Inhalt AUFSÄTZE ENTSCHEIDUNGSANMERKUNGEN ... - ZIS
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<strong>Inhalt</strong><br />
<strong>AUFSÄTZE</strong><br />
Strafprozessrecht<br />
Elektronisch überwachter Hausarrest<br />
Zur Regelung in Deutschland und Österreich<br />
Von Prof. Dr. Gudrun Hochmayr, Frankfurt (Oder) 537<br />
Die Anhörungsrüge im Verfahren der Rechtsbeschwerde<br />
gemäß §§ 116 ff. StVollzG und ihr Zusammenspiel mit der<br />
Verfassungsbeschwerde<br />
Von Wiss. Mitarbeiter Mario Bachmann, Köln 545<br />
Der Einsatz „neuer Medien“ im Dezernat des<br />
Ermittlungsrichters<br />
Von RiAG Frank Buckow, Berlin 551<br />
Europäisches Strafrecht<br />
Strafrechtsrelevante Entwicklungen in der Europäischen<br />
Union – ein Überblick<br />
Von Wiss. Mitarbeiter Dominik Brodowski, LL.M. (Univ.<br />
Pennsylvania), München 558<br />
Ausländisches Strafrecht<br />
Reglas primarias de obligación<br />
Las “reglas del derecho penal” en el concepto de derecho de<br />
H.L.A. Hart<br />
De Prof. Dr. Juan Pablo Mañalich R., Universidad de Chile 571<br />
<strong>ENTSCHEIDUNGSANMERKUNGEN</strong><br />
Strafrecht<br />
BVerfG, Beschl. v. 7.12.2011 – 2 BvR 2500/09 u.a.<br />
(Mindestanforderungen an die Schadensfeststellungen<br />
bei einem Erfüllungsbetrug)<br />
(Regierungsrat Dr. Mark Steinsiek, Diplom-Jurist/-verwaltungswirt<br />
Philipp Vollmer, Hannover) 586<br />
ENTSCHEIDUNGBESPRECHUNGEN<br />
Strafprozessrecht<br />
Zum Prüfungsumfang des Revisionsgerichts bei der<br />
sachlichen Zuständigkeit gem. § 6 StPO<br />
Von Rechtsanwältin Anja Sturm, Berlin, Rechtsanwalt<br />
Andreas Lickleder, München 591
Elektronisch überwachter Hausarrest<br />
Zur Regelung in Deutschland und Österreich<br />
Von Prof. Dr. Gudrun Hochmayr, Frankfurt (Oder)<br />
Der elektronisch überwachte Hausarrest wird in Deutschland<br />
gegenwärtig in zwei Bundesländern erprobt. In Österreich<br />
wurde im Jahr 2010 eine gesetzliche Grundlage für diese<br />
Maßnahme geschaffen. Im Hinblick auf die mögliche Einführung<br />
des elektronischen Hausarrests in weiteren deutschen<br />
Bundesländern wird in diesem Beitrag die Ausgestaltung des<br />
elektronischen Hausarrests in den genannten drei Ländern<br />
rechtsvergleichend gegenübergestellt und bewertet. Der<br />
Beitrag schließt mit Empfehlungen für die konkrete Ausformung<br />
der Maßnahme.<br />
The electronic house arrest is currently proved in two German<br />
federal states. A legal basis for this instrument was<br />
provided in Austria in 2010. Regarding the introduction of<br />
the electronic house arrest in other German federal states,<br />
this article opposes and evaluates its embodiments in a comparative<br />
manner. It concludes with suggestions for the implementation<br />
of this instrument.<br />
I. Einleitung<br />
Die hohe Auslastung der Vollzugsanstalten und die Kosten<br />
des Strafvollzugs veranlassen auch in Europa immer mehr<br />
Länder dazu, den elektronisch überwachten Hausarrest als<br />
Alternative zum stationären Freiheitsentzug einzuführen. Neben<br />
die offen pekuniären Motive tritt die Erwartung besserer<br />
Resozialisierungseffekte. Die Maßnahme vermeidet schädliche<br />
Nebenwirkungen einer Inhaftierung und wirkt verhaltenstherapeutisch<br />
auf den Überwachten ein: Durch die Festlegung<br />
der Zeiten, in denen er in der Unterkunft oder an seinem<br />
Arbeitsplatz zu sein hat, wird sein Tages- und Wochenablauf<br />
einer festen Struktur unterworfen. Dies soll ihn an einen<br />
geregelten Tagesablauf und eine sinnvolle Tätigkeit gewöhnen<br />
und seine Selbstkontrolle stärken. Die Bedingungen<br />
können durch die Auferlegung zusätzlicher Verhaltenspflichten,<br />
wie Kontakt- oder Aufenthaltsverbote, verschärft oder<br />
umgekehrt durch die Einräumung von Freizeit außerhalb der<br />
Unterkunft erleichtert werden. Verstößt der Überwachte gegen<br />
die Pflichten, drohen ihm der Widerruf des elektronischen<br />
Hausarrests und die anschließende Überstellung in die Haftanstalt.<br />
Die Einhaltung der Pflicht zur Anwesenheit in der<br />
Unterkunft bzw. zur Abwesenheit von dieser überwacht man<br />
elektronisch. Hierzu wird ein Sender fest mit dem Körper,<br />
meist dem Fußgelenk, des Überwachten verbunden, der während<br />
der Dauer der Maßnahme nicht entfernt werden darf.<br />
Der Sender übermittelt Signale an ein in der Unterkunft installiertes<br />
Basisgerät. Falls der Sender entfernt oder manipuliert<br />
wird oder der Überwachte sich zu den vorgegebenen<br />
Zeiten nicht in der Unterkunft aufhält, wird in der Überwachungsstelle<br />
Alarm ausgelöst.<br />
In Deutschland setzen den elektronisch überwachten Hausarrest<br />
bislang zwei Bundesländer ein. Seit dem Jahr 2000 er-<br />
probt ihn Hessen im Modellversuch. 1 Zehn Jahre später startete<br />
ein entsprechender Modellversuch in Baden-Württemberg.<br />
2 Nach einer kurzen Erprobung 3 führte Österreich den<br />
elektronisch überwachten Hausarrest nahezu zeitgleich ein. 4<br />
Während er in Hessen in erster Linie als Weisung im Rahmen<br />
einer Straf(-rest-)aussetzung zur Bewährung und als weniger<br />
einschneidende Maßnahme bei der Aussetzung des Vollzugs<br />
eines Haftbefehls angeordnet wird, ist das Hauptanwendungsgebiet<br />
in Baden-Württemberg und Österreich der Vollzug der<br />
Freiheitsstrafe. In Baden-Württemberg können Ersatzfreiheitsstrafen<br />
sowie Strafreste bis zu sechs Monaten im elektronischen<br />
Hausarrest vollzogen werden. In Österreich ist der Vollzug<br />
einer zeitlichen Freiheitsstrafe im elektronischen Hausarrest<br />
möglich, wenn die konkret (noch) zu verbüßende Strafzeit<br />
höchstens zwölf Monate beträgt; darüber hinaus kann die<br />
Untersuchungshaft in Form des elektronischen Hausarrests<br />
1<br />
Die Durchführung erfolgt auf der Grundlage des Erlasses<br />
des Hessischen Ministeriums der Justiz v. 20.3.2000 betreffend<br />
den Modellversuch zur Erprobung des Electronic Monitoring<br />
(Elektronische Fußfessel) im Land- und Amtsgericht<br />
Frankfurt am Main, 4104-III/9-258/91; s.a. die Richtlinien für<br />
die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter im Modellversuch<br />
„Erprobung der elektronischen Fußfessel“ im Land- und Amtsgericht<br />
Frankfurt am Main; beides abgedruckt bei Mayer,<br />
Modellprojekt elektronische Fußfessel, 2004, S. 417 ff. Ablauf<br />
und Vorgehensweise sind zusammengefasst in: Hessisches<br />
Ministerium der Justiz, Handbuch Elektronische Fußfessel,<br />
2006, passim. Ein weiterer Anwendungsbereich ist die Entlassungsfreistellung<br />
im Strafvollzug; § 16 Abs. 3 HJStVollzG<br />
v. 19.11.2007 = GVBl. I 2007, S. 758; § 16 Abs. 3 HSt-<br />
VollzG v. 28.6.2010 = GVBl. I 2010, S. 185.<br />
2<br />
Gesetz über elektronische Aufsicht im Vollzug der Freiheitsstrafe<br />
(EAStVollzG) v. 30.7.2009 = GBl. 2009, S. 360.<br />
Das Gesetz ist auf vier Jahre befristet (§ 16 EAStVollzG).<br />
3<br />
Es wurden zwei Modellversuche durchgeführt, wobei nur<br />
der zweite Versuch eine ausreichende Teilnehmerzahl hatte.<br />
Zu diesem Hammerschick/Neumann, Bericht der Begleitforschung<br />
zum Modellversuch „Elektronische Aufsicht/Überwachter<br />
Hausarrest im Rahmen des § 126 StVG“, 2008; unter<br />
www.irks.at/downloads/EA_Endbericht_IRKS.pdf (25.10.2012).<br />
Zum ersten Modellversuch im Rahmen der bedingten Entlassung<br />
a.a.O. auf S. 4 sowie Koss, Journal für Strafrecht 2007,<br />
84.<br />
4<br />
§§ 156b ff. öStVG; §§ 173a, 266 öStPO i.d.F. v. öBGBl. I<br />
2010/64; Verordnung Vollzug von Strafen und der Untersuchungshaft<br />
durch elektronisch überwachten Hausarrest (HausarrestV)<br />
= öBGBl. II 2010/279; Einführungserlass elektronisch<br />
überwachter Hausarrest v. 27.8.2010 – BMJ-V70201/<br />
0004-III 1/2010; Durchführungserlass v. 18.10.2010 zum<br />
Erlass des österreichischen Bundesministeriums für Justiz v.<br />
27.8.2010 – BMJ-VD43401/0008-VD 1/2010; Einführungserlass<br />
zu den §§ 173a, 174, und 266 öStPO v. 4.9.2010 –<br />
BMJ-S641.008/ 0003-IV 3/2010.<br />
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537
Gudrun Hochmayr<br />
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vollzogen werden. Die Einsatzbereiche wurden an anderer<br />
Stelle einer Bewertung unterzogen. 5 Hier wird im Hinblick<br />
auf die mögliche Einführung des elektronischen Hausarrests<br />
in weiteren (deutschen) Bundesländern die spezielle Ausgestaltung<br />
der Maßnahme in den genannten Ländern rechtsvergleichend<br />
gegenübergestellt und bewertet.<br />
II. Spezielle Ausgestaltung<br />
1. Unterkunft und Beschäftigung<br />
In allen in den Vergleich einbezogenen Ländern wird vorausgesetzt,<br />
dass der Betroffene über eine geeignete Unterkunft<br />
verfügt, die die technischen Voraussetzungen für die elektronische<br />
Überwachung aufweist. Meist wird das Vorhandensein<br />
eines Telefonanschlusses gefordert. 6 Dabei genügt es in Hessen<br />
und Österreich, wenn die Unterkunft von dritter Seite zur<br />
Verfügung gestellt wird. Sogar ein Heimplatz kommt in<br />
Betracht. 7 Diese Ausgestaltung wirkt zumindest ansatzweise<br />
einem „Zwei-Klassen-Vollzug“ entgegen.<br />
Für die meisten Einsatzgebiete ist es unabdingbar, dass<br />
der Überwachte eine geeignete Beschäftigung ausübt. Eine<br />
Beschäftigung ist die Grundlage dafür, verhaltensmodifizierend<br />
auf den Überwachten einzuwirken und ihn an einen<br />
geordneten Alltag zu gewöhnen. Der Begriff „Beschäftigung“<br />
wird weit verstanden. Man akzeptiert jede sinnvolle Tätigkeit.<br />
Neben einer (unselbständigen oder selbständigen)<br />
Erwerbstätigkeit kommt beispielsweise eine Ausbildung, Kinderbetreuung<br />
oder gemeinnützige Arbeit in Frage. 8 Personen,<br />
die nicht (mehr) berufstätig sind, sind somit nicht generell<br />
vom elektronischen Hausarrest ausgenommen. Sie müssen<br />
5<br />
Hochmayr, NStZ 2012 (im Druck).<br />
6<br />
§ 4 Abs. 1 lit. b und c EAStVollzG; Erlass des Hessischen<br />
Ministeriums der Justiz v. 20.3.2000 – 4104-III/9-258/91.<br />
Ohne ausdrückliches Erfordernis eines Telefonanschlusses<br />
§ 156c Abs. 1 Ziff. 2 lit. a öStVG und § 173a Abs. 1 öStPO,<br />
da die Überwachung primär mittels GSM (Global System for<br />
Mobile Communications) erfolgt; EBRV (Erläuternde Bemerkungen<br />
zur Regierungsvorlage) 772 BlgNR (Beilagen zu<br />
den. Stenographischen Protokollen des Nationalrats), 24. GP<br />
(Gesetzgebungsperiode), S. 3.<br />
7<br />
Erlass des Hessischen Ministeriums der Justiz v. 20.3.2000<br />
– 4104-III/9-258/91: In geeigneten Fällen können Wohnraum<br />
und Telefonanschluss durch einen bestimmten Verein zur<br />
Verfügung gestellt werden. EBRV 772 BlgNR, 24. GP, S. 6<br />
f.: die Wohnmöglichkeit kann auch durch einen Angehörigen,<br />
einen ehemaligen Komplizen oder einen karitativen Verein<br />
(etwa in Form eines Heimplatzes) bereitgestellt werden. In<br />
der Gesetzesbegründung des EAStVollzG werden derartige<br />
Möglichkeiten nicht erwähnt; LT-Drs. 14/4670, S. 18.<br />
8<br />
§ 156b Abs. 1 öStVG. § 4 Abs. 1 lit. e EAStVollzG spricht<br />
von einer Arbeits- oder Ausbildungsstelle oder einer entsprechenden<br />
anderweitigen Tagesstruktur. Der hessische Erlass v.<br />
20.3.2000 – 4104-III/9-258/91 fordert einfach eine sinnvolle<br />
Tagesbeschäftigung.<br />
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538<br />
<strong>ZIS</strong> 11/2012<br />
aber eine sonstige sinnvolle Tätigkeit ausüben, durch die ein<br />
strukturierter Tagesablauf sichergestellt werden kann. 9<br />
Beim Ausmaß der Beschäftigung besteht ein deutlicher<br />
Unterschied zwischen Deutschland und Österreich. In Baden-<br />
Württemberg und Hessen genügt eine Beschäftigung von<br />
mindestens 20 Stunden pro Woche. 10 § 156b Abs. 2 öStVG<br />
verlangt, dass die Beschäftigungszeiten „tunlichst der Normalarbeitszeit<br />
zu entsprechen“ haben. 11 Die Normalarbeitszeit<br />
beträgt in Österreich zurzeit 38,5 Stunden pro Woche.<br />
Die Regelung vernachlässigt, dass heute immer weniger Menschen<br />
in Vollzeitarbeitsverhältnissen beschäftigt sind. Besonders<br />
schwierig wird es sein, in Strafhaft eine Vollzeitarbeitsstelle<br />
zu finden. Zwar könne nach den Gesetzesmaterialien<br />
das geforderte Stundenausmaß auch durch die Ausübung mehrerer<br />
Beschäftigungen erreicht werden. 12 Ob sich mehrere<br />
Beschäftigungen einschließlich der erforderlichen Wegzeiten<br />
in einen Wochenplan bringen lassen, der dem Verurteilten<br />
zugemutet werden kann, ist jedoch zu bezweifeln. Realistischer<br />
und für die Zwecke von elektronischem Hausarrest<br />
ausreichend sollte man eine Beschäftigung von mindestens<br />
20 Stunden pro Woche fordern.<br />
Obwohl eine Beschäftigung ein zentraler Bestandteil des<br />
Gesamtkonzepts „elektronischer Hausarrest“ ist, entfällt in<br />
Österreich das Erfordernis für den Vollzug der Untersuchungshaft.<br />
§ 173a Abs. 1 öStPO verlangt, dass sich der Beschuldigte<br />
„in geordneten Lebensverhältnissen“ befindet. Dies ist<br />
auch ohne eine Beschäftigung möglich, etwa wenn der<br />
Beschuldigte in Rente ist, Arbeitslosengeld bezieht oder über<br />
ausreichendes Vermögen verfügt. Umgekehrt kann sich dem<br />
Einführungserlass zufolge die beabsichtigte Beschäftigung<br />
als mit elektronisch überwachtem Hausarrest unvereinbar<br />
erweisen, wenn sie die Zwecke der Untersuchungshaft<br />
gefährdet. 13 Im Unterschied hierzu ist in Hessen zur Untersuchungshaftvermeidung<br />
