständigen Behörden<br />

befindlichen Beweismittel [...] gewährt wird“, andererseits<br />

wird dies durch die Inbezugnahme des fairen Verfahrens<br />

einer Abwägungslösung zugeführt („um ein faires Verfahren<br />

zu gewährleisten“), die in Art. 7 Abs. 3 näher ausgeführt<br />

wird. Schließlich wurde der Vorschlag der damaligen<br />

ungarischen Ratspräsidentschaft aufgegriffen, dass allein auf<br />

innerstaatliche Rechtsbehelfe verwiesen wird, mit denen die<br />

Verweigerung von Akteneinsicht gerügt werden kann (Art. 8<br />

Abs. 2). Die Richtlinie ist bis zum 2.6.2014 umzusetzen (Art.<br />

11 Abs. 1). 70<br />

3. Recht auf Rechtsbeistand in Strafverfahren und auf Kontaktaufnahme<br />

bei der Festnahme 71<br />

In Bezug auf den Vorschlag für [eine] Richtlinie des Europäischen<br />

Parlaments und des Rates über das Recht auf Rechtsbeistand<br />

in Strafverfahren und das Recht auf Kontaktaufnahme<br />

bei der Festnahme 72 wies die dänische Ratspräsidentschaft<br />

darauf hin, dass in dieser Richtlinie im Vordergrund<br />

stehe, ob ein Verteidiger beteiligt und inwieweit – insbesondere<br />

inhaftierten Beschuldigten – Unterstützung bei der Suche<br />

nach einem Verteidiger gewährt werden müsse. Fragen<br />

der Pflichtverteidigung seien hiervon im Ausgangspunkt zu<br />

trennen. Der Rat der Europäischen Union – Justiz und Inneres<br />

– erzielte auf seiner 3172. Tagung am 7./8.6.2012 eine<br />

allgemeine Ausrichtung, 73 die sich signifikant vom Vorschlag<br />

der Kommission unterscheidet: Geringfügige Verfahren, die<br />

nur zu einer Geldbuße oder -strafe führen können, seien prinzipiell<br />

aus dem Anwendungsbereich der Richtlinie auszunehmen<br />

(Art. 2 Abs. 3, Abs. 4). Es sei primär eine Frage des<br />

nationalen Rechts, bei welchen Ermittlungsmaßnahmen ein<br />

Verteidiger anwesend sein dürfe; die Richtlinie soll dies nur<br />

bei Vernehmungen, Gegenüberstellungen, Konfrontationen<br />

und Tatrekonstruktionen vorschreiben (Art. 3 Abs. 3 lit. b<br />

und c); ferner sei zwischen inhaftierten und nicht inhaftierten<br />

70 Zur Umsetzung dieser Richtlinie und der Richtlinie<br />

2010/64/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom<br />

20. Oktober 2010 über das Recht auf Dolmetschleistungen<br />

und Übersetzungen in Strafverfahren (ABl. EU 2010 Nr. L<br />

280, S. 1) legte das Bundesministerium der Justiz kürzlich<br />

einen Referentenentwurf vor, der nur geringfügigen Anpassungen<br />

im GVG und in der StPO vorsieht.<br />

71 Vgl. zuvor Brodowski, <strong>ZIS</strong> 2011, 940 (947 f.); s. zudem<br />

Corell/Sidhu, StV 2012, 246; Gatzweiler, StraFo 2011, 293.<br />

72 Kommissionsvorschlag KOM (2011) 326 endg. v. 8.6.2011.<br />

73 Ratsdok. 10467/12.<br />

Beschuldigten (s. etwa Art. 3 Abs. 4) zu differenzieren. An<br />

die Stelle einer Kontaktaufnahme durch den Beschuldigten<br />

selbst tritt die Benachrichtigung einer vom Beschuldigten benannten<br />

Person durch die Ermittlungsbehörden (Art. 5). Diese<br />

Benachrichtigung und auch die Hinzuziehung eines Verteidigers<br />

sollen von den Ermittlungsbehörden aufgeschoben<br />

werden dürfen, wenn dies aus „zwingenden Gründen“ erforderlich<br />

sei und die Fairness des Verfahrens nicht beeinträchtige<br />

(Art. 3 Abs. 5, Art. 4 Abs. 2, Art. 5 Abs. 3, jeweils i.V.m.<br />

Art. 7). Anstelle des ursprünglich vorgesehenen Beweisverwertungsverbots<br />

bei Verstößen und anstelle einer zwischenzeitlich<br />

diskutierten, an der Fairness des gesamten Verfahrens<br />

orientierten Abwägungslösung, verweist der Entwurf nur noch<br />

auf einen nach nationalem Recht auszugestaltenden „effektiven<br />

Rechtsbehelf“ bei Verstößen gegen das Recht auf Rechtsbeistand.<br />

Aus dem Europäischen Parlament ist zu vernehmen,<br />

dass dessen Verhandlungsposition für den nun anstehenden<br />

Trilog sich eher an dem Kommissionsentwurf – und damit an<br />

einer weitreichenden Stärkung des Rechts auf einen Rechtsbeistand<br />

– orientiert. Daher gestaltet sich der Trilog bislang<br />

ausgesprochen zäh.<br />

4. Stärkung der Rechte und des Schutzes von Opfern, insbesondere<br />

in Strafverfahren 74<br />

Rat und Europäisches Parlament konnten sich auf einen Kompromiss<br />

hinsichtlich einer Richtlinie des Europäischen Parlaments<br />

und des Rates über Mindeststandards für die Rechte<br />

und den Schutz von Opfern von Straftaten sowie für die Opferhilfe<br />

75 einigen. Im Vergleich zum Kommissionsvorschlag<br />

sieht die Richtlinie nicht länger einen gerichtlichen Rechtsbehelf<br />

des Opfers gegen eine Verfahrenseinstellung vor; eine<br />

Überprüfung soll auch durch eine Verwaltungsbehörde oder<br />

die jeweils oberste Strafverfolgungsbehörde, etwa die Generalstaatsanwaltschaften,<br />

erfolgen können. Bei Einstellungen<br />

nach dem Opportunitätsprinzip, die mit Zustimmung des<br />

Beschuldigten erfolgen („out-of-court settlements“), ist eine<br />

Überprüfungsmöglichkeit – im Einklang mit der Rechtslage<br />

in Deutschland – ohnehin nicht zu gewährleisten (Art. 10<br />

Abs. 3). Ferner wurden einerseits die Mitteilungspflichten<br />

entschärft. So ist eine Begründungspflicht bei Verfahrenseinstellungen<br />

oder Freisprüchen nicht länger vorgesehen, wenn<br />

diese auch im nationalen Recht nicht gegeben ist. Andererseits<br />

ist nunmehr das Opfer über die Freilassung oder Flucht<br />

des Täters aus der Untersuchungs- oder Strafhaft zu verständigen<br />

(Art. 5 Abs. 2). Beibehalten wurden umfassende Belehrungspflichten<br />

(Art. 3) und differenzierte Bestimmungen<br />

hinsichtlich Dolmetschleistungen (Art. 4 Abs. 2 und 3; Art.<br />

7). Ob für eine Nebenklage Prozesskostenhilfe gewährt wird,<br />

soll sich nach nationalem Recht richten (Art. 12).<br />

74 Vgl. zuvor Brodowski, <strong>ZIS</strong> 2011, 940 (949 f.). Zu dem<br />

a.a.O. referierten Urt. des EuGH v. 15.9.2011 – C-483/09 und<br />

C-1/10 s. nunmehr Schmälzger, European Law Reporter<br />

2011, 301.<br />

75 Ratsdok. 11702/12; Ratsdok. 13617/12 sowie PE-CONS<br />

37/12.<br />

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565


Dominik Brodowski<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

Hinsichtlich des bestehenden Rahmenbeschlusses, 76 der<br />

durch die Richtlinie abgelöst werden soll, befand der Gerichtshof,<br />

dass dieser die Mitgliedstaaten nicht dazu verpflichte,<br />

auf Antrag eines besonders gefährdeten Opfers ein<br />

besonderes „Beweissicherungsverfahren“ – man denke in<br />

Deutschland etwa an eine richterliche Zeugenvernehmung –<br />

durchzuführen. 77 Des Weiteren beziehe sich die Maßgabe,<br />

dass „Opfer einer Straftat ein Recht darauf haben, […] eine<br />

Entscheidung über die Entschädigung durch den Täter zu<br />

erwirken“ (Art. 9 Abs. 1), nur auf natürliche Personen, nicht<br />

hingegen auf Zuwiderhandlungen juristischer Personen. 78<br />

Auch den Opferbegriff begrenzte der Gerichtshof auf natürliche<br />

Personen. 79 Präjudizwirkung entfaltet all dies für die<br />

Richtlinie jedoch nicht, doch auch diese spricht hinsichtlich<br />

des Opfers ausdrücklich nur von „natürlichen Personen“<br />

(Art. 2 Abs. 1 lit. a sublit. i) und auch auf diese lässt sich die<br />

Begründungslinie des Gerichtshofs übertragen, denn wie der<br />

Rahmenbeschluss zwingt auch die Richtlinie nicht zur Einführung<br />

einer strafrechtlichen Verantwortlichkeit juristischer<br />

Personen, was dem Gerichtshof zufolge ein wesentlicher Anhaltspunkt<br />

dafür ist, dass dieser auch generell nicht auf Straf-<br />

oder Bußgeldverfahren gegen juristische Personen anwendbar<br />

sei.<br />

5. Vorratsdatenspeicherung von Telekommunikations-<br />

Verbindungsdaten 80<br />

Gegen Deutschland erhob die Kommission am 31.5.2012 eine<br />

Vertragsverletzungsklage wegen nicht ordnungsgemäßer<br />

Umsetzung der bestehenden Richtlinie. 81 In einem weiteren<br />

Verfahren vor dem Gerichtshof ersucht der High Court of Ireland<br />

in einem Vorabentscheidungsverfahren die Klärung der<br />

Frage, ob die Pflicht zur Vorratsdatenspeicherung von Verbindungsdaten<br />

verhältnismäßig und mit der Grundrechtecharta<br />

vereinbar ist. 82<br />

Im Hinblick auf die zunächst für 2012 geplante, nun aber<br />

auf 2013 verschobene 83 Überarbeitung der Vorratsdatenspeicherungs-Richtlinie<br />

84 weist eine vertrauliche Information der<br />

76<br />

Rahmenbeschluss 2001/220/JI des Rates v. 15.3.2001 über<br />

die Stellung des Opfers im Strafverfahren = ABl. EG 2001<br />

Nr. L 82, S. 1.<br />

77<br />

EuGH, Urt. v. 21.12.2011 – C-507/10 (X).<br />

78<br />

EuGH, Urt. v. 12.7.2012 – C-79/11 (Giovanardi) = NJW<br />

2012, 2418.<br />

79<br />

EuGH, Urt. v. 21.10.2010 – C-205/09 (Eredics und Sápi)<br />

m. Anm. u. Bespr. Bock, JZ 2011, 469; Moalem, European<br />

Law Reporter 2011, 156; EuGH, Urt. v. 28.6.2007 – C-467/<br />

05 (Dell’Orto).<br />

80<br />

Vgl. zuvor Brodowski, <strong>ZIS</strong> 2011, 940 (948); s. zudem<br />

Breyer, MMR 9/2011, V; Petri, DuD 2011, 607; Rettenmaier/Palm,<br />

<strong>ZIS</strong> 2012, 469 (472 f.); Zeitzmann, Zeitschrift für<br />

Europarechtliche Studien 2011, 433.<br />

81<br />

Rs. C-329/12.<br />

82<br />

Rs. C-293/12; s. hierzu auch Ratsdok. 12785/12.<br />

83<br />

S. bereits oben II. 2. bei und mit Fn. 17.<br />

84<br />

Richtlinie 2006/24/EG des europäischen Parlaments und<br />

des Rates v. 15.3.2006 über die Vorratsspeicherung von Daten,<br />

die bei der Bereitstellung öffentlich zugänglicher elekt-<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

566<br />

<strong>ZIS</strong> 11/2012<br />

Kommission darauf hin, dass die bislang von den Mitgliedstaaten<br />

übermittelten Angaben nicht ausreichen, um die Notwendigkeit<br />

und den Nutzen der Vorratsdatenspeicherung empirisch<br />

belegen zu können. Ferner stellt sie fest, dass manche<br />

Datentypen derzeit noch nicht vorgehalten werden müssen,<br />

etwa Instant Messaging sowie Up- und Downloads. Die meisten<br />

Anfragen richteten sich auf die Zuordnung von dynamischen<br />

IP-Adressen auf Bestandsdaten; die vergleichsweise<br />

geringe Nutzung anderer Datentypen – etwa auf Anfragen,<br />

wer wann mit wem per E-Mail kommuniziert habe – kommentiert<br />

die Kommission mit der Mutmaßung, insoweit könne<br />

es an Ausbildung oder Ermittlungskapazitäten mangeln. 85<br />

Insbesondere die letzten beiden Aspekte lassen aufhorchen:<br />

Eine Vorratsdatenspeicherung auch sämtlicher Up- und Downloads<br />

würde bedeuten, dass auch alle Besuche auf Webseiten<br />

für mindestens sechs Monate nachzuvollziehen wären. Die<br />

vorrangige Nutzung von Vorratsdaten zur Zuordnung von IP-<br />

Adressen zu Bestandsdaten wiederum unterstreicht den vordringlichen<br />

Bedarf, für diesen begrenzten Zweck ein Ermittlungsinstrument<br />

vorzuhalten. Hingegen ist es durchwegs zu<br />

begrüßen, dass von der – datenschutz- und menschenrechtlich<br />

weitaus gefährlicheren – Ausforschung des Kommunikationsumfelds<br />

eines Beschuldigten nur zurückhaltend Gebrauch<br />

gemacht wird.<br />

6. Vorratsdatenspeicherung von Fluggastdatensätzen (PNR) 86<br />

Der Rat der Europäischen Union – Justiz und Inneres – erzielte<br />

auf seiner 3162. Tagung am 26./27.4.2012 eine allgemeine<br />

Ausrichtung hinsichtlich des Vorschlags für eine<br />

Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über<br />

die Verwendung von Fluggastdatensätzen zu Zwecken der<br />

Verhütung, Aufdeckung, Aufklärung und strafrechtlichen Verfolgung<br />

von terroristischen Straftaten und schwerer Kriminalität.<br />

87 Seine Verhandlungsposition im nun folgenden Trilog<br />

zielt darauf ab, den Mitgliedstaaten die Möglichkeit einzuräumen,<br />

das an sich nur für die EU-Außengrenzen überschreitende<br />

Flüge gedachte System auch auf innereuropäische Flüge<br />

zu erstrecken. Ferner soll nach Auffassung des Rates die<br />

Speicherdauer auf fünf Jahre festgelegt werden, wobei nach<br />

zwei Jahren ein Zugriff auf den Klarnamen und auf sonstige<br />

personenbezogene Daten dem Vorbehalt einer vorherigen<br />

Genehmigung durch einen Richter oder durch eine andere, im<br />

nationalen Recht hierfür vorgesehenen Stelle unterliegen soll.<br />

ronischer Kommunikationsdienste oder öffentlicher Kommunikationsdienste<br />

erzeugt oder verarbeitet werden, und zur<br />

Änderung der Richtlinie 2002/58/EG = ABl. EU 2006 Nr. L<br />

105, S. 54; Evaluation in KOM (2011) 225 endg. v. 18.4.<br />

2011.<br />

85 Ratsdok. 18620/11.<br />

86 Vgl. zuvor Brodowski, <strong>ZIS</strong> 2011, 940 (948 f.).<br />

87 I.d.F. Ratsdok. 8196/12; s. zuvor KOM (2011) 32 endg. v.<br />

2.2.2011.


Strafrechtsrelevante Entwicklungen in der Europäischen Union – ein Überblick<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

7. EU-System zum Aufspüren der Terrorismusfinanzierung<br />

(EU-TFTP) 88<br />

Nach wie vor werden Meinungsverschiedenheiten zwischen<br />

den Mitgliedstaaten hinsichtlich der Erforderlichkeit und<br />

Zweckmäßigkeit eines eigenen europäischen Systems zum<br />

Aufspüren der Terrorismusfinanzierung (EU-TFTP) deutlich.<br />

Einerseits wird hervorgehoben, dass durch ein europäisches<br />

System die Notwendigkeit des Transfers größerer Mengen<br />

personenbezogener Daten – auch Unschuldiger – an Drittstaaten<br />

vermieden werden könnte. Andererseits jedoch werden<br />

die hohen Kosten eines solchen Systems betont. Letzteres<br />

ziehen manche Mitgliedstaaten als Argument dafür heran, das<br />

System auch zum Aufspüren anderer Kriminalitätsformen<br />

heranzuziehen. 89<br />

8. Freizügigkeit, Ausreiserestriktionen und Ausweisungsverfügungen<br />

Der Gerichtshof stellte erneut klar, dass die Freizügigkeit<br />

(Art. 21 AEUV, Art. 27 Freizügigkeitsrichtlinie 90 ) auch zur<br />

Verhütung von Straftaten eingeschränkt werden dürfe. Diese<br />

Grundfreiheit stehe nationalen Ausreiserestriktionen nicht entgegen,<br />

die verurteilten Straftätern die Ausreise verwehren,<br />

jedenfalls sofern erstens das persönliche Verhalten dieses<br />

Staatsangehörigen eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche<br />

Gefahr darstellt, zweitens die Ausreiserestriktion verhältnismäßig<br />

ist und drittens eine gerichtliche Überprüfung<br />

der Ausreiserestriktion im Einzelfall möglich ist. 91<br />

Die Große Kammer urteilte auf eine Vorlage des OVG<br />

NRW, dass von einem ausländischen Unionsbürger begangene<br />

„Straftaten wie die in Art. 83 Abs. 1 Unterabs. 2 AEUV angeführten<br />

als besonders schwere Beeinträchtigung eines grundlegenden<br />

gesellschaftlichen Interesses“ angesehen werden dürfen<br />

und somit „zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit“<br />

i.S.d. Art. 28 Abs. 3 Freizügigkeitsrichtlinie darstellen<br />

können, welche eine Ausweisungsverfügung und somit eine<br />

Einschränkung der Freizügigkeit rechtfertigen könne. 92<br />

88<br />

Vgl. zuvor Brodowski, <strong>ZIS</strong> 2011, 940 (950).<br />

89<br />

Ratsdok. 18287/11; zuvor KOM (2011) 429 endg. v. 13.7.<br />

2011.<br />

90<br />

Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und<br />

des Rates v. 29.4.2004 über das Recht der Unionsbürger und<br />

ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten<br />

frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung<br />

der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der<br />

Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/<br />

148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/<br />

EWG und 93/96/EWG =ABl. EU 2004 Nr. L 158, S. 123.<br />

91<br />

EuGH, Urt. v. 17.11.2011 – C-430/10.<br />

92<br />

EuGH, Urt. v. 22.5.2012 – C-348/09 (P.I. v. Oberbürgermeisterin<br />

der Stadt Remscheid).<br />

9. Ne bis in idem – Art. 50 GRC, Art. 54 SDÜ 93<br />

Dem EuGH liegt die Frage zur Entscheidung vor, ob das aus<br />

Art. 50 GRC folgende Doppelbestrafungsverbot einer strafrechtlichen<br />

Verurteilung entgegensteht, wenn gegen den Täter<br />

zuvor wegen derselben unrichtigen Angaben ein Steuerzuschlag,<br />

also eine wirtschaftliche Sanktion, festgesetzt wurde.<br />

94 Problematisch ist, wie Generalanwalt Villalón in seinen<br />

Schlussanträgen herausarbeitet, bereits die Zulässigkeit der<br />

Vorlage, weil die Grundrechtecharta nur bei der „Durchführung<br />

des Rechts der Union“ (Art. 51 Abs. 1 GRC) anwendbar<br />

sei. Auch wenn das Strafverfahren eine Materie – hier die<br />

Umsatzsteuer – betreffe, die einer europarechtlichen Harmonisierung<br />

unterworfen sei, genüge dies laut Villalón für sich<br />

genommen nicht, um die „Verteilung der Verantwortlichkeit<br />

für die Gewährleistung der Grundrechte zwischen der Union<br />

und den Staaten“ zu verlagern. Mithin sei die Vorlage unzulässig;<br />

hilfsweise auch unbegründet, soweit nämlich die vorherige<br />

verwaltungsrechtliche Sanktion bei der Strafzumessung<br />

berücksichtigt werden kann.<br />

V. Zusammenarbeit in Strafsachen<br />

1. Europäischer Haftbefehl 95<br />

Der britische Staatsbürger West war von französischen, ungarischen<br />

und finnischen Behörden jeweils mit einem Europäischen<br />

Haftbefehl gesucht worden, weil er in den jeweiligen<br />

Staaten des Diebstahls historischer Bücher verdächtigt<br />

wurde bzw. bereits in absentia verurteilt worden war. Er<br />

wurde von Großbritannien zunächst an Ungarn ausgeliefert.<br />

Nach Verbüßung der ungarischen Freiheitsstrafe wurde er mit<br />

Zustimmung der britischen Behörden nach Finnland überstellt.<br />

Da er nun auch die finnische Freiheitsstrafe verbüßt<br />

hat, stellt sich die Frage, ob West von Finnland nach Frankreich<br />

überstellt werden darf. Da West seiner Überstellung<br />

nicht zustimmte, ist gem. Art. 28 Abs. 2 RbEuHb 96 hierfür<br />

grundsätzlich die „Zustimmung des Vollstreckungsmitgliedstaats“<br />

97 erforderlich: Ungarn stimmte zu, Großbritannien hingegen<br />

nicht. Der Gerichtshof entschied auf Vorlage des finnischen<br />

Gerichts, dass die Zustimmung des zuletzt beteiligten<br />

93<br />

Vgl. hierzu – aus neuerer Zeit – BVerfG, Beschl. v. 15.12.<br />

2011 – 2 BvR 148/11 = NJW 2012, 1202; BGHSt 56, 11;<br />

Böse, GA 2011, 504; Bravo, New Journal of European Criminal<br />

Law 2 (2011), 393; Burchard/Brodowski, StraFo 2010,<br />

179; Eckstein, ZStW 124 (2012), 490; Hackner, NStZ 2011,<br />

425; Hecker, JuS 2012, 261; Merkel/Scheinfeld, <strong>ZIS</strong> 2012,<br />

206; Schomburg/Suominen-Picht, NJW 2012, 1190.<br />

94<br />

Rs. C-617/10 (Fransson).<br />

95<br />

Vgl. zuvor Brodowski, <strong>ZIS</strong> 2011, 940 (952). Zu dem a.a.O.<br />

referierten Urt. des EuGH v. 16.11.2010 – C-261/09 (Mantello)<br />

s. nunmehr Böse, HRRS 2012, 19.<br />

96<br />

Rahmenbeschluss 2002/584/JI des Rates v. 13.6.2002 über<br />

den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren<br />

zwischen den Mitgliedstaaten i.d.F. CONSLEG 2002F0584<br />

v. 28.3.2009.<br />

97<br />

Keiner der beteiligten Mitgliedstaaten hat von der Möglichkeit<br />

des Art. 28 Abs. 1 RbEuHb Gebraucht gemacht, auf<br />

dieses Recht zu verzichten.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

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567


Dominik Brodowski<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

Staates – hier also Ungarn – ausreiche. Auch wenn Ungarn<br />

seinerseits eine „[w]eitere Übergabe oder Auslieferung“<br />

vorgenommen hatte, sei die Zustimmung der britischen Behörden<br />

zum nunmehrigen Verfahren nicht notwendig. 98<br />

In einem weiteren Vorabentscheidungsersuchen urteilte<br />

der Gerichtshof über die Frage, ob eine mit §§ 80 Abs. 1 Nr.<br />

1, 83b Abs. 2 IRG vergleichbare französische Regelung mit<br />

Unionsrecht vereinbar ist, die eine Privilegierung eigener<br />

Staatsangehöriger vorsieht 99 : Die Vollstreckung eines Europäischen<br />

Haftbefehls kann gem. Art. 695-24 CPP von der<br />

Bedingung abhängig gemacht werden, dass eine später gegen<br />

einen französischen Staatsangehörigen verhängte Freiheitsstrafe<br />

sodann in Frankreich vollstreckt wird. Der Beschuldigte<br />

im vorliegenden Verfahren, ein Portugiese mit Wohnsitz in<br />

Frankreich, wehrt sich dagegen, dass er nicht den gleichen<br />

Schutz genieße. Der Gerichtshof folgte den Schlussanträgen<br />

des Generalanwalts Mengozzi: Die in Art. 4 Nr. 6 RbEuHb<br />

angelegte Möglichkeit, neben eigenen Staatsangehörigen auch<br />

im Inland residierende Personen zu privilegieren, verdichte<br />

sich im Lichte des allgemeinen Diskriminierungsverbots (Art.<br />

18 AEUV) zu einer Pflicht, nicht nur eigenen Staatsangehörigen<br />

den Ausschlussgrund des Art. 4 Nr. 6 RbEuHb zu gewähren,<br />

sondern – nach Maßgabe des Einzelfalls – dies auch<br />

auf Drittstaatsangehörige mit Wohnsitz und sozialen Bindungen<br />

im Inland zu erstrecken. Infolge dieses Urteils werden<br />

§§ 80 Abs. 1 Nr. 1, 83b Abs. 2 IRG unionsrechtskonform<br />

auszulegen sein.<br />

Ein rumänisches Vorabentscheidungsersuchen wirft die<br />

grundsätzliche Frage auf, ob die Ablehnungsgründe in Art. 4<br />

und Art. 5 RbEuHb abschließend sind oder ob sich aus der<br />

EMRK, auch in Verbindung mit der Grundrechtecharta, aus<br />

dem Verhältnismäßigkeitsprinzip oder aus einer unzureichenden<br />

Umsetzung des RbEuHb im Ausstellungsmitgliedstaat<br />

weitere Ablehnungsgründe ergeben können. 100<br />

Generalanwältin Sharpston zufolge sei bei Willkür und in<br />

sonstigen Ausnahmefällen über die in Art. 4 und Art. 5<br />

RbEuHb genannten Gründe eine Ablehnung möglich, „wenn<br />

nachgewiesen wird, dass die Menschenrechte der Person, die<br />

übergeben werden soll, bei oder nach dem Übergabeverfahren<br />

verletzt worden sind oder in Zukunft verletzt werden<br />

[… etwa, wenn] die Fairness des Verfahrens fundamental<br />

zerstört wird.“ Die bisherige Rechtsprechung des EuGH 101<br />

und auch die Schlussanträge des Generalanwalts Bot in einem<br />

aktuellen spanischen Vorabentscheidungsersuchen 102 legen<br />

jedoch nahe, dass der Katalog der Ablehnungsgründe abschließend<br />

ist und insbesondere nicht durch einen Verweis<br />

auf Art. 1 Abs. 3 RbEuHb, auf Art. 53 GRC oder auf nationales<br />

Verfassungsrecht erweitert werden kann. Sollte der Gerichtshof<br />

dieser Auffassung folgen, wäre somit auch der in<br />

98<br />

EuGH, Urt. v. 28.6.2012 – C-192/12 PPU (West).<br />

99<br />

Rs. C-42/11 (Lopes Da Silva Jorge).<br />

100<br />

Rs. C-396/11 (Radu).<br />

101<br />

EuGH, Urt. v. 16.11.2010 – C-261/09 (Mantello), NJW<br />

2011, 983; s. allgemein hierzu Böse, in: Grützner/Pötz/Kreß,<br />

IRG, 3. Aufl., 26. Lfg. 2012, Vor § 78 Rn. 25 m.w.N.<br />

102<br />

Rs. C-399/11 (Melloni); s. hierzu Tinsley, NJECL 3<br />

(2012), 19; Torres Pérez, ECLR 2012, 105.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

568<br />

<strong>ZIS</strong> 11/2012<br />

Deutschland vorgesehene Ablehnungsgrund des europäischen<br />

ordre public (§ 73 Abs. 2 IRG) in Gefahr.<br />

Im genannten spanischen Vorabentscheidungsersuchen<br />

vertritt Bot zudem die Auffassung, dass die Regelung in Art.<br />

4a RbEuHb hinsichtlich Verurteilungen in absentia mit Unionsrecht<br />

und mit der EMRK vereinbar ist. Auf die Problematik,<br />

dass die EMRK nur einen Mindeststandard darstellt, der<br />

unter Umständen einer Weiterentwicklung bedarf, geht Bot<br />

allerdings nur unzureichend ein. Es soll seiner Auffassung<br />

nach – auch aus dem Blickwinkel der menschenrechtlich<br />

gebotenen Verteidigungsrechte – somit jede der folgenden<br />

Alternativen ausreichen:<br />

� Der Angeklagte wurde vor Beginn des Verfahrens in<br />

absentia unter Androhung eines Abwesenheitsverfahrens<br />

„persönlich vorgeladen“ oder „auf andere Weise tatsächlich<br />

offiziell [...] unterrichtet“, wobei zudem „zweifelsfrei“<br />

feststehen muss, dass der Angeklagte „von der anberaumten<br />

Verhandlung Kenntnis hatte“ (Art. 4a Abs. 1 lit.<br />

a RbEuHb);<br />

� der Angeklagte wurde bei dem Verfahren in absentia<br />

durch einen von ihm mandatierten Rechtsbeistand verteidigt<br />

(Art. 4a Abs. 1 lit. b RbEuHb);<br />

� dem Verurteilten wurde nach dem Verfahren in absentia<br />

die Entscheidung zugestellt, er verzichtete aber auf ein<br />

Nachverfahren (Berufungs- oder Wiederaufnahmeverfahren)<br />

oder beantragte dies binnen der vorgesehenen Frist<br />

nicht (Art. 4a Abs. 1 lit. c RbEuHb); oder<br />

� dem Verurteilten wird während dem Auslieferungs- und<br />

Übergabeverfahren die Möglichkeit eingeräumt, ein solches<br />

Nachverfahren zu beantragen (Art. 4a Abs. 1 lit. d<br />

RbEuHb).<br />

2. Europäische Ermittlungsanordnung 103<br />

Der Ausschuss für Bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres<br />