eine Beschäftigung erforderlich. Da<br />
ein Arbeitszwang mit der Aussetzung von Untersuchungshaft<br />
nicht vereinbar wäre (auch ein Untersuchungshäftling darf<br />
nicht zu Arbeit gezwungen werden) 14 , stellt sich hier die<br />
Frage, ob die Untersuchungshaft in Vollzug gesetzt werden<br />
darf, wenn sich der Beschuldigte weigert, weiterhin der<br />
Beschäftigung nachzugehen. 15 An den Schwierigkeiten zeigt<br />
9 Einführungserlass elektronisch überwachter Hausarrest v.<br />
27.8.2010 – BMJ-V70201/0004-III 1/2010, S. 6.<br />
10 Im Handbuch (Hessisches Ministerium der Justiz [Fn. 1],<br />
S. 7), wird allerdings eine sinnvolle Beschäftigung von mindestens<br />
25 Wochenstunden vorausgesetzt; so auch für die<br />
Entlassungsfreistellung im Jugendstrafvollzug; s. Fünfsinn,<br />
in: Müller/Sander/Válková (Hrsg.), Festschrift für Ulrich<br />
Eisenberg zum 70. Geburtstag, 2009, S. 691 (S. 703).<br />
11 Schon im zweiten Modellversuch betrug die Mindestarbeitszeit<br />
30 Wochenstunden; vgl. Hammerschick/Neumann<br />
(Fn. 3), S. 4.<br />
12 EBRV 772 BlgNR, 24. GP, S. 7.<br />
13 Einführungserlass elektronisch überwachter Hausarrest v.<br />
27.8.2010 – BMJ-V70201/0004-III 1/2010, S. 29.<br />
14 Graf, in: Hannich (Hrsg.), Karlsruher Kommentar zur<br />
Strafprozessordnung, 6. Aufl. 2008, § 116 Rn. 8.<br />
15 Mayer (Fn. 1), S. 38 f.
Elektronisch überwachter Hausarrest<br />
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sich, dass sich der Einsatz rund um die Untersuchungshaft<br />
nur mit Bruchstellen in das Gesamtkonzept integrieren<br />
lässt. 16<br />
2. Einkommen, Versicherungsschutz, Kostentragung<br />
In Österreich hängt die Bewilligung des Strafvollzugs durch<br />
elektronischen Hausarrest von weiteren materiellen Erfordernissen<br />
ab. 17 Der Verurteilte muss ein Einkommen beziehen,<br />
das seinen Lebensunterhalt deckt. Dieses braucht nicht aus<br />
der Beschäftigung zu stammen. Es kann beispielsweise auch<br />
aus Kapitalvermögen, einem Unterhaltsanspruch, einer Leistung<br />
der Arbeitslosenversicherung, einer Pensionsleistung oder<br />
aus Notstandshilfe resultieren. 18 Der Verurteilte muss kranken-<br />
und unfallversichert sein. Wegen dieses Erfordernisses<br />
wurde in den Sozialversicherungsgesetzen eine Regelung<br />
eingefügt, der zufolge die Leistungsansprüche in der Kranken-,<br />
Unfall- und Pensionsversicherung während des Vollzugs<br />
von elektronischem Hausarrest nicht ruhen. 19 Schließlich<br />
hat der Verurteilte die Kosten des elektronischen Hausarrests<br />
zu ersetzen. Diese Pflicht wird damit begründet, dass<br />
beim Vollzug in der Anstalt ebenfalls ein Kostenbeitrag zu<br />
leisten ist. 20 Die Kosten wurden in § 5 HausarrestV mit 22<br />
Euro pro Tag festgelegt. Würde durch die Erfüllung der Kostenersatzpflicht<br />
der notwendige Unterhalt des Verurteilten<br />
oder von Personen, für die er unterhaltspflichtig ist, gefährdet,<br />
ist ein verminderter Kostenbeitrag vorzuschreiben oder<br />
entfällt die Kostenersatzpflicht. 21 Soweit man sich überhaupt<br />
für einen Kostenersatz entscheidet, 22 ist eine solche Ausnah-<br />
16<br />
Zur weiteren Kritik an diesem Einsatzgebiet Hochmayr,<br />
NStZ 2012 (im Druck).<br />
17<br />
S. zum Folgenden § 156c Abs. 1 Nr. 2 sowie § 156b Abs. 2<br />
öStVG.<br />
18<br />
Vgl. EBRV 772 BlgNR, 24. GP, S. 7, 11; Einführungserlass<br />
elektronisch überwachter Hausarrest v. 27.8.2010 – BMJ-<br />
V70201/0004-III 1/2010, S. 6; s. auch Punkt 5 des Antragsformulars<br />
für die Bewilligung des elektronisch überwachten<br />
Hausarrests, im Internet abrufbar unter<br />
http://strafvollzug.justiz.gv.at/_downloads/Antrag%20Hausar<br />
rest.pdf (25.10.2012).<br />
19<br />
Z.B. § 89 Abs. 2a öASVG.<br />
20<br />
EBRV 772 BlgNR, 24. GP, S. 6; s. § 32 öStVG.<br />
21<br />
Bei der Berechnung ist eine Belastung mit bestimmten<br />
Verbindlichkeiten, wie Kreditraten für die Wohnung oder Zahlungen<br />
zur Wiedergutmachung des durch die Straftat bewirkten<br />
Schadens, zu berücksichtigen; Einführungserlass elektronisch<br />
überwachter Hausarrest v. 27.8.2010 – BMJ-V70201/<br />
0004-III 1/2010, S. 19 f.<br />
22<br />
In Baden-Württemberg wurde von einer Kostenbeteiligung<br />
wegen des erwarteten hohen Verwaltungsaufwands und der<br />
schlechten finanziellen Situation der Betroffenen abgesehen;<br />
LT-Drs. 14/4670, S. 18. Tatsächlich ist in Österreich ein Kostenersatz<br />
in erster Linie durch jene Verurteilten zu erwarten,<br />
deren primäre Freiheitsstrafe von Beginn an im elektronischen<br />
Hausarrest vollzogen wird. Dieser Anwendungsbereich<br />
ist in Baden-Württemberg nicht vorgesehen. Laut Pressemitteilung<br />
des Bundeministeriums für Justiz v. 30.08.2011<br />
meregelung unverzichtbar, damit die Vollzugsform nicht nur<br />
besser situierten Verurteilten zugutekommt.<br />
Für den Vollzug der Untersuchungshaft durch elektronischen<br />
Hausarrest gelten die genannten Erfordernisse nicht.<br />
Ob der Beschuldigte über ein Einkommen verfügt, mit dem<br />
er seinen Lebensunterhalt bestreiten kann, wird aber bei der<br />
Prüfung der „geordneten Lebensverhältnisse“ eine Rolle spielen.<br />
23<br />
3. Freizeit außerhalb der Unterkunft<br />
Die Schwere des mit elektronischem Hausarrest verbundenen<br />
Eingriffs hängt maßgeblich davon ab, ob der Überwachte in<br />
seiner Freizeit die Unterkunft verlassen darf. § 5 Abs. 4 EA-<br />
StVollzG gestattet im Vollzugsprogramm Abwesenheiten von<br />
der Unterkunft für Zwecke von Freizeit und Sport vorzusehen,<br />
ohne einen Anspruch auf Freizeit außerhalb der Unterkunft<br />
zu gewähren. Freizeit wird grundsätzlich nur am Wochenende<br />
eingeräumt. Das zulässige zeitliche Ausmaß nimmt<br />
mit der Dauer der Maßnahme zu. Es reicht von jeweils fünf<br />
Stunden samstags und sonntags in den ersten vier Wochen<br />
bis zum gesamten Wochenende (Freitag, 17.00 Uhr, bis Montag,<br />
8.00 Uhr) ab der neunten Woche. 24 Auch in Hessen darf<br />
Freizeit außerhalb der Unterkunft gewährt werden. Die Richtlinien<br />
für die Sozialarbeit 25 enthalten hierfür eine Staffelung<br />
nach der Dauer des elektronischen Hausarrests.<br />
§ 156b Abs. 2 öStVG betont, dass die Bedingungen des<br />
elektronischen Hausarrests eine den Zwecken des Strafvollzugs<br />
26 dienende Lebensführung des Verurteilten sicherzustellen<br />
haben. Das Verlassen der Unterkunft darf zur Ausübung<br />
der Beschäftigung, zur Beschaffung des notwendigen Lebensbedarfs,<br />
zur Inanspruchnahme notwendiger medizinischer Hilfe<br />
und aus sonstigen Gründen vorgesehen werden. Fraglich<br />
ist, ob die Öffnungsklausel dazu ermächtigt, in den Bedingungen<br />
Freizeit außerhalb der Unterkunft einzuräumen, wie<br />
das im vorangegangenen Modellversuch erfolgte. 27 Die Ge-<br />
(www.justiz.gv.at/internet/html/default/2c94848525f84a6301<br />
321ada5cc8538f.de.html [25.10.2012]), wurden in Österreich<br />
im ersten Jahr bei insgesamt rund 400 angehaltenen Personen<br />
und einer durchschnittlichen Anhaltedauer von knapp drei<br />
Monaten ca. 275.000 Euro an Kostenersatz vorgeschrieben.<br />
Zum Stichtag 19.5.2011 waren 22 % der Überwachten von<br />
der Kostenersatzpflicht befreit; vgl. Anfragebeantwortung der<br />
Bundesministerin für Justiz, 8266/AB, 24. GP.<br />
23<br />
Angaben hierzu sind laut des Antragsformulars für die<br />
Bewilligung des elektronisch überwachten Hausarrests (unter<br />
http://strafvollzug.justiz.gv.at/_downloads/Antrag%20Hausar<br />
rest.pdf [25.10.2012]) nicht notwendig.<br />
24<br />
§ 7 Abs. 2 EAStVollzG.<br />
25<br />
Abgedruckt bei Mayer (Fn. 1), S. 423 ff.<br />
26<br />
Der Vollzug der Freiheitsstrafe dient gem. § 20 Abs. 1<br />
öStVG nicht nur der Resozialisierung, sondern soll darüber<br />
hinaus den Unwert des der Verurteilung zugrunde liegenden<br />
Verhaltens aufzeigen.<br />
27<br />
Die Freizeitregelung im zweiten Modellversuch war großzügig.<br />
In der Regel wurden von Montag bis Freitag insgesamt<br />
zehn Stunden Freizeit eingeräumt. An den Wochenenden<br />
standen den Teilnehmern bereits zu Beginn der Maßnahme<br />
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539
Gudrun Hochmayr<br />
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setzesmaterialien erläutern, dass der Verurteilte gewisse Einschränkungen<br />
in seiner Lebensführung auf sich zu nehmen<br />
hat, damit den Zwecken des Strafvollzugs entsprochen wird.<br />
„Grundsätzlich soll das bedeuten, dass der Strafgefangene im<br />
Wesentlichen seiner Beschäftigung nachgeht und sich ansonsten<br />
in seiner Unterkunft aufhält.“ Die Bedingungen hätten<br />
aber etwa die Durchführung einer Therapie zu berücksichtigen.<br />
28 Nach § 3 Ziff. 5 HausarrestV haben die Bedingungen<br />
Festlegungen hinsichtlich wiederkehrender sozial<br />
bedingter Abwesenheiten zu enthalten. Damit kann etwa die<br />
Teilnahme an regelmäßigen Sportveranstaltungen oder an<br />
Gottesdiensten ermöglicht werden. Die Gewährung von nicht<br />
regulierter Freizeit außerhalb der Unterkunft scheint durch<br />
die Regelung nicht gedeckt. Für diese Schlussfolgerung<br />
spricht, dass dem in elektronischem Hausarrest befindlichen<br />
Verurteilten zu bestimmten Zwecken Vollzugslockerungen in<br />
Form von Ausgängen gewährt werden können. 29 Der nahezu<br />
gänzliche Ausschluss von nicht überwachter Freizeit 30 mag<br />
damit zusammenhängen, dass in Österreich auch primäre Freiheitsstrafen<br />
zur Gänze im elektronischen Hausarrest vollzogen<br />
werden können. Dennoch ist die Ausgestaltung kritisch<br />
zu betrachten. Sie vernachlässigt, dass die Vollzugsform einen<br />
möglichst reibungsfreien Übergang in die Bewährungszeit<br />
oder in die völlige Freiheit zu gewährleisten hat. Zu<br />
diesem Zweck sollte dem Verurteilten zumindest nach einem<br />
gewissen Zeitraum nicht überwachte Freizeit eingeräumt werden,<br />
um ihn schrittweise an das Leben ohne elektronische<br />
Überwachung zu gewöhnen. 31 Eine solche Ausgestaltung ist<br />
acht Stunden Freizeit pro Tag, ab dem vierten Monat jedes<br />
Wochenende 48 Stunden zur Verfügung; vgl. Hammerschick/<br />
Neumann (Fn. 3), S. 5.<br />
28<br />
EBRV 772 BlgNR, 24. GP, S. 5.<br />
29<br />
§ 156b Abs. 4 i.V.m. § 126 Abs. 2 Ziff. 4 und § 99a öStVG<br />
gestatten ein oder zwei Ausgänge im Monat in der Dauer von<br />
bis zu zwölf Stunden, bei erforderlicher Reise kann der Ausgang<br />
für bis zu 48 Stunden gewährt werden. Im Einführungserlass<br />
elektronisch überwachter Hausarrest v. 27.8.2010 –<br />
BMJ-V70201/0004-III 1/2010, S. 9, werden als mögliche Anwendungsfälle<br />
besondere familiäre Anlässe, Seelsorge und<br />
Kirchenbesuch genannt. Dabei müsse der freiheitsbeschränkende<br />
Charakter der Maßnahme gewahrt bleiben.<br />
30<br />
In der Praxis wird offenbar nicht überwachte Freizeit unter<br />
dem Titel „Bewegung im Freien“ eingeräumt. So hat das OLG<br />
Linz (Journal für Strafrecht JSt-StVG 2011/21) ein Aufsichtsprofil<br />
genehmigt, in dem für den Vollzug einer dreimonatigen<br />
Freiheitsstrafe eine Abwesenheitszeit am Wochenende<br />
als „Bewegung im Freien“ festgelegt war. Das Beispiel<br />
eines Aufsichtsprofils bei Nogratnig, in: Bundesministerium<br />
für Justiz (Hrsg.), 39. Ottensteiner Fortbildungsseminar aus<br />
Strafrecht und Kriminologie, 2011, S. 67 (S. 81), sieht „Bewegung<br />
im Freien“ im Ausmaß von zwei Stunden pro Tag<br />
vor. Da es sich nicht um sozial bedingte Abwesenheiten handelt,<br />
ist eine Rechtsgrundlage für dieses Vorgehen nicht ersichtlich.<br />
31<br />
Vgl. die Stellungnahme von Hammerschick (Institut für<br />
Rechts- und Kriminalsoziologie) zum Gesetzesentwurf unter<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
540<br />
<strong>ZIS</strong> 11/2012<br />
auch deshalb zu empfehlen, weil – wie beim stationären Vollzug<br />
– die Schwere des Eingriffs mit dessen Dauer zunimmt.<br />
Durch eine Freizeitregelung wird diese Wirkung abgemildert.<br />
32<br />
Für den elektronischen Hausarrest in Form der Untersuchungshaft<br />
sind die Vorgaben noch strikter. Ein Verlassen<br />
der Unterkunft darf nur zwecks Arbeit oder Ausbildung,<br />
Beschaffung des notwendigen Lebensbedarfs und notwendige<br />
medizinische Hilfe „auf der jeweils kürzesten Wegstrecke“<br />
vorgesehen werden. 33 Die restriktiveren Vorgaben werden<br />
mit dem „Wesen des Hausarrests als Vollzug der Untersuchungshaft“<br />
begründet. 34 Der Vollzug der Untersuchungshaft<br />
macht es jedoch gerade umgekehrt erforderlich, den elektronischen<br />
Hausarrest weniger eingriffsintensiv auszugestalten<br />
als den Vollzug der Strafhaft. Schließlich ist die Untersuchungshaft<br />
keine Strafe, sondern ein Mittel zur Sicherung der<br />
Durchführung des Strafverfahrens, weshalb die Haft keine<br />
Strafwirkung entfalten darf. 35 Einschränkungen in der Lebensführung<br />
sind nur in dem Ausmaß gerechtfertigt, in dem sie<br />
nach dem jeweiligen Haftgrund erforderlich sind. Nach diesem<br />
Maßstab hat sich auch die Gewährung von Freizeit außerhalb<br />
der Unterkunft zu richten. Ein pauschaler Ausschluss<br />
von Freizeit außerhalb der Unterkunft widerspricht dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz.<br />
36<br />
4. Reichweite der Überwachung<br />
Überraschenderweise bestehen hinsichtlich der Reichweite<br />
der Überwachung grundlegende Unterschiede:<br />
www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/XXIV/ME/ME_00146/in<br />
dex.shtml (25.10.2012): „Dieses Element eines ‚Freiraums‘,<br />
der gleichzeitig Verantwortung und Disziplin erfordert, erscheint<br />
einerseits in Hinblick auf die Vorbereitung auf die<br />
Zeit nach der Haft wichtig. Andererseits kann damit Problemen<br />
vorgebeugt werden, die durch die – abgesehen von Arbeitszeiten<br />
– gänzliche Beschränkung auf den Wohnraum<br />
entstehen können. Beträchtliche Einschränkungen der Lebensführung<br />
bleiben dennoch bestehen.“<br />
32<br />
Die Forderung ist entsprechend für den stationären Vollzug<br />
zu erheben, soweit nicht die Gefährlichkeit des Straftäters<br />
entgegensteht.<br />
33<br />
§ 173a Abs. 2 l. S. öStPO.<br />
34<br />
EBRV 772 BlgNR, 24. GP, S. 10.<br />
35<br />
S. die Grundsatzbestimmung des § 182 öStPO, wonach das<br />
Leben in Untersuchungshaft soweit wie möglich den allgemeinen<br />
Lebensverhältnissen angeglichen werden soll und beim<br />
Vollzug zu beachten ist, dass der Beschuldigte als unschuldig<br />
gilt.<br />
36<br />
Im hessischen Modellversuch wird den Probanden im Rahmen<br />
der Untersuchungshaftvermeidung freie Zeit ohne Vorgabe<br />
zugestanden; Mayer (Fn. 1), S. 116 ff. Auch Walter<br />
(ZfStrVo 1999, 287 [292]) fordert, die Anwesenheitspflichten<br />
auf das zur Verhinderung einer Verfahrensentziehung Erforderliche<br />
zu begrenzen.
Elektronisch überwachter Hausarrest<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
In Hessen beschränkt sich die Überwachung auf die Kontrolle,<br />
ob der Betroffene sich entsprechend dem Wochenplan<br />
in seiner Wohnung aufhält oder abwesend ist. 37<br />
Die Regelung in Baden-Württemberg 38 sieht neben der<br />
Feststellung der An- oder Abwesenheit in der Wohnung die<br />
Erstellung eines Bewegungsprofils vor. Demgegenüber kann<br />
bei einer positiven Prognose die elektronische Aufsicht für<br />
bis zu einem Drittel der Dauer des Hausarrests durch Meldeauflagen<br />
und andere Weisungen ersetzt werden. 39 Die Erstellung<br />
eines Bewegungsprofils hat sich nach der Flucht- und<br />
Rückfallgefahr des Verurteilten und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz<br />
zu richten. Die Gesetzesbegründung spricht<br />
von einer „prognosespezifischen elektronischen Aufsicht“.<br />
Im Vollzug der Ersatzfreiheitsstrafe sei von einem niedrigen<br />
Risiko, bei Entlassungsfreistellungen nach Langstrafenvollzug<br />
von einem mittleren bis hohen Risiko auszugehen. Entscheidend<br />
sei aber die individuelle Flucht- und Rückfallgefahr.<br />
40 Mit der Aufzeichnung eines Bewegungsprofils wird<br />
eine sehr eingriffsintensive Form der Überwachung zugelassen,<br />
die eine Überwachung „auf Schritt und Tritt“ ermöglicht.<br />
Die Ausgestaltung erstaunt deshalb, weil sich im hessischen<br />
Modellprojekt die Kontrolle der An- und Abwesenheit hinsichtlich<br />
der Wohnung als ausreichend erwiesen hat. Die<br />
Gesetzesbegründung lässt eine Erklärung, weshalb von der<br />
bewährten Lösung abgegangen wird, vermissen. Dieses Vorgehen<br />
erweckt den Eindruck, dass ohne Notwendigkeit ein<br />
eingriffsintensiveres Mittel zugelassen wurde. Im Hinblick<br />
auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erweist<br />
sich ferner als bedenklich, dass Regelungen fehlen, die<br />
sicherstellen, dass keine „Rundumüberwachung“ erfolgt, mit<br />
der ein umfassendes Persönlichkeitsprofil eines Beteiligten<br />
erstellt werden könnte, und die Wohnung von der Anfertigung<br />
eines Bewegungsprofils ausgenommen ist. 41 Insgesamt<br />
scheinen durch die Regelung die mit dem Bild eines „gläsernen<br />
Menschen“ verbundenen Befürchtungen bestätigt.<br />
Nach § 156b Abs. 1 öStVG ist der Betroffene 42 durch<br />
„geeignete Mittel der elektronischen Aufsicht“ zu überwachen.<br />
Richtlinien über die Art und die Durchführung der<br />
elektronischen Überwachung können durch Verordnung festgelegt<br />
werden. Die Gesetzesmaterialien weisen auf die Möglichkeit<br />
hin, das in der Unterkunft installierte Basisgerät „zusätzlich<br />
mit Stimm-, Gesichts- und Alkoholkontrolle“ zu ergänzen,<br />
„sodass im Bedarfsfall eine sehr engmaschige Kon-<br />
37<br />
Vgl. Erlass des Hessischen Ministeriums der Justiz v. 20.3.<br />
2000 – 4104-III/9-258/91; Hessisches Ministerium der Justiz<br />
(Fn. 1), S. 10.<br />
38<br />
§ 3 EAStVollzG.<br />
39<br />
§ 3 Abs. 3 EAStVollzG. Die Möglichkeit einer Entlassungsfreistellung<br />
ohne elektronische Aufsicht besteht auch<br />
nach § 16 Abs. 3 HStVollzG, § 16 Abs. 3 HJStVollzG.<br />
40<br />
LT-Drs. 14/4670, S. 16 f.<br />
41<br />
BVerfG NJW 2004, 999; BVerfG NJW 2012, 907 (909).<br />
Vgl. demgegenüber für die elektronische Aufenthaltsüberwachung<br />
im Rahmen der Führungsaufsicht die Regelung in<br />
§ 463a Abs. 4 StPO.<br />
42<br />
Die Regelung gilt aufgrund des Verweises in § 173a Abs. 1<br />
öStPO auch für Untersuchungshäftlinge.<br />
trolle ermöglicht bzw. Missbrauch weitestgehend ausgeschlossen<br />
werden kann“. 43 Obwohl in § 2 HausarrestV nur die Kontrolle<br />
der An- und Abwesenheit im überwachten Bereich vorgesehen<br />
ist, werden Presseberichten zufolge solche Alkoholkontrollen<br />
seit einiger Zeit durchgeführt. Bei Überwachten<br />
mit Alkoholproblemen wurden sogenannte Alkomaten an der<br />
Basisstation angebracht, die den Überwachten mit biometrischen<br />
Methoden identifizieren. 44 Nun ist es nicht allein eine<br />
Frage der Technik, ob nur die An- und Abwesenheit kontrolliert<br />
wird, zusätzlich eine biometrische Identifikation und<br />
automatische Alkoholkontrollen erfolgen oder gar ein Bewegungsprofil<br />
angefertigt wird. Die Methoden greifen in unterschiedlicher<br />
Tiefe in die Grundrechte des Überwachten ein<br />
und bedingen unterschiedliche verfahrensrechtliche Vorkehrungen,<br />
insbesondere zum Datenschutz. Wie weit der Eingriff<br />
in die Grundrechte reichen darf, hat der Gesetzgeber zu entscheiden.<br />
Diese Entscheidung darf nicht den Verwaltungsbehörden<br />
überlassen werden. Es ist eine gesetzliche Grundlage<br />
erforderlich, durch die der Eingriff ausreichend bestimmt<br />
und für den Bürger vorhersehbar wird. 45 § 156b Abs. 1 öStVG<br />
genügt dieser Anforderung nicht.<br />
5. Zustimmung der Mitbewohner<br />
Neben der Einwilligung des Betroffenen, die schon aus faktischen<br />
Gründen unerlässlich ist, wird für nahezu alle Einsatzbereiche<br />
die Einwilligung der Mitbewohner vorausgesetzt. 46<br />
In Baden-Württemberg und Hessen reicht die Einwilligung<br />
der erwachsenen Mitbewohner aus. Nach der österreichischen<br />
Regelung müssen alle Mitbewohner zustimmen, weil in die<br />
Lebensführung aller mit dem zu Überwachenden im gemeinsamen<br />
Haushalt lebenden Personen eingegriffen werde. 47 Ist<br />
der Mitbewohner in dieser Frage nicht einsichts- oder urteilsfähig,<br />
48 kommt es nicht etwa auf die Einwilligung des gesetzlichen<br />
Vertreters an, sondern es sind die Interessen des betroffenen<br />
Mitbewohners bei der Entscheidung über die Voll-<br />
43<br />
EBRV 772 BlgNR, 24. GP, S. 3.<br />
44<br />
Vgl. Simoner, Der Standard v. 7.3.2012 (im Internet unter<br />
http://derstandard.at/1297819756077/Zur-Fussfessel-kommtder-Alkomat<br />
[25.10.2012]); Die Presse v. 29.4.2011 (im<br />
Internet abrufbar unter http://diepresse.com/home/panorama/<br />
oesterreich/654180/Elektronische-Fussfessel_Hausarrest-mit-<br />
Alkomat [9.11.2012]).<br />
45<br />
Zu den Bestimmtheitsanforderungen Berka, Die Grundrechte,<br />
1999, Rn. 256.<br />
46<br />
§ 4 Abs. 1 lit. d EAStVollzG; § 156c Abs. 1 Ziff. 3 öStVG;<br />
vgl. die Richtlinien für die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter<br />
im Modellversuch „Erprobung der elektronischen Fußfessel“<br />
im Land- und Amtsgericht Frankfurt am Main (abgedruckt<br />
bei Mayer [Fn. 1], S. 423 ff.).<br />
47<br />
EBRV 772 BlgNR, 24. GP, S. 7 f.<br />
48<br />
Drexler, Strafvollzugsgesetz, Kommentar, 2. Aufl. 2010,<br />
§ 156c Rn. 4, geht davon aus, dass Kinder bereits ab dem<br />
siebten Lebensjahr einwilligungsfähig sind.<br />
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Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />
541
Gudrun Hochmayr<br />
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zugsform zu berücksichtigen. 49 Nimmt ein Mitbewohner die<br />
Einwilligung zurück, bildet dies einen Widerrufsgrund. 50<br />
Für den Vollzug der Untersuchungshaft ist in Österreich<br />
die Einwilligung der Mitbewohner nicht erforderlich. Der<br />
Gesetzesbegründung zufolge wäre ein Einwilligungserfordernis<br />
mit dem Charakter der Untersuchungshaft nicht vereinbar,<br />
da auch eine aufenthaltsbezogene Weisung, die als gelinderes<br />
Mittel die Untersuchungshaft ersetzen kann, nicht von der<br />
Zustimmung anderer Personen abhänge. 51 Für die Beurteilung<br />
der Regelung ist zunächst zu überlegen, weshalb für den<br />
Vollzug der Freiheitsstrafe durch elektronischen Hausarrest<br />
die Zustimmung der Mitbewohner gefordert wird. Dabei vermag<br />
die Begründung, die Maßnahme greife in die Lebensführung<br />
der Mitbewohner ein, 52 nicht zu überzeugen. Ein Wohnungsberechtigter,<br />
der von sich aus beschließt, die Wohnung<br />
nicht mehr zu verlassen, benötigt nicht die Erlaubnis der Mitbewohner,<br />
obwohl sein dauernder Aufenthalt ihre Lebensführung<br />
beeinträchtigt. Im Hinblick darauf kann auch der elektronische<br />
Hausarrest nicht die Einwilligung der Mitbewohner<br />
erfordern.<br />
Natürlich ist ein reibungsloses Miteinander – und damit<br />
ein erfolgreicher Verlauf der Vollzugsmaßnahme – eher gewährleistet,<br />
wenn die Maßnahme von den Mitbewohnern mitgetragen<br />
wird. 53 Dennoch wäre es vollzugsrechtlich nicht<br />
begründbar, privaten Personen Entscheidungsmacht über die<br />
Art des Vollzugs einer staatlichen Strafe einzuräumen. Dass<br />
die Vollzugsform von ihrer Zustimmung abhängt, ist auf den<br />
verfassungsrechtlichen Schutz der Wohnung und der Privatsphäre<br />
zurückzuführen. 54 Im Verlauf der Maßnahme wird die<br />
Wohnung – gegebenenfalls auch mehrmals – durch die<br />
öffentliche Gewalt betreten. Organe der Vollzugsbehörden<br />
haben die Technik in der Wohnung zu installieren und zu<br />
warten. Die betreuenden Sozialarbeiter dürfen Kontrollbesuche<br />
in der Wohnung durchführen. 55 Darin liegt der entschei-<br />
49<br />
OLG Linz Journal für Strafrecht JSt-StVG 2011/17; Einführungserlass<br />
elektronisch überwachter Hausarrest v.<br />
27.8.2010 – BMJ-V70201/0004-III 1/2010, S. 7.<br />
50<br />
§ 4 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 lit. d EAStVollzG. § 156c Abs. 2<br />
Ziff. 1 i.V.m. Abs. 1 Ziff. 3 öStVG; Einführungserlass elektronisch<br />
überwachter Hausarrest v. 27.8.2010 – BMJ-V70201/<br />
0004-III 1/2010, S. 7. Aus dem hessischen Erlass v. 20.3.2000<br />
– 4104-III/9-258/91 ergibt sich zu dieser Frage nichts.<br />
51<br />
EBRV 772 BlgNR, 24. GP, S. 10.<br />
52<br />
EBRV 772 BlgNR, 24. GP, S. 7 f.<br />
53<br />
Dieser Aspekt wird in der baden-württembergischen Gesetzesbegründung<br />
(LT-Drs. 14/4670, S. 18) hervorgehoben:<br />
„Erfahrungen im Ausland zeigen, dass elektronische Aufsicht<br />
ohne Einverständnis der im Haushalt des Gefangenen lebenden<br />
erwachsenen Personen rechtlich und faktisch nicht möglich<br />
ist.“<br />
54<br />
Vgl. Haverkamp, Elektronisch überwachter Hausarrestvollzug,<br />
2002, S. 183; Krahl, NStZ 1997, 457 (461); Streng,<br />
ZStW 111 (1999), 827 (849).<br />
55<br />
Richtlinien für die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter<br />
im Modellversuch „Erprobung der elektronischen Fußfessel“<br />
im Land- und Amtsgericht Frankfurt am Main (abgedruckt<br />
bei Mayer [Fn. 1], S. 423 ff.); § 4 Abs. 1 lit. b EAStVollzG;<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