(LIBE) des Europäischen Parlaments ließ am 8.5.2012 verlauten,<br />

dass er in der Europäische Ermittlungsanordnung in<br />

Strafsachen 104 gewisse Kontrollmöglichkeiten durch den<br />

Vollstreckungsstaat – insbesondere zur Gewährleistung der<br />

Verhältnismäßigkeit und anderer wesentlicher Verfahrensprinzipien<br />

– und damit eine Möglichkeit, im Einzelfall vom<br />

Prinzip der gegenseitigen Anerkennung abzuweichen, als<br />

Korrektiv in der Richtlinie verankert sehen möchte.<br />

Während die Verhandlungen hinsichtlich der Erwägungsgründe<br />

und der Anlagen (insbesondere also hinsichtlich der<br />

Formulare) in den Gremien des Rates noch andauern, 105<br />

103 Vgl. zuvor Brodowski, <strong>ZIS</strong> 2011, 940 (950 f.); s. ferner<br />

Heard/Mansell, New Journal of European Criminal Law 2<br />

(2011), 353.<br />

104 Initiative des Königreichs Belgien, der Republik Bulgarien,<br />

der Republik Estland, des Königreichs Spanien, der Republik<br />

Österreich, der Republik Slowenien und des Königreichs<br />

Schweden für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments<br />

und des Rates über die Europäische Ermittlungsanordnung<br />

in Strafsachen; partielle allgemeine Ausrichtung in<br />

Ratsdok. 11735/11; ursprünglich Ratsdok. 9145/10.<br />

105 Ratsdok. 7014/12.


Strafrechtsrelevante Entwicklungen in der Europäischen Union – ein Überblick<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

konnte eine weitere partielle allgemeine Ausrichtung auch zu<br />

den Regelungen der spezifischen Ermittlungsmaßnahmen<br />

erzielt werden. 106 Deren Regelungsinhalt lässt sich wie folgt<br />

skizzieren:<br />

a) Überstellung von Inhaftierten für die Durchführung von<br />

Ermittlungsmaßnahmen (Art. 19, 20)<br />

Auf Anordnung eines Mitgliedstaates können Inhaftierte in<br />

andere Mitgliedstaaten verbracht werden, um dort Ermittlungsmaßnahmen<br />

durchführen zu können, die seine Anwesenheit<br />

erfordern. Ist dies ein Ersuchen des Staates, in dem er inhaftiert<br />

ist, kann dies auch gegen seinen Willen erfolgen, andernfalls<br />

stellt seine Weigerung einen zwingenden Ausschlussgrund<br />

dar.<br />

b) Audiovisuelle Vernehmungen und Vernehmungen per<br />

Telefon (Art. 21, 22)<br />

Zeugen und Sachverständige sollen stets mittels einer Europäischen<br />

Ermittlungsanordnung audiovisuell oder via Telefonkonferenz<br />

angehört werden können, Beschuldigte hingegen<br />

nur, wenn dies mit dem nationalen ordre public vereinbar ist<br />

und wenn sie einwilligen. Zeugnisverweigerungsrechte sowohl<br />

des anordnenden als auch des durchführenden Staates<br />

sollen Anwendung finden (Meistbegünstigungsprinzip, Art. 21<br />

Abs. 6 lit. e). Die Mitgliedstaaten sollen dafür Sorge tragen,<br />

dass Falschaussagen oder die unberechtigte Verweigerung einer<br />

Aussage in gleicher Weise nach dem Recht des durchführenden<br />

Staates bestraft wird, als ob ein solches Delikt vor<br />

einem nationalen Gericht in einem nationalen Strafverfahren<br />

begangen würde.<br />

c) Kontenabruf, Abruf und Überwachung von Finanztransaktionen<br />

(Art. 23, 24, 27)<br />

Eine Europäische Ermittlungsanordnung soll auch zur Verfügung<br />

stehen, um Kontenstammdaten sowie von einem Konto<br />

ein- oder ausgehende Finanztransaktionen abfragen zu können.<br />

Insoweit wird dem anordnenden Mitgliedstaat eine erhöhte<br />

Begründungspflicht auferlegt, warum er diese Ermittlungsmaßnahme<br />

für zweckdienlich hält. Ergänzend sieht<br />

Art. 27 vor, dass Finanztransaktionen eines bestimmten Kontos<br />

auch laufend verdeckt überwacht werden können; etwas<br />

systemfremd ist an gleicher Stelle auch die Möglichkeit verdeckter<br />

(Drogen-)Lieferungen geregelt.<br />

d) Einsatz verdeckter Ermittler (Art. 27a)<br />

Mit einer Europäischen Ermittlungsanordnung sollen schließlich<br />

andere Mitgliedstaaten zu Unterstützungsleistungen beim<br />

Einsatz verdeckter Ermittler herangezogen werden können.<br />

Hierbei soll jedoch das Recht desjenigen Staates maßgeblich<br />

sein, in dem der Einsatz des verdeckten Ermittlers durchgeführt<br />

wird; kommt insoweit keine Einigung zwischen den<br />

beteiligten Mitgliedstaaten zustande, steht dem ersuchten<br />

Mitgliedstaat ein Ablehnungsgrund zu.<br />

106 Ratsdok. 18918/11.<br />

e) Telekommunikationsüberwachung (Art. 27b, Art. 27d)<br />

Die Regelungen zur verdeckten Telekommunikationsüberwachung<br />

orientieren sich an denjenigen, die bereits im EU-<br />

Rechtshilfeübereinkommen aus dem Jahr 2000 107 enthalten<br />

sind. Die Durchführung dieser Ermittlungsmaßnahme darf<br />

abgelehnt werden, wenn sie in einem vergleichbaren nationalen<br />

Ermittlungsverfahren nicht angeordnet werden würde<br />

(bzw. könnte); damit ergibt sich hier nicht nur aus Art. 10<br />

Abs. 1b lit. b), sondern auch unmittelbar aus Art. 27b Abs. 4,<br />

dass die Telekommunikationsüberwachung auch weiterhin<br />

vom Vorliegen eines Listendelikts i.S.d. § 100a Abs. 2 StPO,<br />

von einem Richtervorbehalt und zudem von einer Zweckmäßigkeitsprüfung<br />

abhängig ist. Eine Ermächtigungsgrundlage<br />

für eine Quellen-Telekommunikationsüberwachung enthalten<br />

Art. 27b, 27d nicht; Zugriffe auf Vorratsdaten unterliegen<br />

demselben Ablehnungsregime wie Zwangsmaßnahmen (Erwägungsgrund<br />

14g), mithin dem weiten Katalog von Ablehnungsgründen<br />

in Art. 10 Abs. 1b.<br />

3. Europäische Schutzanordnung; gegenseitige Anerkennung<br />

von Schutzmaßnahmen in Zivilsachen 108<br />

Die Richtlinie 2011/99/EU des Europäischen Parlaments und<br />

des Rates über die europäische Schutzanordnung, 109 die sich<br />

auf die gegenseitige Anerkennung von in Strafverfahren ergangenen,<br />

opferschützenden Anordnungen bezieht, ist von<br />

den Mitgliedstaaten bis zum 11.1.2015 umzusetzen.<br />

Der Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments<br />

und des Rates über die gegenseitige Anerkennung<br />

von Schutzmaßnahmen in Zivilsachen 110 war Gegenstand von<br />

Beratungen des Rats der Europäischen Union – Justiz und<br />

Inneres – auf dessen 3162. Tagung am 26./27.4.2012. Dabei<br />

stellte der Rat klar, dass das in dieser Verordnung zu entwickelnde<br />

System trotz der Vielzahl möglicher Schutzmaßnahmen<br />

und der Vielzahl potentiell beteiligter Akteure unkompliziert,<br />

schnell und flexibel funktionieren solle. Daher sei<br />

eine automatische gegenseitige Anerkennung der Schutzmaßnahmen<br />

erforderlich, eine förmliche Bestätigung der Anerkennung<br />

hingegen hinderlich. Opfer sollten ein Zertifikat erhalten,<br />

mit dem sie selbst Schutzmaßnahmen in anderen Mitgliedstaaten<br />

beantragen können, ohne dass es einer Übersetzung<br />

oder einer förmlichen Übermittlung durch den Ausstellungsstaat<br />

bedürfe.<br />

107 ABl. EG 2000 Nr. C 197, S. 3.<br />

108 Vgl. zuvor Brodowski, <strong>ZIS</strong> 2011, 940 (951 f.); s. zudem<br />

Brand, DRiZ 2011, 389; Jekewitz, Recht und Politik 2012, 80.<br />

109 ABl. EU 2011 Nr. L 338 v. 21.12.2011, S. 2.<br />

110 Ratsdok. 8913/12; zuvor KOM (2011) 276 endg. v.<br />

18.5.2011.<br />

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569


Dominik Brodowski<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

VI. Zusammenarbeit mit Drittstaaten und Internationalen<br />

Organisationen<br />

1. Island und Norwegen – EU-Rechtshilfeübereinkommen 111<br />

Mit Beschluss des Rates v. 7.6.2012 wurde nach Zustimmung<br />

des Europäischen Parlaments das Übereinkommen zwischen<br />

der Europäischen Union sowie der Republik Island und dem<br />

Königreich Norwegen über die Anwendung einiger Bestimmungen<br />

des Übereinkommens v. 29.5.2000 über die Rechtshilfe<br />

in Strafsachen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen<br />

Union und des dazu gehörigen Protokolls von 2001<br />

genehmigt. 112 Der Zeitpunkt des Inkrafttretens des Übereinkommens<br />

wird nach erfolgter Notifikation im Amtsblatt bekanntgegeben<br />

werden.<br />

2. PNR-Abkommen mit Australien und den USA 113<br />

Die Abkommen über die Übermittlung von Fluggastdatensätzen<br />

(PNR) mit Australien und den USA konnten aufgrund<br />

der Zustimmung des Europäischen Parlaments und des Rats<br />

zum 1.6.2012 114 bzw. 1.7.2012 115 in Kraft treten. Hinsichtlich<br />

des Abkommens mit den USA ist festzuhalten, dass die dabei<br />

übermittelten Daten über die Terrorismusbekämpfung hinausgehend<br />

auch zur Verfolgung und Verhütung sonstiger grenzübergreifender<br />

schwerer Kriminalität – Mindesthöchststrafe<br />

drei Jahre – dienen dürfen. Nach sechs Monaten wird der Zugriff<br />

auf die Fluggasdatensätze eingeschränkt, ist jedoch für<br />

einen Maximalzeitraum von bis zu 15 Jahren möglich (fünf<br />

Jahre in einer sogenannten „aktiven“ Datenbank, anschließend<br />

zehn Jahre in einer sogenannten „ruhenden“ Datenbank, auf<br />

die eine geringere Anzahl an Ermittlern zugreifen kann).<br />

111<br />

S. hierzu Brodowski, New Journal of European Criminal<br />

Law 2 (2011), 21; zu den verfassungsrechtlichen Komplikationen<br />

in Ungarn s. zudem Ligeti, in: Vernimmen-van Tiggelen/Surano/Weyembergh<br />

(Hrsg.), The future of mutual recognition<br />

in criminal matters in the European Union, 2009,<br />

S. 259 (S. 261 ff.).<br />

112<br />

ABl. EU 2012 Nr. L 153, S. 1; das Abkommen ist abgedruckt<br />

in ABl. EU 2004 Nr. L 26, S. 3.<br />

113<br />

Vgl. zuvor Brodowski, <strong>ZIS</strong> 2012, 940 (953 f.).<br />

114<br />

ABl. EU 2012 Nr. L 186, S. 1; das Abkommen zwischen<br />

der Europäischen Union und Australien über die Verarbeitung<br />

von Fluggastdatensätzen (Passenger Name Records – PNR)<br />

und deren Übermittlung durch die Fluggesellschaften an den<br />

Australian Customs and Border Protection Service ist abgedruckt<br />

a.a.O. S. 4.<br />

115<br />

ABl. EU 2012 Nr. L 174, S. 1; das Abkommen zwischen<br />

der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten von<br />

Amerika über die Verwendung von Fluggastdatensätzen und<br />

deren Übermittlung an das United States Department of Homeland<br />

Security ist abgedruckt in ABl. EU 2012 Nr. L 215, S. 5.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

570<br />

<strong>ZIS</strong> 11/2012<br />

3. Handelsübereinkommen zur Bekämpfung der Produkt- und<br />

Markenpiraterie (ACTA) 116<br />

Das – auch wegen seiner strafrechtlichen Implikationen – umstrittene<br />

Handelsübereinkommen zur Bekämpfung von Produkt-<br />

und Markenpiraterie zwischen der Europäischen Union<br />

und ihren Mitgliedstaaten, Australien, Kanada, Japan, der<br />

Republik Korea, den Vereinigten Mexikanischen Staaten, dem<br />

Königreich Marokko, Neuseeland, der Republik Singapur,<br />

der Schweizerischen Eidgenossenschaft und den Vereinigten<br />

Staaten von Amerika (ACTA) 117 wurde zwar vom Rat angenommen,<br />

vom Europäischen Parlament hingegen abgelehnt.<br />

116 Vgl. zuvor Brodowski, <strong>ZIS</strong> 2011, 940 (954); s. zudem,<br />

statt vieler Hoeren, MMR 2012, 137; Lorenzmeier, ZJS 2012,<br />

322.<br />

117 KOM (2011) 379 endg. v. 24.6.2011; KOM (2011) 380<br />

endg. v. 24.6.2011.


Reglas primarias de obligación<br />

Las “reglas del derecho penal” en el concepto de derecho de H.L.A. Hart*<br />

De Prof. Dr. Juan Pablo Mañalich R., Universidad de Chile<br />

The article offers a reconstruction of the picture of so called<br />

“rules of criminal law” that can be found in H.L.A Hart’s<br />

The Concept of Law. According to the argument here presented,<br />

the basic features of this picture can be stated as<br />

following: a rejection of an imperativistic conception of legal<br />

rules; the recognition of a pragmatic connection between<br />

obligations and sanctions; and a functional understanding of<br />

the logical distinction between (primary) conduct norms and<br />

(secondary) sanction norms.<br />

El artículo ofrece una reconstrucción de la imagen de las así<br />

llamadas “reglas del derecho penal” que es posible extraer<br />

de El concepto de derecho de H.L.A. Hart. Con arreglo al<br />

argumento aquí presentado, las características fundamentales<br />

de esa imagen pueden ser enunciadas como sigue: un<br />

rechazo de una concepción imperativista de las reglas del<br />

derecho; el reconocimiento de una conexión pragmática<br />

entre la obligación y la sanción; y una comprensión funcional<br />

de la distinción lógica entre normas primarias de<br />

comportamiento y normas secundarias de sanción.<br />

I. Introducción<br />

Observa Hart: “En el caso de las reglas del derecho penal, es<br />

lógicamente posible y puede ser deseable que haya tales<br />

reglas aun a pesar de que no hubiese amenaza de un castigo u<br />

otro mal. Ciertamente, podrá sostenerse que en tal caso no<br />

habría reglas jurídicas; sin embargo, podemos distinguir claramente<br />

la regla que prohíbe cierto comportamiento de la<br />

provisión de las penalidades a ser impuestas si la regla es<br />

quebrantada, y suponer que la primera existe sin la segunda.<br />

En cierto sentido, podemos sustraer la sanción y todavía dejar<br />

un estándar de comportamiento inteligible para cuyo mantenimiento<br />

[la sanción] fuera diseñada”. 1<br />

Este pasaje está extraído de la célebre sección de El<br />

concepto de derecho en que Hart demuestra la confusión<br />

categorial implicada en la concepción kelseniana de la nulidad<br />

como sanción. En dicho pasaje se insinúa una determinada<br />

concepción de la relación en que se encuentra la regla (o<br />

norma) cuyo quebrantamiento puede ser delictivo, por una<br />

parte, y la regla (o norma) que fija la pena susceptible de ser<br />

impuesta a consecuencia del quebrantamiento de aquella<br />

primera regla (o norma), por otra. El presente artículo pretende<br />

indagar en los méritos de semejante concepción, dando<br />

cuenta de cómo ella se inserta en el proyecto hartiano de una<br />

teoría analítica del derecho.<br />

* El presente artículo ha podido ser elaborado en el contexto<br />

de una estadía de investigación posdoctoral realizada en la<br />

Universidad de Bonn, financiada por la Fundación Alexander<br />

von Humboldt, y se enmarca en el proyecto FONDECYT (de<br />

iniciación a la investigación) No. 11110274, del cual el autor<br />

es investigador responsable.<br />

1 Hart, The Concept of Law, 2. ed. 1994, pp. 33 ss.<br />

II. La crítica del modelo imperativista<br />

Hart ofrece algunas consideraciones preliminares acerca de la<br />

estructura y la función de “las reglas del derecho penal”, 2 tras<br />

haber expuesto sistemáticamente la concepción de las normas<br />

jurídicas asociada a la obra de Austin, y en igual medida a la<br />

de Bentham, 3 sugiriendo que este último modelo parecería<br />

plausible, a primera vista al menos, para dar cuenta de cómo<br />

opera el derecho penal.<br />

Esto lleva a que Hart constate la existencia de una “fuerte<br />

analogía” entre tal imagen preliminar de “las reglas del derecho<br />

penal”, por un lado, y la concepción imperativista de<br />

las reglas jurídicas de Bentham/Austin, por otro. 4 Pero buena<br />

parte del esfuerzo argumentativo desplegado por Hart, una<br />

vez establecida la base para la analogía en cuestión, consiste<br />

en demostrar la inviabilidad del modelo imperativista, 5<br />

incluso en aquel ámbito en que el mismo parecería exhibir,<br />

prima facie al menos, mayor plausibilidad; esto es: en el<br />

ámbito de “las reglas del derecho penal”, en contraposición,<br />

por ejemplo, a las reglas que confieren potestades de diversa<br />

índole. 6<br />

El núcleo del modelo de Bentham/Austin consiste en una<br />

equiparación de la existencia de una obligación jurídica a la<br />

predictibilidad de la irrogación de un mal a modo de<br />

sanción. 7 Sobre este trasfondo, las razones que Hart ofrece<br />

2<br />

Hart (n. 1), p. 27.<br />

3<br />

Hart, Essays on Bentham, 1982, pp. 105 ss.<br />

4<br />

Hart (n. 1), pp. 20 s.<br />

5<br />

Aquí se vuelve necesario introducir una precisión terminológica,<br />

que resulta de la mayor importancia para la indagación<br />

global que aquí se persigue, y que concierne a la<br />

caracterización usual de la concepción atribuida a Bentham y<br />

a Austin como una concepción imperativista. Pues semejante<br />

caracterización supone dar prioridad a una de las dos<br />

variables que, siguiendo a Hacker, pueden ser diferenciadas<br />

en el contexto del análisis comparativo de las múltiples<br />

“teorías del deber” que se dejan reconocer en el discurso de la<br />

teoría general del derecho, a saber: (1) la naturaleza de la<br />

conexión postulada entre la falta de ejecución o de omisión<br />

de una determinada acción y la consiguiente imposición de<br />

una sanción; y (2) el estatus de la exigencia de comportamiento<br />

que vuelve obligatoria la ejecución o la omisión de la<br />

acción en cuestión. Véase Hacker, en: Simpson (ed.), Oxford<br />

Essays in Jurisprudence, 1973, p. 131. En estos términos, la<br />

caracterización de una concepción como imperativista es<br />

relativa a la segunda variable: la exigencia de comportamiento<br />

ha de estar constituida por una orden. Véase Röhl/Röhl,<br />

Allgemeine Rechtslehre, 3. ed. 2008, pp. 230 s.<br />

6<br />

Hart (n. 1), pp. 35 ss.<br />

7<br />

Hart (n. 3), pp. 132 ss. De ahí que su caracterización como<br />

“imperativista” deba ser entendida a la manera de una abreviatura,<br />

en el entendido de que, en atención al específico<br />

concepto de orden que hace suyo ese modelo, el hecho de que<br />

a una persona se dirija una orden de ejecutar u omitir la<br />

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Juan Pablo Mañalich R.<br />

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para demostrar la inviabilidad de semejante modelo imperativista<br />

en tanto aplicado al ámbito del derecho penal afectan,<br />

en lo fundamental, el problema que Hart identifica con la<br />

cuestión del “rango de aplicación”. 8 El problema está en que<br />

el modelo imperativista se apoya en una imagen “vertical” de<br />

subordinación para dar cuenta de la relación que vincularía al<br />

emisor del imperativo coercitivamente reforzado con las personas<br />

a quienes el mismo se encuentra “dirigido”. Al respecto,<br />

Hart enuncia dos observaciones, la primera de las cuales<br />

es fértilmente explotada en su crítica de la concepción de la<br />

soberanía (unitaria e ilimitada) implicada en la concepción de<br />

la legislación inherente al modelo imperativista por él criticado,<br />

9 mientras que la segunda, a pesar de su aparente menor<br />

significación sistemática, ofrece una clave para la superación<br />

de la identificación del concepto de norma obligante o vinculante<br />

con la noción de imperativo.<br />

La primera observación se encuentra referida a la imagen<br />

vertical – o “desde arriba hacia abajo” – de la producción del<br />

derecho que es propia del modelo imperativista. 10 La crítica<br />

de esta imagen vertical que Hart propone es dual. Por una<br />

parte, Hart explora la idea de que la dificultad que parece<br />

traer consigo la posibilidad de una auto-vinculación del<br />

legislador se dejaría despejar sin más si, abandonando el<br />

recurso a la noción de órdenes respaldadas por amenaza, se<br />

privilegiara el recurso al concepto de promesa. Pero inmediatamente<br />

a continuación, Hart sostiene que el problema se resuelve<br />

íntegramente si, en contra del monismo ontológico<br />

implicado en la concepción imperativista, se acepta el hecho<br />

de que entre las reglas del derecho también se cuentan reglas<br />

acción ϕ implica que, en caso contrario, esa persona quede<br />

expuesta a sufrir, con un determinado grado de probabilidad,<br />

la irrogación de un mal a consecuencia de la falta de<br />

ejecución o de omisión de la acción ϕ. Véase Austin, The<br />

Province of Jurisprudence Determined, 1832, pp. 5 ss.; así<br />

como Bentham, Of Laws in General, 1970, pp. 133 ss. Para<br />

un argumento general acerca de la dependencia de la<br />

normatividad de la eventualidad de la imposición de<br />

sanciones, véase Stemmer, Normativität, Eine ontologische<br />

Untersuchung, 2008, pp. 135 ss. Esto explica que Hart caracterice<br />

el modelo de Bentham como expresivo de una “teoría<br />

mixta de la obligación jurídica”. En tal medida, este modelo<br />

“mixto” debe ser diferenciado de una concepción “puramente”<br />

imperativista de las reglas del derecho, bajo la cual la<br />

norma que prevé la imposición de una sanción para el caso<br />

del quebrantamiento de un imperativo (primario) pudiera ser<br />

entendida como un imperativo secundario, desacoplado del<br />

correspondiente imperativo primario. Así Hart (n. 3), pp. 141<br />

s. Semejante concepción se encuentra desarrollada, por ejemplo,<br />

en Thon, Rechtsnorm und subjectives Recht, 1878,<br />

pp. 1 ss., así como en Bierling, Juristische Prinzipienlehre,<br />

tomo 1, 1894, pp. 71 ss., 133 ss.; para una defensa matizada<br />

de la misma, véase Engisch, Einführung in das juristische<br />

Denken, 7. ed. 1975, pp. 22 ss., así como Röhl/Röhl (n. 5),<br />

pp. 230 ss.<br />

8 Hart (n. 1), pp. 42 ss.<br />

9 Hart (n. 1), pp. 50 ss.; el mismo (n. 3), pp. 143 s.<br />

10 Hart (n. 1), pp. 42 s.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

572<br />

<strong>ZIS</strong> 11/2012<br />

que instituyen el proceso legislativo como tal, las cuales – en<br />

virtud de su carácter constitutivo 11 – se distinguirían por<br />

establecer condiciones para que la actividad legislativa sea<br />

siquiera concebible como praxis institucionalizada. 12 En tales<br />

términos, la crítica a la concepción imperativista de la legislación<br />

va asociada a la defensa de una tesis ontológicamente<br />

pluralista acerca de los componentes de la infraestructura del<br />

sistema jurídico, que renuncia a entender las reglas que confieren<br />

potestades como meros “fragmentos de normas”.<br />

La segunda observación es escuetamente esbozada por<br />

Hart, a propósito de la redefinición de la noción misma de<br />

legislación que tendría que seguirse de la crítica del modelo<br />

imperativista. A este respecto, lo fundamental sería la elaboración<br />

de “una concepción fresca de la legislación como la<br />

introducción o modificación de estándares generales de comportamiento<br />

a ser seguidos por la sociedad en su conjunto”. 13<br />

Ello lleva a Hart a proponer una articulación de lo que<br />

significa estar obligado por el derecho que tendría que lograr<br />

lo que a primera vista parecería imposible, a saber: evitar<br />

cualquier compromiso con una sospechosa metafísica de la<br />

validez jurídica, así como una comprensión psicologicista de<br />

la noción de obligación, sin conceder la igualmente problemática<br />

reducción de la normatividad del derecho a su sola coercitividad.<br />

14<br />

III. Reglas “sociales” de obligación<br />

1. Ni regularismo ni regulismo<br />

Precisamente en el contexto de su análisis de la muy sensible<br />

diferencia semántica que existiría entre un enunciado del tipo<br />

“X se ve obligado a hacer (o no hacer) ϕ” y uno del tipo “X<br />

tiene la obligación de hacer (o no hacer) ϕ”, Hart formula dos<br />

objeciones en contra del modelo imperativista, en lo tocante a<br />

la reducción de la normatividad a la sola coercitividad<br />

predicable de las reglas del derecho. 15 La primera objeción<br />

consiste en que la tesis de la obligación como predictibilidad<br />

de una sanción “oscurece el hecho de que, allí donde existen<br />

reglas, las desviaciones de éstas no son meramente razones<br />

para una predicción de que se seguirán reacciones hostiles o<br />

de que un tribunal aplicará sanciones a aquellos que las<br />

quebranten, sino que también sirven de razón o justificación<br />

para tal reacción y para la aplicación de sanciones”. 16 La<br />

segunda objeción, por su parte, asume la forma de una<br />

reductio ad absurdum: “Si fuera verdad que el enunciado de<br />

que una persona tenía una obligación significara que ella<br />

probablemente habría de padecer [la irrogación de un mal] en<br />

el evento de una desobediencia, sería contradictorio decir que<br />

él tenía una obligación [...], pero que, debido al hecho de<br />

haber huido de la jurisdicción o de haber sobornado a la<br />

11<br />

Véase Searle, The Construction of Social Reality, 1995,<br />

pp. 43 ss.<br />

12<br />

Hart (n. 1), pp. 43 s.<br />

13<br />

Hart (n. 1), p. 44.<br />

14<br />

Hart (n. 3), pp. 144 ss.; Raz, The Concept of a Legal System,<br />

2. ed. 1980, pp. 230 ss.<br />

15<br />

Hart (n. 1), pp. 82 s.<br />

16 Hart (n. 1), p. 84.


Reglas Primarias de Obligación<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

policía o al tribunal, no había posibilidad alguna de que fuera<br />

capturado o puesto a sufrir”. 17<br />

La relación en que se encuentran una y otra objeción está<br />

lejos de ser clara a primera vista. Pues mientras que la<br />

segunda objeción descansa sobre el supuesto de la viabilidad<br />

de una desvinculación del reconocimiento de una obligación<br />

jurídica de la eventual irrogación de un mal a modo de<br />

sanción en caso de incumplimiento de la misma, la primera<br />

objeción parece discurrir en la dirección inversa, precisamente<br />

porque ella se refiere al modo en que el quebrantamiento<br />

de una regla obligante pudiera servir de razón o<br />

fundamento para la imposición de una sanción.<br />

La conjunción de las dos objeciones sólo se deja sostener,<br />

en efecto, sobre el trasfondo de la concepción de las reglas<br />

que imponen obligaciones que Hart opone al modelo imperativista.<br />

18 A este respecto, Hart comienza ofreciendo un análisis<br />

preliminar – todavía no circunscrito al contexto propiamente<br />

jurídico – del significado del enunciado según el cual<br />

la persona P tiene la obligación de ejecutar (o de omitir) la<br />

acción ϕ: en el caso normal, un presupuesto contextual de tal<br />

enunciado estará constituido por la existencia de “reglas<br />

sociales”, que se distinguen por estandarizar determinadas<br />

formas de comportamiento, de modo tal que ese mismo enunciado<br />

se deje entender como una instancia de aplicación de<br />

alguna de esas reglas generales a la situación en la cual se<br />

encuentra una persona determinada. 19<br />

Pero Hart ciertamente no desconoce que la semántica de<br />

una proposición del tipo “la regla X existe” está lejos de ser<br />

transparente. 20 Para su clarificación, Hart recurre a una comparación<br />

entre el concepto de un mero hábito y el concepto<br />

más complejo de una regla social, entre los cuales cabría re-<br />

17 Hart (n. 1), p. 84.<br />

18 La noción de “reglas que imponen obligaciones”, que Hart<br />

emplea sistemáticamente, podría ser objeto de objeciones<br />

desde el punto de vista de su conveniencia idiomática. Al<br />

respecto, basta con considerar la sugerencia de v. Wright,<br />

Norm and Action, 1963, pp. 6 s., en cuanto a diferenciar los<br />

conceptos de regla y de prescripción como designando diversas<br />

especies de normas, en circunstancias de que lo distintivo<br />

de las prescripciones sería que ellas consisten en “órdenes o<br />

permisiones, dadas por alguien en posición de autoridad a<br />

alguien en posición de sujeción”; análogamente Honoré, en:<br />

Simpson (n. 5), p. 1 (p. 4). Para evitar confusiones, cabe<br />

advertir que el uso que Hart hace del término “regla”<br />

coincide, grosso modo, con el uso que v. Wright hace del<br />

término “norma”. Para una terminología todavía divergente,<br />

véase por ejemplo Raz, Practical Reasons and Norms, 2. ed.<br />

1990, pp. 49 s., quien habla de “normas imperativas”<br />

(mandatory norms) para designar aquello que Hart denomina<br />

“reglas de obligación”, descartando además la conveniencia<br />

de recurrir al término “prescripción” para ello; y Schauer,<br />

Playing by the Rules, 1991, pp. 3 ss., quien identifica el<br />

concepto de “regla prescriptiva” (contrapuesto al de “regla<br />

descriptiva”) como el género respecto del cual el concepto de<br />

“regla imperativa” (mandatory rule) constituiría una especie.<br />

19 Hart (n. 1), p. 85.<br />

20 Hart (n. 1), p. 8.<br />

conocer, empero, una significativa similitud: “en ambos casos<br />

el comportamiento en cuestión [...] tiene que ser general,<br />

aunque no necesariamente invariable; esto significa que es<br />

repetido por la mayoría del grupo cuando surgen ocasiones”. 21<br />

Sin embargo, es igualmente claro que la sola apelación a la<br />

constatación de una regularidad social relativa a una determinada<br />

forma de comportamiento no alcanza a servir de<br />

criterio de reconocimiento de una regla social. 22 Pues de lo<br />

contrario uno terminaría abrazando una variante de lo que<br />

Brandom llama “regularismo”, esto es, la concepción según<br />

la cual las reglas no serían más que descripciones de<br />

regularidades de comportamiento socialmente observable. 23<br />

El defecto de semejante tesis “regularista” radica en la consiguiente<br />

imposibilidad de dar cuenta del sentido en que una<br />

regla social, a diferencia de un mero hábito, cuenta como<br />

pauta de corrección. 24<br />

La caracterización hartiana de las reglas sociales, en pos<br />

de su contraste frente a meros hábitos conductuales socialmente<br />

observados, logra evitar una reducción “regularista”<br />

del concepto de regla: en primer lugar, la desviación frente a<br />

una regla social característicamente cuenta como una falla<br />

expuesta a evaluación crítica; en segundo lugar, la desviación<br />

frente a la regla es tenida por una razón que justifica semejante<br />

evaluación crítica; y en tercer lugar, al menos algunos<br />

miembros del grupo respectivo, 25 adoptando una actitud<br />

crítico-reflexiva que puede manifestarse en el uso de un<br />

vocabulario distintivamente normativo, han de aceptar la<br />

regla como una pauta de comportamiento a ser generalmente<br />

seguida, en el sentido de lo que Hart célebremente identificara<br />

como “el aspecto interno de las reglas”. 26<br />

Ahora bien: lo que cualificaría a una regla como una regla<br />

jurídica sería el hecho de que ella admite ser identificada<br />

bajo determinados criterios de reconocimiento, referidos al<br />

modo característico de su producción, en el sentido de que su<br />

puesta en vigor sería identificable con un ejercicio de autoridad<br />

legislativa lato sensu, 27 de lo cual dependería, por lo<br />

demás, la posibilidad de la conservación de la identidad de un<br />

determinado ordenamiento jurídico a través del tiempo. Pero<br />

a través de semejante apelación al concepto de autoridad<br />

21 Hart (n. 1), p. 55.<br />

22 La cuestión relativa a la incidencia que la formación de<br />

hábitos puede tener para el seguimiento de reglas no necesita<br />

ser considerada aquí. Al respecto MacCormick, Institutions of<br />

Law, 2007, pp. 61 ss.<br />

23 Brandom, Making it Explicit, 1994, pp. 26 ss.<br />

24 Brandom (n. 23), p. 27: “La dificultad inmediata con tal<br />

propuesta es que ella amenaza con difuminar el contraste<br />

entre tratar una performance como sometida a evaluación<br />

normativa de alguna índole y tratarla como sometida a leyes<br />

físicas”.<br />

25 Esto no supone desconocer la complejidad de la pregunta<br />

acerca de las condiciones bajo las cuales cabe reconocer,<br />

efectivamente, la existencia de un grupo. Sobre el problema<br />

véase Honoré (n. 18), pp. 2 ss.<br />

26 Hart (n. 1), pp. 55 s.; al respecto MacCormick, H.L.A.<br />

Hart, 1981, pp. 30 ss.<br />

27 Hart (n. 1), pp. 57 s.<br />

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Juan Pablo Mañalich R.<br />