542<br />
<strong>ZIS</strong> 11/2012<br />
dende Unterschied zu aufenthaltsbezogenen Weisungen im<br />
Rahmen der Untersuchungshaftvermeidung oder der Strafaussetzung<br />
zur Bewährung, bei denen Polizei oder Bewährungshilfe<br />
kein Recht auf jederzeitigen Zutritt zur Wohnung<br />
haben. 56 Anders als bei einer Durchsuchung der Wohnung<br />
eines Beschuldigten, die der Mitbewohner bei Vorliegen der<br />
gesetzlichen Voraussetzungen zu dulden hat, können die<br />
Zwecke des elektronischen Hausarrests auch durch die Anhaltung<br />
in der Justizvollzugsanstalt erreicht werden. Der<br />
Grundrechtseingriff ist nicht durch ein zwingendes soziales<br />
Bedürfnis legitimiert, sodass es der Einwilligung der Mitbewohner<br />
bedarf, um dem Akt den Zwangscharakter zu nehmen.<br />
Dies gilt in gleicher Weise für den elektronischen<br />
Hausarrest zum Vollzug der Untersuchungshaft, der ebenfalls<br />
mit dem Eindringen staatlicher Organe in die Wohnung verbunden<br />
ist. Daher sollte es auch hierfür der Einwilligung der<br />
Mitbewohner bedürfen.<br />
Eine weitere Frage ist, ob der Mitbewohner die Möglichkeit<br />
haben soll, die Einwilligung zurückzunehmen mit der<br />
Folge eines Widerrufs des elektronischen Hausarrests. 57 Es<br />
spricht einiges dafür, den Mitbewohner an der einmal erteilten<br />
Einwilligung festzuhalten, wenn nicht Gründe eingetreten<br />
sind, die ein weiteres Eindringen in die Wohnung und Privatsphäre<br />
durch die öffentliche Gewalt als unzumutbar<br />
erscheinen lassen. Dass nach den gegenwärtigen Bestimmungen<br />
auch eine unbegründete Rücknahme der Einwilligung<br />
zwingend zum Widerruf führt, ist mit dem Schutz der Grundrechte<br />
des Mitbewohners nicht zu rechtfertigen und verletzt<br />
die Rechte des Überwachten.<br />
6. Psychosoziale Betreuung<br />
In den Modellversuchen hat sich die intensive Betreuung des<br />
Überwachten durch Sozialarbeiter als ein wesentlicher Erfolgsfaktor<br />
erwiesen. Die Betreuung bringt eine menschliche<br />
Komponente in die unpersönlich ablaufende technische Überwachung.<br />
Das Wissen, eine Kontaktperson zu haben, die bei<br />
Problemen rund um die Uhr ansprechbar ist, wurde von den<br />
Probanden als wichtige Unterstützung empfunden. 58 Diese<br />
positiven Erfahrungen wurden auch im österreichischen<br />
Modellversuch gemacht. Andererseits gab es im Versuch eine<br />
kleine Gruppe von Personen, die sich als in der Straffälligenhilfe<br />
eher untypische Klientel darstellte und die eine Betreu-<br />
§ 3 Ziff. 9 HausarrestV; Einführungserlass elektronisch überwachter<br />
Hausarrest v. 27.8.2010 – BMJ-V70201/0004-III<br />
1/2010, S. 23 f. Die Einwilligungserklärung der Mitbewohner<br />
hinsichtlich des Vollzugs der Freiheitsstrafe hat daher in<br />
Österreich eine „uneingeschränkte Zutrittsermächtigung zur<br />
Unterkunft für Organe der Vollzugsbehörden und Mitarbeiter<br />
der mit der Sozialarbeit betrauten Einrichtung“ zu umfassen;<br />
s. den eben zitierten Einführungserlass, S. 7.<br />
56 Vgl. Stree/Kinzig, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch,<br />
Kommentar, 28. Aufl. 2010, § 56d Rn. 4: das Gericht könne<br />
nur die Weisung erteilen, zu bestimmten Zeiten dem Bewährungshelfer<br />
Zutritt zu gewähren; s.a. § 19 Abs. 1 öBewHG.<br />
57 S. hierzu die entsprechenden Widerrufsgründe in Baden-<br />
Württemberg und Österreich; Fn. 50.<br />
58 Mayer (Fn. 1), S. 290 ff.
Elektronisch überwachter Hausarrest<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
ung als „nahezu beleidigend“ zurückwies. 59 Trotz der gegenteiligen<br />
Empfehlung im Abschlussbericht 60 wurde in der österreichischen<br />
Regelung eine Betreuung nur als verpflichtend<br />
vorgesehen, soweit dies zur Erreichung des erzieherischen<br />
Strafzwecks erforderlich ist. 61 Besteht diese Notwendigkeit<br />
nicht, ist die Sozialarbeit nur mit den ersten Erhebungen im<br />
Bewilligungsverfahren, der Erstellung eines Vorschlags für<br />
die Bedingungen des elektronischen Hausarrests und der<br />
begleitenden Kontrolle ihrer Einhaltung befasst. 62 Die Regelung<br />
scheint durch den Wunsch, die Vollzugskosten zu senken,<br />
motiviert zu sein. Sie vernachlässigt, dass eine Betreuung<br />
durch Sozialarbeiter frühzeitig auf Krisen und Probleme<br />
reagieren und Belastungen auffangen kann. Auch ist kein<br />
Grund ersichtlich, weshalb etwa einem vormals unbescholtenen<br />
Wirtschaftsstraftäter nicht zumutbar wäre, sich im Strafvollzug<br />
durch elektronischen Hausarrest mit seiner Tat auseinanderzusetzen.<br />
63 Vorzugswürdig erscheint eine Regelung wie<br />
in Baden-Württemberg, wonach die Betreuung einen festen<br />
Bestandteil des Gesamtpakets „elektronischer Hausarrest“ darstellt,<br />
deren Intensität an den Einsatzbereich anzupassen ist,<br />
aber ein gewisses Minimum nicht unterschreiten darf. 64<br />
59<br />
Hammerschick/Neumann (Fn. 3), S. 37 ff.<br />
60<br />
Hammerschick/Neumann (Fn. 3), S. 74 f.<br />
61<br />
§ 156b Abs. 1 l. S. öStVG. Dazu EBRV 772 BlgNR, 24.<br />
GP, S. 5: „Der Entwurf geht […] davon aus, dass eine sozialarbeiterische<br />
Betreuung nicht in jedem Fall notwendig sein<br />
wird, sondern Fälle denkbar sind, in denen der erzieherische<br />
Zweck des Strafvollzuges schon allein durch den Vollzug in<br />
Form des elektronisch überwachten Hausarrests selbst gewährleistet<br />
oder eine (sozialarbeiterische) Reintegrationshilfe<br />
(sonst) nicht erforderlich ist.“<br />
62<br />
Einführungserlass elektronisch überwachter Hausarrest v.<br />
27.8.2010 – BMJ-V70201/0004-III 1/2010, S. 10, 23. Im<br />
Vollzug der Untersuchungshaft ist gem. § 173a Abs. 2 öStPO<br />
sofort, nachdem ein Antrag auf elektronischen Hausarrest<br />
gestellt wurde, vorläufige Bewährungshilfe anzuordnen. Sie<br />
hat die Aufgabe, die Lebensverhältnisse und sozialen Bindungen<br />
des Beschuldigten zu ermitteln, die Bedingungen für<br />
den Vollzug des Hausarrests auszuhandeln und die begleitende<br />
Kontrolle durchzuführen. Eine intensivere Betreuung in<br />
Form von periodischen Gesprächsterminen ist dem Einführungserlass<br />
zufolge nur erforderlichenfalls anzuordnen;<br />
a.a.O., S. 30. Die Gesetzeslage ist insoweit nicht eindeutig,<br />
da § 173a Abs. 1 öStPO nur hinsichtlich der „geeigneten<br />
Mittel der elektronischen Aufsicht“ auf § 156b öStVG verweist.<br />
63<br />
Zur Notwendigkeit der „Deliktsbearbeitung“ auch für Wirtschaftsstraftäter<br />
Koss/Nogratnig, RZ 2011, 237 (242).<br />
64<br />
§ 6 Abs. 1 EAStVollzG. Laut LT-Drs. 14/4670, S. 19 hat<br />
eine „geringe Betreuung im Vollzug der Ersatzfreiheitsstrafe,<br />
mittlere Betreuung bei vollzugsöffnenden Maßnahmen, intensive<br />
Betreuung bei Entlassungsfreistellung“ zu erfolgen.<br />
Auch der hessische Erlass v. 20.3.2000 – 4104-III/9-258/91<br />
sieht eine Betreuung vor. Nach dem Handbuch (Hessisches<br />
Ministerium der Justiz [Fn. 1], S. 7) hat mindestens einmal<br />
wöchentlich ein persönlicher Kontakt zu erfolgen. Bei der<br />
Entlassungsfreistellung wird die Betreuung gem. § 16 Abs. 3<br />
III. Reaktion bei Regelverstößen<br />
Die Wirksamkeit des elektronischen Hausarrests beruht auf<br />
dem Wissen des Überwachten um die ständige Kontrolle und<br />
den klaren Konsequenzen, die ein Verstoß gegen die Bedingungen<br />
zur Folge hat. Die größte Zwangswirkung der Maßnahme<br />
geht von der Androhung der Überstellung in die Haftanstalt<br />
aus. In allen hier untersuchten Ländern wird auf schwer<br />
wiegende Regelverstöße mit einem Widerruf des elektronischen<br />
Hausarrests und der Überführung in die Haftanstalt<br />
reagiert. 65 Den österreichischen Gesetzesmaterialien zufolge<br />
ist diese Reaktion im Vollzug der Freiheitsstrafe dann geboten,<br />
wenn die Fortsetzung des elektronischen Hausarrests<br />
„nach den Zwecken des Strafvollzugs nicht mehr zielführend<br />
erscheint“. 66 Als schwerer Verstoß werden die Begehung<br />
einer Straftat, ein Fluchtversuch, Manipulation an den technischen<br />
Geräten, Täuschungen oder unbegründete grobe zeitliche<br />
Abweichungen vom Tagesprogramm zu bewerten sein.<br />
Bei weniger schweren Verstößen erfolgt eine Verwarnung 67<br />
bzw. förmliche Mahnung. Baden-Württemberg und Hessen<br />
besitzen noch eine mittlere Sanktionsstufe, nämlich die Kürzung<br />
oder Streichung der Freizeit außerhalb der Wohnung.<br />
Welche Sanktion in welchen Fällen zum Einsatz kommen<br />
soll, wird am präzisesten im Hessischen Erlass beschrieben: 68<br />
Bei leichten Verstößen reicht eine Verwarnung, bei gröberen<br />
Verstößen oder wiederholt leichten Verstößen wird die Freizeit<br />
außerhalb der Unterkunft gekürzt oder gestrichen, bei<br />
schweren Verstößen wird der Überwachte in die Anstalt überstellt.<br />
In Baden-Württemberg sind die milderen Reaktionsmöglichkeiten<br />
gem. § 8 Abs. 2 EAStVollzG dann anzuwenden,<br />
„wenn es ausreicht“. Am strengsten ist die österreichische<br />
Regelung, der zufolge der Vollzug der Freiheitsstrafe im<br />
elektronischen Hausarrest zwingend zu widerrufen ist, wenn<br />
der Überwachte trotz förmlicher Mahnung wiederholt gegen<br />
die Bedingungen verstößt. Im Vollzug der Untersuchungshaft<br />
ist der elektronische Hausarrest auf Antrag der Staatsanwaltschaft<br />
zu widerrufen, wenn der Beschuldigte die Bedingungen<br />
nicht einhält, ohne dass ein schwer wiegender oder wiederholter<br />
Regelverstoß vorausgesetzt ist. Vorzuziehen wäre<br />
eine Regelung, die die schwerste Sanktion auf gravierende<br />
Regelverletzungen beschränkt.<br />
IV. Abschließende Empfehlungen<br />
Aus dem Vergleich der Regelungen des elektronischen Hausarrests<br />
in Hessen, Baden-Württemberg und Österreich lassen<br />
sich folgende Empfehlungen ableiten:<br />
HStVollzG, § 16 Abs. 3 HJStVollzG von der Anstalt übernommen.<br />
65<br />
Die Regelungen sind zu finden in § 8 Abs. 1 und 2 EASt-<br />
VollzG und § 156c Abs. 2 Ziff. 2 öStVG, § 173a Abs. 4 öSt-<br />
PO. S.a. Erlass des Hessischen Ministeriums der Justiz vom<br />
20.3.2000 – 4104-III/9-258/91.<br />
66<br />
EBRV 772 BlgNR, 24. GP, S. 8.<br />
67<br />
Nach § 108 Abs. 2 öStVG kann auch eine formlose Abmahnung<br />
genügen.<br />
68<br />
Es handelt sich um bloße Empfehlungen.<br />
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Gudrun Hochmayr<br />
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Es gilt bereits durch die Ausgestaltung des Hausarrests einem<br />
„Zwei-Klassen-Vollzug“ entgegenzuwirken. Neben einer<br />
Erwerbstätigkeit sollte man jede andere sinnvolle Tätigkeit<br />
als Beschäftigung akzeptieren. Eine eigene Unterkunft sollte<br />
(anders als in Baden-Württemberg) keine Bedingung für den<br />
elektronischen Hausarrest sein. Vielmehr sollte es ausreichen,<br />
wenn dem Betroffenen eine Unterkunft von dritter Seite, wie<br />
einem karitativen Verein, zur Verfügung gestellt wird. Soweit<br />
man nicht auf einen Ersatz der Kosten des elektronischen<br />
Hausarrests verzichtet, bedarf es einer Regelung, der zufolge<br />
die Kostenersatzpflicht bei Gefährdung des notwendigen<br />
Unterhalts entfällt. Die genannten Vorkehrungen öffnen den<br />
elektronischen Hausarrest auch für sozial weniger integrierte<br />
Personen.<br />
Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass das Erfordernis<br />
einer Beschäftigung ein zentrales Element der verhaltenstherapeutischen<br />
Einwirkung auf den Überwachten ist. Allerdings<br />
sollte man die Anforderungen an das zeitliche Ausmaß der<br />
erforderlichen Beschäftigung nicht überspannen. Ein Beschäftigungsausmaß<br />
von mindestens 20 Wochenstunden, wie in<br />
Hessen und Baden-Württemberg, erscheint für die Zwecke<br />
des elektronischen Hausarrests als ausreichend. Das Erfordernis<br />
einer Beschäftigung lässt sich nur schwer mit dem Einsatz<br />
des elektronischen Hausarrests im Bereich der Untersuchungshaft<br />
vereinbaren. Dieser Umstand stellt – neben dem grundsätzlichen<br />
Problem, dass der den Haftgründen zugrunde liegenden<br />
Gefahr nur sehr beschränkt entgegengewirkt werden<br />
kann 69 – dieses Einsatzgebiet in Frage.<br />
Dem Verurteilten sollte zumindest nach einem gewissen<br />
Zeitraum Freizeit außerhalb der Unterkunft eingeräumt werden,<br />
um einen möglichst problemlosen Übergang in die<br />
Bewährungsphase oder die völlige Freiheit zu gewährleisten.<br />
Eine Freizeitregelung kann zugleich die mit der Dauer zunehmende<br />
Schwere des Hausarrests abfedern. Im Bereich der<br />
Untersuchungshaft hat sich die Gewährung von Freizeit<br />
außerhalb der Unterkunft nach der dem jeweiligen Haftgrund<br />
zugrunde liegenden Gefahr zu richten.<br />
Wegen der mit der Überwachung verbundenen Grundrechtseingriffe<br />
hat die Reichweite der Überwachung gesetzlich<br />
bestimmt zu sein. Nach den bisherigen Erfahrungen<br />
genügt es für die Zwecke des elektronischen Hausarrests,<br />
wenn mit Hilfe der elektronischen Mittel überprüft wird, ob<br />
sich der Überwachte entsprechend den Vorgaben in der Unterkunft<br />
aufhält oder von dieser abwesend ist. Vor diesem<br />
Hintergrund erscheint die in Baden-Württemberg mögliche<br />
Erstellung eines Bewegungsprofils als unverhältnismäßig.<br />
Hinzu kommt, dass gesetzliche Vorkehrungen fehlen, die<br />
verhindern, dass eine grundrechtswidrige „Rundumüberwachung“<br />
erfolgt.<br />
Der elektronische Hausarrest erfordert das auch mehrfache<br />
Betreten der Wohnung durch die öffentliche Gewalt. Im<br />
Hinblick auf den verfassungsrechtlichen Schutz der Wohnung<br />
und der Privatsphäre darf der Hausarrest deshalb nur bei Zustimmung<br />
der Mitbewohner angeordnet werden. Dies gilt (anders<br />
als nach der österreichischen Regelung) auch für den<br />
Vollzug der Untersuchungshaft durch elektronischen Hausar-<br />
69 Hochmayr, NStZ 2012 (im Druck).<br />
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rest. Nimmt ein Mitbewohner die Einwilligung zurück, sollte<br />
dieser Umstand entgegen den bisherigen Regelungen nur<br />
dann zum Widerruf des Hausarrests führen, wenn dem Mitbewohner<br />
ein weiteres Betreten der Wohnung durch die öffentliche<br />
Gewalt nicht zumutbar ist.<br />
Es empfiehlt sich, an der Betreuung des Überwachten<br />
durch Sozialarbeiter festzuhalten; diese persönliche Komponente<br />
der Überwachung hat sich nach bisherigen Erfahrungen<br />
als wesentlich für den Erfolg des elektronischen Hausarrests<br />
erwiesen. Wird gegen die Bedingungen des elektronischen<br />
Hausarrests verstoßen, empfehlen sich Sanktionen, die nach<br />
der Schwere des Verstoßes abgestuft sind. Dabei gilt es, die<br />
schwerste Sanktion in Form des Widerrufs des Hausarrests<br />
auf schwere Verstöße zu beschränken.
Die Anhörungsrüge im Verfahren der Rechtsbeschwerde gemäß §§ 116 ff. StVollzG<br />
und ihr Zusammenspiel mit der Verfassungsbeschwerde<br />
Von Wiss. Mitarbeiter Mario Bachmann, Köln*<br />
I. Einleitung<br />
Am 30.4.2003 hatte das Bundesverfassungsgericht den Gesetzgeber<br />
durch Plenarbeschluss verpflichtet, ein klares System<br />
fachgerichtlicher Rechtsbehelfe zur (Selbst-)Korrektur von<br />
Verletzungen des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 103<br />
Abs. 1 GG) zu schaffen. In ihrer Entscheidung stellten die<br />
Karlsruher Richter fest: 1<br />
„Die rechtsstaatlichen Anforderungen an die Rechtsmittelklarheit<br />
sind bei den zur Rüge eines Verstoßes gegen Art. 103<br />
Abs. 1 GG gegenwärtig verfügbaren außerordentlichen Rechtsbehelfen<br />
nicht erfüllt. Infolgedessen gibt es erhebliche Unsicherheiten<br />
bei der Entscheidung über die Frage, ob erst ein<br />
außerordentlicher Rechtsbehelf oder sogleich die Verfassungsbeschwerde<br />
einzulegen ist. […] Um den Rechtsschutz der Bürger<br />
nicht in einer rechtsstaatswidrigen Weise zu verkürzen,<br />
hat das BVerfG […] in Fällen, in denen der Weg zu den Fachgerichten<br />
wegen des Fehlens eines entsprechenden Rechtsbehelfs<br />
gar nicht eröffnet war, bisher unter bestimmten Voraussetzungen<br />
eine Verfassungsbeschwerde trotz fehlender fachgerichtlicher<br />
Entscheidung über die behauptete Versagung<br />
des rechtlichen Gehörs für zulässig gehalten. Diese Praxis<br />
widerspricht der Aufgabenverteilung zwischen Fach- und<br />
Verfassungsgerichtsbarkeit. Sie kann nur noch für eine Übergangszeit<br />
hingenommen werden. Dem Gesetzgeber wird aufgegeben,<br />
bis zum 31.12.2004 eine Lösung zu finden, […].“<br />
Am 1.1.2005 trat sodann das „Anhörungsrügengesetz“ in<br />
Kraft, durch das u.a. § 33a StPO neu gefasst und § 356a in<br />
die StPO eingefügt wurde. 2 Erstgenannte Vorschrift soll nach<br />
dem Willen des Gesetzgebers jeden Verstoß gegen Art. 103<br />
Abs. 1 GG im Beschlussverfahren erfassen. 3 § 356a StPO ist<br />
demgegenüber lex specialis für das Revisionsverfahren und<br />
gilt auch für Entscheidungen, die durch Urteil ergehen. 4 Außerdem<br />
ist die Anhörungsrüge nach dieser Vorschrift – im<br />
Unterschied zu derjenigen nach § 33a StPO – fristgebunden.<br />
Gemäß § 356a S. 2 StPO ist sie binnen einer Woche nach<br />
Kenntnis von der Verletzung des rechtlichen Gehörs zu erheben<br />
und zu begründen. Die Kenntniserlangung muss zudem<br />
glaubhaft gemacht werden (§ 356a S. 3 StPO).<br />
Die Ziele des Bundesverfassungsgerichts – Arbeitsentlastung<br />
und Schaffung von Rechtsklarheit – wurden mit vorgenannter<br />
Reform jedoch zu großen Teilen verfehlt. Zum einen<br />
ist die Zahl der bei den Karlsruher Richtern eingehenden<br />
Verfassungsbeschwerden, die eine Verletzung von Art. 103<br />
* Der Autor ist Wiss. Mitarbeiter und Doktorand am Institut<br />
für Kriminologie der Universität zu Köln bei Prof. Dr. Frank<br />
Neubacher M.A.<br />
1 Vgl. BVerfGE 107, 395 (417 f.).<br />
2 BGBl. I 2004, S. 3220. Die für das Beschwerdeverfahren<br />
vorgesehene Regelung in § 311a StPO wurde durch das Gesetz<br />
nicht verändert; vgl. zur praktisch geringen Bedeutung<br />
dieser Vorschrift Piekenbrock, AnwBl. 2005, 125.<br />
3 Vgl. BT-Drs. 15/3706, S. 17.<br />
4 Vgl. BT-Drs. 15/3706, S. 18.<br />
Abs. 1 GG geltend machen, nach wie vor beträchtlich. 5 Die<br />
davor (zwecks Rechtswegerschöpfung) einzulegende fachgerichtliche<br />
Anhörungsrüge bleibt zudem nahezu immer erfolglos:<br />
Im Zeitraum von 2007 bis 2011 waren laut Geschäftsstatistiken<br />
der Strafsenate des BGH lediglich zwei von insgesamt<br />
231 Anhörungsrügen erfolgreich, was einer Quote von<br />
gerade einmal 0,87 % entspricht. 6 Zum anderen fehlt es weiterhin<br />
an der erforderlichen Rechtssicherheit, was u.a. auf das<br />
noch nicht vollständig geklärte Verhältnis der Anhörungsrügen<br />
zur Verfassungsbeschwerde sowie auf die viel diskutierte<br />
Frage, ob eine analoge Anwendung der normierten Gehörsrügen<br />
auf andere Verfahrensgrundrechte in Betracht kommt,<br />
zurückzuführen ist und zum Teil auch an den gesetzlichen<br />
Regelungen selbst liegt. 7<br />
Im Folgenden soll zunächst untersucht werden, welche<br />
Anhörungsrüge bei Gehörsverletzungen im Rechtsbeschwerdeverfahren<br />
nach §§ 116 ff. StVollzG zu erheben ist (II.).<br />
Praktisch ist diese Problematik trotz der äußerst geringen<br />
Erfolgsquote von nicht unerheblicher Bedeutung, denn jedes<br />
Jahr erreichen mehrere hundert Verfassungsbeschwerden aus<br />
dem Strafvollzug, von denen ein großer Teil Verstöße gegen<br />
Art. 103 Abs. 1 GG behauptet, das Bundesverfassungsgericht.<br />
Immer wieder mangelt es dabei aufgrund nicht erhobener Anhörungsrüge<br />
an der gemäß § 90 Abs. 2 S. 1 BVerfGG erforderlichen<br />
Rechtswegerschöpfung, so dass die betreffenden<br />
Verfassungsbeschwerden unzulässig sind. 8 Hätte nun in all die-<br />
5<br />
Rund die Hälfte aller Verfassungsbeschwerden macht einen<br />
entsprechenden Verstoß geltend, vgl. Zuck, AnwBl. 2008, 168.<br />
6<br />
Die jährlichen Geschäftsstatistiken sind abrufbar unter<br />
http://www.bundesgerichtshof.de/DE/BGH/Statistik/Statistik<br />
Straf/statistikStraf_node.html.<br />
Der heutige Präsident des Bundesverfassungsgerichts Voßkuhle<br />
hatte bereits im Jahr 2003 in Bezug auf eine Selbstkontrolle<br />
des iudex a quo in NJW 2006, 2193 (2196 f.) vorhergesagt:<br />
„Insbesondere in den Fällen, in denen der Verfahrensfehler<br />
nicht auf einer ‚Panne‘ beruht, sondern auf falschen<br />
rechtlichen oder arbeitsstrategischen Überlegungen, kann bei<br />
realistischer Betrachtungsweise von dem jeweiligen Richter<br />
kaum erwartet werden, dass er innerhalb kürzester Zeit seine<br />
Meinung ändert und neu in die Sachprüfung einsteigt. […]<br />
Ganz abgesehen davon gehört zu den unverzichtbaren Kernelementen<br />
des gerichtlichen Rechtsschutzes die Neutralität und<br />
Distanz des agierenden Richters, der nicht Kontrolleur in<br />
eigener Sache sein darf.“<br />
7<br />
Ausführlich hierzu Eschelbach/Geipel/Weiler, StV 2010,<br />
325; kritisch auch Rieble/Vielmeier, JZ 2011, 923 (930).<br />
8<br />
Vgl. aus jüngerer Zeit etwa BVerfG BeckRS 2011, 56808;<br />
BVerfG BeckRS 2011, 56245; BVerfG, Beschl. v. 2.3.2011 –<br />
2 BvR 43/10, 86/10, 140/10; BVerfG BeckRS 2010, 51316;<br />
BVerfG BeckRS 2010, 45443; BVerfG BeckRS 2009, 38646;<br />
BVerfG BeckRS 2008, 37766; BVerfG, Beschl. v. 23.4.2008<br />
– 2 BvR 1889/07; s. zum Ganzen auch Lübbe-Wolff/Frotz,<br />
NStZ 2009, 616 f.<br />
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Mario Bachmann<br />
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sen Fällen gemäß § 33a StPO oder aber nach der – von ihren<br />
Voraussetzungen her deutlich strengeren – Regelung des<br />
§ 356a StPO vorgegangen werden müssen? Der vorliegende<br />
Beitrag will aber nicht nur diese Frage erörtern, sondern auch<br />
einige wichtige (Folge-)Probleme untersuchen, die sich im Zusammenspiel<br />
von Anhörungsrüge und Verfassungsbeschwerde<br />
ergeben können (III. bis VI.).<br />
II. Der Streit um die einschlägige Anhörungsrüge im<br />
Rahmen der §§ 116 ff. StVollzG<br />
1. Die verschiedenen Auffassungen<br />
Nach zum Teil vertretener Auffassung soll sich das Verfahren<br />
im Falle der Verletzung rechtlichen Gehörs durch das<br />
Rechtsbeschwerdegericht nach § 356a StPO richten. 9 Dies<br />
ergebe sich aus dem Umstand, dass die Rechtsbeschwerde im<br />
Sinne der §§ 116 ff. StVollzG revisionsähnlich ausgestaltet<br />
sei. 10 Die herrschende Ansicht will demgegenüber § 120<br />
Abs. 1 i.V.m. § 33a StPO zur Anwendung bringen und begründet<br />
dies u.a. mit dem Wortlaut des § 356a StPO, der sich<br />
allein auf das Revisionsverfahren beziehe. 11 Das Bundesverfassungsgericht<br />
hat die in Rede stehende Streitfrage in zwei<br />
jüngst ergangenen Beschlüssen 12 zwar offen gelassen. Gleichwohl<br />
hat es mit Blick auf das Grundrecht des effektiven<br />
Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) und der besonderen Situation<br />
von Gefangenen Bedenken im Hinblick auf die Anwendung<br />
des § 356a StPO erkennen lassen. 13 In zahlreichen<br />
anderen Entscheidungen hatte es sich sogar eindeutig für die<br />
h.M. ausgesprochen. So heißt es etwa in einem Nichtannahmebeschluss<br />
vom 20.5.2010: „Hat das Gericht […] den Anspruch<br />
eines Beteiligten auf rechtliches Gehör in entscheidungserheblicher<br />
Weise verletzt, ist hiergegen […] die Anhörungsrüge<br />
nach § 33a StPO, § 120 Abs. 1 StVollzG eröffnet.“<br />
14<br />
9<br />
Vgl. OLG Frankfurt a.M. NStZ-RR 2009, 30; KG Berlin,<br />
Beschl. v. 17.10.2011 – 2 Ws 340/11 Vollz; OLG Sachsen-<br />
Anhalt, Beschl. v. 23.6.2011 – 1 Ws 273/11.<br />
10<br />
Vgl. OLG Frankfurt a.M. NStZ-RR 2009, 30.<br />
11<br />
Vgl. Pohlreich, StV 2011, 574 (575); Lübbe-Wolff, AnwBl.<br />
2005, 509 (513); Calliess/Müller-Dietz, Strafvollzugsgesetz,<br />
Kommentar, 11. Aufl. 2008, § 120 Rn. 2; Laubenthal, Strafvollzug,<br />
6. Aufl. 2011, Rn. 806; OLG Hamm BeckRS 2006,<br />
07373.<br />
12<br />
Vgl. BVerfG BeckRS 2011, 56808; BVerfG BeckRS 2011,<br />
55538. Im erstgenannten Verfahren war die Streitfrage nicht<br />
entscheidungserheblich, weil der Beschluss, auf den sich die<br />
Anhörungsrüge bezog, nicht Gegenstand der Verfassungsbeschwerde<br />
war. In dem zweiten Beschluss musste sich die erkennende<br />
Kammer nicht festlegen, weil die zwischen den<br />
§§ 33a, 356a StPO hinsichtlich der Zulässigkeitsvoraussetzungen<br />
bestehenden Unterschiede im konkreten Fall nicht<br />
entscheidungserheblich zum Tragen kamen.<br />
13<br />
Vgl. BVerfG BeckRS 2011, 56808.<br />
14<br />
Vgl. BVerfG BeckRS 2010, 51316; ebenso BVerfG BeckRS<br />
2011, 56245; BVerfG, Beschl. v. 2.3.2011 –2 BvR 43/10,<br />
86/10, 140/10.<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
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<strong>ZIS</strong> 11/2012<br />
2. Stellungnahme<br />
Blickt man zunächst auf den Wortlaut der einschlägigen Regelungen,<br />
zeigt sich, dass die h.M. diesen mit Recht als Argument<br />
für sich in Anspruch nimmt. § 356a StPO setzt nämlich<br />
eine Revisionsentscheidung voraus, an der es im Verfahren<br />
nach §§ 116 ff. StVollzG aber gerade fehlt. § 33a StPO<br />
verlangt hingegen lediglich einen (nicht mehr anfechtbaren)<br />
Beschluss. Damit gilt diese Vorschrift zwar nicht für Urteile.<br />
Gemäß § 119 Abs. 1 StVollzG ist über Rechtsbeschwerden<br />
im Sinne von § 116 Abs. 1 StVollzG aber ohnehin immer im<br />
Wege des Beschlusses zu entscheiden, so dass sich bei einer<br />
Vorgehensweise nach § 33a StPO in Bezug auf den Wortlaut<br />
keinerlei Schwierigkeiten ergeben.<br />
Wenn die Gegner der h.M. angesichts der Systematik der<br />
§§ 116 ff. StVollzG zu dem Ergebnis gelangen, dass die<br />
Rechtsbeschwerde gegen Entscheidungen der Strafvollstreckungskammern<br />
revisionsähnlich ausgestaltet sei, ist dies<br />
durchaus zutreffend und spiegelt sich insbesondere in ihren<br />
Zulässigkeitsvoraussetzungen wider. 15 Gemäß § 116 Abs. 1<br />
StVollzG ist sie nämlich nur statthaft, wenn die Nachprüfung<br />
zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen<br />
Rechtsprechung geboten ist. Aus dieser Nähe zur Revision<br />
werden durchaus auch konkrete Konsequenzen gezogen.<br />
So ist vorgenannter Umstand etwa maßgeblicher Grund<br />
dafür, dass § 306 Abs. 2 StPO trotz der Regelung in § 116<br />
Abs. 4 StVollzG, wonach für die Rechtsbeschwerde die Vorschriften<br />
der StPO über die Beschwerde entsprechend gelten,<br />
keine Anwendung findet. 16 Die Strafvollstreckungskammer<br />
kann der Beschwerde folglich nicht selbst Abhilfe verschaffen.<br />
Einen zwingenden Schluss im Hinblick auf die Anwendbarkeit<br />
des § 356a StPO erlaubt die Revisionsähnlichkeit des<br />
Rechtsbeschwerdeverfahrens gemäß §§ 116 ff. StVollzG für<br />
sich genommen freilich noch nicht. Unabhängig davon erweist<br />
sich eine andere systematische Erwägung im Ergebnis<br />
als weit durchschlagender als die bisher angeführten Gesichtspunkte.<br />
Deutlich wird dies anhand eines Vergleichs mit dem<br />
Jugendstrafrecht und dem im OWiG geregelten Bußgeldverfahren.<br />
Für beide Bereiche existiert mit den §§ 2 Abs. 2 JGG,<br />
46 Abs. 1 OWiG (ähnlich wie in § 120 Abs. 1 StVollzG) ein<br />
allgemeiner Verweis auf die Vorschriften der StPO. 17 Im Unterschied<br />
zum Strafvollzugsrecht wird nun aber sowohl im<br />
JGG als auch im OWiG für letztinstanzliche Entscheidungen<br />
§ 356a StPO für anwendbar erklärt. Am deutlichsten geschieht<br />
dies in § 55 Abs. 4 JGG. Dort heißt es: „Soweit ein Beteiligter<br />
nach Absatz 1 Satz 1 an der Anfechtung einer Entschei-<br />
15<br />
Vgl. Arloth, Strafvollzugsgesetz, Kommentar, 3. Aufl. 2011,<br />
§ 116 Rn. 1; Calliess/Müller-Dietz (Fn. 11), § 116 Rn. 1.<br />
16<br />
Vgl. OLG Stuttgart NStZ 1984, 528; Calliess/Müller-Dietz<br />
(Fn. 11), § 116 Rn. 8; Kaiser/Schöch, Strafvollzug, 5. Aufl.<br />
2003, § 9 Rn. 55.<br />
17<br />
Im Unterschied zu § 120 Abs. 1 StVollzG geht der pauschale<br />
Verweis in §§ 2 Abs. 2 JGG, 46 OWiG noch über die<br />
StPO hinaus. So bezieht § 46 Abs. 1 OWiG alle allgemeinen<br />
Vorschriften über das Strafverfahren – namentlich auch diejenigen<br />
des GVG und JGG – mit ein. § 2 Abs. 2 JGG verweist<br />
(noch weitergehend) pauschal auf alle allgemeinen Regelungen.
Die Anhörungsrüge im Verfahren der Rechtsbeschwerde gemäß §§ 116 ff. StVollzG<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
dung gehindert ist oder nach Absatz 2 kein Rechtsmittel gegen<br />
die Berufungsentscheidung einlegen kann, gilt § 356a der<br />
Strafprozessordnung entsprechend.“ Für das Bußgeldverfahren<br />
ergibt sich die Anwendbarkeit von § 356a StPO über folgenden<br />
Verweis in § 79 Abs. 3 S. 1 OWiG: „Für die Rechtsbeschwerde<br />
und das weitere Verfahren gelten, soweit dieses<br />
Gesetz nichts anderes bestimmt, die Vorschriften der Strafprozeßordnung<br />
[§§ 333 bis 358] und des Gerichtsverfassungsgesetzes<br />
über die Revision entsprechend.“ Das Fehlen einer<br />
vergleichbaren Regelung im Strafvollzugsgesetz – dort findet<br />
sich für die Rechtsbeschwerde in § 116 Abs. 4 nur ein Verweis<br />
auf die Regelungen der StPO zur Beschwerde – muss als<br />
Indiz dafür gewertet werden, dass die spezielle Anhörungsrüge<br />
nach § 356a StPO hier nicht anwendbar sein soll.<br />
Nichts anderes ergibt sich bei Berücksichtigung teleologischer<br />
Gesichtspunkte. Die Anhörungsrügen nach §§ 33a, 356a<br />
StPO dienen der Sicherung des Anspruchs auf rechtliches<br />
Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG). 18 Soll dieses grundrechtsgleiche<br />
Recht aber für das Rechtsbeschwerdeverfahren nach §§ 116<br />
ff. StVollzG wirklich effektiv gewährleistet sein, kommt nur<br />
die Anhörungsrüge nach § 33a StPO in Betracht. Die formalen<br />
Anforderungen des § 356a StPO sind nämlich für den<br />
Bereich des Strafvollzuges schlicht zu streng. Vor allem die<br />
in § 356a S. 2 StPO vorgesehene Frist von einer Woche für<br />
Einlegung und Begründung vorgenannten Rechtsbehelfs, die<br />
generell schon als viel zu knapp kritisiert wird, 19 ist für Inhaftierte<br />
unzumutbar. Mit Recht hat das Bundesverfassungsgericht<br />
diesbezüglich in seinem Beschluss vom 30.11.2011 zu<br />
bedenken gegeben, dass Strafgefangene häufig einer den Postlauf<br />
verzögernden Postkontrolle unterliegen und im Verfahren<br />
nach dem StVollzG – anders als in dem der Revision –<br />
regelmäßig anwaltlich nicht vertreten sind. 20 Wann immer es<br />
um den Rechtsschutz im Strafvollzug geht, ist zudem zu berücksichtigen,<br />
dass die Betroffenen typischerweise nach Bildungsstand,<br />
materiellen Ressourcen und Kommunikationsmöglichkeiten<br />
für den Umgang mit den Schwierigkeiten der<br />
Rechtsordnung nicht gut gerüstet sind. 21 Angesichts dieser<br />
Besonderheiten könnte von einem effektiven Rechtsschutz<br />
(Art. 19 Abs. 4 GG) nicht die Rede sein, wenn man Inhaftierte<br />
bei Gehörsverletzungen im Rechtsbeschwerdefahren auf<br />
die Rüge nach § 356a StPO verwiese und damit letztendlich<br />
eine viel zu hohe Hürde aufstellte.<br />
Was schließlich die historische Auslegung anbelangt, ist<br />
festzustellen, dass die Gesetzesmaterialien für die hier im<br />
Zentrum stehende Problematik nicht weiterführend sind. Die<br />
übrigen Auslegungsgesichtspunkte haben jedoch bereits gezeigt,<br />
dass die h.M. den Vorzug verdient. Danach ist also bei<br />
Gehörsverletzungen im Rahmen des Verfahrens nach §§ 116<br />
ff. StVollzG die Anhörungsrüge gemäß § 120 Abs. 1 StVollzG<br />
i.V.m. § 33a StPO zu erheben. Ein gegebenenfalls als Rüge<br />
18<br />
Vgl. nur Larcher, in: Graf (Hrsg.), Beck‘scher Online-Kommentar,<br />
Strafprozessordnung, Stand: 1.10.2012, § 33a Rn. 1;<br />
Wiedner, in: Graf (a.a.O.), § 356a Rn. 1.<br />