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legislativa (lato sensu) se vuelve patente que la concepción<br />

de Hart enfrenta un riesgo teórico contrapuesto al riesgo<br />

asociado a la tentación “regularista”. Se trata del riesgo asociado<br />

a lo que Brandom llama “regulismo”, consistente en<br />

una reducción de la normatividad a un determinado conjunto<br />

de reglas explícitas. 28 Pues el análisis de Hart precisamente<br />

apunta a la necesidad de postular reglas (“secundarias”) que<br />

instituyan la autoridad legislativa por referencia a la cual<br />

pueden ser identificadas las reglas jurídicas que imponen<br />

obligaciones para la generalidad de los miembros de un determinado<br />

grupo. 29 Lo cual parecería quedar entregado a una<br />

posible versión de la objeción wittgensteiniana del así llamado<br />

“regreso al infinito de las reglas”: 30 si es necesario reconocer<br />

reglas de segundo nivel para identificar las respectivas de<br />

primer nivel, entonces será necesario reconocer reglas de<br />

tercer nivel para identificar las respectivas reglas de segundo<br />

nivel, y así sucesivamente.<br />

La disolución del dilema, que Brandom intenta encontrar<br />

en las célebres observaciones de Wittgenstein acerca del<br />

concepto de seguir una regla, pasa por validar una concepción<br />

pragmatista de la normatividad, en el sentido preciso de<br />

que el reconocimiento de determinadas reglas explícitas sólo<br />

es posible sobre el trasfondo de normas que permanecen implícitas<br />

en la práctica de identificación y aplicación de tales<br />

reglas explícitas. 31 De ahí que “seguir una regla [sea] una<br />

praxis”. 32 Y lo distintivo de una concepción pragmatista de la<br />

normatividad se encuentra, siguiendo a Brandom, en una<br />

comprensión “actitudinal” de la génesis de la normatividad:<br />

la actitud favorable a juzgar una performance como correcta<br />

es conceptualmente primaria frente al estatus de esa misma<br />

performance como correcta. 33 En esto consiste el núcleo del<br />

principio de la autonomía de las prácticas normativas: “la<br />

autoridad de las normas deriva de su reconocimiento”; 34 o en<br />

la terminología de Hart: de su aceptación bajo la adopción de<br />

una actitud crítico-reflexiva.<br />

Así, en pos de sortear el riesgo de un regreso al infinito<br />

asociado a una concepción “regulista” de la normatividad, ha<br />

de ser posible dar cuenta de la existencia de reglas de obligación<br />

que cuenten como razones vinculantes para los miembros<br />

de un determinado grupo social de un modo que no presuponga<br />

ya la existencia de reglas (secundarias) que posibiliten<br />

su identificación por referencia a un ejercicio de autoridad<br />

ya instituida, esto es, ya institucionalizada. De ahí que el<br />

28 Brandom (n. 23), pp. 18 ss.<br />

29 Brandom (n. 23), pp. 57 ss.<br />

30 Brandom (n. 23), pp. 20 s.<br />

31 Brandom (n. 23), pp. 21 ss.<br />

32 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 1984, § 202.<br />

Algunas muestras representativas de exégesis y elaboración<br />

en la literatura secundaria se encuentran en Kripke, Wittgenstein<br />

on Rules and Private Language, 1982, pp. 7 ss.;<br />

Boghossian, Mind 98 (1989), 507; McDowell, Mind, Value,<br />

and Reality, 1998, pp. 221 ss.; el mismo, The Engaged Intelect,<br />

Philosophical Essays, 2009, pp. 96 ss.; y Stern, Wittgenstein’s<br />

Philosophical Investigations, 2004, pp. 139 ss.<br />

33 Brandom (n. 23), pp. 30 ss.<br />

34 Brandom (n. 23), pp. 50 ss.<br />

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574<br />

<strong>ZIS</strong> 11/2012<br />

reconocimiento de una regla no pueda identificarse sin más<br />

con el reconocimiento de una regla bajo una determinada<br />

regla de reconocimiento. 35<br />

2. ¿Reglas como prácticas?<br />

La plausibilidad de esta lectura de los correspondientes<br />

pasajes de la segunda sección del Cap. V de El concepto de<br />

derecho queda de manifiesto si se repara en la denominación<br />

a través de la cual contemporáneamente suele hacerse referencia,<br />

en el contexto de la filosofía analítica del derecho, a la<br />

concepción hartiana de las reglas de obligación, a saber: “la<br />

concepción de las reglas como prácticas”, 36 denominación<br />

que Hart llegaría a hacer suya. 37 El problema estriba, empero,<br />

en que esta denominación distorsiona la conexión entre el<br />

concepto de regla y el concepto de práctica implicada en la<br />

concepción hartiana de las reglas sociales que imponen<br />

obligaciones.<br />

Ello se explica, desde ya, porque la tesis de Hart ciertamente<br />

no consiste, en contra de lo sugerido por Raz, 38 en una<br />

mera identificación de los conceptos de regla y práctica, en<br />

términos tales que una regla no sería más que una práctica de<br />

determinadas características. Antes bien, la tesis consiste en<br />

que, en un contexto pre-institucional – esto es, en un contexto<br />

en que aún no es posible invocar criterios de reconocimiento<br />

fijados por reglas secundarias –, la identificación de una regla<br />

que imponga obligaciones sobre los miembros de un<br />

determinado grupo social sólo puede tener lugar en atención<br />

al hecho de que esa regla sea efectivamente practicada por<br />

buena parte de quienes integran ese grupo. 39 En esto consiste<br />

el compromiso pragmatista que se deja reconocer en la concepción<br />

de Hart. Y las objeciones que Raz dirige en contra de<br />

ésta pueden ser entendidas, a su vez, como fundadas en un<br />

fuerte compromiso con una tesis “regulista”, que precisamente<br />

desconoce las implicaciones del “giro pragmático” que<br />

subyace a las observaciones de Hart.<br />

Las dos primeras objeciones invocadas por Raz admiten<br />

ser consideradas conjuntamente. En primer lugar, Raz sostiene<br />

que la propiedad de una regla consistente en ser practicada<br />

– esto es, efectivamente seguida por un conjunto suficientemente<br />

amplio de agentes – sería extrínseca al concepto de<br />

regla: “una regla no es una regla social a menos que sea<br />

practicada por una cierta comunidad, pero todavía podría ser<br />

una regla”. 40 La segunda objeción, por su parte, apunta a una<br />

supuesta confusión entre lo que cuenta como una regla prac-<br />

35 Tapper, en: Simpson (n. 5), p. 242 (pp. 252 s.).<br />

36 Raz (n. 18), pp. 49 ss.<br />

37 Hart (n. 1), pp. 254 s.<br />

38 Raz (n. 18), pp. 51 ss.<br />

39 Que ese presupuesto de identificación de una regla obligante<br />

se vuelve irrelevante una vez que el análisis puede<br />

descansar en criterios de reconocimiento fijados en reglas<br />

secundarias, es algo que Hart hace explícito cuando observa<br />

que, en el contexto de un sistema jurídico ya propiamente<br />

institucionalizado, la eficacia de una regla aislada no cuenta<br />

como criterio de validez de esa misma regla. Véase Hart (n.<br />

1), pp. 103 s., 109 s.<br />

40 Raz (n. 18), pp. 53 s.


Reglas Primarias de Obligación<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

ticada y lo que cuenta como una razón aceptada. 41 Lo que<br />

subyace a ambas objeciones es una apelación al concepto de<br />

regla como si se tratase de un “superlativo filosófico”. 42 El<br />

“regulismo” subyacente se deja reconocer en el modo en que<br />

Raz pretende ejemplificar su segunda objeción: “Considérese<br />

una comunidad en la cual prácticamente todos creen que los<br />

bebés deberían ser amamantados o que los niños deberían ser<br />

estimulados a aprender a leer una vez que su edad alcance los<br />

tres años. Esto es generalmente hecho y la gente tiende a<br />

reprochar a las madres que no amamantan o a los padres que<br />

no enseñan a leer a sus hijos de tres años de edad. Pero las<br />

personas de la comunidad no consideran éstas como reglas.<br />

Simplemente piensan que se trata de cosas que está bien<br />

hacer”. 43<br />

La proposición de que en semejante comunidad no existiría<br />

una regla social con arreglo a la cual las madres deben<br />

amamantar a sus hijos recién nacidos descansa en la premisa<br />

“regulista” de que tal regla (o norma) social sólo podría ser<br />

reconocida en la forma de una regla explícitamente articulada.<br />

Pues sólo bajo este presupuesto cabría otorgar relevancia<br />

al hecho de que los miembros de esa comunidad no<br />

asuman la existencia de tal regla como razón para descartar<br />

que esa regla efectivamente exista. En cambio, bajo la tesis<br />

pragmatista de que determinadas reglas explícitas sólo pueden<br />

llegar a ser identificadas sobre un trasfondo (genéticamente<br />

primario) de normas ya implícitas en una práctica<br />

social, 44 la objeción deja de ser comprensible. Pues entonces<br />

ya no será posible entender que la consciencia explícita de un<br />

grupo de agentes acerca de la estandarización de una<br />

determinada forma de comportamiento en la forma de una<br />

regla social pudiera fungir como criterio de reconocimiento<br />

de ésta.<br />

Con ello se hace patente, al mismo tiempo, el defecto insuperable<br />

que aqueja a una tesis “regulista” como la que<br />

subyace al argumento de Raz: si como regla social sólo fuese<br />

reconocible aquello que buena parte de sus miembros ya<br />

identifica explícitamente como tal, sería imposible ofrecer<br />

una explicación no-circular de la génesis de las reglas<br />

sociales que llegan a adquirir vigencia al interior de una<br />

comunidad de agentes. Esto quiere decir, en otros términos,<br />

que una tesis como la de Raz da por supuesto aquello que<br />

precisamente ha de ser explicado. Pero así también se viene<br />

abajo la primera de las dos objeciones hasta aquí consideradas:<br />

la distinción entre lo que contaría como una regla “a<br />

secas” y lo que contaría como una regla (“además”) practicada,<br />

que según Raz sería irrealizable bajo una concepción<br />

como la de Hart, presupone que uno ya cuenta con la posibilidad<br />

de recurrir a la noción de regla como herramienta de<br />

análisis, de modo tal que tenga sentido, por ejemplo, plantear<br />

la posibilidad de que una regla (vigente) no sea efectivamente<br />

seguida. Y si Hart tiene razón, tal posibilidad sólo se deja<br />

plantear una vez que ya disponemos de una comprensión de<br />

lo que significa que en un determinado grupo sea reconocible<br />

41<br />

Raz (n. 18), pp. 55 s.<br />

42<br />

Wittgenstein (n. 32), § 192; Stern (n. 32), pp. 152 ss.<br />

43<br />

Raz (n. 18), p. 56.<br />

44<br />

MacCormick (n. 22), pp. 16 ss., 24 ss.<br />

una regla que vuelve obligatoria la ejecución o la omisión de<br />

una determinada acción.<br />

Así también queda preparado el terreno para evaluar la<br />

tercera objeción que Raz dirige en contra de la comprensión<br />

pragmatista de las reglas sociales que imponen obligaciones<br />

atribuible a Hart, a saber: su supuesta inidoneidad para dar<br />

cuenta de la normatividad de los enunciados relativos a obligaciones.<br />

45 A este respecto, Raz se apoya en una interpretación<br />

aparentemente no problemática de la observación de<br />

Hart acerca del aspecto interno de las reglas, con arreglo a la<br />

cual la actitud de aceptación crítico-reflexiva de una regla<br />

social obligante se manifestaría en el hecho de que “los<br />

miembros de la comunidad relevante usan expresiones tales<br />

como ‘es una regla que uno debe [...]’ para justificar sus propias<br />

acciones, y justificar exigencias y críticas dirigidas a<br />

otros”. 46<br />

Está lejos de ser evidente que, así formulada, la tesis sea<br />

efectivamente atribuible a Hart, 47 sobre todo porque si la<br />

actitud de aceptación crítico-reflexiva de una determinada<br />

regla social como estándar de comportamiento correcto se<br />

manifiesta en el uso de vocabulario distintivamente normativo,<br />

un enunciado normativo estructurado de conformidad con<br />

la interpretación de Raz – esto es, cuya forma sea “es una<br />

regla que uno debe [...]” – resultaría ser redundante, esto es:<br />

constitutivo de un pleonasmo.<br />

Esto explica que Raz concluya sosteniendo que, de acuerdo<br />

con la tesis acerca del uso de vocabulario normativo que él<br />

atribuye a Hart, los enunciados “es una regla que uno debe<br />

ejecutar la acción ϕ” y “uno debe ejecutar la acción ϕ”<br />

resultarían ser semánticamente equivalentes, con la salvedad<br />

de que el primero presupondría la existencia de una determinada<br />

práctica (de seguimiento de la regla en cuestión). Lo<br />

cual demostraría que el hecho de que exista una regla sería<br />

irrelevante para la normatividad del respectivo enunciado. 48<br />

Pero la conclusión sólo se sigue si se acepta la interpretación<br />

del argumento hartiano que Raz da por supuesta. Pues la tesis<br />

de Raz pierde completamente de vista que, según la propuesta<br />

de Hart, el uso de vocabulario normativo cuenta como criterio<br />

de reconocimiento de una regla que ciertamente no<br />

necesita ser objeto de articulación o formulación explícita por<br />

parte de quienes la reconocen como vigente a través de la<br />

correspondiente adopción de una actitud de aceptación crítico-reflexiva<br />

característica del punto de vista del participante.<br />

De este modo, al pretender convertir en un componente<br />

del contenido proposicional del respectivo enunciado normativo<br />

aquello que, en términos del análisis de Hart, sólo puede<br />

representar un presupuesto implícito del mismo, la objeción<br />

de Raz no alcanza siquiera a identificar la decisiva innova-<br />

45 Raz (n. 18), pp. 56 ss.<br />

46 Raz (n. 18), p. 57.<br />

47 Hart ciertamente sostiene que tal actitud de aceptación<br />

crítico-reflexiva se manifiesta en el empleo de un vocabulario<br />

distintivamente normativo, pero esto no equivale a sostener<br />

que los enunciados expresivos de esa actitud hubieran de<br />

exhibir la estructura que Raz les atribuye. Véase Hart (n. 1),<br />

pp. 56 s., 85.<br />

48 Raz (n. 18), p. 58.<br />

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Juan Pablo Mañalich R.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

ción teórica implicada en el análisis del concepto de regla<br />

social ofrecido por Hart, a saber: la introducción de un giro<br />

pragmático – además de “hermenéutico” 49 – en la reflexión<br />

filosófica acerca de la normatividad del derecho.<br />

IV. La conexión pragmática entre obligación y sanción<br />

1. La expresividad de las disposiciones sancionatorias<br />

Lo que se impone como siguiente paso es el análisis del concepto<br />

más preciso de una regla social que impone obligaciones<br />

– esto es, de una regla (social) obligante –, que Hart<br />

introduce como una especificación del concepto (más general)<br />

de regla social. 50<br />

Según Hart, lo que distingue a una regla social propiamente<br />

obligante – por oposición, verbigracia, a una regla de<br />

etiqueta o una regla idiomática – consiste en que “la exigencia<br />

general de conformidad es insistente y la presión social<br />

ejercida sobre aquellos que se desvían o amenazan con desviarse<br />

es considerable”. 51 Hart observa de inmediato que la<br />

posibilidad de discernir el carácter moral o jurídico de la<br />

obligación impuesta por la regla en cuestión – no existiendo<br />

aún un sistema centralizadamente organizado de castigos para<br />

el quebrantamiento de las reglas – dependerá de que sea practicable<br />

la diferenciación de dos formas que podría asumir la<br />

presión social ejercida en respaldo de la exigencia de observancia<br />

de la regla.<br />

Así, la presión social podrá estar “limitada a manifestaciones<br />

verbales de desaprobación o de apelación al respeto<br />

del individuo por la regla violada”, dependiendo fundamentalmente<br />

“de la operación de sentimientos de vergüenza, arrepentimiento<br />

y culpabilidad”, en cuyo caso tendría sentido<br />

atribuir carácter primariamente moral a la obligación respectiva.<br />

En cambio, “cuando las sanciones físicas son prominentes<br />

o usuales [...], aunque no sean precisamente definidas ni<br />

administradas por agentes oficiales, sino que sean dejadas a<br />

la comunidad en su conjunto”, tendría sentido caracterizar la<br />

obligación impuesta por la regla como una obligación rudimentariamente<br />

jurídica. 52 Y el hecho indubitable de que la<br />

presión social ejercida en pos de la observancia de una regla<br />

obligante pueda llegar a asumir, simultáneamente, una y otra<br />

forma, lleva a Hart a conceder que, en un estadio pre-institucional,<br />

la distinción misma entre derecho y moral no será<br />

fácil de practicar. 53<br />

49<br />

MacCormick (n. 25), pp. 29 s.<br />

50<br />

MacCormick (n. 25), pp. 55 ss. Esto, porque si bien el<br />

hecho de que una persona sea portadora de una obligación<br />

implicaría la existencia de una regla (social) que la impone, el<br />

hecho de que exista una regla (social) ciertamente no implica<br />

que ésta fundamente deberes u obligaciones para aquellos<br />

cuyo comportamiento puede ser evaluado bajo esa regla. Así<br />

Hart (n. 1), pp. 85 s. Para una crítica del recurso al concepto<br />

(estricto) de regla, en este contexto véase MacCormick<br />

(n. 25), pp. 67 ss., 100 s.<br />

51<br />

Hart (n. 1), p. 86.<br />

52<br />

Hart (n. 1), p. 86.<br />

53<br />

Hart (n. 1), p. 86. Lo cual tendría que resultar bastante<br />

poco sorprendente en la medida en que, en la senda de Hart,<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

576<br />

<strong>ZIS</strong> 11/2012<br />

Por el momento, lo crucial es enfatizar el compromiso de<br />

Hart con la idea de que, en un estadio pre-institucional, el<br />

efecto obligante de una regla social sólo se deja reconocer en<br />

atención a determinados patrones de reacción crítica y hostil<br />

frente a su quebrantamiento. 54 Y si bien Hart complementa lo<br />

anterior enunciando otras dos características que serían distintivas<br />

de las reglas sociales obligantes, una y otra se dejan<br />

derivar sin más de su caracterización como una regla reforzada<br />

a través de mecanismos informales de presión social. 55<br />

Lo anterior significa que, bajo el análisis de Hart, el hecho de<br />

que una persona resulte obligada a hacer o dejar de hacer algo<br />

por una regla social depende irreductiblemente de la circunstancia<br />

de que quienes integran la forma de vida de la cual<br />

participa esa misma persona en general exhiban una disposición<br />

a reaccionar crítica y hostilmente al eventual quebrantamiento<br />

de la regla.<br />

Ello ciertamente puede bastar para disolver la aparente<br />

perplejidad asociada a la noción metafórica de una vinculación<br />

a la regla, como lo sugiere el término “obligación”, o<br />

bien de una deuda para con aquello que la regla exige, como<br />

lo sugiere el término “deber”, de un modo que logre eludir<br />

cualquier compromiso con alguna forma latente de psicologicismo.<br />

56 Pero la pregunta pasa a ser: ¿puede un enfoque como<br />

el de Hart efectivamente diferenciarse del enfoque que<br />

intenta redefinir el concepto de obligación (jurídica) en el<br />

sentido de la sola predictibilidad de la irrogación de un mal a<br />

modo de sanción?<br />

se acepte la tesis de que los conceptos de derecho y moral<br />

pueden ser entendidos como designando modos alternativos<br />

de validez normativa (o práctica), en conjunción con la tesis<br />

de que la tematización de la validez jurídica de un<br />

determinado estándar de comportamiento sólo es posible una<br />

vez que se dispone de reglas (lógicamente) secundarias que<br />

fijan o instituyen condiciones de validez para un determinado<br />

conjunto de reglas.<br />

54 Al respecto MacCormick (n. 25), pp. 134 ss., y Raz (n. 14),<br />

pp. 149 ss. En relación con el carácter constitutivo de la<br />

adopción de determinadas “actitudes reactivas” para la configuración<br />

de formas pre-institucionales de censura y castigo,<br />

sigue siendo imprescindible el análisis ofrecido por Strawson,<br />

Libertad y resentimiento, 1995, pp. 37 ss.<br />

55 Desde ya, la exigencia de que las reglas así reforzadas sean<br />

consideradas importantes, “por el hecho de creerse que son<br />

necesarias para la conservación de la vida social o algún<br />

aspecto altamente valorado de ella” (Hart [n. 1], p. 87), se<br />

deja entender como una implicación del reforzamiento de la<br />

regla a través de los correspondientes mecanismos de presión<br />

social, precisamente porque lo que el ejercicio de presión<br />

social muestra es la significación que los miembros del grupo<br />

reconocen a la regla. Y por otra parte, que la respectiva<br />

exigencia de comportamiento pueda perfectamente estar en<br />

conflicto con aquello que la persona obligada por la regla<br />

pueda desear hacer o dejar de hacer es lo que confiere sentido<br />

al hecho de que en relación con la observancia de la regla sea<br />

reconocible un ejercicio de presión social de cierta<br />

intensidad.<br />

56 Hart (n. 1), pp. 87 s.


Reglas Primarias de Obligación<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

En la elaboración de una respuesta afirmativa a esta última<br />

pregunta, Hart introduce la célebre distinción entre el<br />

punto de vista externo (o del observador) y el punto de vista<br />

interno (o del participante), para dar cuenta de la manera en<br />

que semejante concepción imperativista sería enteramente<br />

insensible al “aspecto interno” de las reglas. 57 La relevancia<br />

de la distinción está en que, desde el punto de vista interno,<br />

“la violación de una regla no es sólo una base para la<br />

predicción de que se seguirá una reacción hostil, sino una<br />

razón para la hostilidad”. 58 Y la mejor interpretación de esta<br />

afirmación, como se intentará mostrar a continuación, pasa<br />

por atribuir a Hart el siguiente compromiso teórico: no<br />

obstante la diferencia lógica que – en contra del modelo<br />

imperativista de Bentham/Austin – ha de reconocerse entre<br />

los conceptos de obligación y sanción, entre ellos cabe<br />

reconocer, al mismo tiempo, una conexión pragmática, sin<br />

referencia a la cual no resulta posible explicar – sin concesiones<br />

metafísicas – la emergencia de una normatividad protojurídica.<br />

La tesis de la diferencia lógica se encuentra expresamente<br />

consagrada en el pasaje de El concepto de derecho reproducido<br />

al comienzo del presente artículo. La consecuencia es<br />

clara: el hecho de que exista una regla social que impone<br />

obligaciones exhibe prioridad lógica frente al hecho de su<br />

reforzamiento a través de una disposición a la imposición de<br />

sanciones, en el sentido de que la caracterización de la regla<br />

como una cuyo quebrantamiento puede dar lugar a la imposición<br />

de sanciones se obtiene por referencia a una propiedad<br />

que es extrínseca a la regla en cuestión. De ahí que, en contra<br />

de lo sugerido por Tapper, 59 así como – matizadamente – por<br />

MacCormick, 60 sea desde ya imprecisa la caracterización de<br />

la concepción de la obligatoriedad de las reglas jurídicas<br />

atribuible a Hart como una variante de “teoría de la sanción”. 61<br />

Pero el problema está en que, en un estadio pre-institucional,<br />

determinado por la inexistencia de un sistema jurídico<br />

institucionalmente diferenciado, el criterio de reconocimiento<br />

de la regla como una regla obligante sólo podrá encontrarse<br />

en el correspondiente ejercicio de presión social, que eventualmente<br />

asumirá la forma de una imposición (y ejecución)<br />

descentralizada de sanciones. En estos términos, el reforzamiento<br />

punitivo informal de determinadas reglas sociales<br />

opera como un criterio pre-institucional de reconocimiento<br />

(mediato), al modo de un criterio de significación: el carácter<br />

obligante de la regla es reconocible por la importancia<br />

(relativa) de la regla; y la importancia (relativa) de la regla es<br />

reconocible, a su vez, por la intensidad de la presión social<br />

ejercida para reforzar su observancia o seguimiento.<br />

57<br />

Hart (n. 1), pp. 88 ss.<br />

58<br />

Hart (n. 1), p. 90.<br />

59<br />

Tapper (n. 35), pp. 160 s.<br />

60<br />

MacCormick (n. 25), pp. 134 ss.<br />

61<br />

A este respecto, el argumento de Hart muestra un significativo<br />

parecido con el (temprano) argumento elaborado por<br />

Bierling (n. 7), pp. 40 ss., para refutar, precisamente, la tesis<br />

de que el carácter jurídico de una norma sería inexorablemente<br />

dependiente de su reforzamiento coercitivo.<br />

Ello hace posible evaluar los méritos de la objeción levantada<br />

por MacCormick en contra del criterio que Hart propone<br />

para distinguir una regla social obligante frente a reglas<br />

sociales de otra clase. Según MacCormick, el criterio relativo<br />

a la insistencia de la demanda general por uniformidad y la<br />

medida de presión social ejercida para ello se encontraría<br />

especificado, irónicamente, desde el solo punto de vista<br />

externo, en términos tales que la distinción en cuestión no<br />

sería explicada como una distinción cualitativa, sino como<br />

una de grado. 62 Ciertamente, el criterio alternativo que Mac-<br />

Cormick propone resulta enteramente viable en un nivel de<br />

análisis puramente conceptual: lo distintivo de una regla<br />

social obligante sería que su aplicación característicamente<br />

podría llevar a un enunciado del tipo “hacer x es hacer algo<br />

incorrecto”. 63 Pero la pregunta entonces pasa a ser: siendo<br />

correcta la descripción de las reglas que imponen obligaciones<br />

como reglas que operan como estándares sustantivos de<br />

comportamiento mínimamente correcto, ¿cómo es posible reconocer<br />

que semejante estándar de comportamiento existe, en<br />

la forma de una regla pública o compartida, sino en atención<br />

a la manera en que los miembros del respectivo grupo social<br />

tienden a reaccionar frente a una desviación del mismo? Y a<br />

este respecto, MacCormick entiende que el criterio tendría<br />

que consistir en un juzgamiento generalizado de esa desviación<br />

como inaceptable (o “indeseable en sentido fuerte”), 64 en<br />

el sentido de ameritar censura o reproche, concediendo que,<br />

en tal medida, su argumento no representa más que una<br />

modificación del argumento de Hart.<br />

2. La base actitudinal de la normatividad<br />

El argumento de Hart se deja entender al modo de la postulación<br />

de una conexión pragmática entre el carácter obligante<br />

de una determinada regla social y su reforzamiento<br />

(informalmente) punitivo. Así formulado, el argumento parece<br />

constituir una aplicación específica – en tanto circunscrita<br />

al reconocimiento de reglas sociales de obligación – del argumento<br />

desarrollado por Brandom en defensa de una concepción<br />

pragmatista de la normatividad, con arreglo a la cual<br />

el concepto de actitud normativa exhibe prioridad explicativa<br />

frente al concepto de estatus normativo. 65 En vocabulario<br />

brandomiano: el estatus normativo – y más precisamente: déontico<br />

– de una acción ϕ como prohibida u ordenada es, en<br />

último término, dependiente de las actitudes normativas de<br />

quienes pueden juzgar – ante todo: en tercera persona – la<br />

62 MacCormick, en: Simpson (n. 5), p. 101 (pp. 119 s.).<br />

63 Lo distintivo de la aplicación de una “regla instrumental”,<br />

en cambio, sería que ella llevaría a un enunciado del tipo<br />

“hacer x de la manera m es hacer x incorrectamente”. Así, la<br />

distinción se dejaría reformular como la distinción entre<br />

reglas bajo las cuales es posible efectuar una crítica<br />

sustantiva de una determinada instancia de comportamiento,<br />

por un lado, y reglas bajo las cuales es posible efectuar una<br />

crítica (solamente) procedimental de una determinada<br />

instancia de comportamiento, por otro. Así MacCormick<br />

(n. 62), pp. 121 s.<br />

64 MacCormick (n. 62), pp. 123 s. n. 27.<br />

65 Brandom (n. 23), pp. 30 ss.<br />

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Juan Pablo Mañalich R.<br />

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omisión o la ejecución de la acción ϕ como correcta o incorrecta.<br />

Lo fundamental de esta reformulación del problema se<br />

halla en el recurso de Brandom al concepto de sanción, en<br />

términos de lo que él denomina un “enfoque retributivo”:<br />

“Semejante enfoque puede asumir varias formas, dependiendo<br />

de cómo sean configuradas las sanciones. En el caso más<br />

simple, aplicar una sanción negativa puede ser entendido en<br />

términos de castigo corporal; una comunidad pre-lingüística<br />

podría expresar su comprensión práctica de una norma de<br />

conducta por la vía de batir a palos a cualquiera de sus<br />

miembros que sean percibidos como transgrediendo esa norma.<br />

En estos términos es posible explicar, por ejemplo, en<br />

qué consiste que haya una norma práctica en vigor según la<br />

cual, para estar autorizado a entrar en una cabaña particular,<br />

uno esté obligado a mostrar una hoja de cierto tipo de árbol.<br />

La respuesta comunal de golpear a cualquiera que intente<br />

entrar sin tal muestra confiere a las hojas del tipo adecuado la<br />

significación normativa, para los miembros de la comunidad,<br />

de una licencia. De esta manera, los miembros de la<br />

comunidad pueden mostrar, a través de lo que hacen, qué es<br />

lo que ellos toman como una conducta apropiada e<br />

inapropiada”. 66<br />

Según Brandom, la tesis según la cual todo estatus normativo<br />

es, en último término, “actitudinalmente” instituido,<br />

admitiría ser rastreada hasta la filosofía de Pufendorf, 67 en<br />

particular en lo tocante a su comprensión del proceso a través<br />

del cual emergerían los entia moralia, que no son más que<br />

propiedades normativas de objetos y eventos que exhiben una<br />

función práctica al guiar la acción de agentes cuya propia<br />

praxis las instituye o impone. 68 Hasta aquí, sin embargo, el<br />

reconocimiento de normas por referencia a la disposición a<br />

sancionar positiva o negativamente a quien las siga o no las<br />

siga parece quedar sometido a un patrón atomista: cada norma<br />

no podrá más que ser reconocida aisladamente, en atención<br />

a las actitudes normativas manifestadas en las correspondientes<br />

disposiciones sancionatorias que refuerzan su<br />

seguimiento. Esto se explica por el hecho de que hasta aquí<br />

las correspondientes sanciones sólo pueden exhibir el estatus<br />

de sanciones externas en relación con el conjunto (o “sistema”)<br />

de normas de cuya identificación se trata. Lo cual contrasta<br />

con la posibilidad de que las sanciones que sirven de<br />

criterio de reconocimiento de normas puedan llegar a adquirir<br />

el estatus de sanciones internas. 69<br />

Una sanción es interna, en este sentido, si aquello que la<br />

cualifica como sanción, en tanto reacción (positiva o negativa)<br />

a una determinada performance, “sólo es susceptible de<br />

especificación en términos normativos, esto es, en términos<br />

de la corrección o incorrección [...] de ulteriores performan-<br />

66 Brandom (n. 23), p. 34.<br />

67 Brandom (n. 23), pp. 46 ss.<br />

68 Brandom (n. 23), p. 48: “Nuestra actividad instituye normas,<br />

impone significaciones normativas sobre un mundo<br />

natural que intrínsecamente carece de significación para la<br />

guía o la evaluación de la acción”.<br />

69 Brandom (n. 23), pp. 42 ss.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

578<br />

<strong>ZIS</strong> 11/2012<br />

ces de acuerdo con otras normas”. 70 Esto supone una redefinición<br />

normativista de la noción misma de sanción, en el<br />

sentido de que, por ejemplo, la sanción (negativa) impuesta<br />

sobre quien ha ejecutado una acción incorrecta sea especificada<br />

como la privación de una determinada autorización, o<br />

bien como la imposición de una determinada obligación, de<br />

modo tal que el castigo consista en “un cambio de estatus<br />

normativo más que de estado natural”. 71 Así, en la medida en<br />

que la sanción (negativa) consiguiente a la contravención de<br />

una norma consista en una modificación del estatus normativo<br />

asociado a la posición relativa del agente (así) sancionado,<br />

la norma reforzada a través de la sanción se encontrará internamente<br />

conectada con la norma correspondiente al estatus<br />

que se ve modificado a modo de sanción.<br />

De esta manera, la identificación de las normas vigentes<br />

en una determinada comunidad de agentes pasa a quedar<br />

sometida a un patrón holista, o más propiamente: sistémico. 72<br />

Pero aquí hay que notar que el sistema de normas así<br />

resultante puede seguir siendo, bajo la representación de<br />

Brandom, un sistema de normas que permanecen implícitas<br />

en las prácticas correspondientes. En contraposición a ello, el<br />

análisis de las reglas sociales que ofrece Hart, en tanto<br />

circunscrito al campo de la teoría del derecho, se distingue<br />

por ocuparse de las implicaciones de la emergencia de un<br />

sistema jurídico propiamente diferenciado, que haga posible<br />

una identificación de reglas de obligación susceptibles de<br />

articulación explícita con arreglo a criterios institucionalizados.<br />

V. La distinción funcional entre reglas primarias y reglas<br />

secundarias<br />

1. La diferenciación reflexiva del sistema jurídico<br />

La digresión precedente pretende haber ilustrado la conexión<br />

pragmática que, en un estadio pre-institucional, caracteriza la<br />

relación entre el reconocimiento de una determinada regla<br />

social obligante, por un lado, y la disposición a la imposición<br />

aún informal y descentralizada de sanciones como manifestación<br />

de la presión social por la conformidad con esa regla,<br />

por otro. Esa conexión pragmática se distingue por aparecer,<br />

en primer lugar, como una relación de dependencia heurística:<br />

el ejercicio de presión social relativa a la observancia de<br />

un determinado estándar de comportamiento opera como<br />

criterio de reconocimiento de ese estándar como una regla<br />

social obligante. Pero esta relación de dependencia heurística<br />

no obsta, según ya se anticipara, a que, desde un punto de<br />

vista lógico, la relación de dependencia sea justamente la<br />

inversa, tal como se sigue de la siguiente observación de<br />

Hart, reproducida al comienzo: “[...] sin embargo, podemos<br />

distinguir claramente la regla que prohíbe cierto comporta-<br />

70<br />

Brandom (n. 23), p. 44.<br />

71<br />

Brandom (n. 23), p. 43.<br />

72<br />

Brandom (n. 23), p. 45: “La atribución de cualquier norma<br />

cuyo reconocimiento por la comunidad asuma la forma de<br />

evaluaciones expresadas en sanciones internas [...] compromete<br />

al intérprete a atribuir también aquellas normas de las<br />

cuales ello depende”.