19<br />
Näher hierzu Eschelbach/Geipel/Weiler, StV 2010, 325<br />
(330).<br />
20<br />
Vgl. BVerfG BeckRS 2011, 56808.<br />
21<br />
So treffend BVerfG StV 2008, 88 (89).<br />
nach § 356a StPO bezeichneter Rechtsbehelf ist gemäß § 300<br />
StPO in eine Anhörungsrüge nach § 33a StPO umzudeuten.<br />
III. Fristvorwirkung der Verfassungsbeschwerde?<br />
Die hier vertretene Auffassung wirft nun allerdings unweigerlich<br />
die Frage auf, ob die für die Einlegung einer Verfassungsbeschwerde<br />
geltende Monatsfrist in § 93 Abs. 1 S. 1 BVerf-<br />
GG dazu führt, dass nicht fristgebundene Rechtsbehelfe wie<br />
§ 33a StPO ebenfalls innerhalb eines Monats zu erheben sind.<br />
Zum Teil wird dies mit dem Hinweis darauf bejaht, dass andernfalls<br />
der Gedanke der Rechtssicherheit, der § 93 BVerf-<br />
GG zu Grunde liege, unterlaufen werde. 22 Die Judikatur des<br />
Bundesverfassungsgerichts lässt auch in Bezug auf diese<br />
Problematik keine einheitliche Linie erkennen. Einige Entscheidungen<br />
lassen die Beantwortung der in Rede stehenden<br />
Frage ausdrücklich offen, andere sprechen sich zum Teil für,<br />
manche wiederum auch gegen eine Fristvorwirkung aus. 23<br />
In Übereinstimmung mit der h.M. ist eine Übertragung<br />
der Monatsfrist des § 93 Abs. 1 S. 1 BVerfGG auf § 33a StPO<br />
klar abzulehnen. 24 Ein fristunabhängiger Rechtsbehelf wie<br />
die Anhörungsrüge nach § 33a StPO kann nicht einfach über<br />
den Umweg des Verfassungsprozessrechts in einen solchen mit<br />
Einlegungsfrist umgedeutet werden. Dies widerspricht der Entscheidung<br />
des Gesetzgebers, eine gewisse Rechtsunsicherheit,<br />
die mit dem Verzicht auf eine Fristsetzung einhergeht, in<br />
Kauf zu nehmen. 25 Mit Recht wird ferner darauf hingewiesen,<br />
dass sich ein Beschwerdeführer auf die im Fachprozessrecht<br />
vorgesehene Fristlosigkeit eines Rechtsbehelfs verlassen<br />
können muss, weil die Lehre von der Fristvorwirkung andernfalls<br />
genau das erreichen würde, was sie eigentlich gerade<br />
vermeiden will: Rechtsunsicherheit. 26 Die Monatsfrist des<br />
§ 93 Abs. 1 S. 1 BVerfGG beginnt daher erst mit Zustellung<br />
der Entscheidung über die Anhörungsrüge zu laufen. 27<br />
IV. Anhörungsrüge und Gebot der Rechtswegerschöpfung<br />
nach § 90 Abs. 2 S. 1 BVerfGG<br />
Wie bereits erwähnt, kann eine Verfassungsbeschwerde, die<br />
ausschließlich eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches<br />
Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) rügt, mangels Rechtswegerschöpfung<br />
(§ 90 Abs. 2 S. 1 BVerfGG) nicht zulässig sein,<br />
wenn zuvor die Erhebung einer fachgerichtlichen Anhörungsrüge<br />
versäumt wurde. 28 Das gilt nicht, wenn – bei objektiver<br />
22 Vgl. Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2012,<br />
Rn. 604; Klein/Sennekamp, NJW 2007, 945 (954).<br />
23 Überblick über die verfassungsgerichtliche Judikatur bei<br />
Pohlreich, StV 2011, 574 (575).<br />
24 Vgl. Buermeyer, in: Rensen/Brink (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung<br />
des Bundesverfassungsgerichts, 2009, S. 35 (S. 44);<br />
Zuck, Das Recht der Verfassungsbeschwerde, 3. Aufl. 2006,<br />
Rn. 837; Pohlreich, StV 2011, 574 (575 f.).<br />
25 Vgl. Buermeyer (Fn. 24), S. 35 (S. 44 Fn. 29).<br />
26 Vgl. Pohlreich, StV 2011, 574 (575).<br />
27 Vgl. nur Kleine-Cosack, Verfassungsbeschwerden und Menschenrechtsbeschwerde,<br />
2. Aufl. 2007, Rn. 390 m.w.N.<br />
28 Vgl. nur Zuck, AnwBl. 2008, 168 (170) m.w.N.<br />
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Betrachtung – lediglich andere Grundrechtsverletzungen geltend<br />
gemacht werden. 29<br />
Probleme ergeben sich aber, wenn der Beschwerdeführer<br />
neben einem Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG noch andere<br />
Verletzungen grundgesetzlicher Rechtspositionen geltend<br />
macht. Hierzu hat das Bundesverfassungsgericht im sog.<br />
„Queen Mary II“-Beschluss klargestellt, dass die unterlassene<br />
Erhebung der Anhörungsrüge nicht nur in Bezug auf Art. 103<br />
Abs. 1 GG, sondern insgesamt (also hinsichtlich aller Grundrechtsverletzungen)<br />
zur Unzulässigkeit der Verfassungsbeschwerde<br />
führt. 30 Dies gilt nach Ansicht der Karlsruher Richter<br />
jedenfalls in den Fällen, in denen sich die behauptete<br />
Gehörsverletzung auf den gesamten Streitgegenstand des fachgerichtlichen<br />
Verfahrens erstreckt. 31 Das ist durchaus überzeugend,<br />
denn wenn das Fachgericht der Rüge Abhilfe verschafft,<br />
wird das bei ihm anhängige Verfahren gemäß § 33a<br />
S. 1 StPO vollständig wieder eröffnet und es besteht die Möglichkeit,<br />
dass auch die anderen Grundrechtsverletzungen ausgeräumt<br />
werden. 32<br />
Eine Anhörungsrüge muss nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts<br />
sogar auch dann erhoben werden, wenn<br />
der Beschwerdeführer mit der Verfassungsbeschwerde eigentlich<br />
gar keine Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG geltend<br />
machen will, die Gehörsrüge aber bei objektiver Betrachtung<br />
zur Korrektur der von ihm behaupteten sonstigen Grundrechtsverstöße<br />
führen könnte. 33 Nach einem Teil der Literatur<br />
soll diese Sichtweise nur schwerlich mit dem Zweck des § 90<br />
Abs. 2 BVerfGG zu vereinbaren sein, weil der Beschwerdeführer<br />
vor Einlegung der Verfassungsbeschwerde nur verpflichtet<br />
sei, alles zu unternehmen, um diejenigen Grundrechtsverletzungen,<br />
die er tatsächlich angreifen wolle, auszuräumen.<br />
Deshalb ginge es zu weit, wenn man von ihm verlangte,<br />
auch gegen solche Verstöße vorzugehen, die er mit<br />
der Verfassungsbeschwerde eigentlich gar nicht zu rügen beabsichtige.<br />
34 Überzeugend ist diese Kritik jedoch nicht, denn<br />
nach dem Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde<br />
sind vom Betroffenen alle Möglichkeiten auszuschöpfen,<br />
die die Grundrechtsverletzung bereits auf fachgerichtlicher<br />
Ebene beseitigen können. Dies kann durchaus<br />
auch mittels einer Anhörungsrüge geschehen, die schließlich<br />
im Erfolgsfalle zu einem Nachholverfahren führt, das nicht<br />
nur Gelegenheit bietet, Verstöße gegen Art. 103 Abs. 1 GG,<br />
sondern auch solche gegen andere grundgesetzlich gewährte<br />
Rechtspositionen zu korrigieren. 35 Das Bundesverfassungsgericht<br />
hält die beschriebene Vorgehensweise jedoch dann für<br />
entbehrlich, wenn die Erhebung der Anhörungsrüge offen-<br />
29<br />
Vgl. Heinrichsmeier, NVwZ 2010, 228 (229); Desens,<br />
NJW 2006, 1243 (1246).<br />
30<br />
Vgl. BVerfG NJW 2005, 3059 f.<br />
31<br />
Vgl. BVerfG NJW 2005, 3059 (3060).<br />
32<br />
Näher hierzu (am Beispiel der zivilprozessualen Anhörungsrüge<br />
nach § 321a ZPO) BVerfG NJW 2005, 3059 (3060).<br />
33<br />
Vgl. BVerfG BeckRS 2011, 53022; BVerfG BeckRS 2011,<br />
56245.<br />
34<br />
So etwa Jost, in: Rensen/Brink (Fn. 24), S. 59 (S. 72 f.);<br />
Rieble/Vielmeier, JZ 2011, 923 (927).<br />
35<br />
Vgl. Zuck, AnwBl. 2008, 168 (170).<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
548<br />
<strong>ZIS</strong> 11/2012<br />
kundig unzulässig oder aussichtslos wäre. 36 Hinreichend gefestigte<br />
Kriterien anhand derer man dies feststellen könnte,<br />
sind der verfassungsgerichtlichen Judikatur indes nicht zu<br />
entnehmen. 37 Letztlich läuft alles auf eine Erfolgsprognose<br />
hinaus, die Zulässigkeit und Begründetheit einer Anhörungsrüge<br />
in den Blick nehmen muss. 38 Dem Beschwerdeführer<br />
wird damit eine schwierige Gratwanderung abverlangt: Sieht<br />
er aufgrund offenkundiger Aussichtslosigkeit von der fachgerichtlichen<br />
Gehörsrüge ab, läuft er Gefahr, dass die Karlsruher<br />
Richter dies anders bewerten und die Verfassungsbeschwerde<br />
als unzulässig abweisen. Erhebt er die Anhörungsrüge,<br />
besteht das Risiko der Verfristung der Verfassungsbeschwerde,<br />
denn der Beschwerdeführer soll sich letztere nach<br />
Auffassung des Bundesverfassungsgerichts nicht dadurch offen<br />
halten können, dass er einen von vornherein zum Scheitern<br />
verurteilten Rechtsbehelf einlegt. 39<br />
Bezieht sich die Rüge nach Art. 103 Abs. 1 GG nicht auf<br />
den gesamten, sondern nur auf einen abtrennbaren, eigenständigen<br />
Teil des Streitgegenstandes muss bezüglich dieses<br />
Teils die fachgerichtliche Anhörungsrüge und im Übrigen<br />
innerhalb der Monatsfrist des § 93 Abs. 1 S. 1 BVerfGG<br />
Verfassungsbeschwerde erhoben werden. 40 Nach dem klaren<br />
Wortlaut des § 33a StPO (und aller anderen entsprechenden<br />
Regelungen) wird das Verfahren nämlich nur insoweit zurückversetzt,<br />
als dies aufgrund der Rüge geboten ist. 41<br />
V. Primäre und sekundäre Anhörungsrüge<br />
Hilft das Oberlandesgericht einer erstmals im Verfahren der<br />
Rechtsbeschwerde nach §§ 116 ff. StVollzG erfolgten Verletzung<br />
des Rechts aus Art. 103 Abs. 1 GG nicht ab (sog.<br />
„primäre Gehörsrüge“), ist fraglich, ob eine solche Entscheidung<br />
über die Anhörungsrüge eigenständiger Gegenstand einer<br />
Verfassungsbeschwerde sein kann. Das Bundesverfassungsgericht<br />
hat hierzu festgestellt: „Die Entscheidung […]<br />
mit der das [Gericht] die Anhörungsrüge zurückweist, schafft<br />
keine eigenständige Beschwer. […] Die eine Nachholung<br />
rechtlichen Gehörs ablehnenden Entscheidungen nach § 356a<br />
Satz 1 StPO oder § 33a Satz 1 StPO lassen allenfalls eine bereits<br />
durch die Ausgangsentscheidung eingetretene Verletzung<br />
rechtlichen Gehörs fortbestehen, indem die ‚Selbstkorrektur‘<br />
durch die Fachgerichte unterbleibt. […] Es besteht auch kein<br />
dringendes, schutzwürdiges Interesse an einer – zusätzlichen<br />
– verfassungsgerichtlichen Überprüfung der Entscheidung<br />
nach § 356a StPO. Der Beschwerdeführer kann im Verfassungsbeschwerdeverfahren<br />
stets die Ausgangsentscheidung angreifen<br />
und auf die seiner Ansicht nach fortbestehende Gehörsverletzung<br />
hin überprüfen lassen.“ 42 Dieser Lösungsan-<br />
36<br />
Vgl. BVerfG, Beschl. v. 31.8.2011 – 1979/08 m.w.N.<br />
37<br />
Vgl. Jost (Fn. 34), S. 59 (S. 67 f.); Rieble/Vielmeier, JZ<br />
2011, 923 (928); Heinrichsmeier, NVwZ 2010, 228 (230).<br />
38<br />
Vgl. Heinrichsmeier, NVwZ 2010, 228 (230).<br />
39<br />
Vgl. BVerfG, Beschl. v. 31.8.2011 – 1979/08.<br />
40<br />
Vgl. Desens, NJW 2006, 1243 (1246); Zuck, NVwZ 2005,<br />
739 (743).<br />
41<br />
So mit Recht Desens, NJW 2006, 1243 (1246).<br />
42<br />
Vgl. BVerfG BeckRS 2007, 25632; BVerfG NStZ-RR 2007,<br />
381 (382).
Die Anhörungsrüge im Verfahren der Rechtsbeschwerde gemäß §§ 116 ff. StVollzG<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
satz verdient Zustimmung, denn er vermeidet die Entstehung<br />
eines unendlichen Rechtsweges. 43<br />
Besteht die Gehörsverletzung hingegen darin, dass das<br />
Oberlandesgericht trotz entsprechender Rüge einem Verstoß<br />
der Strafvollstreckungskammer gegen Art. 103 Abs. 1 GG zu<br />
Unrecht keine Abhilfe verschafft, 44 ist fraglich, ob es sich insoweit<br />
um eine eigenständige Gehörsverletzung handelt, die<br />
im Verfahren nach § 120 Abs. 1 StVollzG i.V.m. § 33a StPO<br />
gerügt werden kann (sog. „sekundäre Gehörsrüge“). Das ist<br />
zu bejahen. 45 Anders als in der Literatur zum Teil behauptet<br />
wird, 46 hat die hier vertretene Auffassung nicht die Gefahr<br />
eines unendlichen Rechtsmittelzuges zur Folge. Wie die Entscheidung<br />
über die primäre, kann nämlich auch diejenige<br />
über die sekundäre Gehörsverletzung kein eigenständiger Gegenstand<br />
einer Verfassungsbeschwerde sein. 47 Das Bundesverfassungsgericht,<br />
das die sekundäre Gehörsrüge zunächst<br />
für zulässig erachtet hatte, vertritt nunmehr seit 2008 die gegenteilige<br />
Ansicht, wonach die bloße Nichtheilung der Verletzung<br />
des Art. 103 Abs. 1 GG durch die Vorinstanz keinen<br />
eigenständigen Gehörsverstoß darstelle. 48 Damit scheint vorprogrammiert<br />
zu sein, dass es früher oder später zu ähnlichen<br />
Abgrenzungsschwierigkeiten bzw. Unsicherheiten kommen<br />
wird, wie es sie allgemein in Bezug auf die „offenkundige<br />
Unzulässigkeit oder Aussichtlosigkeit“ einer Anhörungsrüge<br />
bereits gibt. Mit Recht wird daher eine Präzisierung des Begriffs<br />
der „eigenständigen Gehörsverletzung“ angemahnt. 49<br />
VI. Analoge Anwendung des § 33a StPO auf die Verletzung<br />
anderer Verfahrensgrundrechte?<br />
Bislang noch ungeklärt ist die Frage, ob § 33a StPO und die<br />
übrigen gesetzlichen Regelungen zur Anhörungsrüge auf andere<br />
Verfahrensgrundrechte analog anwendbar sind. Zutreffend<br />
wird darauf hingewiesen, dass fachgerichtlicher Rechtsschutz<br />
z.B. gegen Verletzungen von Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG<br />
oder des Grundsatzes des fairen Verfahrens wohl kaum weniger<br />
geboten ist als bei Verstößen gegen Art. 103 Abs. 1<br />
GG. 50 Eine analoge Anwendung von § 33a StPO auf andere<br />
Verfahrensgrundrechte muss gleichwohl abgelehnt werden,<br />
weil es an der hierfür erforderlichen planwidrigen Regelungslücke<br />
fehlt. 51 Der Gesetzgeber hat sich nämlich bewusst auf<br />
43 Vgl. Eschelbach/Geipel/Weiler, StV 2010, 325 (330).<br />
44 Die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör ist<br />
Zulässigkeitsgrund für die Rechtsbeschwerde nach § 116<br />
Abs. 1 StVollzG, vgl. nur Calliess/Müller-Dietz (Fn. 11), § 116<br />
Rn. 3 m.w.N.<br />
45 So BVerfGK 5, 337; Zuck, AnwBl. 2008, 168 (171); offen<br />
gelassen in BVerfG NJW 2007, 3418 (3419).<br />
46 So etwa Jost (Fn. 34), S. 59 (S. 79).<br />
47 S. dazu auch Eschelbach/Geipel/Weiler, StV 2010, 325<br />
(330).<br />
48 Vgl. BVerfG NJW 2008, 2635 (2636) m. zust. Anm. Zuck;<br />
bestätigt in BeckRS 2011, 53389; BeckRS 2011, 48088.<br />
49 Vgl. Jost (Fn. 34), S. 59 (S. 81).<br />
50 Ausführlich hierzu Kettinger, ZRP 2006, 152; Kleine-Co-<br />
sack (Fn. 27), Rn. 402.<br />
51 So auch Ulrici, Jura 2005, 368 (370); Voßkuhle, NJW<br />
2003, 2193 (2199); für analoge Anwendung etwa Schenke,<br />
die Normierung fachgerichtlichen Rechtsschutzes gegen Gehörsverletzungen<br />
beschränkt. 52 Wenn die Begründung zum<br />
„Anhörungsrügengesetz“ bezüglich anderer Verfahrensgrundrechte<br />
auf außerordentliche Rechtsbehelfe (etwa die Gegenvorstellung)<br />
verweist, 53 überzeugt dies nicht. In seinem Plenarbeschluss<br />
v. 30.4.2003 hat das Bundesverfassungsgericht<br />
hinsichtlich solcher Rechtsschutzmöglichkeiten ausgeführt:<br />
„Diese genügen den verfassungsrechtlichen Anforderungen<br />
an die Rechtsmittelklarheit nicht. Die Rechtsbehelfe müssen<br />
in der geschriebenen Rechtsordnung geregelt und in ihren<br />
Voraussetzungen für die Bürger erkennbar sein. […] Das<br />
rechtsstaatliche Erfordernis der Messbarkeit und Vorhersehbarkeit<br />
staatlichen Handelns führt zu dem Gebot, dem Rechtsuchenden<br />
den Weg zur Überprüfung gerichtlicher Entscheidungen<br />
klar vorzuzeichnen.“ 54 Der Gesetzgeber hat es sich<br />
also zu einfach gemacht, als er sich mit der Schaffung des<br />
„Anhörungsrügengesetzes“ auf Gehörsverstöße beschränkt und<br />
dies damit gerechtfertigt hat, dass sich der Gesetzgebungsauftrag<br />
des Bundesverfassungsgerichts nur auf derartige Verletzungen<br />
beziehe. 55 Diesbezüglich verkennt er bereits, dass in<br />
dem konkreten Fall von den Karlsruher Richtern nur eine<br />
Entscheidung in Bezug auf Art. 103 Abs. 1 GG zu treffen<br />
war, was diese auch ausdrücklich in ihrer Plenarentscheidung<br />
hervorheben: „Der Vorlagebeschluss des Ersten Senats ist auf<br />
Rechtsschutz gegen die behauptete Verletzung des Art. 103 I<br />
GG beschränkt.“ 56 Im Interesse der Rechtssicherheit muss der<br />
Gesetzgeber daher erneut tätig werden und ein über Gehörsverletzungen<br />
hinausgehendes Rechtsbehelfssystem schaffen. 57<br />
Bis dahin sollten bei Verstößen gegen andere Verfahrensgrundrechte<br />
sicherheitshalber sowohl außerordentliche Rechtsbehelfe<br />
(insbesondere die Gegenvorstellung) eingelegt als<br />
auch die Eintragung einer Verfassungsbeschwerde im Allgemeinen<br />
Register angeregt werden, um dem Grundsatz der<br />
Subsidiarität in jedem Fall Rechnung zu tragen und vor etwaigen<br />
Überraschungen durch die verfassungsgerichtliche Judikatur<br />
bezüglich des Subsidiaritätsgrundsatzes gefeit zu sein. 58<br />
VII. Zusammenfassung<br />
Insgesamt kann somit Folgendes festgehalten werden:<br />
1. Es wäre zu begrüßen, wenn das Bundesverfassungsgericht<br />
in seiner zukünftigen Rechtsprechung deutlicher als<br />
bisher herausstellte, dass bei Verstößen gegen Art. 103 Abs. 1<br />
NVwZ 2005, 729 (736 ff.); s. auch BGH BeckRS 2011,<br />
08244, der diese Frage im Hinblick auf Art. 101 Abs. 1 S. 2<br />
GG offen gelassen hat.<br />
52<br />
Vgl. BT-Drs. 15/3706, S. 14; s. dazu auch Nasall, ZRP<br />
2004, 164 (168).<br />
53<br />
Vgl. BT-Drs. 15/3706, S. 14.<br />
54<br />
Vgl. BVerfGE 107, 395 (416).<br />
55<br />
Vgl. BT-Drs. 15/3706, S. 14.<br />
56<br />
Vgl. BVerfGE 107, 395 (408); vgl. ferner Kettinger, ZRP<br />
2006, 152; Eschelbach/Geipel/Weiler, StV 2010, 325 (330).<br />
57<br />
So auch Kettinger, ZRP 2006, 152 (153 f.); Desens, NJW<br />
2006, 1243 (1244); Treber, NJW 2005, 97 (100); Nasall,<br />
ZRP 2004, 164 (168).<br />
58<br />
Vgl. Kleine-Cosack (Fn. 27), Rn. 406; Rieble/Vielmeier, JZ<br />
2011, 923 (929).<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />
549
Mario Bachmann<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
GG im Rechtsbeschwerdeverfahren gemäß §§ 116 ff. St-<br />
VollzG die Anhörungsrüge nach § 120 Abs. 1 StVollzG<br />
i.V.m. § 356a StPO nicht in Betracht kommt.<br />
2. Die Karlsruher Richter sollten der Lehre von der Fristvorwirkung<br />
der Verfassungsbeschwerde eine klare Absage<br />
erteilen, denn Zulässigkeitshürden dürfen nicht contra legem<br />
aufgestellt werden.<br />
3. Um dem Grundsatz der Rechtswegerschöpfung nach<br />
§ 90 Abs. 2 S. 1 BVerfGG Rechnung zu tragen, muss vor Erhebung<br />
einer Verfassungsbeschwerde stets dann eine Anhörungsrüge<br />
eingelegt werden, wenn diese nicht offenkundig<br />
unzulässig oder aussichtslos ist, und zwar auch dann, wenn<br />
der Beschwerdeführer einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1<br />
GG eigentlich gar nicht rügen will.<br />
4. Zulässig ist sowohl die primäre als auch die sekundäre<br />
Gehörsrüge, wobei die Entscheidung über die vorgenannten<br />
Rechtsbehelfe selbst nicht eigenständiger Gegenstand einer<br />
Verfassungsbeschwerde sein kann.<br />
5. Die analoge Anwendung der fachgerichtlichen Vorschriften<br />
über die Anhörungsrüge auf andere Verfahrensgrundrechte<br />
scheidet mangels planwidriger Regelungslücke aus.<br />
Außerordentliche Rechtsbehelfe verstoßen gegen den Grundsatz<br />
der Rechtsmittelklarheit, sollten aber (angesichts unsicherer<br />
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts) in der<br />
oben (VI.) erläuterten Weise vorsichtshalber eingelegt werden.<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
550<br />
<strong>ZIS</strong> 11/2012
Der Einsatz „neuer Medien“ im Dezernat des Ermittlungsrichters*<br />
Von RiAG Frank Buckow, Berlin<br />
Der Bundesrat hat am 24.3.2010 den Entwurf eines „Gesetzes<br />
zur Intensivierung des Einsatzes von Videokonferenztechnik<br />
in gerichtlichen und staatsanwaltschaftlichen Verfahren“<br />
vorgelegt, der im März 2012 an Rechts- und Innenausschuss<br />
überwiesen wurde. 1 Der Gesetzentwurf sieht vor, dass die<br />
Videokonferenztechnik in die wesentlichen Verfahrensordnungen<br />
des Deutschen Rechts eingeführt wird. Die Strafprozessordnung<br />
wird in § 118a Abs. 2 S. 2 StPO dahingehend ergänzt,<br />
dass die Haftprüfung unter Verzicht auf die persönliche<br />
Anwesenheit des Beschuldigten bei zeitgleicher Bild- und<br />
Tonübertragung von dessen Aufenthaltsort durchgeführt werden<br />
kann. Gleiches ist für die Zeugen- und Beschuldigtenvernehmung<br />
bei der Polizei vorgesehen.<br />
Die Bundesrechtsanwaltskammer hat im Februar 2010<br />
den Entwurf eines „Gesetzes zur Verbesserung der Wahrheitsfindung<br />
im Strafverfahren durch verstärkten Einsatz von<br />
Bild-Ton-Technik“ vorgelegt. 2 Der Gesetzentwurf, der in den<br />
Justizverwaltungen diskutiert wurde, sieht u.a. die von der<br />
Anwaltschaft seit langem geforderte Aufzeichnung der Vernehmung<br />
des Beschuldigten auf Bild-Ton-Träger insbesondere<br />
in den Fällen (auch bei Zeugen) vor, in denen die Mitwirkung<br />
eines Verteidigers nach § 140 Abs. 1 oder. Abs. 2 StPO<br />
notwendig sein wird. § 254 StPO soll auf die Vorführung der<br />
Bild-Ton-Aufzeichnung erstreckt und die Hauptverhandlung<br />
im ersten Rechtszug vor dem Landgericht oder Oberlandesgericht<br />
auf Bild-Ton-Träger aufgezeichnet werden.<br />
Im Folgenden soll unter Bezugnahme auf die Gesetzentwürfe<br />
auf einige Aspekte des Einsatzes digitaler Medien zur<br />
Beweisgewinnung im Dezernat des Ermittlungsrichters eingegangen<br />
werden, die über diesen Tätigkeitsbereich hinausweisen<br />
und die Probleme aufzeigen, die mit der Einführung<br />
bzw. Ausweitung einer audio-visuellen Dokumentation einhergehen.<br />
I. Digitalrekorder<br />
1. Erfordernis der Aufzeichnung<br />
Es ist eine alte Forderung in den diversen Vorschlägen zur<br />
Reform des Strafverfahrensrechts, dass technische Hilfsmittel<br />
zur Aufzeichnung von Beweiserhebungen verwendet werden<br />
sollen. 3 Diese Reformwünsche, die auch auf die Aufzeichnung<br />
* Überarbeitete und abgeänderte Fassung eines Vortrages auf<br />
der 16. Alsberg-Tagung „Dokumentation im Strafverfahren“<br />
v. 26.10.2007.<br />
1<br />
BT-Drs. 17/1224, auch im Internet abrufbar unter<br />
http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/17/012/1701224.pdf<br />
(1.11.2012).<br />
2<br />
S. unter brak.de/seiten/pdf/Stellungnahmen/2010/Stn1.pdf<br />
(1.11.2012); Nack/Park, NStZ 2011, 310.<br />
3<br />
Vgl. u.a. Gesetzentwurf zur Tonaufzeichnung der Hauptverhandlung<br />
in Strafsachen, Anwaltsblatt 1993, 328; Stellungnahme<br />
des Deutschen Anwaltsvereins zu den Eckpunkten<br />
einer Reform des Strafverfahrens vom Mai 2001.<br />
der strafrechtlichen Hauptverhandlung abzielen, 4 beruhen auf<br />
dem Phänomen der sogenannten „ausgehandelten Wirklichkeit“.<br />
5 Damit wird in erster Linie gegen das <strong>Inhalt</strong>sprotokoll<br />
argumentiert, dass bei Beschuldigten- und Zeugenvernehmungen<br />
nicht den Entstehungsprozess der Aussage (Vorgespräch,<br />
Umstände der Aussage etc.) und die authentische Formulierung<br />
durch die Beweisperson umfasst.<br />
2. <strong>Inhalt</strong>s- oder Wortprotokoll?<br />
Nach herrschender Ansicht 6 erfasst die Möglichkeit einer<br />
Audioaufnahme nicht nur den „<strong>Inhalt</strong> des Protokolls“ sondern<br />
die Aussage selbst, d.h. einen Mitschnitt. Dafür geben aber<br />
weder die sprachliche Fassung des § 168a Abs. 2 S. 1 StPO<br />
noch die Gesetzesmaterialien etwas her. 7 Gleichwohl wird<br />
heute aus der Einführung des § 58a StPO geschlossen, dass<br />
eine Tonaufnahme erst recht möglich sein soll. 8 Dabei ist zu<br />
bedenken, dass § 58a StPO lediglich auf ein neues Beweismittel<br />
verweist, nämlich die Videokonserve, und nichts an<br />
dem Charakter der „vorläufigen Aufzeichnung“ gem. § 168a<br />
StPO ändert. Aus dieser muss erst das Protokoll erstellt werden.<br />
Insgesamt spricht die Formulierung des § 168a StPO,<br />
der noch aus einem „analogen Zeitalter“ stammt, eher für die<br />
Verwendung eines <strong>Inhalt</strong>sprotokolls. 9<br />
Die nicht oder nur schwer schriftlich übertragbaren non-<br />
oder paraverbalen Eigenschaften können eine Bedeutung<br />
gewinnen für die Frage der Glaubwürdigkeit. Ein Zögern des<br />
Aussagenden, Stottern o.ä. stellen einen sprachlichen Überhang<br />
dar, der sich auch bei regelgerechter Transkription in<br />
ein schriftliches Protokoll nur schwer vermittelt lässt. Man<br />
wird aus der Notwendigkeit einer unverfälschten, d.h. ohne<br />
selektive Wahrnehmung und Beweiswürdigung durch den<br />
Protokollierenden, erfolgten Aussagedokumentation schließen<br />
müssen, dass die Protokollierung sich auch auf die Authentizität,<br />
d.h. den Beleg der Urheberschaft der Aussage, die<br />
etwaige Anwendung verfahrensrechtlicher Eingriffsbefugnisse<br />
und die Gewährung strafprozessualer Fürsorgepflichten sowie<br />
die Ausübung der Amtsermittlungspflichten (Bekanntmachung<br />
mit dem Verfahrensgegenstand, Rechte gem. §§ 55,<br />
4<br />
Meyer-Mews, NJW 2004, 716; Uetermeier, NJW 2002,<br />
2298.<br />
5<br />
Vgl. Eisenberg, Das Beweisrecht der StPO, 7. Aufl. 2011,<br />
Rn. 1332.<br />
6<br />
Rieß, in: Erb u.a. (Hrsg.), Löwe/Rosenberg, Die Strafprozessordnung<br />
und das Gerichtsverfassungsgesetz, Bd. 5, 26.<br />
Aufl. 2008, § 168a Rn. 22 ff.<br />
7<br />
Kühne, StV 1991, 103; vgl. BT-Drs. 8/976, S. 40 ff.<br />
8<br />
Rieß (Fn. 6), § 168a Rn. 24.<br />
9<br />
Vgl. Dittmar, Transkription, 3. Aufl. 2009, S. 23; das Standardwerk<br />
der Transkription in den Sozial- und Sprachwissenschaften<br />
führt zum Unterschied zu juristischen Protokollen<br />
aus: „Während Transkriptionen authentische Formaspekte der<br />
Kommunikation und Konversation wiedergeben, sollen Protokolle<br />
authentische <strong>Inhalt</strong>e als gültige ‚Wahrheiten‘ wiedergeben.“<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />
551
Frank Buckow<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
136 StPO) bezieht und sich das Protokoll nicht bloß auf den<br />
durch den Vernehmenden vermittelten <strong>Inhalt</strong> beschränkt.<br />
3. Technische Fragen<br />
Digitalrekorder sind analogen Systemen vorzuziehen. Nach<br />
dem heutigen Stand der Technik sind Digitalrekorder kleine<br />
Geräte, die in der Vernehmungssituation selbst nicht auffallen<br />
und damit keine „technische Hürde“ darstellen. Die Qualität<br />
der integrierten Mikrofone ist hervorragend. 10 Die Aufnahme<br />
kann nach der Transkription auf eine CD oder DVD<br />
gebrannt und der Akte beigegeben werden. Eine versehentliche<br />
Löschung ist nach einer Finalisierung nicht mehr möglich.<br />
Eine gewünschte Passage des Textes muss nicht durch<br />
mühsames Vor- oder Zurückspulen auf einem Band gesucht,<br />
sondern kann über eine Index-Ansicht ohne Zeitverlust gefunden<br />
werden. Ferner ist eine einfache Überspielung vom<br />
Digitalrekorder und Verarbeitung, d.h. Transkription auf einem<br />
Computer möglich.<br />
Audiodateien unterliegen einer mehr- oder weniger starken<br />
Audiodatenkompression, um Speicherplatz zu sparen. Normale<br />
Diktiergeräte verwenden oft DSS-Dateiformate, die eine<br />
schlechte Tonqualität aufweisen, ähnlich wie normale MP3-<br />
Player. 11 Die Aufnahme sollte in dem unkomprimierten Format<br />
WMA (Windows Media Audio) oder in AIFF (Audio<br />
Interchange File Format) erfolgen, die über eine ausgezeichnete<br />
Qualität verfügen.<br />
4. Transkription<br />
Da es sich nach § 168a Abs. 2 StPO bei der Aufnahme mit<br />
einem Digitalrekorder lediglich um eine „vorläufige“ Aufzeichnung<br />
handelt (und nicht um das Beweismittel an sich),<br />
muss eine Transkription, d.h. eine Verschriftung der Aufnahme<br />
erfolgen.<br />
Hier beginnen Schwierigkeiten, die von den Gesetzentwürfen<br />
nicht erfasst werden und in der forensischen Praxis zu<br />
Problemen führen.<br />
Es gibt keine allgemein verbindlichen Regeln zur Transkription<br />
in der Rechtswissenschaft und -praxis. In den Sozial-<br />
und Sprachwissenschaften existieren dagegen mehrere Transkriptionssysteme<br />
und -richtlinien. 12<br />
Die Übertragung der Audiodaten in die Schriftform stellt<br />
bereits eine Interpretation und Reduktion der Daten dar, die<br />
sich auf die spätere Auswertung und Beweiswürdigung aus-<br />
10<br />
Der Verf. benutzt den digitalen Linear PCM Recorder LS-5<br />
der Fa. Olympus.<br />
11<br />
Kuckartz/Dresing/Rädiker/Stefer, Qualitative Evaluation,<br />
2007, S. 26.<br />
12<br />
Statt vieler: Kuckartz, Einführung in die computergestützte<br />
Analyse qualitativer Daten, 3. Aufl. 2010, S. 45; Dresing/<br />
Pehl, Praxisbuch Interview und Transkription, 4. Aufl. 2012;<br />
unter www.audiotranskription.de (1.11.2012) findet sich eine<br />
gute Übersicht.<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
552<br />
<strong>ZIS</strong> 11/2012<br />
wirkt. 13 Das geeignete Transkriptionssystem ist zu definieren,<br />
d.h. die Regeln, wie Sprache in eine fixierte Form übertragen<br />
wird, sind festzulegen. 14 Es muss vorher Klarheit darüber<br />
bestehen, was transkribiert wird und welche sprachlichen<br />
Phänomene später überhaupt interpretiert werden sollen. 15<br />
Als Transkriptionssystem bietet sich die sogenannte „literarische<br />
Umschrift“ 16 für juristische Zwecke an, die im Falle<br />
der Notwendigkeit einer vollständigen Texterfassung die<br />
Umgangssprache nebst Dialekten und sonstigen Besonderheiten<br />
ohne Korrekturen erfasst. Es gilt die Grundregel: „Verschrifte<br />
weitgehend das, was du hörst, weitgehend so, wie du<br />
es hörst.“ 17<br />
Bei der „kommentierten Transkription“ werden sowohl<br />
verbale als auch nonverbale Informationen mit Notationszeichen<br />
erstellt, die über das Wortprotokoll hinausgehen. Zum<br />
Beispiel werden für kurze Pausen zwei Punkte verwendet.<br />
Eine Betonung oder laute Äußerung wird durch Unterstreichung<br />
markiert etc. 18 Die für die Interpretation ebenfalls<br />
wichtige Körpersprache der Beweisperson kann so natürlich<br />
nicht erfasst werden. „Notation“ meint dabei die schriftliche<br />
Fixierung der Kommunikation und der damit zusammenhängenden<br />
Prozesse mit vereinbarten Symbolen. 19 Eine Übertragung<br />
für den Strafprozess sollte sich an der „literarischen<br />
Umschrift“ und „kommentierten Transkription“ orientieren.<br />
Der Übertragung kommt deshalb besondere Bedeutung<br />
zu, weil sich sonst die Probleme wiederholen, die bei der<br />
Verwendung des sogenannten <strong>Inhalt</strong>sprotokolls in ähnlicher<br />
Weise auftreten. In die Übertragung müssen deshalb Dialektfärbungen,<br />
Pausen, Betonungen, alle paraverbalen Äußerungen<br />
wie Lachen, Seufzen, zustimmende bzw. bestätigende<br />
Äußerungen, Redundanzen, Wort- und Satzabbrüche, Versprecher,<br />
gleichzeitiges Sprechen etc. aufgenommen werden. 20<br />
Für die Transkription sollten deshalb u.a. Regeln für folgende<br />
Probleme aufgestellt und von einer entsprechend geschulten<br />
Kanzleikraft berücksichtigt werden:<br />
Festlegung von Sprecherbeitragsüberlappungen, Notierung<br />
von Feedbacksignalen („Hm“ etc.), Wortabbrüchen, Pausenfestlegungen,<br />
Akzenten, Dehnungen von Lauten, der Anhebung<br />
der Stimme, Vokalisierungen wie Lachen, schweres<br />
Atmen, verursachter Umgebungsgeräusche durch die Kommunikationsteilnehmer,<br />
Vermerken der Sprechgeschwindigkeit<br />
und -pausen (Prosodie).<br />
Die Transkription sollte mit entsprechenden Transkriptionsprogrammen<br />
nach Einspielen der Audiodatei in einen<br />
Computer erfolgen, und gegebenenfalls Zeit und Textmarken<br />
aufweisen, um insbesondere bei umfangreichen Texten später<br />
13<br />
S. Höld, in: Buber/Holzmüller (Hrsg.), Qualitative Marktforschung,<br />
Konzept – Methoden – Analysen, 2. Aufl. 2009,<br />
S. 657.<br />
14<br />
Kuckartz (Fn. 12), S. 37 ff.<br />
15<br />
Kuckartz (Fn. 12), S. 37 ff.<br />
16<br />
Höld (Fn. 13), S. 616.<br />
17<br />
Kruse, zitiert bei Höld (Fn. 13), S. 661.<br />
18<br />
Höld (Fn. 13), S. 661.<br />
19<br />
Höld (Fn. 13), S. 661.<br />
20<br />
Vgl. Kuckartz (Fn. 12), S. 43; Dittmar (Fn. 9), S. 52, 234;<br />
Kallmeyer/Schütze, Studium Linguistik, Bd. 1, 1976, S. 1 ff.