Reglas Primarias de Obligación<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

miento de la provisión de las penalidades a ser impuestas si la<br />

regla es quebrantada, y suponer que la primera existe sin la<br />

segunda. En cierto sentido, podemos sustraer la sanción y<br />

todavía dejar un estándar de comportamiento inteligible para<br />

cuyo mantenimiento [la sanción] fuera diseñada”. 73<br />

En estos términos, la posibilidad misma de interpretar la<br />

respectiva instancia de ejercicio de presión social como constitutiva<br />

de una sanción descansa en la hipótesis de que existe<br />

una regla social ante cuyo quebrantamiento la irrogación de<br />

un determinado mal ha de contar como reacción, en circunstancias<br />

de que el carácter (débil o fuertemente) punitivo de<br />

esta reacción presupone el carácter obligante de la regla<br />

social así reforzada. Y esta relación de dependencia lógica<br />

del concepto de sanción respecto del concepto de (regla de)<br />

obligación se vuelve explícita una vez que el contexto de análisis<br />

deja de estar constituido por un escenario pre-institucional,<br />

pasando a quedar constituido por la situación propia de<br />

un sistema jurídico propiamente diferenciado.<br />

¿Pero qué significa exactamente que en la forma de vida<br />

de un grupo social emerja un sistema jurídico propiamente<br />

diferenciado? La respuesta que cabría extraer de El concepto<br />

de derecho es la siguiente: un sistema jurídico propiamente<br />

diferenciado se distingue por exhibir una estructura reflexiva,<br />

en el sentido de que el mismo no sólo queda integrado por<br />

reglas que fundamentan obligaciones para los miembros del<br />

respectivo grupo social, sino al mismo tiempo por reglas que<br />

institucionalizan criterios de identificación de esas reglas,<br />

fijan condiciones para su creación y supresión, e instituyen<br />

procedimientos para el establecimiento de su eventual quebrantamiento,<br />

así como sanciones a ser impuestas a consecuencia<br />

del mismo. 74 Tales reglas “secundarias” pueden ser<br />

clasificadas en reglas de reconocimiento, reglas de cambio y<br />

reglas de adjudicación. 75 Y su estatus como reglas secundarias<br />

sería la consecuencia del hecho de estar referidas, de<br />

una manera específica, a las reglas de obligación que contarían,<br />

en relación con aquéllas, como primarias. 76<br />

73<br />

Hart (n. 1), pp. 34 s.<br />

74<br />

Hart (n. 1), pp. 91 ss.<br />

75<br />

De ahí que, en contra de lo sugerido por Zaibert/Smith, en:<br />

Tsohatzidis (ed.), Institutional Acts and Institutional Facts,<br />

p. 157 (p. 158), así como de paso también por Hart (n. 1),<br />

p. 202, de hecho no sea posible “imaginarse tal vez una<br />

sociedad entera en la cual sólo existieran reglas primarias”.<br />

Pues de existir sólo “reglas primarias”, éstas ya no podrían<br />

ser definidas, precisamente, como primarias.<br />

76<br />

La descripción ortodoxa es la que sigue: las reglas de<br />

reconocimiento fijan criterios de identificación de las reglas<br />

primarias de obligación, haciendo posible la existencia de<br />

certidumbre a su respecto; las reglas de cambio fijan<br />

condiciones para la modificación de las reglas primarias de<br />

obligación, confiriendo dinamismo al proceso de (auto-<br />

)modificación del derecho;<br />

las reglas de adjudicación,<br />

finalmente, fijan condiciones de procedimiento para el<br />

establecimiento autoritativo y centralizado del posible<br />

quebrantamiento de una o más reglas primarias de obligación,<br />

y determinan las consecuencias que han de seguirse del<br />

Pero es claro que semejante descripción de la relación entre<br />

reglas primarias y reglas secundarias es tanto incompleta<br />

como imprecisa. Su incompletitud se explica por el hecho de<br />

que el modelo, así presentado, parece hecho a la medida de la<br />

descripción tradicional del derecho público (lato sensu),<br />

resultando dudosa, en cambio, su idoneidad para dar cuenta<br />

de la estructura normativa del derecho privado. 77 De ahí que<br />

para completar el cuadro sea en todo caso imprescindible<br />

reconocer que no toda regla secundaria, en sentido hartiano,<br />

necesita encontrarse referida a una regla de obligación,<br />

pudiendo tener por objeto, en cambio, la identificación, la<br />

modificación, o bien el reforzamiento o la imposición coercitiva<br />

de una posición jurídica cuyo fundamento no esté<br />

constituido por una regla heterónomamente obligante, sino<br />

por un mecanismo de auto-vinculación, como lo es característicamente<br />

un contrato.<br />

Una reflexión similar puede ilustrar la imprecisión que<br />

aqueja, como segundo vicio, a la presentación hartiana de la<br />

distinción entre reglas primarias y reglas secundarias. Pues el<br />

hecho de que las reglas secundarias puedan normalmente ser<br />

caracterizadas como reglas referidas a reglas – o bien: a<br />

mecanismos alternativos de generación de obligaciones – no<br />

equivale en modo alguno a que puedan ser caracterizadas<br />

como reglas necesariamente referidas a reglas primarias. 78<br />

Antes bien: las reglas secundarias pueden estar referidas, en<br />

terminología hartiana, tanto a reglas primarias como a reglas<br />

secundarias. 79 Esto muestra que la descripción de las reglas<br />

mismo, dotando así de eficiencia al ejercicio de presión social<br />

referido a su observancia.<br />

77<br />

Según Tapper (n. 35), p. 267, en los términos de Hart una<br />

“regla secundaria de derecho privado” (private secundary<br />

rules) difícilmente podría ser diferenciada de una regla<br />

primaria. Lo cual contrasta, irónicamente, con el hecho de<br />

que, en el primer esbozo de su concepción ontológicamente<br />

pluralista de la estructura y la función de las reglas jurídicas,<br />

Hart introduzca la noción de “reglas que confieren poderes”<br />

en referencia a las reglas (constitutivas) características del<br />

derecho privado bajo las cuales las personas pueden<br />

modificar – paradigmáticamente: por vía contractual – su<br />

posición jurídica relativa a otros. Véase Hart (n. 1), pp. 27 ss.<br />

Tales reglas “constitutivas” de las condiciones de autovinculación<br />

contractual ciertamente admiten ser sometidas a<br />

especificación ulterior. Así por ejemplo, MacCormick (n. 22),<br />

pp. 35 ss., distingue entre “reglas institutivas”, “reglas consecuenciales”<br />

y “reglas terminativas”. La tesis de que, en<br />

sentido estricto, el derecho privado no conocería normas<br />

como fundamentos de obligaciones, a pesar de que sí existirían<br />

normas (de derecho público lato sensu) que<br />

protegerían relaciones de derecho privado, es defendida por<br />

Binding, Die Normen und ihre Übertretung, tomo 1, 4. ed.<br />

1922, p. 97.<br />

78<br />

Tapper (n. 35), pp. 252 s.<br />

79<br />

Lo cual tendría que resultar suficientemente obvio si se<br />

repara en que tiene perfecto sentido, por ejemplo, admitir la<br />

existencia de reglas de cambio de cuya satisfacción dependa<br />

la instauración, modificación o supresión de (esas mismas u<br />

otras) reglas de cambio. En este sentido, no hay obstáculo<br />

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579


Juan Pablo Mañalich R.<br />

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secundarias como “parasitarias” respecto de las reglas primarias<br />

de obligación resulta equívoca, en la medida en que una<br />

regla primaria, en tanto regla de obligación, pueda ser perfectamente<br />

“parasitaria” de una o más reglas primarias, 80 así<br />

como también de una o más reglas secundarias. 81<br />

2. La interpretación funcional de la distinción<br />

Lo que explica la incompletitud y la imprecisión de la<br />

presentación explícita de la distinción por parte de Hart es la<br />

hipótesis de que el estatus de una regla como regla secundaria<br />

sería dependiente de su posición relativa en el marco del<br />

respectivo sistema de reglas, en el sentido de tratarse de una<br />

regla que se encontraría “por encima” de las correspondientes<br />

reglas primarias. En contra de esta sugerencia, lo que arroja<br />

la argumentación precedente es el hallazgo de que el estatus<br />

de regla secundaria no depende de una propiedad sistémicoestructural<br />

de la regla en cuestión, sino más bien de una<br />

propiedad puramente sistémico-funcional: a diferencia de las<br />

reglas primarias, que se distinguen por operar como bases<br />

jurídicas para obligaciones, las reglas secundarias se distinguen<br />

por fijar las condiciones para la auto-constatación, la<br />

auto-conservación y la auto-realización del correspondiente<br />

sistema jurídico.<br />

La premisa fundamental para esta interpretación funcional<br />

de la distinción se encuentra en lo que Hart identifica como<br />

la “función primaria” del derecho: “designar, mediante reglas,<br />

ciertos tipos de comportamiento como estándares que<br />

guíen ya sea a todos los miembros de la sociedad o algunas<br />

clases especiales [de personas] dentro de ella”. 82 Pero para<br />

que la realización de esta función primaria sea predicable de<br />

un sistema jurídico propiamente diferenciado, resulta imprescindible<br />

la innovación cualitativa que sobreviene a la emer-<br />

lógico alguno a la eventual recursividad de una o más reglas<br />

secundarias. Fundamental al respecto Hart, Essays in Jurisprudence<br />

and Philosophy, 1983, pp. 170 ss.<br />

80<br />

Por ejemplo: la prohibición que quebranta el autor de un<br />

delito de receptación es conceptualmente dependiente de<br />

aquellas prohibiciones a través de cuyo quebrantamiento el<br />

objeto de la receptación puede haber quedado a disposición<br />

del “reducidor”.<br />

81<br />

Por ejemplo: la prohibición que quebranta un juez que<br />

comete prevaricación es conceptualmente dependiente de las<br />

reglas (secundarias) de adjudicación que constituyen el<br />

“derecho aplicable” en el contexto de la correspondiente<br />

decisión judicial. Véase Hart (n. 1), p. 97. Una interpretación<br />

divergente, que se distingue por adoptar un punto de vista<br />

estructural, por oposición a funcional, es ofrecida por<br />

MacCormick (n. 25), pp. 105 s., según quien semejante regla<br />

habría de ser entendida como una regla secundaria de<br />

obligación.<br />

82<br />

Hart (n. 1), pp. 38 s. Ello muestra que no resulta fundada la<br />

sugerencia de Raz (n. 14), pp. 148 s., en cuanto a que el<br />

análisis de Hart tendería a pasar por alto la distinción entre<br />

reglas de obligación dirigidas (= aplicables) a todos los<br />

miembros de un grupo social y reglas de obligación dirigidas<br />

(= aplicables) a alguna clase específica de personas dentro de<br />

ese grupo.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

580<br />

<strong>ZIS</strong> 11/2012<br />

gencia de reglas (funcionalmente) secundarias: la existencia<br />

de una regla obligante ahora puede ser diferenciadamente<br />

tematizada como la existencia de una regla jurídica, cuyo<br />

modo cualificado de existencia se deja identificar, precisamente,<br />

como su validez. 83 Y lo característico de la validez<br />

como modo de existencia cualificado de una regla (o norma)<br />

consiste precisamente en su implicación sistémica: una regla<br />

jurídica existe, en tanto exhibe validez, en la medida en que<br />

pertenece a un sistema de reglas.<br />

VI. Las “normas de sanción” como reglas secundarias de<br />

adjudicación<br />

1. El espectro de las reglas de adjudicación<br />

La reflexividad característica de un sistema jurídico diferenciado<br />

constituye una prestación posibilitada por la operatividad<br />

de las reglas secundarias: las reglas de reconocimiento<br />

sirven a la auto-constatación del sistema jurídico, por la vía<br />

de fijar condiciones institucionalizadas para la identificación<br />

de las reglas que lo constituyen; las reglas de cambio sirven a<br />

la auto-conservación del sistema jurídico, por la vía de fijar<br />

condiciones institucionalizadas para su propia transformación;<br />

y las reglas de adjudicación sirven a la auto-realización<br />

del sistema jurídico, por la vía de fijar condiciones institucionalizadas<br />

para la determinación de la satisfacción de los<br />

presupuestos de aplicación de las reglas que lo constituyen. 84<br />

83<br />

Hart (n. 1), pp. 109 s. De ahí que el concepto de validez<br />

(jurídica) no pueda ser equiparado al concepto de obligatoriedad<br />

jurídica, en la medida en que el carácter vinculante u<br />

obligante de una regla puede ser, más bien, una consecuencia<br />

de su validez. Véase MacCormick (n. 22), pp. 160 ss.; también<br />

Delgado, DOXA 7 (1990), 101. Acerca de las implicaciones<br />

de la comprensión de la validez como modo de<br />

existencia para las posibilidades de una (genuina) lógica<br />

deóntica, véase Ruiter, Law & Philosophy 16 (1997), 479.<br />

84<br />

En relación con esto último, hay que advertir que la<br />

descripción ofrecida por Hart aquí también resulta equívoca.<br />

Afirma Hart (n. 1), pp. 96 s.: “El tercer suplemento al<br />

régimen simple de reglas primarias, dirigido a remediar la<br />

ineficiencia de su presión social difusa, consiste en reglas<br />

secundarias que confieren poderes a individuos a efectuar<br />

determinaciones autoritativas acerca de la cuestión de si, en<br />

una ocasión particular, ha sido quebrantada una regla<br />

primaria”. La equivocidad de la descripción se sigue del<br />

hecho de que la aplicación de una regla de adjudicación no<br />

necesita estar referida al establecimiento del eventual<br />

quebrantamiento de una regla primaria. Pues es obvio que<br />

también pueden surgir desacuerdos acerca de la satisfacción<br />

de las condiciones de aplicabilidad de una o más reglas<br />

secundarias, pudiendo resultar necesario o conveniente hacer<br />

posible un pronunciamiento autoritativo al respecto. Y al<br />

mismo tiempo, también es claro que la aplicación de reglas<br />

secundarias de adjudicación también sirve a la determinación<br />

autoritativa acerca del incumplimiento de obligaciones no<br />

fundadas en reglas primarias sino en mecanismos de autovinculación<br />

contractual.


Reglas Primarias de Obligación<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

Esto exige volver sobre la noción de “reglas del derecho<br />

penal”, a la cual Hart recurre en varios pasajes de su crítica<br />

del modelo imperativista. Pues si lo distintivo de las “reglas<br />

del derecho penal” consiste en una provisión de castigos cuya<br />

imposición tiene como presupuesto una “infracción de un<br />

deber en la forma de la violación de una regla establecida<br />

para guiar la conducta de los ciudadanos en general”, 85 cabe<br />

concluir, en atención a la distinción funcional entre reglas<br />

primarias y reglas secundarias, que el complejo de reglas<br />

identificado a través de la expresión “reglas del derecho<br />

penal” representa más bien un entramado de reglas primarias<br />

de obligación reforzadas por reglas secundarias de adjudicación.<br />

La fundamentación de esta tesis hace conveniente reproducir<br />

el siguiente pasaje in extenso: “Apenas necesita ser<br />

dicho que en pocos sistemas jurídicos los poderes judiciales<br />

quedan circunscritos a determinaciones autoritativas del hecho<br />

de la violación de reglas primarias. [...] En cambio, ellos han<br />

complementado las reglas primarias de obligación a través de<br />

ulteriores reglas secundarias, especificando o (a lo menos)<br />

limitando las penalidades por [su] violación, y han conferido<br />

a los jueces, una vez que éstos han constatado el hecho de tal<br />

violación, el poder exclusivo de dirigir la aplicación de penalidades<br />

por parte de otros funcionarios oficiales. Estas reglas<br />

secundarias proveen las “sanciones” oficiales centralizadas<br />

del sistema”. 86<br />

Parece claro que, según Hart, las reglas que proveen las<br />

sanciones centralizadas del correspondiente sistema jurídico,<br />

cuyo paradigma está constituido por aquello que cabe denominar<br />

“normas de sanción (penal)”, han de ser entendidas<br />

como reglas secundarias. 87 Lo interesante, más bien, es reparar<br />

en las implicaciones de su categorización específica como<br />

reglas de adjudicación. Esto último podría ser puesto en duda<br />

si se admitiera la sugerencia, hecha por Tapper, de una<br />

taxonomía cuádruple de las reglas secundarias, bajo la cual,<br />

junto a las reglas de reconocimiento, de cambio y de adjudicación,<br />

se incluyeran reglas de imposición del derecho como<br />

constitutivas de una categoría autónoma. 88 En contra de la<br />

lectura propuesta por Tapper cabe oponer, desde ya, la<br />

objeción obvia de que la categoría de “reglas de imposición”<br />

no figura en la enunciación sistemática que Hart ofrece de las<br />

reglas secundarias. Pero en su contra también cabe esgrimir<br />

el hecho de que, en el Postscript a la segunda edición de El<br />

concepto de derecho, Hart parezca entender el término<br />

85 Hart (n. 1), p. 39.<br />

86 Hart (n. 1), pp. 97 s.<br />

87 Véase sin embargo Röhl/Röhl (n. 5), pp. 223 s., según<br />

quienes lo que Hart entiende bajo el término “reglas primarias”<br />

quedaría integrado tanto por las normas de comportamiento<br />

como por las normas de sanción. Esta interpretación<br />

parece encontrar su premisa en la idea de que las reglas<br />

secundarias se circunscribirían a aquellas “con arreglo a las<br />

cuales se determina la validez de las ‘reglas primarias’”.<br />

Acertadamente en contra Renzikowski, en: Dölling/Erb (eds.),<br />

Festschrift für Karl Heinz Gössel zum 70. Geburtstag am 16.<br />

Oktober 2002, 2002, p. 3 (pp. 11 s.).<br />

88 Tapper (n. 35), p. 268.<br />

“imposición” (enforcement) como sinónimo de “adjudicación”<br />

(adjudication). 89<br />

Lo que subyace a ello es una ampliación del alcance<br />

atribuido a la noción de poderes judiciales, en el sentido de<br />

que éstos no quedan circunscritos al solo pronunciamiento<br />

autoritativo concerniente al eventual quebrantamiento de una<br />

regla primaria de obligación, sino que también comprenden la<br />

potestad de “dirigir la aplicación de penalidades por parte de<br />

otros funcionarios oficiales”. Esto quiere decir que Hart<br />

reconoce una subclase de reglas secundarias de adjudicación,<br />

integrada por aquellas reglas con arreglo a las cuales un<br />

órgano jurisdiccional queda habilitado para la imposición de<br />

sanciones a ser ejecutadas por otros agentes públicos que quedan<br />

vinculados por el respectivo pronunciamiento jurisdiccional.<br />

Y si bien el correspondiente catálogo de sanciones no<br />

necesita estar circunscrito a sanciones penales en sentido<br />

estricto, éstas últimas no dejan de constituir el paradigma de<br />

lo que cuenta como una sanción jurídica. 90<br />

2. Las reglas de adjudicación como reglas secundarias<br />

Es fundamental advertir cuáles son las implicaciones de la<br />

categorización de las reglas de adjudicación de esta subclase,<br />

que se distinguen por conferir potestades para la imposición y<br />

ejecución de sanciones, como reglas secundarias; en palabras<br />

de Hart: “a pesar de que pueden estar reforzadas por ulteriores<br />

reglas que impongan deberes sobre los jueces, [las reglas<br />

de adjudicación] no imponen deberes sino que confieren poderes<br />

judiciales, así como un estatus especial a las declaraciones<br />

judiciales acerca de la infracción de obligaciones”. 91<br />

Esta observación constituye un punto de apoyo fundamental<br />

para la interpretación funcional de la distinción entre<br />

reglas primarias y reglas secundarias, ya propuesta. Pues con<br />

arreglo a esa misma interpretación, las reglas secundarias son<br />

reglas que se distinguen por no imponer deberes u obligaciones,<br />

sino por especificar las condiciones bajo las cuales un<br />

sistema jurídico se reconoce, se modifica y se realiza a sí<br />

mismo.<br />

Esta conclusión desafía un lugar común del discurso contemporáneo<br />

de la teoría de las normas, a saber: la tesis de que<br />

las reglas de adjudicación no serían más que reglas de obligación<br />

en el nivel del “sistema normativo (secundario) del<br />

juez”, por oposición al “sistema normativo (primario) del<br />

súbdito”. 92 Frente a ello, la concepción esbozada por Hart<br />

89<br />

Sostiene Hart (n. 1), p. 249: “los rasgos distintivos del<br />

derecho son la provisión de reglas secundarias para la identificación,<br />

el cambio y la imposición [enforcement] de sus<br />

estándares, así como su pretensión de prioridad sobre otros<br />

estándares”.<br />

90<br />

La demarcación puede resultar sumamente compleja. En<br />

este contexto, empero, basta con asumir la plausibilidad de<br />

identificar sanciones propiamente punitivas en atención a lo<br />

que Feinberg, Doing & Deserving, 1970, pp. 95 ss., denominara<br />

su “función expresiva”.<br />

91<br />

Hart (n. 1), p. 97.<br />

92<br />

Véase Alchourrón/Bulygin, Normative Systems, 1971,<br />

pp. 146 ss., 151 ss., así como Röhl/Röhl (n. 5), p. 223. En<br />

detalle al respecto Dan-Cohen, Harmful Thoughts, Essays on<br />

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581


Juan Pablo Mañalich R.<br />

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resulta mucho más próxima a la tesis de Binding, con arreglo<br />

a la cual las normas de sanción (o “leyes penales”) se caracterizarían<br />

por no imponer deber alguno, sino por configurar la<br />

correspondiente relación jurídico-punitiva entre el Estado y la<br />

persona que ha quebrantado la norma primaria de comportamiento<br />

(o “norma”). 93 En la terminología actualmente en uso,<br />

la norma de sanción sería una regla (“puramente”) constitutiva:<br />

la norma de sanción confiere estatus institucional al quebrantamiento<br />

de la norma de comportamiento como instancia<br />

de comportamiento punible, así como a la correspondiente<br />

reacción al quebrantamiento de la norma como instancia de<br />

punición jurídica. 94 Y que las normas de sanción, así entendidas,<br />

sean aplicadas por el cuadro de funcionarios al cual compete<br />

el ejercicio de las potestades relativas a la administración<br />

del respectivo “sistema centralizado de sanciones”, mas sin<br />

imponer – por sí mismas – deber alguno sobre esos mismos<br />

funcionarios, es exactamente lo que se expresa en su caracterización<br />

funcional como reglas secundarias de adjudicación,<br />

con arreglo a la concepción de Hart.<br />

VII. Las reglas primarias como razones obligantes<br />

1. El desacoplamiento de las reglas de obligación<br />

La cuestión que resta por examinar es la siguiente: ¿cómo<br />

han de ser reconstruidas las reglas de obligación en tanto<br />

reglas (funcionalmente) primarias que integran un sistema<br />

jurídico propiamente diferenciado? Ello requiere ser analizado,<br />

puesto que con la diferenciación de un sistema jurídico<br />

reflexivo tiene lugar un desacoplamiento funcional de las<br />

reglas jurídicas que fundamentan obligaciones, por un lado, y<br />

las reglas jurídicas que fijan condiciones para la imposición y<br />

ejecución de sanciones para el caso de su quebrantamiento,<br />

por otro. De ello se sigue que las reglas primarias de obligación<br />

pueden ser diferenciadas de las reglas secundarias de<br />

adjudicación que establecen las sanciones a ser impuestas en<br />

Law, Self, and Morality, 2002, pp. 37 ss., quien indaga en la<br />

posibilidad de reconstruir la diferencia entre las reglas de uno<br />

y otro nivel como una de “separación acústica”, a ser institucionalmente<br />

realizada a través de “estrategias de transmisión<br />

selectiva”.<br />

93<br />

Binding (n. 77), pp. 19 ss.<br />

94<br />

Mañalich, Nötigung und Verantwortung, 2009, pp. 25<br />

ss. En palabras de Searle (n. 11), p. 50: “Todo el punto del<br />

derecho penal es que éste es regulativo, no constitutivo. El<br />

punto es prohibir, por ejemplo, formas de comportamiento<br />

previamente existentes, tal como matar. Pero para hacer<br />

efectivas estas regulaciones, tiene que haber sanciones, y ello<br />

requiere la atribución de un nuevo estatus a la persona que<br />

quebranta el derecho. Así, a la persona que, bajo ciertas<br />

condiciones [...], mata a otra persona, y es encontrada culpable<br />

de ello, se asigna el estatus de “condenada por asesinato”<br />

[...]; y con este nuevo estatus vienen aparejadas las<br />

penas correspondientes. Así, el regulativo ‘no debes matar’<br />

genera el correspondiente constitutivo: ‘matar, bajo<br />

determinadas circunstancias, cuenta como asesinato, y el<br />

asesinato cuenta como un crimen susceptible de ser castigado<br />

con pena de muerte o de prisión’”.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

582<br />

<strong>ZIS</strong> 11/2012<br />

caso de que aquéllas resulten quebrantadas. Lo cual parece<br />

tener una consecuencia obvia para la determinación de la<br />

estructura de las reglas primarias de obligación: el anuncio de<br />

determinadas sanciones susceptibles de ser impuestas a<br />

consecuencia de su quebrantamiento es externo a la regla en<br />

tanto razón obligante.<br />

Esta interpretación está lejos de ser unánimemente compartida<br />

en el nivel de la recepción doctrinal de la concepción<br />

de Hart. Una interpretación divergente emerge, por ejemplo,<br />

en la lectura sugerida por Renzikowski, que se distingue por<br />

asimilar decisivamente la concepción de Hart a la de<br />

Bentham, no obstante la obvia advertencia del rechazo del<br />

modelo imperativista del segundo por parte del primero. 95 La<br />

premisa fundamental, a este respecto, está constituida por un<br />

análisis comparativo de la distinción entre “ley principal” y<br />

“ley subsidiaria” por parte de Bentham, por un lado, y la<br />

distinción entre “norma” y “ley penal” por parte de Binding,<br />

por otro. 96 Lo que la comparación arroja como resultado es lo<br />

siguiente: mientras que Binding desacopla estrictamente la<br />

norma de comportamiento de la norma de sanción, en el<br />

sentido de que la primera sería enteramente autónoma, en<br />

tanto primaria, frente a la segunda, 97 Bentham entiende que la<br />

norma primaria integraría ya, junto a la respectiva exigencia<br />

de comportamiento, el anuncio (“predictivo”) de la sanción a<br />

ser impuesta en caso de su contravención. 98 Y según Renzikowski,<br />

la concepción de Bentham exhibiría la ventaja de ser<br />

“más realista”, al dar cuenta de la divergencia de la normatividad<br />

característica del derecho frente a la de la moral: “las<br />

normas jurídicas son seguidas en tanto normas jurídicas por<br />

miedo ante la pena o alguna otra consecuencia jurídica desagradable”.<br />

99<br />

A pesar de reconocer explícitamente la crítica hartiana al<br />

modelo imperativista, Renzikowski cree hallar una coincidencia<br />

decisiva entre ambas concepciones, en el sentido de que<br />

una y otra lograrían sortear, de igual manera, la objeción<br />

relativa al supuesto colapso de la distinción entre derecho y<br />

moral que se seguiría del aislamiento de la norma (primaria)<br />

de comportamiento respecto de la norma (secundaria) de<br />

sanción. 100 El problema radica, sin embargo, en que la tesis<br />

95<br />

Renzikowski (n. 87), pp. 11 s.<br />

96<br />

Renzikowski (n. 87), pp. 8 s.<br />

97<br />

Binding, Handbuch des Strafrechts, 1885, pp. 155 ss.<br />

98<br />

Bentham (n. 7), pp. 133 ss. Tal comprensión de la estructura<br />

de las “normas del derecho penal” es validada por Hoerster,<br />

JZ 1989, 10, en su crítica al modelo monista de Schmidhäuser,<br />

Form und Gehalt der Strafgesetze, 1988, passim, bajo<br />

el cual las tradicionalmente denominadas “normas de comportamiento”<br />

carecerían de estatus jurídico.<br />

99<br />

Renzikowski (n. 87), p. 9.<br />

100<br />

En palabras de Renzikowski (n. 87), pp. 12 s.: “Esta<br />

objeción no alcanza a Bentham y Hart. De acuerdo con ellos,<br />

con la sanción anunciada por vía de amenaza las normas<br />

primarias contienen, en conjunto con la regla de comportamiento,<br />

un motivo para la conformidad. La sanción no está<br />

vinculada aquí con el comportamiento en la forma específica<br />

de la conexión entre supuesto de hecho y consecuencia<br />

jurídica (si – entonces). Pero la diferencia frente a una pres-


Reglas Primarias de Obligación<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

de Renzikowski pasa completamente por alto lo que está en<br />

juego en la refutación hartiana del modelo imperativista de<br />

Bentham/Austin. Pues si bien es cierto que Hart reconoce la<br />

coercitividad como una propiedad distintiva del derecho, 101 el<br />

núcleo de su proyecto teórico se deja identificar con la crítica<br />

a la reducción de su normatividad a su coercitividad, 102 en<br />

circunstancias de que la defensa de semejante reducción es lo<br />

que mejor caracteriza al modelo de Bentham/Austin. Y esta<br />

discrepancia fundamental se manifiesta en la concepción noreduccionista<br />

de la autoridad legislativa (lato sensu) articulada<br />

por Hart, como se intentará mostrar a continuación.<br />

2. La estructura pragmático-lingüística de la promulgación<br />

de reglas de obligación<br />

Tal como ya se ha establecido, Hart sugiere que en un estadio<br />

pre-institucional no es posible identificar la forma embrionaria<br />

de semejante autoridad más que por referencia a una<br />

disposición socialmente generalizada a reaccionar hostilmente<br />

frente al quebrantamiento de determinados estándares de<br />

comportamiento, cuya fuerza obligante es reconocible en esa<br />

disposición informalmente represiva, que a su vez es expresiva<br />

de la adopción de actitudes normativas que imponen el<br />

correspondiente estatus normativo sobre la acción en cuestión.<br />

Pero con la emergencia de un sistema jurídico propiamente<br />

diferenciado, el reconocimiento de la autoridad para la<br />

producción de reglas vinculantes deja de ser (al menos:<br />

directamente) dependiente de la adopción generalizada de<br />

actitudes normativas manifestadas en la disposición a responder<br />

con sanciones a su eventual quebrantamiento. Pues lo que<br />

distingue a un sistema jurídico propiamente diferenciado es,<br />

ante todo, la institucionalización de criterios de reconocimiento<br />

de reglas primarias de obligación – así como de reglas<br />

cripción moral se obtiene del hecho de que una sanción es<br />

anunciada a modo de amenaza, que es impuesta en un procedimiento<br />

judicialmente organizado”.<br />

101<br />

Hart (n. 1), pp. 200 ss.<br />

102<br />

Hart (n. 3), pp. 144 s. De ahí que, en contra de lo sugerido<br />

por Dan-Cohen (n. 92), pp. 95 ss., la concepción de Hart no<br />

pueda identificarse con una “concepción aditiva”, bajo la cual<br />

“[l]a normatividad y la coerción son retratadas como dos<br />

estrategias separadas, pero complementarias”, pues ello desconoce<br />

manifiestamente el compromiso del modelo de Hart<br />

con lo que aquí se ha denominado la “conexión pragmática”<br />

entre los conceptos de obligación y de sanción (jurídicas). No<br />

está de más notar aquí que la “concepción disyuntiva” favorecida<br />

por Dan-Cohen, según la cual, “[m]ás que ser dispositivos<br />

complementarios y de reforzamiento mutuo, la<br />

normatividad y la coerción también se hallan en pugna la una<br />

con la otra”, se deja explicar por el hecho de que él identifica<br />

la coerción con la coacción motivacionalmente eficaz, esto<br />

es, con la coacción mediante amenaza. Su constatación de la<br />

dificultad de compatibilizar la normatividad y la coercitividad<br />

del derecho, en tal medida, deja intacta la plausibilidad de un<br />

modelo que articule esa relación a partir de un “enfoque retributivo”,<br />

en la medida en que el concepto de coerción implicado<br />

por éste se corresponda con la noción de vis absoluta.<br />

Al respecto Mañalich, Terror, pena y amnistía, 2010, pp. 95 ss.<br />

secundarias de diversa índole – que exhiben validez jurídica<br />

en tanto pertenecientes a un determinado sistema jurídico. 103<br />

La transformación que trae consigo semejante institucionalización<br />

de criterios de reconocimiento, entendidos como<br />

criterios de validez, se deja describir con mayor precisión<br />

como sigue: el estatus normativo de la acción cuya omisión o<br />

ejecución es jurídicamente exigida – esto es: su estatus deóntico<br />

como acción prohibida u ordenada, respectivamente – es<br />

impuesto sobre ella como resultado de un acto de habla<br />

formalizado, consistente en la promulgación (o puesta en vigencia)<br />

de una regla de obligación. 104 La ventaja del recurso a<br />

la noción de acto de habla, en este contexto, es que así se<br />

hace posible reformular con mayor exactitud la diferencia<br />

que ha de reconocerse entre la concepción no-reduccionista<br />

de la legislación favorecida por un modelo no-imperativista<br />

como el de Hart, por un lado, y la concepción reduccionista<br />

favorecida por un modelo imperativista como el de Bentham/<br />

Austin, por otro.<br />

En los términos de la teoría de los actos de habla, este<br />

último modelo se caracteriza por entender la promulgación de<br />

una regla de obligación como la conjunción de la realización<br />

de dos clases de actos ilocutivos, a saber: un acto de habla<br />

directivo, consistente en la formulación de la respectiva exigencia<br />

de comportamiento, y un acto de habla compromisorio,<br />

consistente en el anuncio de la irrogación de un mal a<br />

modo de amenaza condicional para el caso en que la<br />

exigencia de comportamiento se vea contravenida. 105 De ahí<br />

que el criterio para la evaluación del éxito de semejante<br />

instancia de acto de habla ilocutivamente mixto sea el propio<br />

de la acción estratégica: el efecto obligante de la regla así<br />

promulgada no sería disociable de su (eventual) efecto perlocutivo,<br />

consistente en la efectiva intimidación de los destinatarios<br />

de la exigencia de comportamiento respaldada por la<br />

amenaza. 106<br />

A la concepción de la legislación que es propia del modelo<br />

hartiano subyace una diferente estructura pragmáticolingüística.<br />

Tal como en el caso anterior, aquí la promulgación<br />

o puesta en vigencia de una regla de obligación también<br />

puede ser entendida como la conjunción de la realización de<br />

dos actos ilocutivos de dos tipos. Pero esa conjunción ya no<br />

103<br />

Sobre la conexión conceptual entre la identidad de un<br />

sistema jurídico y los criterios de pertenencia de las reglas<br />

que lo integran, véase Raz (n. 14), pp. 188 ss.<br />

104<br />

Que la regla primaria de obligación no se encuentre explícitamente<br />

formulada por ley no obsta a que ella pueda ser<br />

pragmáticamente inferida a partir de la correspondiente norma<br />

de sanción, tal como lo demostrara Binding (n. 77), p. 45;<br />

véase también Bierling (n. 7), pp. 134 s.<br />

105<br />

La correspondiente taxonomía de los tipos (puros) de<br />

actos ilocutivos se encuentra en Searle, Expression and<br />

Meaning, 1979, pp. 1 ss. Para una crítica de la pretensión de<br />

exhaustividad sistemática de la clasificación, véase Mañalich,<br />

Estudios Públicos 119 (2010), 121 con ulteriores referencias.<br />

106<br />

Lo cual se ajusta enteramente a la observación de Renzikowski,<br />

ya comentada: “las normas jurídicas son seguidas en<br />

tanto normas jurídicas por miedo ante la pena o alguna otra<br />

consecuencia jurídica desagradable”.<br />

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583


Juan Pablo Mañalich R.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

admite ser entendida como una simple adición, sino más bien<br />

como una derivación de una fuerza ilocutiva a partir de la<br />

otra. Con arreglo a la interpretación aquí defendida, las reglas<br />

de obligación se distinguen por la imposición de un<br />

determinado estatus deóntico sobre una acción de cierta clase.<br />

Tal imposición de un estatus se deja entender como el<br />

resultado de un acto de habla declarativo, 107 en la medida en<br />

que ese estatus cuente como un estatus funcional (o “estatusfunción”),<br />

esto es, como un estatus cuya imposición sirve a<br />

un determinado propósito, 108 que consiste en proveer una<br />

razón para la omisión o la ejecución de la acción correspondiente.<br />

De ahí que, a través del acto habla declarativo por el<br />

cual se impone el correspondiente estatus normativo sobre la<br />

acción en cuestión, consistente en su declaración como prohibida<br />

u ordenada, se obtenga el resultado ilocutivo característico<br />

de un acto de habla directivo. 109<br />

3. Las reglas de obligación como razones para la acción<br />

Lo anterior hace posible explicar en qué consiste la producción<br />

de reglas con fuerza obligante, sin que sea en absoluto<br />

necesario incorporar una referencia al eventual anuncio de la<br />

imposición (y ejecución) de sanciones para el caso de su<br />

quebrantamiento. De ahí que, conceptualmente, nada se<br />

oponga al eventual reconocimiento de una regla de obligación<br />

en la forma de una lex imperfecta. 110 Pues esto es<br />

precisamente lo que se afirma cuando se observa que “podemos<br />

distinguir claramente la regla que prohíbe cierto comportamiento<br />

de la provisión de las penalidades a ser impuestas si<br />

la regla es quebrantada, y suponer que la primera existe sin la<br />

segunda”. 111 El paso clave se halla en la consideración de que<br />

el estatus normativo de una acción opera proveyendo una<br />

razón para la acción. Y el carácter específicamente jurídico<br />

de semejante razón para la acción se identifica, según Hart,<br />

con una doble característica de las reglas jurídicas que<br />

fundamentan obligaciones: se trata de razones perentorias o<br />

“excluyentes de la deliberación”, por una parte, así como de<br />

razones independientes-de-su-contenido, por otra. 112<br />

107<br />

Searle (n. 105), pp. 16 ss.<br />

108<br />

Según Searle, Making the Social World, 2010, pp. 58 ss.,<br />

lo distintivo de todo estatus funcional consiste, por un lado,<br />

en el hecho de que su imposición y conservación es dependiente<br />

de un ejercicio de intencionalidad colectiva, así como,<br />

por otro lado, en el hecho de que la entidad en cuestión<br />

exhiba el estatus respectivo no exclusivamente por su estructura<br />

intrínseca, sino en virtud de la imposición y el reconocimiento<br />

colectivo de ese estatus.<br />

109<br />

Searle (n. 105), p. 28.<br />

110<br />

Binding (n. 77), pp. 63 ss.<br />

111<br />

Hart (n. 1), pp. 34 s.<br />

112<br />

Hart (n. 3), pp. 244 ss. Aquí no es posible entrar en el<br />

análisis pormenorizado de las similitudes y diferencias entre<br />

tal caracterización de las reglas de obligación, por un lado, y<br />

su caracterización como “razones excluyentes” (Raz [n. 18],<br />

pp. 58 ss.) o como “generalizaciones atrincheradas (Schauer<br />

[n. 18], pp. 38 ss.), por otro. Hart hace explícita, en todo<br />

caso, su deuda para con la seminal propuesta de Raz.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

584<br />

<strong>ZIS</strong> 11/2012<br />

En la terminología de von Wright, esto quiere decir que<br />

Hart entiende las razones primarias que imponen obligaciones<br />

como desafíos (challenges), esto es, como razones externas<br />

para la acción, cuya existencia – entendida como validez<br />

– depende de la satisfacción de criterios objetivos de reconocimiento,<br />

con independencia de si ellas son subjetivamente<br />

reconocidas como razones por parte de aquellos a quienes se<br />

encuentran dirigidas; esto es, de aquellos a quienes esas<br />

reglas resultan aplicables. 113 Esta última es la terminología<br />

favorecida por Hart en contra del usual recurso a la noción de<br />

destinatario, que tendería a favorecer una problemática asimilación<br />

de la situación de la puesta en vigor de un estándar<br />

de comportamiento general a la situación de la emisión de<br />

una orden particular a una persona determinada. 114 El rendimiento<br />

de este aspecto específico del análisis del concepto de<br />

regla obligante que ofrece Hart se muestra en su potencial<br />

contribución a la disolución del tradicional “problema del<br />

destinatario” en el contexto de la teoría de las normas. Pues el<br />

análisis de Hart vuelve clara la diferencia entre la pregunta<br />

por la aplicabilidad de una regla (o norma) en la situación en<br />

que se encuentra una persona cualquiera, por un lado, y la<br />

pregunta acerca de si esa misma persona es individualmente<br />

capaz de darle seguimiento, por otro. 115<br />

VIII. Epílogo: la teoría de las normas frente a la teoría de<br />

la pena<br />

A modo de conclusión, cabe sostener que el desarrollo consistente<br />

de la poderosa tesis de “la unión de reglas primarias y<br />

secundarias” vuelve inviable el recurso indiferenciado a la<br />

etiqueta – incidentalmente empleada por el propio Hart – de<br />

“las reglas del derecho penal”, como si ella designara una<br />

categoría homogénea. Una descripción mínimamente sofisticada<br />

de un régimen de derecho penal exige diferenciar, en lo<br />

inmediato, 116 dos sistemas de reglas pragmáticamente entrela-<br />

113<br />

Vgl. v. Wright, Practical Reason, 1983, pp. 53 s.<br />

114<br />

Hart (n. 1), pp. 21 s. Análogamente Kelsen, Allgemeine<br />

Theorie der Normen, 1979, p. 7: “‘Destinatario de la norma’<br />

es sólo la expresión de que el comportamiento establecido en<br />

la norma como debido es un comportamiento humano, el<br />

comportamiento de un ser humano”.<br />

115<br />

Mañalich (n. 94), pp. 37 ss., 46 ss. Para la tesis de la<br />

restricción del “círculo de destinatarios” de una norma a las<br />

personas individualmente capaces de darle seguimiento,<br />

véase Binding (n. 77), pp. 243 s. Para una consistente defensa<br />

de la necesidad de reconocer la existencia de un “injusto<br />

puramente objetivo” en la recepción de la construcción<br />

teórica de Binding, véase sin embargo Nagler, en: Beling et<br />

al (eds.), Festschrift für Karl Binding zum 4. Juni 1911, 1911,<br />

tomo 2, p. 273 (p. 331 ss., 367 s.).<br />

116<br />

Todavía han de diferenciarse, además, las así llamadas<br />

“reglas de imputación”, que fijan las condiciones de las<br />

cuales depende la imputabilidad del quebrantamiento de<br />

alguna norma primaria de comportamiento (o regla primaria<br />

de o-bligación) a una persona determinada, y que se dejan<br />

entender como reglas que fijan condiciones de aplicabilidad<br />

de la correspondiente norma de sanción (o regla secundaria


Reglas Primarias de Obligación<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

zados. 117 A este respecto, la insistencia de Hart en la necesidad<br />

de dar cuenta de las reglas primarias de obligación sin<br />

reducir su obligatoriedad a la coercitividad de su reforzamiento<br />

a través de reglas secundarias de adjudicación instituyentes<br />

de un sistema de sanciones centralizado, es la consecuencia<br />

de su advertencia de que un modelo que – como el de<br />

Kelsen 118 o el de Schmidhäuser 119 – tendiera a prescindir de<br />

las primeras no alcanzaría siquiera a dar cuenta de la distinción<br />

conceptual entre penas e impuestos. 120<br />

Cuestión distinta es si las reglas primarias de obligación<br />

han de ser entendidas, en último término, como reglas del<br />

derecho penal. En este punto, la discrepancia entre la concepción<br />

de Hart y la concepción de Binding difícilmente podría<br />

ser mayor. Pues mientras que el primero no duda en atribuir<br />

al derecho penal la función primaria de proveer estándares<br />

que sirvan de guía de comportamiento, identificando así la<br />

función primaria del derecho penal con la función primaria<br />

del derecho en su conjunto, 121 el segundo parte de la base del<br />

carácter estrictamente secundario del derecho penal, hasta el<br />

punto de caracterizar las normas de comportamiento como<br />

normas de derecho público general. 122 Notablemente, la premisa<br />

sobre la cual Binding pretende apoyar esta conclusión<br />

está constituida por la necesidad de evitar una caracterización<br />

del derecho penal como (directamente) orientado a la prevención,<br />

123 en circunstancias de que la prevención (general) sería,<br />

según Hart, la finalidad cuya persecución justificaría globalmente<br />

– bajo el límite impuesto por una exigencia de “retribución”<br />

como criterio de distribución de cada instancia de<br />

castigo – la institución de la pena. 124<br />

Determinar si, y en su caso en qué medida, esta última<br />

concepción sustantiva de la justificación del castigo es<br />

compatible con el modelo dualista-reflexivo de las “reglas del<br />

derecho penal” que se deja extraer de El concepto de de-<br />

de adjudicación). Al respecto en detalle Mañalich (n. 94), pp.<br />

23 ss., con ulteriores referencias.<br />

117 De modo congruente con su sugerencia de que “es generalmente<br />

suficiente describir el derecho penal sólo en términos<br />

de deberes” – esto es, sin referencia a derechos – (Hart<br />

[n. 3], pp. 185 s.), al dar cuenta de las eximentes usualmente<br />

reconocidas como causas de justificación constituidas por<br />

reglas permisivas, Hart (n. 1), pp. 178 s., se inclina por su<br />

comprensión como excepciones frente a la correspondiente<br />

“prohibición general”. En cuanto a esto último véase también<br />

Binding (n. 77), pp. 127 ss.; el mismo (n. 97), pp. 173 ss.<br />

118 Kelsen (n. 114), pp. 77 s., 108 ss.<br />

119 Schmidhäuser (n. 98), passim.<br />

120 Hart (n. 1), pp. 35 ss. Para la recepción del modelo kelseniano<br />

en pos de la elaboración de una teoría monista de las<br />

normas del derecho penal, véase Hoyer, Strafrechtsdogmatik<br />

nach Armin Kaufmann, 1997, pp. 43 ss.; para una exposición<br />

crítica véase Renzikowski, ARSP 87 (2001), 110.<br />

121 Hart (n. 1), pp. 38 s.<br />

122 Binding (n. 77), pp. 96 s.; el mismo (n. 97), pp. 162 ss.<br />

123 Al respecto Mañalich (n. 102), pp. 103 ss.<br />

124 Hart, Punishment and Responsibility, 2. ed. 2008, pp. 1<br />

ss., 230 ss.<br />

recho, es una tarea que excede el marco de la presente indagación.<br />

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585


BVerfG, Beschl. v. 7.12.2011 – 2 BvR 2500/09 u.a. Steinsiek/Vollmer<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

586<br />

E n t s c h e i d u n g s a n m e r k u n g<br />

Mindestanforderungen an die Schadensfeststellungen bei<br />

einem Erfüllungsbetrug<br />

1. Im Zeitpunkt des Abschlusses von Lebensversicherungen<br />

liegt noch kein vollendeter Eingehungsbetrug vor,<br />

wenn der Täter zu diesem Zeitpunkt beabsichtigt, die<br />

Versicherungsprämien zu entrichten, aber die Versicherungssumme<br />

durch eine spätere Täuschung über den<br />

Eintritt eines Versicherungsfalls zu erlangen.<br />

2. Das verfassungsrechtliche Bestimmtheitsgebot schließt<br />

es aus, das Vorliegen nicht bezifferter Verlustwahrscheinlichkeiten<br />

bereits als vollendeten Schadenseintritt i.S.e.<br />

Eingehungsbetruges anzusehen.<br />

3. Die einschränkende verfassungsgerichtliche Rechtsprechung<br />

zum Vermögensnachteil i.S.d. § 266 StGB ist auch<br />

auf den Schadensbegriff des § 263 StGB zu übertragen.<br />

4. Der Rechtsprechung des BGH zum sog. Quotenschaden<br />

wird durch die vorliegende Entscheidung des BVerfG<br />

nicht die Grundlage entzogen.<br />

(Leitsätze der Verf.)<br />

GG Art. 103 Abs. 2<br />

StGB § 263<br />

BVerfG, Beschl. v. 7.12.2011 – 2 BvR 2500/09 u.a. 1<br />

I. Einführung<br />

Der vorliegende, aus Sicht der Verf. im Ergebnis und in der<br />

Begründung zutreffende Beschluss des BVerfG trifft im<br />

Wesentlichen drei Aussagen zu verschiedenen, am Maßstab<br />

des Verfassungsrechts zu messenden strafprozessualen und<br />

materiell-strafrechtlichen Rechtsfragen: Er bestätigt die bisherige<br />

Rechtsprechung des Gerichts zu Fragen des Schutzes<br />

eines unantastbaren grundrechtlichen Kernbereichs privater<br />

Lebensgestaltung menschenwürderechtlichen Gehalts 2 (II.),<br />

billigt von verfassungsrechtlicher Warte her abermals die<br />

vom BGH in st. Rspr. angewandte Abwägungslehre 3 zur<br />

Frage des Bestehens von Beweisverwertungsverboten (III.)<br />

und sucht – und dieses scheint den Verf. am bedeutsamsten –<br />

den Schadensbegriff des Betruges nach § 263 StGB anhand<br />

der Anforderungen des verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebots<br />

näher zu konturieren 4 (IV.). Nach einer jeweiligen<br />

Erörterung und Bewertung dieser Rechtsprechung werden die<br />

Verf. der Frage nachgehen, ob die bisherige Rechtsprechung<br />

des BGH in Fällen der Wettmanipulation aufrechterhalten<br />

werden kann (V.).<br />

1 Urteil im Volltext abrufbar unter<br />

http://www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/rs201<br />

11207_2bvr250009.html und abgedruckt in NJW 2012, 907.<br />

2 Vgl. BVerfG, Beschl. v. 7.12.2011 – 2 BvR 2500/09 u.a.,<br />

Rn. 99 ff.<br />

3 Vgl. BVerfG, Beschl. v. 7.12.2011 – 2 BvR 2500/09 u.a.,<br />

Rn. 109 ff.<br />

4 Vgl. BVerfG, Beschl. v. 7.12.2011 – 2 BvR 2500/09 u.a.,<br />

Rn. 162 ff.<br />

<strong>ZIS</strong> 11/2012<br />

II. Geltung des Kernbereichsschutzes auch bei gefahrenabwehrrechtlichen<br />

Eingriffen<br />

Nach dem hier zu besprechenden Beschluss des BVerfG ist<br />

der Kernbereich der privaten Lebensgestaltung als absolut<br />

unantastbarer Bereich 5 bei präventiven Maßnahmen zur Wohnraumüberwachung<br />

in gleichem Umfang zu wahren, wie dies<br />

bei strafprozessualen Maßnahmen der Fall ist. Dieses Ergebnis<br />

kann, unter Berücksichtigung der bisherigen Linie des<br />

BVerfG zum Kernbereich privater Lebensgestaltung, 6 kaum<br />

überraschen, weil das Gericht bereits in früheren Entscheidungen<br />

den Stellenwert und die Garantie dieses Rechtsguts<br />

durch Verortung seiner Wurzeln v.a. in der Menschenwürdegarantie<br />

des Art. 1 Abs. 1 GG klargestellt hat und die Wahrung<br />

dieses Rechts vor diesem Hintergrund unabhängig von<br />

der Richtung der staatlichen Maßnahme 7 als absolut schutzwürdig<br />

erscheint.<br />

III. Vereinbarkeit der Abwägungslehre des BGH mit dem<br />

verfassungsrechtlichen Recht des Angeklagten auf ein<br />

faires Verfahren<br />

Ebenso wenig überrascht die Bestätigung der bisherigen<br />

Rechtsprechung des BGH 8 zum Verfahren und der Annahme<br />

von Beweisverwertungsverboten durch das BVerfG. Nach<br />

dieser Rspr. führe nicht jeder Rechtsverstoß bei der Beweisgewinnung<br />

zu einem Verwertungsverbot; vielmehr sei eine<br />

einzelfallorientierte Abwägung der widerstreitenden Interessen<br />

vorzunehmen, bei der auch die Erfordernisse einer funktionstüchtigen<br />

Strafrechtspflege in den Blick zu nehmen<br />

seien. 9 Das verfassungsrechtlich im Rechtsstaatsprinzip des<br />

Art. 20 Abs. 3 GG i.V.m. der Menschenwürdegarantie des<br />

Art. 1 Abs. 1 GG sowie (bei drohenden Freiheitsstrafen) im<br />

Recht auf Freiheit aus Art. 2 Abs. 2 GG niedergelegte Recht<br />

auf ein faires Verfahren wirke sich im Ergebnis in der Annahme<br />

eines Beweisverwertungsverbotes, insbesondere bei<br />

schweren Straftaten, daher nur in Ausnahmefällen aus. 10 Seine<br />

Verletzung liege unter Beachtung dieser restriktiven Vorgaben<br />

erst vor, wenn die Fachgerichte rechtsstaatlich zwin-<br />

5<br />

BVerfGE 119, 1 (29 f.); 120, 274 (335); 124, 43 (69).<br />

6<br />

Zu dessen Garantie vgl. BVerfGE 6, 32 (41); 27, 1 (6); 32,<br />

373 (378 f.); 34, 238 (245); 80, 367 (373). Auch die bisherigen<br />

Entscheidungen des BVerfG zu Fragen des Kernbereichsschutzes<br />

blieben jedoch nicht auf strafprozessuale Ermittlungsmaßnahmen<br />

beschränkt (vgl. etwa BVerfGE 113, 348 zu<br />

§ 33a des Niedersächsischen Gesetzes über Sicherheit und<br />

Ordnung [Nds. SOG]).<br />

7<br />

Zu Tendenzen der Schaffung eines Grenzen verwischenden<br />

Sicherheitsrechts zwischen repressiv und präventiv wirkenden<br />

Eingriffsmaßnahmen, vgl. ausführlich Steinsiek, Terrorabwehr<br />

durch Strafrecht?, 2012.<br />

8<br />

BGHSt 24, 125 (128 ff.); 38, 214 (219 f.); 44, 243 (248 f.).<br />

9<br />

Vgl. BVerfG, Beschl. v. 7.12.2011 – 2 BvR 2500/09 u.a.,<br />

Rn. 113.<br />

10<br />

Vgl. BVerfG, Beschl. v. 7.12.2011 – 2 BvR 2500/09 u.a.,<br />

Rn. 117.


BVerfG, Beschl. v. 7.12.2011 – 2 BvR 2500/09 u.a. Steinsiek/Vollmer<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

gende Folgerungen nicht gezogen hätten oder rechtsstaatlich<br />

Unverzichtbares preisgegeben worden sei. 11<br />

IV. Nähere Konturierung des Schadensbegriffs des § 263<br />

StGB<br />

Abweichend von den bisher aufgezeigten Kontinuitäten erfährt<br />

die Rechtsprechung durch das Urteil des BVerfG jedoch<br />

eine wesentliche Fortentwicklung in Bezug auf Auslegungsmöglichkeiten<br />

und -grenzen des Schadensbegriffs des § 263<br />

StGB. Über den verfassungsrechtlich naheliegenden Maßstab<br />

des Bestimmtheitsgebots des Art. 103 Abs. 2 GG gibt das<br />

Verfassungsgericht den Fachgerichten mit dieser Entscheidung<br />

auch in materiell-strafrechtlicher Hinsicht Leitlinien vor.<br />

Diese aus Sicht der Verf. erfreuliche Tendenz bedeutet eine<br />

konsequente Rechtsanwendung, welche gleichzeitig die Bedeutung<br />

des Verfassungsrechts unterstreicht. Von der Untreue-Entscheidung<br />

12 einmal abgesehen, handelt es sich jedoch<br />

um einen für den Bereich des materiellen Strafrechts<br />

durchaus seltenen Vorgang. 13 Das BVerfG mag in anderen<br />

Entscheidungen seit dem Lüth-Urteil 14 zu recht in ständiger<br />

Rspr. betonen, dass eine Fortführung einfach rechtlicher<br />

Streitigkeiten auf verfassungsrechtlicher Ebene zu verhindern<br />

und es selbst keine „Superrevisionsinstanz“ sei. Sind jedoch<br />

– wie hier – Einbruchstellen für eine verfassungsrechtliche<br />

Überprüfung gegeben, ist diese auf Antrag insbesondere aufgrund<br />

der Eingriffsintensität strafrechtlicher Maßnahmen auch<br />

wahrzunehmen.<br />

Der BGH bejahte in seinem nun überprüften Urteil 15 das<br />

Vorliegen eines vollendeten Betruges i.S.d. § 263 StGB bereits<br />

bei Abschluss von Verträgen über Lebensversicherungen,<br />

wenn hierbei die Absicht bestanden habe, sich die Versicherungssumme<br />

später jeweils durch die Vorlage gefälschter<br />

Todesbescheinigungen auszahlen zu lassen. Die relevante<br />

Täuschung bestehe in der vorgespiegelten Bereitschaft, den<br />

Versicherungsschutz vertragskonform allein zur Abdeckung<br />

des zukünftigen Risikos eines ungewissen Schadenseintritts<br />

nutzen zu wollen. Bereits zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses<br />

habe sich unter Anlegung der Maßstäbe des sog. „Eingehungsbetruges“<br />

ein Vermögensschaden bei dem jeweiligen<br />

Versicherungsunternehmen manifestiert. Der BGH begründete<br />

dieses Ergebnis damit, dass die Inanspruchnahme des Versicherers<br />

aufgrund der beabsichtigten Manipulation sicher zu<br />

erwarten und die Leistungswahrscheinlichkeit der Versicherungen<br />

gegenüber dem vertraglich vereinbarten Einstandsrisiko<br />

signifikant erhöht gewesen sei. 16 Eine spätere tatsächliche<br />

Auszahlung der Versicherungssumme hätte nur zu einer<br />

weiteren Schadensvertiefung geführt und den Eingehungs- zu<br />

einem Erfüllungsbetrug werden lassen. Der Höhe nach bezifferte<br />

der BGH den Vermögensschaden in Form der Gefähr-<br />

11<br />

Vgl. BVerfG, Beschl. v. 7.12.2011 – 2 BvR 2500/09 u.a.,<br />

Rn. 112 m.w.N., Rn. 119.<br />

12<br />

BVerfGE 126, 170 = NJW 2010, 3209.<br />

13<br />

Ähnlich Joecks, wistra 2010, 179 (181), das BVerfG tue<br />

sich schwer, das Bestimmtheitsgebot zu bemühen.<br />

14<br />

BVerfGE 7, 198 = NJW 1958, 257.<br />

15<br />

BGHSt 54, 69 = NJW 2009, 3448.<br />

16 BGHSt 54, 69 (123 f.).<br />

dung durch die Eingehung des Versicherungsvertrages nicht<br />

und schuf in dieser Weise ein über die bisher anerkannten<br />

Figuren von Eingehungsbetrug und konkreter Vermögensgefährdung<br />

hinausgehend-erweiterndes Verständnis des Schadensbegriffs.<br />

Diese bloße Verlustwahrscheinlichkeit als Schaden einzuordnen,<br />

wird durch das BVerfG unter Berücksichtigung<br />

des aus dem Bestimmtheitsgrundsatz abzuleitenden strikten<br />

Verbots strafbegründender Analogien richtigerweise abgelehnt.<br />

Zwar ist in Rspr. und Literatur nahezu unstreitig, dass<br />

von dem Vorliegen eines Vermögensschadens nicht allein<br />

dann ausgegangen werden kann, wenn das Opfer der Tat<br />

einen physisch-manifestierten und somit faktischen Vermögensnachteil<br />

erlitten hat. Ein solcher mag sich in zahlreichen<br />

Fällen des Alltags tatsächlich einstellen, viele strafwürdige<br />

Fälle eines komplexen Wirtschaftslebens umfasste er aber<br />

nicht. Vor diesem Hintergrund verwundert die seit langem<br />

gebräuchliche offene Definition nicht, wonach ein Vermögensschaden<br />

gegeben sei, wenn eine Saldierung vor und nach<br />

der Vermögensverfügung des Opfers ergebe, dass es zu einer<br />

Vermögensminderung gekommen sei, die nicht kompensiert<br />

werde (Gesamtsaldierung). 17 Da insbesondere bei Vertragsabschlüssen,<br />

bei denen ein Vertragspartner von vornherein<br />

seiner Leistungspflicht nicht nachkommen kann und/oder<br />

will, oft unklar ist, zu welchem Zeitpunkt der Vermögensschaden<br />

in Form des Ausbleibens der Gegenleistung eintritt,<br />

sind in Literatur und Rechtsprechung verschiedene Formen<br />

des Vermögensschadens entwickelt worden. Zahlreichen, z.T.<br />

auch in Kombination angewendeten, dogmatischen Konstruktionen<br />

zum Vermögensschaden ist gemein, dass sie eine Vorverlagerung<br />

der Annahme eines Vermögensschadens bewirken.<br />

18 Dieses Vorgehen soll, wie auch von der Verfassungsgerichtsentscheidung<br />

nicht bezweckt, 19 nicht grundsätzlich in<br />

Frage gestellt werden. Einige Grenzpfähle einzuschlagen erscheint<br />

dennoch geboten.<br />

Vor dem Hintergrund der vorliegenden Entscheidung erscheinen,<br />

bevor zu einem späteren Zeitpunkt noch zu Mög-<br />

17<br />

Vgl. BGHSt 3, 99 (102); 16, 220 (221); 34, 199 (201);<br />

Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, Kommentar, 59.<br />

Aufl. 2012, § 263 Rn. 111; Cramer/Perron, in: Schönke/Schröder,<br />

Strafgesetzbuch, Kommentar, 28. Aufl. 2010,<br />

§ 263 Rn. 99.<br />

18<br />

Auf die Entscheidung des BGH bezogen Thielmann/Groß-<br />

Bölting/Strauß, HRRS 2010, 38 f.; Thielmann, StraFo 2010,<br />

412 (419); vgl. vertiefend außerdem Hefendehl, in: Joecks/<br />

Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch,<br />

Bd. 4, 2. Aufl. 2012, § 263 Rn. 532 ff. (Vermögensgefährdung<br />

als Vermögensschaden); Kindhäuser, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen<br />

(Hrsg.), Nomos Kommentar, Strafgesetzbuch,<br />

Bd. 2, 3. Aufl. 2010, § 263 Rn. 226 ff. (Vermögensschaden).<br />

19<br />

Ausdrücklich Rn. 171, die Figur des Eingehungsbetruges<br />

sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, sowie Rn. 175,<br />

es sei grundsätzlich mit dem verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebot<br />

vereinbar, bereits bei der konkreten Gefahr eines<br />

zukünftigen Verlusts einen gegenwärtigen Vermögensschaden<br />

anzunehmen.<br />

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587


BVerfG, Beschl. v. 7.12.2011 – 2 BvR 2500/09 u.a. Steinsiek/Vollmer<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

lichkeiten von Schadensschätzungen Stellung genommen wird,<br />

insbesondere zwei den Strafbarkeitseintritt vorverlagernde<br />

Figuren erörternswert. Die Konstruktion eines Eingehungsbetrugs<br />

geht vom Vorliegen eines Vermögensschadens bereits<br />

dann aus, wenn ein Vertragspartner schon bei Vertragsschluss<br />

weiß, dass er seiner Leistungspflicht nicht nachkommen<br />

wird und hierbei mit entsprechender Bereicherungsabsicht<br />

handelt. 20 Ebenfalls anerkannt ist die Figur des konkreten<br />

Gefährdungsschadens, die erfüllt ist, wenn mit einer an<br />

Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit die Erfüllung der<br />

Forderung ausbleiben wird. 21 Beides – gerade in Kombination<br />

miteinander – führt zu einer deutlichen Erweiterung der<br />

Strafbarkeit gegenüber der – dem Wortsinn „[…] das Vermögen<br />

eines anderen dadurch beschädigt […]“ des § 263<br />

StGB näherliegenden – Konstellation des Erfüllungsbetrugs.<br />

Ein solcher sei gegeben, sobald das Opfer seinerseits die<br />

Gegenleistung erhalte und diese entweder hinter dem Versprochenen<br />

zurückbleibe oder es selbst mehr als geschuldet<br />

leiste, 22 sodass erst die weitere Abwicklung eines Vertrages<br />

zu Vermögenseinbußen führe. 23<br />

Augenfällig wird die vorverlagernde Wirkung insbesondere<br />

durch die Kritik des BGH an der Vorinstanz. Das OLG<br />

Düsseldorf 24 war auch in den Fällen, in denen es zum Abschluss<br />

eines Versicherungsvertrages gekommen war, zu einem<br />

nur versuchten Betrug gelangt. 25 Die Kritik des BGH an<br />

dem Schuldspruch wegen versuchten Betrugs gründete auf<br />

dem Umstand, dass zwischen aktueller Situation im Zeitpunkt<br />

der Festnahme der Betroffenen und der tatsächlichen<br />

Auszahlung der Versicherungssumme noch zahlreiche wesentliche<br />

Zwischenschritte erforderlich seien. Von einem unmittelbaren<br />

Ansetzen (zu einem Erfüllungsbetrug) könne daher<br />

noch nicht ausgegangen werden. 26 In der Sache ist die<br />

Kritik des BGH bei einem Tatplan, der vor der tatsächlichen<br />

Erlangung der Versicherungssumme zumindest noch eine vorsätzliche<br />

Reise nach Ägypten, die vorsätzliche Bestechung<br />

von dortigen Amtspersonen zur Ausstellung unrichtiger Ur-<br />

20<br />

Vertiefend s. Kindhäuser (Fn. 18), § 263 Rn. 316 ff.; Cramer/Perron<br />

(Fn. 17), § 263 Rn. 128.<br />

21<br />

Aus Sicht der Verf. sind beide Kategorien nicht deckungsgleich<br />

(mit solcher Tendenz aber Rn. 172 des BVerfG-Urteils),<br />

da das Vorliegen einer konkreten Vermögensgefährdung<br />

ebenso in Fällen des Erfüllungsbetruges möglich erscheint<br />

(wie hier Thielmann/Groß-Bölting/Strauß HRRS 2010,<br />

38 [40 f.]).<br />

22<br />

Fischer (Fn. 17), § 263 Rn. 177; Küper, Strafrecht, Besonderer<br />

Teil, 8. Aufl. 2012, S. 381.<br />

23<br />

BGHSt 32, 211 (213) = NJW 1985, 75, Fischer (Fn. 17),<br />

§ 263 Rn. 175, 177.<br />

24<br />

OLG Düsseldorf, Urt. v. 5.12.2007 – III-IV 10/05.<br />

25<br />

Nach der Rezeption durch den BGH soll dieses auf die<br />

Figur eines Erfüllungsbetruges abgestellt haben, insb. Thielmann/Groß-Bölting/Strauß<br />

(HRRS 2010, 38 [40]) bestreiten<br />

dies. Vorliegend ist eine Stellungnahme hierzu nicht erforderlich.<br />

26<br />

BGHSt 54, 69 (127 f.) in Übereinstimmung mit der weitgehend<br />

herrschenden Zwischenakttheorie; zust. Thielmann,<br />

StraFo 2010, 412 (414).<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

588<br />

<strong>ZIS</strong> 11/2012<br />

kunden, die vorsätzliche Vorlage der erlangten Urkunden bei<br />

den Versicherungen verbunden mit der Todesmeldung, das<br />

Überleben des Begünstigten sowie die Anweisung durch die<br />

Versicherungsgesellschaft und die Entgegennahme der Versicherungssumme<br />

durch den Begünstigten vorsah, zutreffend.<br />

Gerade diese Verneinung einer Versuchsstrafbarkeit im Vorbereitungsstadium<br />

eines Erfüllungsbetrugs aber verdeutlicht,<br />

wie weitgehend die vorverlagernden Wirkungen der Konstruktion<br />

eines Eingehungsbetrugs sein können.<br />

Speziell unter den engen, die Vorhersehbarkeit eines Strafbarkeitseintritts<br />

für Jedermann fordernden 27 Grenzen des<br />

Art. 103 Abs. 2 GG hat das BVerfG derartigen Bestrebungen<br />

der Vorverlagerung Grenzen gesetzt. Mehr als folgerichtig<br />

war hierbei die vorgenommene Übertragung der vom Verfassungsgericht<br />

im Jahr 2010 im Rahmen der Untreue-Entscheidung<br />

28 dargetanen Grundsätze auch auf den Betrugstatbestand.<br />

In seiner damaligen Entscheidung forderte das Gericht,<br />

für eine konkrete Vermögensgefährdung müsse ein bezifferter<br />

Mindestschaden vorliegen. 29 Die Übertragbarkeit dieser<br />

Grundsätze auch auf § 263 StGB fuße auf mehreren rechtsdogmatischen<br />

Erwägungen: Neben dem ähnlichen Wortlaut<br />

in Bezug auf den Taterfolg („Vermögen […] beschädigt“ in<br />

§ 263 StGB bzw. „Nachteil zufügt“ in § 266 StGB) ist dieses<br />

zum einen bereits der Umstand, dass es sich bei beiden Delikten<br />

um Verletzungs- bzw. Erfolgsdelikte und nicht lediglich<br />

um abstrakte Gefährdungsdelikte handeln soll. 30 Zum anderen<br />

zeigen sich zwischen beiden Tatbeständen keine derart<br />

großen Abweichungen, die eine unterschiedliche Interpretation<br />

des Schadensbegriffs im Rahmen des § 263 StGB angezeigt<br />

erscheinen ließe. Zwar wurde die restriktive Auslegung<br />

des Schadensbegriffs im Rahmen des § 266 StGB in der dem<br />

BVerfG 31 folgenden Literatur 32 häufig auch mit dem Argument<br />

begründet, der Versuch der Untreue sei vom Gesetzgeber<br />

bewusst nicht unter Strafe gestellt worden, weshalb Vorverlagerungen<br />

der Strafbarkeit durch Erweiterungen des<br />

Schadensbegriffs Grenzen gesetzt seien. Trotz der Strafbarkeit<br />

des versuchten Betruges gemäß § 263 Abs. 2 StGB sind<br />

Grenzziehungen hier jedoch kaum weniger geboten. Zwar<br />

lauten die Alternativen im Rahmen des § 263 StGB je nach<br />

Auslegung des Schadensbegriffs sodann zwar nicht stets auf<br />

Strafbarkeit wegen vollendeter Tat oder Straflosigkeit, aber<br />

zumindest auf Strafbarkeit wegen vollendeter Tat oder Versuchsstrafbarkeit,<br />

was wegen der Rechtsfolgen in § 23 Abs. 2<br />

und § 24 StGB unter Gesichtspunkten des freiheitssichernden<br />

Grundrechtsschutzes kaum weniger gewichtig erscheint. Zwei<br />

weitere Argumente für die Übertragbarkeit der zu § 266<br />

StGB von der Rspr. entwickelten Grundsätze auf § 263 StGB<br />

werden schließlich auch vom BVerfG selbst in überzeugen-<br />

27 Vgl. Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik<br />

Deutschland, Kommentar, 12. Aufl. 2012, Art. 103 Rn. 51;<br />

Degenhart, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar GG,<br />

6. Aufl. 2011, Art. 103 Rn. 67.<br />

28 BVerfGE 126, 170.<br />

29 BVerfGE 126, 170 (211 f., 228 f.).<br />

30 Für § 266 StGB BVerfGE 126, 170 (221, 226).<br />

31 BVerfGE 126, 170 (226, 228).<br />

32 Frisch, EWiR 2010, 657; Radtke, GmbHR 2010, 1121.


BVerfG, Beschl. v. 7.12.2011 – 2 BvR 2500/09 u.a. Steinsiek/Vollmer<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

der Weise dargetan. Zum einen weist das Gericht zutreffend<br />

darauf hin, die Figur der schadensgleichen Vermögensgefährdung<br />

sei ursprünglich im Rahmen des § 263 StGB entwickelt<br />

und sodann auf § 266 StGB übertragen worden, sodass<br />

gleichsam auch die Rückübertragung der hierzu ergangenen<br />

Rechtsprechung auf § 263 StGB geboten sei. Zum anderen<br />

würden Fragestellungen im Zusammenhang mit der Frage der<br />

schadensgleichen Vermögensgefährdung auch von der Rspr.<br />

und ganz überwiegenden Literatur in Bezug auf beide Tatbestände<br />

einheitlich behandelt. 33<br />

Die vom BVerfG aufgestellte Pflicht zur Bezifferung eines<br />

konkreten Schadens ist hierbei ein geeignetes Werkzeug<br />

zur Vermeidung zu weitgehender Strafbarkeitsausdehnungen.<br />

Denn sie zwingt bereits den Tatrichter zu wirtschaftlich nachvollziehbaren<br />

Feststellungen und damit dazu, nicht allein das<br />

Bestehen abstrakter Risiken ausreichen zu lassen. Es wahrt in<br />

dieser Weise den Charakter des Betruges als Erfolgsdelikt<br />

sowie den ultima ratio-Charakter des Strafrechts. 34 Zugleich<br />

schafft das Kriterium der Bezifferbarkeit neben der bislang<br />

gebräuchlichen Formulierung „es müsse vom Zufall abhängen,<br />

ob sich die Vermögensgefährdung zu einem tatsächlichen<br />

Vermögensschaden verdichte“, einen weiteren Maßstab<br />

zur Abgrenzung konkreter von (zur Tatbestandsverwirklichung<br />

nicht ausreichender) abstrakten Vermögensgefährdungen,<br />

ohne hierbei die Figur der schadensgleichen Vermögensgefährdung<br />

grundsätzlich in Frage zu stellen. 35 „Schadensgleich“<br />

kann diese jedoch richtigerweise nur sein, wenn ein<br />

Gefährdungsgrad erreicht wird, der einen Schadenseintritt<br />

mehr als nur möglich erscheinen lässt. Zudem stärkt das<br />

Merkmal der Bezifferbarkeit den wirtschaftlichen Bezug und<br />

damit den Charakter des Betrugstatbestands als Vermögensdelikt.<br />

Hierfür ist es unschädlich, wenn wie vom Verfassungsgericht<br />

in der Untreue-Entscheidung betont, neben wirtschaftlichen<br />

auch normative Aspekte Berücksichtigung finden. 36<br />

Diese dürfen die eindeutig wirtschaftlichen Wertungen jedoch<br />

nicht deutlich überwiegen, denn ein solches Vorgehen<br />

stellte den Charakter des Betrugs als Vermögensdelikt in<br />

Frage. Die Pflicht zur Bezifferung eines konkreten Schaden<br />

kann hierbei ein geeignetes Werkzeug zur Sicherung der<br />

Bedeutung dieser wirtschaftlichen Bezüge sein.<br />

Die Entscheidung des Verfassungsgerichts überzeugt aber<br />

auch deshalb, weil sie trotz dieser restriktiven Zielrichtung<br />

praktischen Nachweisschwierigkeiten ausreichend Rechnung<br />

trägt. Denn das Gericht erlaubt auch weiterhin die Möglichkeit<br />

einer erleichterten Schadensfeststellung: Notfalls könne<br />

diese, wenn ein Schaden nicht durch ein Sachverständigengutachten<br />

oder aufgrund wirtschaftlicher Erfahrung festgestellt<br />

werden kann, durch eine vorsichtige Schätzung ersetzt<br />

werden. 37 Beachtet werden muss jedoch das hiermit festgelegte<br />

Stufenverhältnis, wonach Schätzungen und die Annah-<br />

33<br />

Vgl. BVerfG, Beschl. v. 7.12.2011 – 2 BvR 2500/09 u.a.,<br />

Rn. 174 f.<br />

34<br />

Ebenso Joecks, wistra 2010, 179 (181).<br />

35<br />

Vgl. für die a.A. die Nachweise bei BVerfG, Beschl. v.<br />

7.12.2011 – 2 BvR 2500/09 u.a., Rn. 174.<br />

36<br />

BVerfGE 126, 170 (212).<br />

37<br />

BVerfGE 126, 170 (230).<br />

me von Mindestschadenssummen erst dann in Betracht kommen,<br />

wenn konkrete Berechnungen durch das Gericht (ggf.<br />

unter Einschaltung von Sachverständigen) keine näheren<br />

Bezifferungen ermöglichen. Eine konkrete Schadensbezifferung<br />

ist im vorliegenden Fall weitgehend unterblieben, obwohl<br />

mögliche Ansatzpunkte hierfür bereit gestanden hätten<br />

(etwa die garantierten Todesfallsummen der Verträge, Vergleiche<br />

zwischen statistischen Mittelwerten hinsichtlich der<br />

Dauer bis zum Eintritt des Leistungsfalls und seiner Wahrscheinlichkeit<br />

mit den hiesigen Wahrscheinlichkeiten). Auch<br />

sind die Anforderungen an die Zugrundlegung eines geschätzten<br />

Mindestschadens nicht gewahrt worden. Denn es<br />

bedarf im Lichte rechtsstaatlicher Entscheidungen und eines<br />

effektiven Grundrechtsschutzes auch in Fällen von Schätzungen<br />

der Darlegung, worauf die Schätzung beruhte, da sie<br />

allein dann obergerichtlich überprüft werden kann. Eine solche<br />

Schätzung mag – gerade auch im vorliegenden Fall, dessen<br />

Versicherungsverträge stets Risikogeschäfte darstellen<br />

und bei denen der Grad der täuschungsbedingten Risikoerhöhung<br />

schwierig zu bestimmen sein kann 38 – die Praxis im<br />

Einzelfall vor schwierige Aufgaben stellen. Sie einzufordern,<br />

ist nicht allein aus den vorgenannten Gründen, sondern wegen<br />

der Bedeutung der jeweiligen Schadenshöhe auch für die<br />

Frage einer schuldangemessenen Strafzumessung relevant.<br />

Zeigt sich in der Konsequenz im konkreten Fall aber gar, dass<br />

derartige Umstände auch unter Heranziehung von schätzweisen<br />

Näherungswerten keine Bezifferung ermöglichen, kann<br />

ein Vermögensschaden nicht angenommen werden. Eine<br />

bloße Erhöhung 39 eines Schadensrisikos jedenfalls kann allein<br />

nicht ausreichen. Ein solches Vorgehen pönalisierte ansonsten<br />

jedes vertragswidrige Verhalten gegenüber einer Versicherung.<br />

40 Mit diesen Vorgaben ist es dem BVerfG gelungen,<br />

dem Schadensbegriff zumindest in Randbereichen schärfere<br />

Konturen zu verleihen und Tendenzen einer fortschreitenden<br />

Ausdehnung des Schadensbegriffs entgegenzutreten.<br />

V. Parallelen und Unterschiede zur Rechtsprechung des<br />

BGH zum sog. „Quotenschaden“ in Wettbetrugsfällen<br />

Fraglich bleibt im Lichte des Vorstehenden jedoch, inwieweit<br />

unter diesen Rahmenbedingungen die Rspr. des BGH zum<br />

sog. „Quotenschaden“ aufrechterhalten werden kann. Unter<br />

diesem Begriff wird – seit der juristischen Aufarbeitung der<br />

Vorgänge um den Fußballschiedsrichter Robert Hoyzer 41 –<br />

das Bestehen eines Vermögensschadens angenommen, wenn<br />

durch Manipulationshandlungen von Wettteilnehmern Gewinnchancen<br />

erhöht werden sollen, was zu einem Missverhältnis<br />

der eingeräumten Gewinnchance zum hierfür geforderten<br />

Spieleinsatz führt. Die o.g. Entscheidung betraf Sportwetten,<br />

bei denen der Ausgang bestimmter Fußballspiele un-<br />

38<br />

Nach Joecks, wistra 2010, 179 (180) ist dies gar unmöglich.<br />

39<br />

Das vom BGH (nicht weiter inhaltlich ausgefüllte) Merkmal<br />

der „signifikanten“ Erhöhung ist ebenso nicht geeignet,<br />

eine ausreichende Konkretisierung zu bewirken.<br />

40<br />

Ähnlich BGH StV 1985, 368; krit. zu einem solchen Vorgehen<br />

auch Joecks, wistra 2010, 179 (180).<br />

41<br />

BGHSt 51, 165 = NJW 2007, 782 = NStZ 2007, 151.<br />

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BVerfG, Beschl. v. 7.12.2011 – 2 BvR 2500/09 u.a. Steinsiek/Vollmer<br />

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ter Zugrundlegung fester, durch den Wettanbieter aufgrund<br />

einer vorherigen Risikoanalyse bestimmter Quoten („oddset“)<br />

vorhergesagt werden konnte. Nach Ansicht des 5. Strafsenats<br />

des BGH stellten diese festgelegten Quoten den „Verkaufspreis“<br />

der Wettchance dar. Durch die Manipulation des Spiels<br />

habe das tatsächliche Risiko nun nicht mehr demjenigen entsprochen,<br />

welches die Wettanbieter bei ihrer Entscheidung zu<br />

grundgelegt hätten, sodass bereits durch diese Differenz ein<br />

Vermögensschaden eingetreten sei. 42<br />

Im Vergleich dazu werden beim Abschluss einer Lebensversicherung<br />

durch den Versicherungsanbieter ähnliche Risikoanalysen<br />

durchgeführt, um die Entscheidung, ob und unter<br />

welchen Umständen der Vertrag geschlossen werden kann,<br />

zu treffen. Diese Ermittlung der Eintrittswahrscheinlichkeit<br />

eines Versicherungsfalls, lässt sich mit der Festlegung einer<br />

Wettquote grundsätzlich vergleichen, da in beiden Fällen<br />

trotz Analyse und Wahrscheinlichkeiten ein Zufallselement<br />

verbleibt, von dem die Leistungspflicht abhängig ist. 43 Vor<br />

diesem Zeitpunkt hat der Wettkunde/Versicherungsnehmer<br />

lediglich einen vertraglichen Anspruch auf Risikoübernahme<br />

begründet. Es spricht zudem für eine Vergleichbarkeit beider<br />

Konstellationen, dass der Eintritt eines Schadens in beiden<br />

Fällen jeweils unumkehrbar zu einem Zeitpunkt bejaht wird,<br />

bei dem noch offen ist, ob der spätere Leistungsfall gerade<br />

aufgrund der Manipulation (Schiedsrichterfehlentscheidung/<br />

Vorlage zu Unrecht ausgestellter Todesbescheinigung) oder<br />

nachfolgend eigentlich vertragsgemäßem Verhalten (fehlende<br />

Beeinflussung des Spielverlaufs/tatsächlicher Tod des Versicherungsnehmers)<br />

beruht. Somit haben die Angeklagten auch<br />

in den vom BVerfG behandelten Fällen durch die Eingehung<br />

des Versicherungsvertrages bei zuvor geplanter Manipulation<br />

das tatsächliche Verlustrisiko der Versicherung gegenüber<br />

dem angenommenen Risiko bei Vertragsschluss erhöht. Gemein<br />

ist beiden Fällen ebenso die Wertung des BGH, eine<br />

Bezifferung des „(Quoten-)Schadens“ jeweils nicht für erforderlich<br />

zu erachten. Es reiche vielmehr aus, wenn die relevanten<br />

Risikofaktoren gesehen und bewertet würden. 44 Fraglich<br />

ist jedoch, ob die Rspr. des BVerfG zu den hiesigen Versicherungsfällen<br />

trotz der vorstehend dargelegten Parallelen<br />

tatsächlich auf Fälle des Wettbetrugs übertragbar ist. Hiergegen<br />

spricht entscheidend der jeweils unterschiedliche Grad<br />

der bewirkten Vorverlagerung von Strafbarkeiten. Während<br />

es sich in den Versicherungsfällen nach Rspr. des BGH jeweils<br />

um einen Eingehungsbetrug handelt, da die eigentliche<br />

Leistung der Versicherung in der späteren, von weiteren Prüfungen<br />

abhängigen Auszahlung der Versicherungssumme<br />

liegt, handelt es sich in den Wettfällen nicht um Fälle eines<br />

Eingehungsbetrugs, da das Opfer (der Wettanbieter) seine<br />

Verpflichtung im Zeitpunkt des Vertragsschlusses bereits<br />

42 BGH NStZ 2007, 151 (154).<br />

43 So auch Radtke, Jura 2007, 445 (451), der den Quotenschaden<br />

als spezifischen Schadenstypus bei Rechtsgeschäften ansieht,<br />

die sich auf den zufälligen Eintritt eines Ereignisses<br />

beziehen.<br />

44 BGH NStZ 2007, 151 (154).<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

590<br />

<strong>ZIS</strong> 11/2012<br />

vollständig erbracht hat. 45 Denn dessen Leistung besteht nicht<br />

erst in der späteren Auszahlung des Gewinns, sondern maßgeblich<br />

bereits in dem Einräumen einer (im Verhältnis zur<br />

eingesetzten Geldsumme zu großen) Gewinnchance bei Vertragsschluss.<br />

46 Die spätere Auszahlung des Gewinns stellt –<br />

anders als in den Versicherungsfällen – sodann lediglich eine<br />

bloße Formalie dar, da bei dieser keine erneute Prüfung einer<br />

Bezugsberechtigung stattfindet. In den Versicherungsfällen<br />

hingegen ist zur tatsächlichen Erlangung der Vermögensvorteile<br />

eine zweite Täuschung (nämlich über den Eintritt des<br />

Leistungsfalls) und damit auch ein zweiter – bei wertender<br />

Betrachtung u.U. schwerer wiegender 47 – Irrtum erforderlich, 48<br />

während ein solcher zweiter Irrtum in den Wettfällen (der<br />

vorgelegte Wettschein dürfte allenfalls noch auf Echtheit<br />

überprüft werden, aber nicht auf das unbeeinflusste Zustandekommen<br />

des Ergebnisses) fehlt. Dieser Unterschied aber<br />

bewirkt, dass die Annahme eines Quotenschadens nicht zu<br />

vergleichbar weiten Vorverlagerungen von Strafbarkeiten<br />

weg von der endgültigen Schadensmanifestation des Erfüllungsbetrugs<br />

führt, daher weniger weitgehende Ausweitungen<br />

des Schadensbegriffs mit sich bringt 49 und mithin auch<br />

einer weniger restriktiven Handhabung bedarf. Mithin ist eine<br />

Änderung der Rechtsprechung zum Quotenschaden nach Ansicht<br />

der Verf. im Lichte der verfassungsrechtlichen Rechtsprechung<br />

nicht zwingend geboten.<br />

Regierungsrat Dr. Mark Steinsiek, Diplom-Jurist/verwaltungswirt<br />

Philipp Vollmer, Hannover*<br />

45 I.E. entspricht dieses auch den Ausführungen des BGH<br />

(vgl. NStZ 2007, 151 [154]); es verwundert daher, wenn<br />

dieser zuvor dennoch den Begriff des Eingehungsbetruges<br />

verwendet (vgl. ebd.).<br />

46 BGH NStZ 2007, 151 (154 f.); ebenso Radtke, Jura 2007,<br />

445 (451).<br />

47 Thielmann, StraFo 2010, 412 (417).<br />

48 Zutreffend herausgearbeitet von Thielmann, StraFo 2010,<br />

412 (415).<br />

49 Solche bestehen in gewissem Umfang aber vor dem Hintergrund,<br />

dass wegen der nach Vertragsschluss noch nötigen<br />

Manipulationshandlungen noch keine konkrete, sondern eine<br />

lediglich abstrakte Vermögensgefährdung angenommen werden<br />

kann (BGH NStZ 2007, 151 [155], zust. Radtke, Jura<br />

2007, 445 [451]).<br />

* Der Autor Steinsiek war wissenschaftlicher Mitarbeiter, der<br />

Autor Vollmer war stud. Hilfskraft am Lehrstuhl für Strafrecht,<br />

Strafprozessrecht und Internationales Strafrecht (RiBGH<br />

Prof. Dr. Henning Radtke), Hannover, und ist jetzt als Dozent<br />

an der Polizeiakademie Niedersachsen tätig.


Zum Prüfungsumfang des Revisionsgerichts bei der sachlichen Zuständigkeit<br />

gem. § 6 StPO<br />

Besprechung von BGH, Beschl. v. 8.11.2011 – 3 StR 244/11 = NStZ-RR 2012, 76<br />

Von Rechtsanwältin Anja Sturm, Berlin, Rechtsanwalt Andreas Lickleder, München<br />

Die sachliche Zuständigkeit ist eine von Amts wegen zu prüfende<br />

Verfahrensvoraussetzung. Verfahrensvoraussetzungen stehen<br />

neben Verfahrensfehlern materiellrechtlicher und verfahrensrechtlicher<br />

Natur, die nur auf Rüge des Revisionsführers<br />

zu prüfen sind. Die Auffassung der h.M. (zuletzt im besprochenen<br />

Beschl. des BGH v. 8.11.2011 – 3 StR 244/11) ist<br />

nicht widerspruchsfrei, wenn sie die sachliche Zuständigkeit<br />

auch beim Revisionsgericht von der Beurteilung eines Sachverhaltes<br />

nach der „objektiven Rechtslage“ des konkreten<br />

Einzelfalls abhängig macht und damit dem Revisionsgericht<br />

die Prüfung der „objektiven materiellen Rechtslage“ auferlegt,<br />

obwohl diese Prüfung von der Geltendmachung der<br />

Sachrüge abhängt. Der Beitrag versucht, diesen Widerspruch<br />

durch eine Reduktion des Prüfungsumfangs im Rahmen des<br />

§ 6 StPO aufzulösen.<br />

I. Einleitung<br />

Die Reichweite des Prüfungsrechts des Revisionsgerichts war<br />

bislang nicht im Fokus von Meinungsstreitigkeiten, weil die<br />

gesetzliche Regelung klar zu sein scheint: aufgrund einer<br />

Revision überprüft das Revisionsgericht gem. § 337 StPO<br />

allein eine Verletzung des Gesetzes, nicht aber schuld- oder<br />

strafzumessungsrelevante Tatsachen. Der Revisionsführer<br />

bestimmt gem. §§ 344 Abs. 1, Abs. 2 S. 1 StPO den Umfang<br />

der Anfechtung im Hinblick auf verfahrensrechtliche und auf<br />

materiellrechtliche Mängel. Hieran ist das Revisionsgericht<br />

gebunden, § 352 Abs. 1 StPO.<br />

Der Disposition des Revisionsführers entzogen sind indes<br />

die „v.A.w. zu beachtenden Verfahrensvoraussetzungen“. Diese<br />

unterliegen einer umfänglichen Prüfungspflicht und eröffnen<br />

mithin ein eigenständiges Prüfungsrecht, auch wenn eine<br />

ausdrückliche gesetzliche Regelung fehlt. 1 Bislang unerörtert<br />

blieb dabei in Rechtsprechung und Literatur gleichermaßen,<br />

welche Grundlage bei einer solchen Prüfung v.A.w. heranzuziehen<br />

ist: zu denken ist pauschal an das Urteil insgesamt<br />

oder gar den vollständigen Akteninhalt. Dies verhilft jedoch<br />

gerade dann zu keiner Lösung, wenn sich die getroffenen<br />

Feststellungen nicht mit der rechtlichen Würdigung in Einklang<br />

bringen lassen.<br />

In seinem Beschluss vom 8.11.2011 verwies der 3. Senat<br />

des Bundesgerichtshofes mit der ganz h.M. auf die „objektive<br />

Rechtslage“, die für die sachliche Zuständigkeit maßgeblich<br />

sein soll. 2 Diese Begründung lässt eine stringente Auseinandersetzung<br />

mit den angesprochenen Problemkreisen missen.<br />

1<br />

Meyer-Goßner, Prozessvoraussetzungen und Prozesshindernisse,<br />

2011, S. 1.<br />

2<br />

Vgl. BGH, Beschl. v. 8.11.2011 – 3 StR 244/11, Rn. 10.<br />

II. Die sachliche Zuständigkeit als Verfahrensvoraussetzung<br />

1. Die v.A.w. zu beachtende Verfahrensvoraussetzung<br />

Bei Verfahrensvoraussetzungen handelt es sich um – im Einzelnen<br />

nicht näher bestimmte 3 – „besonders schwerwiegende<br />

Verfahrensverstöße“. 4 Anders als die funktionelle und die<br />

örtliche Zuständigkeit, die nach §§ 6a, 16 StPO einer Präklusionswirkung<br />

unterliegen und in der Revision „nur“ als Verfahrensfehler<br />

gem. § 337 StPO 5 geltend gemacht werden<br />

können, ist die sachliche Zuständigkeit dem Wortlaut des § 6<br />

StPO nach „in jeder Lage des Verfahrens“, also in jeder Instanz<br />

„v.A.w. zu prüfen“ 6 . Diese Verpflichtung gilt auch für<br />

das Revisionsgericht. Das Fehlen der sachlichen Zuständigkeit<br />

stellt somit ein Prozesshindernis dar. 7<br />

2. Befassungsverbote und Bestrafungsverbote<br />

Die Behandlung der v.A.w. zu beachtenden Verfahrensvoraussetzungen<br />

erfolgt in der Praxis indes nicht mit der Eindeutigkeit,<br />

die die Einordnung als „besonders schwer wiegender<br />

Verfahrensverstoß“ suggeriert. Einen ersten Hinweis gibt<br />

die differenzierende Betrachtungsweise, 8 bei den Verfahrensvoraussetzungen<br />

zwischen Befassungsverboten und Bestrafungsverboten<br />

zu unterscheiden:<br />

Befassungsverbote verbieten jegliche Befassung des Gerichts<br />

mit dem Sachverhalt und führen zwingend zur Einstellung<br />

des Verfahrens. Die wichtigsten Befassungsverbote sind<br />

das Fehlen einer wirksamen Anklage, des Eröffnungsbeschlusses<br />

sowie die Strafunmündigkeit – aber auch die sachliche<br />

Zuständigkeit.<br />

Demgegenüber erlauben Bestrafungsverbote eine Befassung<br />

des Gerichts mit dem angeklagten Lebenssachverhalt;<br />

sie verhindern eine Bestrafung des Angeklagten. In diese<br />

3<br />

Zur Kritik an dieser Definition Meyer-Goßner (Fn. 1), S. 2.<br />

4<br />

Vgl. BGH, Urt. v. 25.10.2000 – 2 StR 232/00 = BGHSt 46,<br />

159 f.: „Umstände, die es ausschließen, dass über einen Prozessgegenstand<br />

mit dem Ziel einer Sachentscheidung verhandelt<br />

werden darf. Sie müssen so schwer wiegen, dass von<br />

ihrem Vorhandensein oder Nichtvorhandensein die Zulässigkeit<br />

des gesamten Verfahrens abhängig gemacht werden<br />

muss.“<br />

5<br />

Wenn auch (stets) das Beruhen des Urteils auf dem Fehler<br />

fingiert wird, vgl. § 338 Nr. 4 StPO.<br />

6<br />

Vgl. BGH, Beschl. v. 5.10.1962 – GSSt 1/62 = BGHSt 18,<br />

79 (83); Rotsch, in: Krekeler/Löffelmann/Sommer (Hrsg.),<br />

Anwaltkommentar StPO, 2. Aufl. 2010, § 6 Rn. 3.<br />

7<br />

BGH, Urt. v. 22.4.1999 – 4 StR 19/99 = BGHSt 45, 58.<br />

8<br />

Meyer-Goßner, Strafprozessordnung, Kommentar, 55. Aufl.<br />

2012, Einl. Rn. 143; ders. (Fn. 1), S. 38. Tendenzen, sich<br />

dieser Auffassung anzuschließen, finden sich in BGH, Beschl.<br />

v. 10.1.2007 – 5 StR 305/06 = BGHSt 51, 202 (205).<br />

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591


Anja Sturm/Andreas Lickleder<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

Kategorie gehören Verjährung, fehlender Strafantrag oder<br />

überlange Verfahrensdauer.<br />

Die Unterscheidung zeigt vielfach Auswirkungen: Bei einem<br />

Befassungsverbot ist das Verfahren einzustellen, auch<br />

wenn dem Angeklagten keine Straftat vorgeworfen werden<br />

kann. 9 Bei einem Bestrafungsverbot wäre freizusprechen. 10<br />

Befassungsverbote gehen also dem für den Angeklagten<br />

günstigeren Freispruch vor. Fehler mit verfahrensrechtlichem<br />

Bezug, 11 die zu einer Einstellung führen können und somit<br />

ebenfalls ein Prozesshindernis darstellen, unterliegen als Bestrafungsverbote<br />

den Voraussetzungen der Verfahrensrüge. 12<br />

Ob für die Berücksichtigung eines Bestrafungsverbotes mit<br />

materiellrechtlichem Bezug wie z.B. die Verjährung oder der<br />

Strafantrag die Sachrüge erhoben werden muss, 13 damit das<br />

Revisionsgericht den materiellrechtlichen Gegenstand einer<br />

Verurteilung überprüfen kann, hat der Bundesgerichtshof<br />

soweit ersichtlich noch nicht entschieden.<br />

III. BGH, Beschl. v. 8.11.2011 – 3 StR 244/11 = NStZ-RR<br />

2012, 76<br />

1. Sachverhalt<br />

Der Entscheidung lag folgender Sachverhalt zugrunde:<br />

Der Angeklagte hatte einen Bundesminister angeschrieben,<br />

dieser solle sich um eine Person kümmern, welche zu<br />

Unrecht strafrechtlich verfolgt werde. Ansonsten werde er<br />

den Minister töten. Der Bundesminister reagierte auf dieses<br />

Schreiben nicht.<br />

Der Angeklagte wurde von der Staatsanwaltschaft u.a.<br />

wegen versuchter Nötigung eines Mitglieds eines Verfassungsorgans<br />

gem. §§ 106, 22, 23 StGB zum Landgericht angeklagt<br />

und dementsprechend verurteilt. Die im Hinblick auf diesen<br />

Vorwurf ausschließlich beim OLG liegende sachliche Zuständigkeit<br />

gem. § 120 Abs. 1 Nr. 5 GVG wurde von allen<br />

Prozessbeteiligten übersehen.<br />

Gegen das Urteil erhob der Angeklagte mit der Revision<br />

eine zulässige, aber unbegründete Verfahrensrüge sowie die<br />

Sachrüge.<br />

2. Die Entscheidung des Senats<br />

Der Senat befasste sich mit dem Problem der sachlichen<br />

Zuständigkeit, die den Sachverhalt dem OLG vorbehalten<br />

hätte. Seiner Prüfung legte er die vom Landgericht getroffenen<br />

Feststellungen zugrunde und kam in der rechtlichen Bewertung<br />

zu dem Ergebnis, dass der Tatbestand des § 106<br />

StGB nicht erfüllt sei mit der Folge, dass § 120 Abs. 1 Nr. 5<br />

9<br />

BGH, Urt. v. 17.8.2000 – 4 StR 245/00 = BGHSt 46, 130<br />

bei Fehlen einer wirksamen Anklage.<br />

10<br />

Meyer-Goßner (Fn. 8), § 260 Rn. 45: Freispruch bei fehlendem<br />

Strafantrag.<br />

11<br />

Z.B. überlange Verfahrensdauer, staatliche Tatprovokation.<br />

12<br />

BGH, Beschl. v. 17.12.2003 – 1 StR 445/03 = NStZ 2004,<br />

449 für die überlange Verfahrensdauer.<br />

13<br />

So Meyer-Goßner (Fn. 1), S. 53.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

592<br />

<strong>ZIS</strong> 11/2012<br />

GVG nicht einschlägig, das OLG folglich nicht zuständig<br />

gewesen sei. 14<br />

Der Senat verurteilte den Angeklagten unter Korrektur<br />

des Schuldspruches gem. § 354 Abs. 1 StPO wegen versuchter<br />

Nötigung gem. §§ 240, 22 StGB und setzte die Rechtsfolge<br />

im Einvernehmen mit dem Generalbundesanwalt auf die<br />

gesetzlich niedrigste Strafe herab. Das Landgericht sei nach<br />

den eigenen Feststellungen sachlich zuständig gewesen, so<br />

dass der Senat lediglich die Tenorierung abänderte.<br />

Offen bleibt dabei, auf welcher Basis – wenn auch mit<br />

dem Hinweis auf eine „entsprechende oder direkte Anwendung<br />

des § 354 Abs. 1 StPO“ – der Senat den Schuldspruch<br />

geändert hat. Unter Verweis auf zwei Reichsgerichtsentscheidungen<br />

bestätigte der Senat die überkommene Rechtsprechung,<br />

15 wonach es für die sachliche Zuständigkeit nicht auf<br />

die subjektive, d.h. vom Tatgericht getroffene materielle Entscheidung,<br />

sondern auf die objektive Rechtslage ankomme.<br />

Maßgeblich für die sachliche Zuständigkeit sei demnach, zu<br />

welchem Ergebnis die Vorinstanz bei zutreffender Rechtsanwendung<br />

auf der Basis ihrer Feststellungen hätte gelangen<br />

müssen. Irrelevant sei hingegen die tatsächliche rechtliche<br />

Bewertung der Vorinstanz.<br />

IV. Entscheidungsgrundlagen in BGH – 3 StR 244/11<br />

Der Senat zieht zur Begründung seines Beschlusses zwei<br />

Entscheidungen des Reichsgerichts und eine des 1. Strafsenats<br />

des BGH aus dem Jahr 1951 heran.<br />

1. RGSt 6, 309 16<br />

Das Schöffengericht hatte den Angeklagten wegen Sachbeschädigung<br />

verurteilt, wogegen dieser Berufung eingelegt<br />

hatte. Erst in der Berufungsinstanz kam der Tatbestand der<br />

fahrlässigen Körperverletzung zur Sprache. Dafür wäre nach<br />

der damaligen Regelung das Landgericht erstinstanzlich zuständig<br />

gewesen. Der Angeklagte wurde daraufhin entsprechend<br />

verurteilt.<br />

Das Reichsgericht stellte fest, dass das Schöffengericht<br />

für die Handlung in dieser durch die Verhandlung in der<br />

Berufungsinstanz hervorgetretenen Gestalt seine Zuständigkeit<br />

mit Unrecht angenommen hatte. Maßgeblich für die<br />

Beurteilung der Zuständigkeit sei in einem solchen Fall der<br />

Tatidentität das Ergebnis der Beweisaufnahme in der zweiten<br />

Instanz. Daraus schloss das Reichsgericht, dass die Worte<br />

„mit Unrecht“ in der Zuständigkeitsnorm „objektiv, nicht<br />

subjektiv zu verstehen“ seien. Nachdem das Berufungsgericht<br />

diesen Zuständigkeitsfehler erkannt habe, habe es zu Recht<br />

das Urteil des Schöffengerichts aufgehoben, die zwei weite-<br />

14<br />

BGH, Beschl. v. 8.11.2011 – 3 StR 244/11 = NStZ-RR<br />

2012, 76.<br />

15<br />

Für viele Frisch, in: Wolter (Hrsg.), Systematischer Kommentar<br />

zur Strafprozessordnung und zum Gerichtsverfassungsgesetz,<br />

42. Lfg., Stand: Dezember 2005, § 338 Rn. 87; Meyer-Goßner<br />

(Fn. 8), § 338 Rn. 32; Hanack, in: Rieß (Hrsg.),<br />

Löwe/ Rosenberg, Die Strafprozeßordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz,<br />

Bd. 5, 25. Aufl. 2004, § 338 Rn. 71.<br />

16<br />

RG, Urt. v. 22.4.1882 – Rep 446/82 = RGSt 6, 309.


Zum Prüfungsumfang des Revisionsgerichts bei der sachlichen Zuständigkeit gem. § 6 StPO<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

ren Richter, die für eine Kammerbesetzung beim Landgericht<br />

als erste Instanz erforderlich waren, hinzugezogen und sodann<br />

als erstinstanzliches Gericht verhandelt.<br />

2. RGSt 44, 139 17<br />

Das Amtsgericht hatte den Angeklagten wegen eines Vergehens<br />

gem. § 175 StGB a.F. verurteilt. Mit ihrer Berufung<br />

begehrte die Staatsanwaltschaft eine Verurteilung wegen des<br />

Verbrechens des Verstoßes gegen § 2 der VO geg. Volksschädlinge<br />

v. 5.9.1939. Entsprechend dieser Auffassung verurteilte<br />

das Berufungsgericht den Angeklagten, wobei es das<br />

Urteil des Amtsgerichts aufhob, weil dieses gem. § 24 GVG<br />

für die Entscheidung nicht zuständig war. Der Angeklagte<br />

richtete hiergegen die Revision.<br />

Das Reichsgericht prüfte im Rahmen der Zulässigkeit zunächst<br />

seine eigene sachliche Zuständigkeit, da ein Rechtsmittel<br />

gegen Berufungsurteile nicht gegeben war. Es stellte<br />

fest, dass die rechtliche Bewertung der Tat in der Berufungsinstanz<br />

die Kompetenz des Amtsgerichts überschritten habe,<br />

weshalb das Landgericht zu Recht das Urteil aufgehoben und<br />

selbst als erste Instanz in der Sache entschieden habe. Zu der<br />

sachlichen Zuständigkeit führte es an die zuvor genannte<br />

reichsgerichtliche Entscheidung anknüpfend aus, dass die<br />

Worte „mit Unrecht“ sachlich, nicht persönlich zu verstehen<br />

seien. Da das Landgericht sachlich zuständig als erste Instanz<br />

entschieden habe, sei die Revision gegen das Urteil zulässig.<br />

3. BGHSt 1, 346 18<br />

Der Senat hatte über eine Revision des Angeklagten zu entscheiden,<br />

mit welcher dieser u.a. die sachliche Zuständigkeit<br />

der Strafkammer rügte. Ihm lag nach Anklage und Eröffnungsbeschluss<br />

ein versuchter besonders schwerer Raub gem.<br />

§§ 251, 43 StGB a.F. zur Last, der gem. § 80 GVG a.F. die<br />

Zuständigkeit des Schwurgerichts begründet hätte. Verurteilt<br />

wurde er wegen versuchten schweren Raubes gem. § 250<br />

Abs. 1 Nrn. 1, 3 StGB. Zur Aburteilung dieses Verbrechens<br />

war die Strafkammer sachlich gem. § 74 GVG zuständig.<br />

Der Senat bestätigte die sachliche Zuständigkeit der Strafkammer.<br />

Nach der in der Hauptverhandlung gewonnenen Erkenntnis,<br />

dass in Richtung des § 251 StGB kein Verdacht<br />

mehr bestand, sei dieser die Möglichkeit genommen gewesen,<br />

den Verfahrensfehler in Anklage und Eröffnungsbeschluss<br />

durch Verweisung gem. § 270 StPO zu heilen. Eine Aufhebung<br />

und Zurückverweisung an das sachlich zuständige Gericht<br />

könne auf Basis dieses Urteils nur mehr an die Strafkammer<br />

und nicht das Schwurgericht erfolgen.<br />

4. Zusammenfassung zum Ausgangspunkt der Begründung<br />

Allen drei vom Senat zitierten Entscheidungen ist gemein,<br />

dass das Revisionsgericht jeweils bei der Prüfung der sachlichen<br />

Zuständigkeit die vom letzten Instanzgericht getroffenen<br />

Feststellungen und dessen rechtliche Bewertung übernahm.<br />

Einigkeit besteht zunächst darüber, dass der im Zeitpunkt<br />

des Urteils festgestellte Sachverhalt der Tatsachenin-<br />

17<br />

RG, Urt. v. 2.4.1940 – 4 D 151/40 = RGSt 44, 139.<br />

18<br />

Vom Senat zitiert bei Dallinger, MDR 1952, 118 Fn. 5 =<br />

BGH, Urt. v. 2. 10.1951 – 1 StR 434/51 = NJW 1952, 192.<br />

stanz die Zuständigkeit bestimmt. 19 Weicht dieser von Anklage<br />

oder Eröffnungsbeschluss in einer die Zuständigkeit<br />

beseitigenden Weise ab, ändert dies nichts, 20 solange das<br />

Gericht wegen eines Tatbestands verurteilt, für den es zuständig<br />

ist. 21 Dieser Zeitpunkt ist auch dann maßgeblich,<br />

wenn in der Rechtsmittelinstanz die eine anderweitige Zuständigkeit<br />

begründenden Sachverhalte entfallen sind, weil<br />

der Angeklagte nur diejenigen Teile angefochten hatte, für<br />

die das Gericht zuständig war, 22 oder aber Tatteile, für die<br />

eine anderweitige Zuständigkeit bestanden hätte, abgetrennt<br />

worden sind. Aus einer anderweitigen Zuständigkeit resultiere<br />

kein Trennungsverbot; die Unzuständigkeit werde nicht<br />

perpetuiert. 23<br />

Unumstritten ist die Prüfungskompetenz für das Nichtvorliegen<br />

von Tatbestandsmerkmalen nicht – diese soll nach der<br />

Gegenauffassung 24 allein dem insoweit zuständigen Gericht<br />

vorbehalten bleiben; solange ein dem Anklagevorwurf entsprechender<br />

Lebenssachverhalt angeklagt sei, sei das höhere<br />

Gericht zuständig, selbst wenn sich dieser Sachverhalt später<br />

nicht erhärten lasse. Anders verhalte es sich nur dann, wenn<br />

die Anklage rechtsirrig von einem schwereren Tatbestand ausgeht.<br />

Die Zuständigkeitsfrage müsse zuerst beschieden werden,<br />

bevor man sich mit der Tat auseinander setze.<br />

Der BGH ist der zuletzt genannten Auffassung verschiedentlich<br />

gefolgt: Der 4. Strafsenat 25 hielt allein das höhere<br />

Gericht für befugt, den Tatverdacht bzgl. der schwereren Straftat<br />

zu überprüfen. Zweifel an dieser Vorgehensweise werden<br />

allerdings insoweit geäußert, als der Angeklagte nicht beschwert<br />

sei, wenn er von einem niedrigeren Gericht wegen<br />

19<br />

Vgl. Hanack (Fn. 15), § 338 Rn. 71; Temming, in: Gercke/<br />

Julius/Temming/Zöller (Hrsg.), Strafprozessordnung, Heidelberger<br />

Kommentar, 5. Aufl. 2012, § 338 Rn. 38; Pfeiffer,<br />

Strafprozessordnung, Kommentar, 5. Aufl. 2005, § 338 Rn. 14;<br />

BGH, Urt. v. 28.10.1986 – 1 StR 507/86 = NStZ 1987, 132;<br />

BGH, Beschl. v. 3.5.1991 – 3 StR 483/90 = NStZ 1991, 503;<br />

Lohse, in: Krekeler/Löffelmann/Sommer (Fn. 6), § 338<br />

Rn. 29; zu § 328 StPO vgl. Paul, in: Hannich (Hrsg.), Karlsruher<br />

Kommentar zur Strafprozessordnung, 6. Aufl. 2008,<br />

§ 328 Rn. 13; BGH, Beschl. v. 29.10.2009 – 3 StR 141/09 =<br />

NStZ-RR 2010, 284.<br />

20<br />

Der Zeitpunkt des Urteils ist natürlich dann nicht maßgebend,<br />

wenn die sachliche Zuständigkeit durch einen anderen<br />

Bezugspunkt begründet wird: Die besondere Bedeutung des<br />

Falles (vgl. § 24 Abs. 1 Nr. 3 GVG) wird allein im Zeitpunkt<br />

des Eröffnungsbeschlusses (nach objektiven Gesichtspunkten)<br />

gemessen. Einer ausführlichen Darlegung bedarf es nicht<br />

(BGH, Urt. v. 10.5.2001 – 1 StR 504/00 = BGHSt 47, 16 [21]).<br />

Gleiches gilt für die Straferwartung nach § 24 Abs. 1 Nr. 2<br />

und § 25 Nr. 2 GVG.<br />

21<br />

BGH, Urt. v. 2.10.1951 – 1 StR 434/51 = MDR 1952, 117<br />

= BGHSt 1, 346.<br />

22<br />

BGH, Urt. v. 8.1.1957 – 5 StR 378/56 = BGHSt 10, 64.<br />

23<br />

BGH, Urt. v. 2.10.1973 – 1 StR 217/73 = MDR 1974, 54.<br />

24<br />

Dallinger, MDR 1952, 118.<br />

25<br />

BGH, Beschl. v. 19.8.1971 – 4 StR 304/71 = MDR 1972,<br />

18 (bei Dallinger), ebenso BGH, Urt. v. 11.7.1961 – 5 StR<br />

246/61; anders aber RGSt 8, 238 (253).<br />

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593


Anja Sturm/Andreas Lickleder<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

eines schwereren Tatbestands nicht verurteilt werde. 26 Dagegen<br />

spricht allerdings, dass es bei Verfahrensvoraussetzungen<br />

auf eine Beschwer des Angeklagten nicht ankommt.<br />

V. Fehlende Vergleichbarkeit der unter IV. zitierten Entscheidungen<br />

auf die Bestimmung der sachlichen Zuständigkeit<br />

durch das Revisionsgericht (BGH, Beschl. v.<br />

8.11.2011 – 3 StR 244/11)<br />

Die Sachverhalte der vom Senat in Anspruch genommenen<br />

Entscheidungen des RG 27 weichen von demjenigen der<br />

Senatsentscheidung ab. Beim RG ging es um die Frage, ob<br />

das Berufungsgericht als Rechtsmittelgericht sachlich zuständig<br />

war und blieb, wenn in der Berufungsverhandlung ein<br />

neuer Tatverdacht auftrat, der in der Vorinstanz noch nicht<br />

Gegenstand der Hauptverhandlung gewesen war, und der die<br />

Zuständigkeit eines anderen Gerichts begründet hätte, oder<br />

ob eine Verweisung an das dann erstinstanzlich zuständige<br />

Gericht erforderlich war (nach § 328 Abs. 2 StPO bzw. dem<br />

ähnlich lautenden § 369 StPO a.F.). Ihre Übertragbarkeit erscheint<br />

ohne differenzierende Auseinandersetzung fraglich:<br />

Der Prüfungshorizont eines Berufungsgerichts weicht grundlegend<br />

von dem eines Revisionsgerichts ab. Sofern innerhalb<br />

der gleichen prozessualen Tat aufgrund neuer Tatsachenfeststellungen<br />

eine andere sachliche Zuständigkeit begründet wird,<br />

ergibt sich daraus ohne weiteres, dass das erstinstanzliche<br />

Gericht, insbesondere dann, wenn der weitere Sachverhalt<br />

dort bereits bekannt war, 28 sachlich unzuständig war.<br />

Das Revisionsgericht ist demgegenüber nicht befugt, eigenständig<br />

andere schuld- oder strafzumessungsrelevante Tatsachen<br />

festzustellen, sondern ist ausschließlich an die Feststellungen<br />

der Vorinstanz gebunden. Neben dieser prozessrechtlichen<br />

Tatsachenbindung durch das Urteil besteht eine weitere<br />

prozessrechtliche Bindung des Revisionsgerichts: die Reichweite<br />

der Überprüfung wird durch den Revisionsführer bestimmt,<br />

§§ 344, 352 StPO.<br />

VI. Weitere Lösungsansätze<br />

1. Verwandte Entscheidungen anderer Obergerichte<br />

Die Übertragung der Reichsgerichtsentscheidungen hätte also<br />

unter Berücksichtigung der besonderen Prämissen des Revisionsverfahrens<br />

zu erfolgen. Näher gelegen hätte daher eine<br />

Orientierung an zwei anderen obergerichtlichen Entscheidungen,<br />

die in der Sachverhaltsgestaltung dem diskutierten Fall<br />

eher entsprechen<br />

a) OLG Celle, Urt. v. 8.3.1950 – Ss 25/50 = JR 1950, 414<br />

Die Strafkammer hatte den Angeklagten unzutreffenderweise<br />

wegen einer Straftat verurteilt, für die nicht sie, sondern (damals)<br />

das Schwurgericht zuständig gewesen wäre. Sie hätte<br />

also das Verfahren dementsprechend aussetzen und an das<br />

26 So Hanack (Fn. 15), § 338 Rn. 72.<br />

27 Auch BGHSt 1, 346 weicht ab: hier war die Strafkammer<br />

aus Sicht des Revisionsgerichts im Urteil zum zutreffenden<br />

Ergebnis gelangt; lediglich für die angeklagte Tat war das<br />

Instanzgericht unzuständig.<br />

28 So zu vermuten bei RGSt 6, 309.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

594<br />

<strong>ZIS</strong> 11/2012<br />

Schwurgericht verweisen müssen. Der Angeklagte legte Revision<br />

ein. Das OLG Celle vertrat die Auffassung, dass es<br />

unsinnig sei, als Revisionsgericht das Urteil aufzuheben und<br />

an das – auf der Grundlage der unzutreffenden rechtlichen<br />

Bewertung des Instanzgerichts – zuständige Gericht zu verweisen,<br />

weil dann das Schwurgericht über einen Sachverhalt<br />

zu entscheiden hätte, für den es bei korrekter juristischer<br />

Bewertung nicht zuständig sei. „Zu Unrecht seine Zuständigkeit<br />

angenommen“ sei objektiv zu verstehen. Es komme<br />

darauf an, dass der erste Richter bei einer sachlich „richtigen“<br />

Beurteilung der Tat unzuständig war. Nur dann habe er seine<br />

Zuständigkeit „mit Unrecht“ angenommen, im Übrigen „habe<br />

er lediglich Rechtsvorschriften verkannt“.<br />

Das OLG Celle hielt es daher für erforderlich und zulässig,<br />

zur Feststellung der Zuständigkeit eine materiellrechtliche<br />

Prüfung vorzunehmen. 29<br />

b) OLG Oldenburg GA 1992, 471 (472)<br />

Der Nebenkläger hatte gegen ein verurteilendes Erkenntnis<br />

eines Schöffengerichts Revision eingelegt und Sach- und Verfahrensrügen<br />

erhoben: Aus den Feststellungen ergab sich,<br />

dass eine Verurteilung wegen eines versuchten Tötungsdeliktes<br />

zumindest nahe lag, was vom Schöffengericht zwar diskutiert,<br />

aber im Ergebnis abgelehnt wurde.<br />

Das OLG Oldenburg hielt das Schöffengericht für sachlich<br />

unzuständig, weil auch diese negative Entscheidung des<br />

Nicht-Vorliegens eines Tötungsdeliktes dem Schwurgericht<br />

vorbehalten bleibt. Das OLG Oldenburg hob dementsprechend<br />

das Urteil auf und verwies das Verfahren an das Schwurgericht.<br />

2. Die sachliche Zuständigkeit im Revisionsverfahren<br />

a) Prüfungsumfang des Revisionsgerichts<br />

Der Revisionsführer bestimmt den Umfang der Überprüfung:<br />

Die Verfahrensrüge bedarf einer Darstellung der Tatsachen,<br />

aus denen sich der Fehler ergibt, § 344 Abs. 2 S. 2 StPO.<br />

Allein auf die Sachrüge hin 30 überprüft es vollumfänglich die<br />

materielle Rechtslage. Keiner besonders durch den Revisionsführer<br />

zu erhebenden Rüge bedürfen die v.A.w. zu beachtenden<br />

Verfahrensvoraussetzungen. Das Revisionsgericht ist<br />

zur Prüfung verpflichtet. Offen ist aber, welche Grundlagen<br />

heranzuziehen sind. Gesetzliche Regelungen, inwieweit das<br />

Revisionsgericht bei der Prüfung von Verfahrensvoraussetzungen<br />

Urteil und Akteninhalt zum Gegenstand machen<br />

kann, existieren nicht.<br />

Grundsätzlich erfolgt die Prüfung der Verfahrensvoraussetzungen<br />

unter Zuhilfenahme aller verfügbaren Erkenntnis-<br />

29<br />

Ob der Angeklagte auch die Sachrüge erhoben hatte, wird<br />

in JR 1950, 414 nicht mitgeteilt.<br />

30<br />

Abweichungen gelten für die Staatsanwaltschaft; BGH,<br />

Beschl. v. 7.11.2002 – 5 StR 336/02 = NJW 2003, 839, zuletzt<br />

auch BGH, Beschl. v. 5.11.2009 – 2 StR 324/09 = NStZ-<br />

RR 2010, 288.


Zum Prüfungsumfang des Revisionsgerichts bei der sachlichen Zuständigkeit gem. § 6 StPO<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

quellen im Wege des Freibeweises. 31 Für Verfahrensvoraussetzungen,<br />

die die materielle Rechtslage betreffen, kann dies<br />

aber schon deshalb nicht gelten, weil sich ansonsten dem<br />

Revisionsgericht ein Einfallstor für Tatsachenfeststellungen<br />

eröffnen würde, das ansonsten verschlossen bliebe; 32 eine<br />

(Frei-)Beweiserhebung zur Tat findet nicht statt. Vielmehr ist<br />

das Revisionsgericht bei „doppelt-relevanten Tatsachen“,<br />

also bei materiellrechtlichen Fragen, die (auch) Verfahrensvoraussetzungen<br />

betreffen, auf das Urteil beschränkt. 33<br />

Von welchem Prüfungsumfang das Revisionsgericht in<br />

der aktuellen Entscheidung ausgegangen ist, ergibt sich aus<br />

dem Beschluss nicht; der Senat begnügt sich der h.M. entsprechend<br />

mit dem Hinweis, dass allein die „objektive Rechtslage“,<br />

nicht aber die „rechtliche Beurteilung des Instanzgerichts“<br />

maßgeblich sei.<br />

b) Verfahrensvoraussetzungen als besonders massive Verstöße<br />

Die oben bereits angesprochene Differenzierung zwischen<br />

Befassungs- und Bestrafungsverboten zielt grundsätzlich in<br />

die Richtung, Vorfragen der Durchführung eines Strafprozesses<br />

als Befassungsverbot zu klassifizieren; Bestrafungsverbote<br />

hindern lediglich eine Bestrafung, nicht aber die Befassung<br />

mit der Sache als solcher. 34 Gerade die sachliche Zuständigkeit<br />

zeigt aber, dass das materielle Recht basierend auf den<br />

getroffenen Feststellungen auch für ein Befassungsverbot<br />

Bedeutung haben könnte. Eine Prüfungsabfolge, wonach die<br />

Prüfung der allgemeinen Verfahrensvoraussetzungen logisch<br />

stets vor der Prüfung materiellen Rechts stattzufinden habe, 35<br />

scheint auf den ersten Blick bei der sachlichen Zuständigkeit<br />

nicht möglich zu sein, wenn sie von den Feststellungen oder<br />

gar der materiell-rechtlichen Beurteilung abhinge.<br />

c) Präzisierung des Prüfungsumfangs bei der sachlichen<br />

Zuständigkeit<br />

Gegenstand der Prüfung der sachlichen Zuständigkeit ist<br />

nicht allein die sachliche Prüfung der Vorinstanz, sondern<br />

insbesondere die Prüfung der eigenen Zuständigkeit. Diese<br />

hat mit den im Revisionsverfahren erhobenen Sach- oder<br />

Verfahrensrügen zunächst nichts zu tun. Das Gericht hat für<br />

sich festzustellen, ob es sich als angegangenes Revisionsgericht<br />

mit bestimmten Sachverhalten überhaupt befassen darf.<br />

Es sind bei genauerer Betrachtung zwei Fragen zu unterscheiden,<br />

nämlich<br />

� ob das Revisionsgericht überhaupt (abstrakt) als Rechtsmittelgericht<br />

für die Vorinstanz tätig sein kann;<br />

31<br />

Hanack (Fn. 15), § 337 Rn. 33; BGH NJW 1989, 1742 (für<br />

die Verhandlungsfähigkeit der Angeklagten); Kuckein, in:<br />

Hannich (Fn. 19), § 337 Rn. 25.<br />

32<br />

BGH, Beschl. v. 27.10.1961 – 2 StR 193/61 = BGHSt 16,<br />

399 (403).<br />

33<br />

In diesem Sinne für „doppelt-relevante“ Tatsachen auch<br />

Hanack (Fn. 15), § 337 Rn. 35.<br />

34<br />

Meyer-Goßner (Fn. 1), S. 38.<br />

35<br />

So Meyer-Goßner (Fn. 1), S. 51.<br />

� ob das Revisionsgericht und die Vorinstanz auf der Basis<br />

der im Urteil getroffenen Feststellungen der Vorinstanz<br />

sachlich unzuständig sind, wenn die Vorinstanz zutreffend<br />

entschieden hätte.<br />

Im Ergebnis können damit zwei Fehler vorliegen, wobei<br />

möglicherweise der zweite Fehler den ersten „korrigieren“<br />

kann. In der Konsequenz stellt sich zuletzt die Frage, ob das<br />

Revisionsgericht in der Sache selbst dann das zutreffende<br />

Ergebnis herstellen kann.<br />

Das Landgericht hatte im zu besprechenden Fall seine<br />

Zuständigkeit zu Unrecht angenommen (im Hinblick auf<br />

§ 120 Abs. 1 Nr. 5 GVG), gleichzeitig lag aber ein weiterer<br />

(zweiter) Rechtsanwendungsfehler vor, der den ersten Fehler<br />

kompensierte: Das Landgericht hatte zusätzlich übersehen,<br />

dass wegen fehlenden Dienstbezugs überhaupt kein Fall des<br />

§ 106 StGB vorgelegen hatte und damit § 106 StGB falsch<br />

ausgelegt. Fehlerhaft war damit im Ergebnis nur der Tenor,<br />

das Landgericht war aber eigentlich – bei richtiger Rechtsanwendung<br />

„nach der objektiven Rechtslage“– sachlich zuständig.<br />

3. Kritik an der h.M.: Bestimmung der sachlichen Zuständigkeit<br />

anhand der „objektiven Rechtslage“<br />

Die bislang in der dargestellten Rechtsprechung behandelten<br />

Fälle konnten insoweit zu einem vordergründig „richtigen“<br />

Ergebnis kommen, als im Rahmen der jeweils auch erhobenen<br />

Sachrüge dem Revisionsgericht die materiellrechtliche<br />

Überprüfung eröffnet war.<br />

a) Unzutreffende Entscheidung der Vorinstanz<br />

Fraglich ist aber, ob die Prüfung der „richtigen Rechtsanwendung<br />

auf der Basis der Feststellungen“ vom Revisionsgericht<br />

im Rahmen der sachlichen Zuständigkeit nach § 6 StPO<br />

überhaupt geprüft werden kann: Eine Überprüfung der Rechtsanwendung<br />

in materiellrechtlicher Hinsicht ist dem Revisionsgericht<br />

allein aufgrund der Sachrüge möglich. Es gilt also,<br />

diesen Widerspruch bzgl. des Prüfungsumfangs aufzulösen.<br />

Zur Verdeutlichung folgendes<br />

Beispiel: A fordert B auf, aus einem Geschäft des E Zigaretten<br />

zu stehlen, ansonsten werde er B körperlich misshandeln.<br />

B kommt der Aufforderung nach. Das Amtsgericht<br />

– Strafrichter – verurteilt dem Wortlaut des § 253<br />

StGB entsprechend, aber in Verkennung der nach der<br />

ganz h.M. 36 erforderlichen Nähebeziehung zwischen Verfügendem<br />

und Geschädigten wegen einer räuberischen<br />

Erpressung, §§ 253, 255 StGB. Der Angeklagte legt Revision<br />

ein und begründet diese allein mit einer zulässigen,<br />

aber unbegründeten Verfahrensrüge. Die der Sachrüge<br />

36<br />

Zum Näheverhältnis und dem erforderlichen „Freikaufverhalten“<br />

BGH, Urt. v. 20.4.1995 – 4 StR 27/95 = BGHSt 41,<br />

123 (125) sowie Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze,<br />

Kommentar, 59. Aufl. 2012, § 253 Rn. 11, krit. Kudlich, in:<br />

Satzger/Schmitt/Widmaier (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Kommentar,<br />

2009, § 253 Rn. 21.<br />

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Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />

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Anja Sturm/Andreas Lickleder<br />

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596<br />

vorbehaltene materiellrechtliche Prüfung ist an sich ausgeschlossen.<br />

Für eine räuberische Erpressung nach §§ 253, 255 StGB ist<br />

der Strafrichter wegen des Verbrechenscharakters unzuständig,<br />

§ 25 GVG. Materiellrechtlich korrekt wäre bei diesem<br />

Sachverhalt eine Verurteilung wegen Diebstahls in Tateinheit<br />

mit Nötigung gem. §§ 240, 242, 25 Abs. 1 Alt. 2, 52 StGB. 37<br />

Der Strafrichter war daher eigentlich sachlich zuständig. Im<br />

Ergebnis ist „nur“ der Tenor falsch, d.h. nur die konkret angewendete<br />

Strafnorm würde zur sachlichen Unzuständigkeit<br />

des Strafrichters führen.<br />

Nach der h.M. würde in einer solchen Konstellation das<br />

Revisionsgericht die materiellrechtliche Lage prüfen können,<br />

obwohl eine materiellrechtliche Prüfung des erstinstanzlichen<br />

Urteils seitens des Revisionsführers nicht gewollt war. Zwar<br />

könnte das Revisionsgericht gegebenenfalls im Wege einer<br />

Schuldspruchberichtigung den Fehler korrigieren. Diese ist<br />

allerdings nach h.M. 38 nur nach erhobener Sachrüge zulässig:<br />

die Schuldspruchberichtigung in Analogie zu § 354 Abs. 1<br />

StPO setzt eine Rechtsverletzung bei Anwendung des Strafgesetzes<br />

auf „die dem Urteil zugrunde liegenden Feststellungen“<br />

voraus, so dass die Rechtsverletzung bei Bestimmung<br />

der sachlichen Zuständigkeit – auch wenn sie auf den Urteilsgründen<br />

beruht – gerade nicht genügt. 39<br />

Ist eine Schuldspruchberichtigung dagegen nicht möglich,<br />

würde das Urteil – samt unzutreffendem Tenor – bestehen<br />

bleiben, obwohl die Vorinstanz gegen ein Befassungsverbot<br />

verstoßen hat. Die h.M. würde also einen Fehler erkennen,<br />

mangels Befugnis zur Korrektur diesen aber stehen lassen.<br />

Der Strafrichter hätte rechtskräftig wegen eines Verbrechens<br />

verurteilt. 40<br />

b) „Objektive Rechtslage“<br />

Kritisch ist zudem der Begriff der „objektiven Rechtslage“,<br />

die die Zuständigkeit bestimmen soll und auf die sich der<br />

Senat in Anlehnung an die reichsgerichtlichen Entscheidungen<br />

beruft. Eine solche gibt es nicht, sie wurde vielmehr<br />

durch die rechtliche Bewertung des Revisionsgerichts bestimmt.<br />

41<br />

37<br />

Weil B durch den Diebstahl nicht den Geschädigten, sondern<br />

sich selbst von der Bedrohung „freikauft“.<br />

38<br />

Meyer-Goßner (Fn. 8), § 354 Rn. 14; Nagel, in: Radtke/<br />

Hohmann (Hrsg.), Strafprozessordnung, Kommentar, 2011,<br />

§ 354 Rn. 14.<br />

39<br />

Wohlers, in: Wolter (Fn. 15), § 354 Rn. 31.<br />

40<br />

Kritisch wird diese Fallgruppe immer dann, wenn die sachliche<br />

Zuständigkeit von einer Katalogtat abhängt, neben dem<br />

der Entscheidung zugrunde liegenden Fall des § 120 GVG<br />

insbesondere also die Fälle der §§ 74 Abs. 2, 74a GVG. Im<br />

Verhältnis zu den anderen Strafkammern der §§ 74 ff. GVG<br />

handelt es sich um eine funktionelle Zuständigkeitsverteilung,<br />

gegenüber dem Amtsgericht aber um eine Frage der sachlichen<br />

Zuständigkeit, ferner für den Verbrechenscharakter einer<br />

Tat bei § 25 GVG.<br />

41<br />

Ob die Annahme einer „objektiven Rechtslage“ als eindeutigem<br />

Ergebnis einer Auslegung durch das RG einer Art<br />

<strong>ZIS</strong> 11/2012<br />

aa) Zutage tritt dies indes erst, wenn die materiellrechtliche<br />

Prüfung, die das Revisionsgericht bei der Bestimmung<br />

der sachlichen Zuständigkeit durchführt, zu keinem eindeutigen<br />

Ergebnis führt, eine „objektive Rechtslage“ (gemeint ist<br />

wohl eine „einhellige Auffassung“) also nicht existiert. Dazu<br />

ein weiteres<br />

Beispiel: Das Amtsgericht – Strafrichter – verurteilt den<br />

Angeklagten, der mit Gewalt (vis absoluta) ein Fahrzeug<br />

in seine Gewalt gebracht hat, um es anschließend wieder<br />

zurückzubringen, wegen Nötigung in Tateinheit mit Ingebrauchnahme<br />

eines Kraftfahrzeugs gem. §§ 240, 248b, 52<br />

StGB. Gegen das Urteil legt die Staatsanwaltschaft Sprungrevision<br />

ein und begründet diese mit einer zulässigen,<br />

aber im Ergebnis unbegründeten Verfahrensrüge.<br />

Der h.M. in der Rechtsprechung 42 zufolge hätte der Angeklagte<br />

wegen räuberischer Erpressung, §§ 253, 255 StGB,<br />

verurteilt werden müssen, während die h.M. in der Literatur<br />

den erkannten Tenor für zutreffend halten würde. 43<br />

Für die Verurteilung nach der h.M. wäre der Strafrichter<br />

angesichts des Verbrechenscharakters nicht zuständig, § 25<br />

GVG. Nach Auffassung der h.M. bei der Frage der sachlichen<br />

Zuständigkeitsprüfung müsste in einem solchen Fall das<br />

OLG v.A.w. prüfen, ob die Rechtsauffassung des Amtsgerichts<br />

in materiellrechtlicher Hinsicht zutreffend ist. Es würde<br />

das vom Strafrichter gefundene materiellrechtliche Ergebnis<br />

durch sein eigenes ersetzen, die Verurteilung aufheben und<br />

die Sache an das Schöffengericht weiter verweisen, obwohl<br />

seitens der Staatsanwaltschaft keine Sachrüge erhoben wurde.<br />

Dieses Fallbeispiel verdeutlicht, worin der h.M. zufolge<br />

die „objektive Rechtslage“, die bei der Prüfung der sachlichen<br />

Zuständigkeit festzustellen ist, besteht: Die „objektive Rechtslage“<br />

wird individuell vom Rechtsmittelgericht bestimmt, indem<br />

dieses eine eigenständige Subsumtion auf der Basis des<br />

festgestellten Lebenssachverhaltes vornimmt. 44<br />

„Begriffsjurisprudenz“ i.S.v. v. Jherings geschuldet ist, kann<br />

an dieser Stelle nicht vertieft werden.<br />

42<br />

BGH, Urt. v. 5.7.1960 – 5 StR 80/60 = BGHSt 14, 386.<br />

43<br />

Die praktische Relevanz dieser Konstellation zeigt v.a. das<br />

Problem der „Sicherungserpressung“, bei der es nur von<br />

Nuancen abhängt, ob ein über den Vorschaden hinausgehender<br />

eigener Schaden entsteht, vgl. zuletzt BGH, Beschl. v.<br />

26.5.2011 – 3 StR 318/10 = StV 2011, 677; vgl. auch Grabow,<br />

NStZ 2010, 371.<br />

44<br />

So auch bereits das OLG Celle JR 1950, 414. Zu erinnern<br />

sei in diesem Zusammenhang einmal an den unvergessenen<br />

Erich Ribbeck: „Ich kann es mir als Verantwortlicher für die<br />

Mannschaft nicht erlauben, die Dinge subjektiv zu sehen.<br />

Grundsätzlich werde ich versuchen zu erkennen, ob die subjektiv<br />

geäußerten Meinungen subjektiv sind oder objektiv<br />

sind. Wenn sie subjektiv sind, dann werde ich an meinen<br />

objektiven festhalten. Wenn sie objektiv sind, werde ich überlegen<br />

und vielleicht die objektiven subjektiv geäußerten Meinungen<br />

der Spieler mit in meine objektiven einfließen lassen.“


Zum Prüfungsumfang des Revisionsgerichts bei der sachlichen Zuständigkeit gem. § 6 StPO<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

Eine solche Subsumtion ist aber gerade Gegenstand einer<br />

materiellrechtlichen Prüfung und wäre unzulässig, soweit<br />

eine Sachrüge wie im Beispiel nicht erhoben wurde. Ohne<br />

Erhebung einer Sachrüge darf das Revisionsgericht die Tatsachenfeststellungen<br />

nicht „eigenmächtig“ materiellrechtlich<br />

bewerten, um sie sodann zur Grundlage der Entscheidung<br />

über die sachliche Zuständigkeit machen. Allein die materiellrechtliche<br />

Beurteilung des Revisionsgerichts könnte ansonsten<br />

auf der Basis „eindeutiger“ Feststellungen mittels der<br />

eigenen rechtlichen Bewertung die sachliche Zuständigkeit<br />

der Vorinstanz (und damit die eigene) bestimmen.<br />

bb) Dass die materiellrechtliche Prüfung der „objektiven<br />

Rechtslage“ durch das Rechtsmittelgericht kein brauchbares<br />

Kriterium ist, um die sachliche Zuständigkeit festzustellen,<br />

zeigt auch der umgekehrte Fall: Hat das Instanzgericht Feststellungen<br />

für einen Tatbestand getroffen, für den es abstrakt<br />

nicht zuständig ist (also z.B. der Strafrichter einen Sachverhalt<br />

festgestellt hat, der die Tatbestandsvoraussetzungen eines<br />

Raubes 45 erfüllt), aber nicht wegen dieses, sondern eines<br />

milderen Tatbestandes (§ 242 StGB) verurteilt, wäre das<br />

Revisionsgericht, sofern sich die sachliche Zuständigkeit<br />

nach der „objektiven Rechtslage“ auf der Grundlage der Sachverhaltsfeststellungen<br />

bestimmt, gehalten, das Urteil aufzuheben<br />

und an das dann zuständige Gericht zu verweisen. Das<br />

Rechtsmittelgericht wäre im Ergebnis stets v.A.w. verpflichtet,<br />

im Rahmen des § 6 StPO die Urteilsfeststellungen einer<br />

materiellrechtlichen Prüfung zu unterziehen, selbst wenn keine<br />

Sachrüge erhoben wurde. Folglich würde die Überprüfung<br />

der Verfahrensvoraussetzung der sachlichen Zuständigkeit zu<br />

einer Art „Sachrüge light“ führen, die das Revisionsgericht<br />

zumindest verpflichtet, die Feststellungen im Hinblick auf<br />

eine anderweitige sachliche Zuständigkeit hin zu kontrollieren.<br />

Die Urteilsfeststellungen müssten selbst dann geprüft<br />

werden, wenn nichts darauf hindeutet, dass eine Verletzung<br />

des materiellen Rechts vorliegt. Ein Abgleich der Feststellungen<br />

samt Subsumtion ist aber allein Gegenstand der Prüfung,<br />

die auf Sachrüge hin vorzunehmen ist.<br />

Evident ist dies auch bei in sich widersprüchlichen Feststellungen,<br />

die eine eindeutige materiellrechtliche Bewertung<br />

gerade nicht zulassen.<br />

VII. Eigener Lösungsvorschlag<br />

1. Prüfungshorizont ohne Sachrüge<br />

Die Bestimmung der sachlichen Zuständigkeit aufgrund einer<br />

angenommenen „objektiven Rechtslage“ ist nicht möglich,<br />

weil ein Zugriff auf die Feststellungen und die Urteilsgründe<br />

grundsätzlich nur bei erhobener Sachrüge möglich ist. 46 Das<br />

45 Wie nahe dies gerade beim Raub liegt, zeigt BGH, Urt. v.<br />

26.6.2008 – 3 StR 182/08 = NStZ 2008, 625, wo trotz sich<br />

aufdrängendem Raubes/räuberischen Diebstahls das Landgericht<br />

nur gem. §§ 223, 241, 52 StGB verurteilte und für den<br />

„versuchten Diebstahl“ von Rücktritt ausging. Auf die Problematik<br />

des Raubs durch Unterlassen sei verwiesen, vgl. dazu<br />

Kudlich (Fn. 37), § 249 Rn. 14, 15 und Fischer (Fn. 37),<br />

§ 249 Rn. 10 ff.<br />

46 Meyer-Goßner (Fn. 1), S. 51.<br />

OLG hat als Revisionsgericht bei einer Sprungrevision keine<br />

Korrekturmöglichkeit, wenn es zu dem Ergebnis kommt, der<br />

Strafrichter habe fehlerhafterweise ein Verbrechen angenommen,<br />

sei aber nach den zugrunde liegenden Feststellungen<br />

wegen eines Vergehens zuständig gewesen.<br />

Das Revisionsverfahren ist kontradiktorisch angelegt,<br />

weil es dem Revisionsführer überlässt, den Prüfungsumfang<br />

des Revisionsgerichts bzgl. des konkreten Urteils zu bestimmen,<br />

§§ 344, 352 StPO. Daher stellt sich zunächst losgelöst<br />

vom Einzelfall die Frage, ob das Gericht den tenorierten Tatbestand<br />

bei seiner Entscheidung anwenden darf. Für die Prüfung<br />

der sachlichen Zuständigkeit kann es daher, so lange<br />

keine Sachrüge erhoben ist, nur auf den Urteilstenor ankommen.<br />

Das Revisionsgericht kann lediglich prüfen, ob das<br />

Instanzgericht für den tenorierten Tatbestand und infolgedessen<br />

es selbst als Rechtsmittelgericht gegen diese Entscheidung<br />

zuständig ist. Gerade dieser die sachliche Zuständigkeit<br />

des höheren Gerichts begründende „abstrakte“ Fehler des<br />

anzuwendenden Tatbestandes liegt für den Instanzrichter auf<br />

der Hand, hier geht es nicht um Rechtsanwendung, sondern<br />

um schlichte Rechtskenntnis, also um die Verkennung grundlegender<br />

strafverfahrensrechtlicher Zuständigkeitsvorschriften.<br />

Die Zuständigkeitsbestimmung des § 120 Abs. 1 Nr. 5<br />

GVG hängt im Unterschied zu § 120 Abs. 2 GVG nicht einmal<br />

von der Übernahme durch die Generalstaatsanwaltschaft<br />

ab. Bevor das Gericht einen bestimmten Tatbestand anwendet,<br />

hat es zu prüfen, ob es für diesen abstrakt, also losgelöst<br />

vom konkreten Einzelfall nach seiner Rechtsanwendung zuständig<br />

ist. In anderen Worten: Die Tenorierung eines Tatbestandes<br />

erfolgt in zwei Schritten, nämlich zunächst eine abstrakten<br />

Prüfung der Frage der Anwendungsbefugnis und anschließend<br />

der Subsumtion des festgestellten Sachverhaltes<br />

unter diesen Tatbestand. Prüfungsgegenstand der sachlichen<br />

Zuständigkeit ist allein der erste Schritt. Auch der Wortlaut<br />

der Zuständigkeitsbestimmungen verweist auf eine Prüfung<br />

der Einordnung in rechtliche Kategorien: Dem Strafrichter<br />

muss „abstrakt“ bewusst sein, dass er für Verbrechen nie zuständig<br />

ist. Ob er als Grundlage dafür Feststellungen trifft,<br />

die ein Vergehen oder ein Verbrechen ausmachen, ist irrelevant.<br />

Die im Rahmen der Verfahrensvoraussetzungen relevante<br />

grobe Fehlerhaftigkeit 47 liegt also nicht in der irrtümlichen<br />

Annahme eines Sachverhaltes, der im Einzelfall zu einem<br />

Tatbestand anderer Zuständigkeit führt, sondern in der Einordnung<br />

einer abstrakten Rechtsnorm als zuständigkeitsbegründender<br />

Tatbestand. Ein solcher Fehler kann einer „groben<br />

Verfahrenswidrigkeit“ gleichgestellt werden. 48 Gleiches<br />

47<br />

Vgl. oben die Definition der Verfahrensvoraussetzung nach<br />

BGH, Urt. v. 22.12.2000 – 3 StR 378/00 = BGHSt 46, 238.<br />

48<br />

Vgl. insoweit die Argumentation bei Befangenheit § 26a<br />

StPO – BVerfG NJW 2005, 3410; Meyer-Goßner (Fn. 8),<br />

§ 26a Rn. 4a, bei der Zuständigkeit für Zwangsmaßnahmen<br />

§§ 105, 81a StPO – BVerfG NJW 2001, 1121; BVerfG NJW<br />

2010, 2864; Meyer-Goßner (Fn. 8), § 81a Rn. 25a; § 105<br />

Rn. 2. Überspitzt gesagt ist es dem Instanzgericht nach §§ 25,<br />

74, 120 GVG nicht verwehrt, einen Sachverhalt festzustellen,<br />

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gilt für den hier im Raum stehenden § 106 StGB: auch hier<br />

muss dem Landgericht ohne weiteres bewusst sein, dass es<br />

für eine Verurteilung nach § 106 StGB aufgrund der Zuständigkeitsverteilung<br />

im GVG nicht berufen ist. Ob gerade eine<br />

„willkürliche Annahme der Zuständigkeit“, also eine subjektive<br />

Komponente erforderlich ist, wie sie an anderen Stellen<br />

für eine Verletzung des Art 101 Abs. 1 S. 2 GG gefordert<br />

wird, scheint zweifelhaft. Der 3. Strafsenat 49 hat zuletzt willkürliches<br />

Handeln bei der Annahme der Zuständigkeit bei<br />

§ 338 Nr. 4 StPO auf Ausnahmen beschränkt und zumindest<br />

bei § 74a GVG nicht für erforderlich erachtet. Ob für eine<br />

v.A.w. zu beachtende Verfahrensvoraussetzung strengere Anforderungen<br />

gelten, kann hier dahinstehen, weil zumindest –<br />

gemessen an der Rechtsprechung zu § 26a StPO 50 – willkürliches<br />

Verhalten bei Verletzung zwingender prozessualer Vorschriften<br />

nahe liegt. 51<br />

Das Befassungsverbot bezieht sich danach im Rahmen<br />

der sachlichen Zuständigkeit – so es einen konkreten Tatbestand<br />

gibt, von dem die Zuständigkeit abhängt – auf die Anwendung<br />

dieses Tatbestands. Auch im Rahmen des § 24<br />

Abs. 2 GVG prüft das Revisionsgericht nur, ob das Instanzgericht<br />

den zur Verfügung gestellten Strafrahmen überschritten<br />

hat; die Zuständigkeit bestimmt sich nach der verhängten<br />

Rechtsfolge, nicht aber nach den Feststellungen.<br />

Es handelt sich damit nicht (nur) um einen Rechtsanwendungsfehler<br />

bzgl. materiellen Rechts, wenn der Strafrichter<br />

wegen eines Verbrechens verurteilt; vielmehr ist diesem bereits<br />

zuvor die richtige abstrakte Qualifizierung (§ 12 Abs. 1<br />

oder 2 StGB) nicht gelungen. Auf die Feststellungen kommt<br />

es hier nicht an: Allein anhand des Tenors ist nicht erkennbar,<br />

ob eine Entscheidung richtig oder falsch ist. Dazu müsste auf<br />

die Urteilsfeststellungen zurückgegriffen werden, was aber<br />

dem Revisionsgericht untersagt ist, wenn keine Sachrüge erhoben<br />

ist. V.A.w. darf das Revisionsgericht, wenn keine<br />

Sachrüge erhoben wurde, daher nur prüfen, ob<br />

� das Amtsgericht seinen Strafrahmen gem. § 24 Abs. 2<br />

GVG überschritten oder der Strafrichter wegen eines<br />

Verbrechens oder einer anderen zuständigkeitsbestimmenden<br />

Katalogtat verurteilt hat,<br />

� das erstinstanzlich verurteilende Landgericht eine Katalogtat<br />

des § 120 GVG übersehen hat.<br />

Eine Orientierung der sachlichen Zuständigkeit an der „objektiven<br />

Rechtslage“ ist nur möglich, wenn dem Revisionsgericht<br />

zugleich im Umfang der Prüfung der sachlichen Zuständigkeit<br />

eine Prüfungs- und Aufhebungskompetenz zugebilligt<br />

würde. Dagegen spricht indes der eindeutige Wortlaut des<br />

§ 344 Abs. 2 S. 1 StPO, der die materiellrechtliche Überprü-<br />

der zur Zuständigkeit eines anderen Gerichts führt, sondern<br />

(nur), wegen dieses Tatbestands zu verurteilen.<br />

49<br />

BGH, Beschl. v. 13.9.2011 – 3 StR 196/11.<br />

50<br />

Meyer-Goßner (Fn. 8), § 26a Rn. 4a.<br />

51<br />

Auf die „Richtigkeit“ der Entscheidung kommt es nicht an,<br />

wenn bei der Entscheidung gegen das Recht auf den gesetzlichen<br />

Richter, Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG verstoßen wurde; so<br />

deutlich auch BGH, Beschl. v. 22.11.2011 – VIII ZB 81/11.<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

598<br />

<strong>ZIS</strong> 11/2012<br />

fung eines Urteils von der Erhebung der Sachrüge abhängig<br />

macht.<br />

2. Prüfungshorizont bei erhobener Sachrüge<br />

Hat der Revisionsführer auch die Sachrüge erhoben, kann das<br />

Revisionsgericht anhand der Urteilsfeststellungen den Sachverhalt<br />

überprüfen. Ob dies aber eine eigene Bewertung bzgl.<br />

der sachlichen Zuständigkeit anhand der Feststellungen rechtfertigt,<br />

ist wiederum zweifelhaft. Zwei Lösungsansätze sind<br />

denkbar:<br />

� Die Sachrüge erweitert im kontradiktorisch angelegten<br />

Revisionsverfahren den Prüfungshorizont des Revisionsgerichts<br />

bzgl. der v.A.w. zu beachtenden Verfahrensvoraussetzungen.<br />

Das Revisionsgericht kann zur Prüfung<br />

der sachlichen Zuständigkeit auch die Feststellungen im<br />

Urteil heranziehen. Danach würde sich aber für das Revisionsgericht<br />

die Frage stellen, welche Entscheidung zu<br />

treffen ist, wenn das Instanzgericht aufgrund zutreffender<br />

tatsächlicher Feststellungen wegen einer Straftat verurteilt<br />

hat, für die es nicht zuständig ist. Soll es hier auf die tatsächlichen<br />

Feststellungen ankommen, könnte das Revisionsgericht<br />

in der Sache selbst entscheiden. Diesen Weg<br />

hat der 3. Strafsenat 52 beschritten, als er im Wege der<br />

Schuldspruchberichtigung den Angeklagten wegen versuchter<br />

Nötigung verurteilt hat.<br />

Ob die (sachlich unzuständige) Vorinstanz allerdings in<br />

der Lage ist, Feststellungen bzgl. eines Tatbestandes, für<br />

den es nicht zuständig ist, mit Bindungswirkung für das<br />

Revisionsgericht zu treffen, scheint schon dann fraglich,<br />

wenn das Instanzgericht den Tatbestand im Ergebnis ablehnt;<br />

erst recht gilt das, wenn es den Tatbestand im Ergebnis<br />

annimmt.<br />

Hier wären Kriterien zu entwickeln, wie weit das Prüfungsrecht<br />

des Instanzgerichts geht. Übernimmt man hier<br />

die Auffassung zum Prüfungsrecht nach § 270 StPO, 53<br />

wird das Revisionsgericht im Rahmen der v.A.w. zu beachtenden<br />

Verfahrensvoraussetzungen prüfen können, inwieweit<br />

sich aus den Feststellungen ein hinreichender<br />

Tatverdacht ergibt, der dem Instanzgericht die sachliche<br />

Zuständigkeit nimmt. 54<br />

� Alternativ vermag auch die Sachrüge den Prüfungshorizont<br />

nicht zu erweitern; es bleibt bei der Prüfung der sachlichen<br />

Zuständigkeit anhand der oben unter VI. 1. entwickelten<br />

Kriterien. Die sachliche Zuständigkeit in Abhängigkeit<br />

vom Urteilstenor ginge danach den Feststellungen<br />

des Instanzgerichts vor. Danach erweist sich die Entschei-<br />

52<br />

BGH, Beschl. v. 8.11.2011 – 3 StR 244/11 = NStZ-RR<br />

2012, 76.<br />

53<br />

Vgl. zum Prüfungsrecht bei § 270 Abs.1 StPO Meyer-Goßner<br />

(Fn. 8), § 270 Rn. 9.<br />

54<br />

Zwar wird das Urteil auf (die hier unterstellte) Sachrüge<br />

hin vollständig geprüft, so dass das Revisionsgericht die Feststellungen<br />

in vollem Umfang heranziehen und prüfen kann.<br />

Relevant ist dies daher nur bei Sachrügen mit beschränktem<br />

Prüfungsumfang, z.B. der Revision des Nebenklägers, vgl.<br />

Meyer-Goßner (Fn. 8), § 400 Rn. 6.


Zum Prüfungsumfang des Revisionsgerichts bei der sachlichen Zuständigkeit gem. § 6 StPO<br />

_____________________________________________________________________________________<br />

dung des 3. Strafsenates als unzutreffend: Er hätte nicht<br />

auf der Basis der von einem sachlich unzuständigen Gericht<br />

getroffenen Feststellungen eine Entscheidung über<br />

§§ 105, 106 StGB treffen dürfen. Diese Vorschrift kann<br />

nicht Prüfungsgegenstand der BGH-Entscheidung sein,<br />

weil der BGH dafür nicht als Revisionsgericht gegen die<br />

Entscheidung des Landgerichts zuständig ist. Das Verfahren<br />

hätte an das eigentlich zuständige OLG verwiesen<br />

werden müssen.<br />

VIII. Zusammenfassung<br />

Die Entscheidung des 3. Strafsenats ist unter der Maßgabe<br />

zutreffend, dass dem Senat über die erhobene Sachrüge die<br />

Prüfung zugebilligt wird, die sachliche Zuständigkeit anhand<br />

der Urteilsfeststellungen zu prüfen. Die Systematik und Bedeutung<br />

der allgemeinen Verfahrensvoraussetzungen im Verhältnis<br />

zu materiellrechtlichen Fragen legt indes das Gegenteil<br />

nahe. Hat das Tatgericht verkannt, dass es bei § 106 StGB<br />

gerade auf einen bestimmten Zusammenhang zwischen der<br />

Tätigkeit des Opfers und der abgenötigten Verhaltensweise<br />

ankommt, hat es möglicherweise verabsäumt, entsprechende<br />

Feststellungen zu treffen.<br />

Nach der hier vertretenen Auffassung könnte Grundlage<br />

der Korrektur durch den 3. Strafsenat nicht das v.A.w. zu<br />

beachtende Verfahrenshindernis der sachlichen Zuständigkeit<br />

nach § 6 StPO, sondern allenfalls die Sachrüge sein. Erst die<br />

Sachrüge könnte das Revisionsgericht befähigen, auf der<br />

Basis der Urteilsgründe eine andere, von der Vorinstanz<br />

abweichende materiellrechtliche Entscheidung zu treffen.<br />

Wie gezeigt, spricht die fehlende Befugnis des Instanzgerichts,<br />

bindend Feststellungen für einen Tatbestand zu treffen,<br />

für den es nicht zuständig ist, dagegen. 55 Die fehlende sachliche<br />

Zuständigkeit geht der materiellrechtlichen Rechtslage<br />

vor. 56<br />

Eindeutig wäre das Ergebnis dann, wenn keine Sachrüge<br />

erhoben wurde. Hier ist dem Revisionsgericht der Weg über<br />

die Schuldspruchberichtigung, den der 3. Strafsenat in großzügiger<br />

(„direkter oder analoger“) Anwendung des § 354<br />

Abs. 1 StPO beschreitet, verschlossen. Das Verfahren ist<br />

zwingend zurückverweisen. Diese könnte an das Ausgangsgericht<br />

erfolgen, um dieses für den Fall des Vorliegens des<br />

§ 106 StGB zu einer Verweisung zu veranlassen oder ansonsten<br />

eine Entscheidung nach Maßgabe der Rechtsauffassung<br />

des Revisionsgerichts zu treffen. Alternativ könnte in der<br />

Verurteilung des Instanzgerichts die konkludente Bejahung<br />

des hinreichenden Tatverdachts zu sehen sein, so dass an das<br />

für den jeweiligen Tatbestand zuständige Gericht zu verweisen<br />

wäre.<br />

Dass dann eventuell ein Gericht über einen Sachverhalt<br />

entscheidet, für den es nicht zuständig ist, ist kein Argument<br />

55<br />

So das OLG Oldenburg GA 1992, 470.<br />

56<br />

Zu verweisen ist darauf, dass wegen § 106 StGB nach dem<br />

Geschäftsverteilungsplan der für Staatsschutzsachen zuständige<br />

3. Strafsenat über die Revision zu entscheiden hatte, wie<br />

dies auch bei einer Revision gegen ein Urteil des OLG der<br />

Fall gewesen wäre. Der 3. Strafsenat wäre daher in jedem<br />

Fall zuständig gewesen.<br />

gegen eine Verweisung: 57 auch eine Anklage, bei der sich der<br />

Tatbestand letztendlich nicht nachweisen lässt, begründet<br />

letztendlich die Zuständigkeit des angegangenen Gerichts.<br />

Die vom Senat zitierten Reichsgerichtsentscheidungen<br />

erweisen sich sowohl nach der hier vertretenen Auffassung<br />

wie auch nach der h.M. als zutreffend, weil bei § 328 Abs. 2<br />

StPO dem Berufungsgericht eine eigene Tatsachenfeststellung<br />

möglich war und das Ausgangsgericht jeweils nach dem<br />

Tenor des Berufungsgerichts nicht (mehr) zuständig war.<br />

Etwas anderes würde aber dann gelten, wenn das Berufungsgericht<br />

keine Tatsachen zur Schuldfrage prüfen darf.<br />

Beispiel: Ein AG-Strafrichter verurteilt wegen Raubs,<br />

obwohl er Feststellungen allein zu § 242 StGB getroffen<br />

hat, der Angeklagte beschränkt seine Berufung auf die<br />

Rechtsfolge.<br />

Das Berufungsgericht müsste<br />

� nach der hier vertretenen Auffassung wegen fehlender<br />

sachlicher Zuständigkeit der Vorinstanz für diesen<br />

Schuldspruch auf den falschen Tenor (Verbrechen) hin<br />

das Urteil aufheben und, ohne die Feststellungen zu überprüfen,<br />

an das AG-Schöffengericht verweisen,<br />

� nach der h.M. die sachliche Zuständigkeit des Strafrichters<br />

(und die eigene) bejahen, weil nach den Feststellungen<br />

kein Verbrechen vorliegt, könnte aber den Tenor<br />

nicht beseitigen. Die Strafe würde, sofern kein Durchgriff<br />

auf den Tenor möglich ist, über § 249 StGB zuzumessen<br />

sein.<br />

Die vorstehend entwickelte Lösung hält im Übrigen auch der<br />

Prämisse Meyer-Goßners 58 stand, Verfahrensvoraussetzungen<br />

seien vor der materiell-rechtlichen Prüfung im konkreten<br />

Einzelfall festzustellen. Die Frage der Einordnung eines Tatbestands<br />

als Vergehen oder Verbrechen durch den Strafrichter<br />

oder auch nur der Heranziehung des § 106 StGB entgegen<br />

§ 120 GVG durch das Landgericht hat keinen Bezug zum<br />

konkreten Sachverhalt.<br />

57 So OLG Celle JR 1950, 414.<br />

58 Meyer-Goßner (Fn. 1), S. 51.<br />

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Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />

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