Der Einsatz „neuer Medien“ im Dezernat des Ermittlungsrichters<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
eine bessere Handhabung zu ermöglichen. 21 Die Grenzen der<br />
Übertragbarkeit fangen an, wenn mehrere Verfahrensbeteiligte<br />
Fragerügen erheben oder Dolmetscher beteiligt sind.<br />
Beschuldigte oder Zeugen mit Migrationshintergrund unterscheiden<br />
sich dabei nicht nur durch Werthaltungen, sondern<br />
auch durch eine andere soziale Wahrnehmung und Kommunikation,<br />
die zu Mehrdeutigkeiten führen kann und ganz neue<br />
Anforderungen nicht nur an eine interkulturelle Gesprächsführung,<br />
sondern auch an die Übertragung stellt.<br />
Ein weiteres Problem der Verwendung von Tonträgern<br />
stellt der Zeitverlust dar. Selbst bei Verwendung einer modernen<br />
Übertragungssoftware und eines programmierbaren Fußschalters,<br />
mit deren Hilfe die Aufnahme beispielsweise in ein<br />
Word-Dokument überführt werden kann, entspricht die Transkriptionsdauer<br />
einem Verhältnis von 1 zu 5 bis 1 zu 10, 22<br />
d.h. eine Stunde Vernehmung entspricht mindestens fünf Stunden<br />
Übertragungszeit. Eine Stunde Aufnahme ergibt ca. 25-<br />
60 Seiten schriftliche Übertragung. 23<br />
Inwieweit in Zukunft automatisierte Übersetzungssysteme<br />
24 bei der Vernehmung von Ausländern Abhilfe schaffen<br />
können, bleibt abzuwarten. Eine Verkürzung der Übertragungszeiten<br />
könnte durch eine Kombination von Spracherkennung<br />
und Audioaufnahme erreicht werden. 25 Das setzt<br />
voraus, dass die Übertragungsperson, deren Stimme an das<br />
Spracherkennungssystem angepasst wurde, die vorläufige Aufzeichnung<br />
von der Digitalaufnahme in das Spracherkennungssystem<br />
spricht und der Text dann automatisch verschriftet<br />
wird. Dabei werden allerdings die non- und paraverbalen<br />
Äußerungen des Vernommenen unterschlagen. 26 Ein<br />
sehr eindringliches Transkriptionsbeispiel stellt der 1. Frankfurter<br />
Auschwitz-Prozess von 1963-1965 dar. Das Frankfurter<br />
Schwurgericht hatte beschlossen (ebenso später das OLG<br />
Stuttgart in den Verfahren gegen Mitglieder der RAF in<br />
Stammheim 1975-1977) 27 , die Aussagen der Angeklagten und<br />
Zeugen, nebst Befragungen und Kontroversen zwischen Pro-<br />
21 Eine Transkriptionssoftware findet sich u.a. kostenfrei bei<br />
www.audiotranskription.de (1.11.2012).<br />
22 Kuckartz (Fn. 11), S. 29, das entspricht auch den Erfahrun-<br />
gen des Verf.<br />
23 Kuckartz, zitiert bei Höld (Fn. 13), S. 664 s. auch Fn. 42.<br />
24 Vgl. z.B. die Programme von Languageweaver (unter<br />
Languageweaver.com [1.11.2012]), die bereits als forensische<br />
Software eingesetzt werden. Angelsächsische Gerichte<br />
verwenden LiveNote oder RealLegal E-Transcript, in dem<br />
das gesprochene Wort in der Verhandlung über Protokolleingabe<br />
live verschriftet und über einen Stream als Transkription<br />
auf die Bildschirme anderer Verfahrensbeteiligter überspielt<br />
wird, vgl.<br />
http://store.westlaw.com/reallegal/default.aspx (1.11.2012).<br />
25 http://www.audiotranskription.de/spracherkennung-interviews<br />
(1.11.2012).<br />
26 Versuche ergaben keine Beschleunigung, Dresing/Pehl/<br />
Lombardo, Forum Qualitative Social Research Sozialforschung<br />
9 (2008), Art. 17, abrufbar unter<br />
www.qualitative-research.net/index.php/fqs/article/view/418/<br />
906 (1.11.2012).<br />
27 Schönherr, Die Stammheim Ton-Bänder, 2008 (Audio-CD).<br />
zessbeteiligten, auf Tonbänder aufzunehmen, um über eine<br />
Erinnerungsstütze für die Urteilsfindung zu verfügen.<br />
Das Fritz-Bauer-Institut Frankfurt am Main und das Staatliche<br />
Museum Auschwitz-Birkenau haben 2004 (2. Aufl. 2007)<br />
eine Dokumentation 28 nebst umfangreichen Hörbeispielen und<br />
einer Transkription herausgegeben, die die ganze Palette der<br />
Schwierigkeiten einer sachgerechten Übertragung gerade bei<br />
ausländischen Zeugen belegt. Es wird in einer Vorbemerkung<br />
die Art und Weise der Transkription beispielhaft erläutert und<br />
die Verwendung bestimmter Zeichen in einer Art Legende<br />
erklärt. Die Transkription selbst zeigt aber auch, dass sich der<br />
über die reine Wortbedeutung hinausgehende Informationsgehalt<br />
des gesprochenen Wortes in seinem jeweiligen Kontext<br />
und der konkreten Sprechsituation nur schwer erfassen<br />
lässt. Z.B. werden Zeugen bei der Schilderung von Tötungsdelikten<br />
leiser, weinen oder geraten mit ihrer Schilderung ins<br />
Stocken.<br />
Der Gesetzentwurf der Bundesrechtsanwaltskammer sieht<br />
zwar keine Verschriftung für das Hauptverhandlungsprotokoll<br />
vor dem Landgericht oder Oberlandesgericht vor, aber weiterhin<br />
die Geltung des § 168a StPO in unveränderter Fassung<br />
für das Ermittlungsverfahren mit allen zuvor aufgezeigten<br />
Problemen.<br />
5. Einführung in die Hauptverhandlung<br />
In der Hauptverhandlung kann die Audioaufnahme einer Vernehmung<br />
bisher als „berichtende Tonaufnahme“ eingeführt<br />
werden. 29<br />
Die obergerichtliche Rechtsprechung lässt zumindest eine<br />
zusätzliche und ergänzende Verwertung nach der mündlichen<br />
Aussage der Beweispersonen zu. 30 Unter entsprechender Anwendung<br />
von § 253 StPO kann die aufgenommene Vernehmung<br />
zur Unterstützung des Gedächtnisses des Vernehmungsbeamten<br />
verwertet werden. Bei der Vernehmung von Beschuldigten<br />
ist die wörtliche Audioaufnahme in der Hauptverhandlung<br />
abspielbar, da § 254 StPO nicht entgegensteht.<br />
Es besteht nicht die Gefahr einer verfälschenden Protokollierung,<br />
die nach der gesetzlichen Wertung nur bei richterlichen<br />
Protokollen ausgeschlossen wäre. 31<br />
Die Audioaufnahme ist jedoch in den Fällen des Zeugnisverweigerungsrechts<br />
im Rahmen des § 255a Abs. 1 StPO nicht<br />
direkt einführbar, sondern nur die Vernehmung des Ermittlungsrichters.<br />
Der Bundesgerichtshof hat für die Videokonserve<br />
eines zeugnisverweigerungsberechtigten Zeugen außerhalb<br />
des Anwendungsbereichs des § 255a Abs. 2 StPO entschieden,<br />
dass sie die Aussage des Ermittlungsrichters im Rahmen<br />
des § 252 StPO aufgrund der gesetzgeberischen Wertung<br />
nicht ersetzen kann, obwohl sie das verlässlichere Be-<br />
28<br />
Fritz Bauer Institut Frankfurt a.M./Staatliches Museum<br />
Auschwitz-Birkenau, Der Auschwitz-Prozeß, 2. Aufl. 2007<br />
(DVD); vgl. Wojak, Auschwitz-Prozeß 4 Ks 2/63, 2004,<br />
S. 266 f.<br />
29<br />
Eisenberg (Fn. 5), Rn. 2283 ff.<br />
30<br />
BGH NJW 1960, 1582.<br />
31<br />
Vgl. BGHSt 27, 135; BGH NStZ 2009, 280.<br />
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Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />
553
Frank Buckow<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
weismittel wäre. 32 Dies diskutiert der Entwurf der BRAK leider<br />
nicht.<br />
II. Videovernehmung<br />
Die Videovernehmung eines Beschuldigten ist bisher gesetzlich<br />
nicht geregelt. Sie bedarf der ausdrücklich erklärten Einwilligung<br />
des Beschuldigten.<br />
Allerdings wäre eine entsprechende richterliche Videovernehmung<br />
nach geltendem Recht nicht nach § 254 StPO<br />
einzuführen, da diese Vorschrift aus dem Katalog des § 255a<br />
Abs. 1 StPO ausgeschlossen wurde. 33 Die audiovisuelle Vernehmung<br />
des Beschuldigten empfiehlt sich schon deshalb, weil<br />
bereits Nr. 45 Abs. 2 RiStBV vorsieht, bedeutsame Teile der<br />
Vernehmung wörtlich in eine Niederschrift aufzunehmen und<br />
ein Geständnis mit den Worten des Beschuldigten wiederzugeben.<br />
Der Entwurf der Bundesrechtsanwaltskammer zu § 136<br />
Abs. 4 n.F. StPO sieht die Pflicht zur audiovisuellen-Aufzeichnung<br />
der Beschuldigtenvernehmung in den Fällen einer<br />
zu prognostizierenden Mitwirkung eines Rechtsanwalts gem.<br />
§ 140 Abs. 1 und 2 StPO und eine Einführung in die Hauptverhandlung<br />
über § 254 Abs. 3 StPO vor. Damit wird dann<br />
auch jede Vernehmung durch den Haftrichter gem. §§ 127 f.,<br />
115, 115a, 117 f. StPO bei Festnahmen aufgrund bestehenden<br />
Haftbefehls oder mit der Zielrichtung des Haftbefehlserlasses<br />
(auch im Rahmen von Haftprüfungen) aufzeichnungspflichtig,<br />
da § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO zu beachten ist.<br />
In der Praxis ergeben sich die folgenden Probleme:<br />
1. Die Videoaufnahme sollte Datum und Uhrzeit (in Echtzeit)<br />
beinhalten.<br />
2. Den Zeugen, insbesondere Kindern, ist die audiovisuelle<br />
Vernehmung zu erklären. Sie ist nicht heimlich durchzuführen.<br />
Bei Kindern, aber auch bei erwachsenen Zeugen,<br />
kann die Situation der Videovernehmung „triggern“, d.h. die<br />
Erinnerung an Traumata erzeugen. 34 Das ist insbesondere bei<br />
Opfern sexueller Gewalt der Fall, die bei der Tat fotografiert<br />
oder gefilmt wurden.<br />
3. Es sollten zwei Kameras im Einsatz sein. Die eine Kamera<br />
sollte alle im Vernehmungsraum anwesenden Personen<br />
aufnehmen (eventuell eine Rundumkamera). Eine weitere<br />
Kamera sollte speziell den zu vernehmenden Zeugen aufnehmen<br />
und „Zoom“-Einstellungen ermöglichen.<br />
Bei der Aufzeichnung mit zwei Kameras und einer etwaigen<br />
späteren Bildbearbeitung im Rahmen einer Videoanalyse<br />
wäre analog der Verfahrensweise bei Telefonüberwachungsaufnahmen<br />
die originäre Rohfassung der Aufnahme versiegelt<br />
zu hinterlegen (bei Verwendung einer DVD als Speichermedium:<br />
nach deren Finalisierung). 35<br />
4. Das in der Praxis häufig praktizierte Mitlaufenlassen<br />
von Diktiergeräten o.ä. zur späteren Protokollübertragung erübrigt<br />
sich, da es (teilweise kostenfreie) Übertragungssoft-<br />
32<br />
BGH NStZ 2004, 390.<br />
33<br />
Vgl. Diemer, NJW 1999, 1667 (1673).<br />
34<br />
Englisch: Auslösen.<br />
35<br />
Das Finalisieren einer CD-R, d.h. das Schreiben eines <strong>Inhalt</strong>sverzeichnisses,<br />
ist notwendig, um eine CD-R oder DVD-<br />
R von einem CD- oder DVD-Laufwerk lesen zu lassen.<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
554<br />
<strong>ZIS</strong> 11/2012<br />
ware gibt, mit deren Hilfe die Audiotranskription direkt am<br />
PC von der Videoaufnahme erfolgen kann. 36<br />
5. Es ist umstritten, ob „Zoomen“ erlaubt ist. Unter Bezugnahme<br />
auf die Polygraphen-Entscheidung des Bundesgerichtshofes<br />
37 scheint eine ohne Einwilligung des Zeugen erfolgende<br />
Dokumentation der Vernehmung in detaillierter<br />
Form, die über die Aufnahme einer „normalen“ Gesprächssituation<br />
hinausgeht, unzulässig zu sein. 38 Die Frage ist dann,<br />
ab welcher Kameraeinstellung mit welchem Winkel etc. ein<br />
Grundrechtseingriff in das informationelle Selbstbestimmungsrecht<br />
und die Persönlichkeit des Zeugen vorliegt, wenn man<br />
die Regeln für die sequenzielle Videowahlgegenüberstellung<br />
i.S.d. §§ 58 Abs. 2, 81a StPO betrachtet. 39 Der Bundesgerichtshof<br />
verlangt außerdem im Rahmen von Glaubwürdigkeitsbegutachtungen<br />
im Interesse einer besseren Dokumentation<br />
Audio- und gegebenenfalls Videoaufnahmen, da nur<br />
dann eine Beurteilung erfolgen kann, welche Aussagequalitäten<br />
bei den Schlussfolgerungen zur Glaubhaftigkeitseinschätzung<br />
verwertet werden können. 40<br />
Die Digitalisierung lässt ohnehin die Analyse und Evaluierung<br />
in einem Umfang zu, der über die Bearbeitungsmöglichkeiten<br />
analoger Medien weit hinausgeht. 41 Im Spannungsfeld<br />
zwischen dem Gebot des „bestmöglichen Beweises“ und<br />
dem Verbot der „Wahrheitsermittlung um jeden Preis“ ist angesichts<br />
der fortschreitenden Digitalisierung Spielraum für<br />
die Bearbeitung der Videodaten, d.h. nicht deren Verfälschung,<br />
sondern der Transkription, Analyse und Präsentation. 42<br />
6. Das technische Handling sollte nicht dem Richter überlassen<br />
werden, da dieses sowohl ihn als auch den Zeugen zu<br />
sehr ablenkt. Es sollte eine Steuerung der Einstellungen und<br />
der Aufnahmen außerhalb des Vernehmungsraumes durch eine<br />
weitere Person erfolgen. Diese Person sollte über ein Headset<br />
mit dem Richter verbunden sein und von diesem Anweisungen<br />
zur Aufnahme erhalten können. Ebenso sollten bei<br />
kindlichen Zeugen anwesenheits- und frageberechtigte Personen<br />
über das Headset an den Richter Fragen stellen oder Einwände<br />
erheben können, die der Richter dann zu berücksichtigen<br />
hat. In einigen Fällen wird die Kommunikation über<br />
Computer abgewickelt, d.h. der Richter erhält die zu stellenden<br />
Fragen über einen Bildschirm angezeigt, ohne dass die<br />
Beweisperson davon Kenntnis erlangt.<br />
36<br />
www.audiotranskription.de (1.11.2012); Schwab, Online-<br />
Zeitschrift zur verbalen Interaktion 2006, 70, abrufbar unter<br />
http://www.gespraechsforschung-ozs.de/heft2006/px-schwab.<br />
pdf (1.11.2012).<br />
37<br />
BGH NJW 1999, 657.<br />
38<br />
Vgl. Rieck, „Substitut oder Komplement?“, Die Videofernvernehmung<br />
von Zeugen gem. § 247a StPO, 2003, S. 186 ff,<br />
189.<br />
39<br />
Vgl. BGH NStZ 2005, 458 zum anthropologischen Identitätsgutachten.<br />
40<br />
S. BGH NStZ 2001, 45; BGH NJW 1999, 2746.<br />
41<br />
Vgl. Knoblauch/Schnettler/Raab/Soeffner, Video Analysis,<br />
Methodology and Methods, Qualitative Audiovisual Data<br />
Analysis in Sociology, 2006, passim.<br />
42<br />
Zur mimischen Lügenerkennung Geipel/Pavlicek, DRiZ<br />
2007, 235; Geipel/Nill, DRiZ 2007, 250.
Der Einsatz „neuer Medien“ im Dezernat des Ermittlungsrichters<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
Die rechtliche Einordnung eines „Technikers“, der im<br />
Falle des § 58a StPO das audiovisuelle „Protokoll“ führt, ist<br />
bisher nur ansatzweise und vereinzelt behandelt worden. 43<br />
Der Techniker übernimmt die Verantwortung für die ordnungsgemäße<br />
Errichtung des „audiovisuellen Protokolls“. Fraglich<br />
ist dann, ob dem Techniker die Qualität eines Urkundsbeamten<br />
der Geschäftsstelle zukommen muss. 44<br />
7. Die Videoaufnahme muss die gesamte Vernehmung,<br />
d.h. das Vorgespräch, die Belehrung, Pausen und das Ende<br />
der Vernehmung aufzeichnen. Es sind auch generell die Bestimmungen<br />
des § 168a StPO zu beachten. Der Zeuge soll,<br />
sofern es sich nicht um ein Kind handelt, das Protokoll genehmigen<br />
und wenn möglich bei vorläufigen Aufzeichnungen<br />
unterschreiben bzw. befragt werden, ob er auf das erneute<br />
Vorspielen der Aufzeichnung verzichtet. Ferner ist er über<br />
sein Widerspruchsrecht nach § 58a Abs. 2 und 3 StPO zu belehren.<br />
Dies kann weitgehend in Form der Videoaufnahme<br />
geschehen. Eine Unterschrift wird in der Praxis in der Regel<br />
auf einem Mantelbogen, der die Belehrungen etc. enthält, für<br />
das zu fertigende Protokoll geleistet, auf dem sich auch die<br />
vorerwähnten Hinweise und Belehrungen i.S.d. §§ 168a, 58a<br />
StPO befinden. Ob diese Praxis der Intention des Gesetzgebers<br />
zuwider läuft, ist angesichts der lückenhaften Regelung<br />
des § 58a StPO und seinem unklaren Verhältnis zu § 168a<br />
StPO fraglich.<br />
8. Zum Protokoll: In der Regel wird bei § 58a StPO von<br />
der Zuziehung eines Protokollführers abgesehen werden können.<br />
Es ist aber auch der Fall denkbar, dass ein Protokollführer<br />
während der Videovernehmung anwesend ist und ein <strong>Inhalt</strong>sprotokoll<br />
durch den vernehmenden Richter diktiert wird,<br />
was wiederum die Videoaufnahme dokumentiert. Hier wird<br />
in besonders eindringlicher Weise klar, dass sich die Videoaufnahmen<br />
in ihrer rechtlichen Qualität erheblich von der<br />
vorläufigen Aufzeichnung i.S.d. § 168a StPO unterscheiden.<br />
Die Videoaufnahme wird nebst Audiospur zum eigenständigen<br />
Beweismittel und steht insoweit unter Berücksichtigung<br />
des § 255a StPO auf einer höheren Stufe als die vorläufige<br />
Aufzeichnung, die lediglich zum Nachweis der unrichtigen<br />
Überragung in das höherrangige Wortprotokoll herangezogen<br />
werden darf. Der Unterschied liegt in dem visuellen Element.<br />
Insoweit ist es fragwürdig, ob überhaupt Genehmigungen und<br />
Unterschriftleistungen nach § 168 a StPO zu verlangen sind,<br />
da von dem Zeugen und den an der Verhandlung Beteiligten<br />
(vgl. den ausdrücklichen Wortlaut des § 168a Abs. 3 S. 1<br />
StPO), also auch Anwälten, Zeugenbeiständen, Staatsanwälten,<br />
nicht verlangt werden kann, den durch die Situation der<br />
Vernehmung vermittelten „visuellen Informationsgehalt“ der<br />
Videovernehmung zu genehmigen. Der Gesetzgeber hatte nach<br />
dem ursprünglichen Entwurf 45 eine vollständige wortwörtliche<br />
Übertragung der Videovernehmung ausgeschlossen, da nur<br />
Teile davon verfahrensrelevant sein sollten und der Schreib-<br />
43 Ausführlich Helmig, Anwendbarkeit und Zweckmäßigkeit<br />
der Videotechnik zum Schutz von Zeugen vor Belastungen<br />
durch das Strafverfahren, 2000, S. 103 f.<br />
44 Vgl. Helmig (Fn. 43), S. 104; vgl. zum Justizangestellten<br />
als Protokollführer: BGH NStZ 1984, 564.<br />
45 Bundesratsentwurf, BT-Drs. 13/4983, S. 5.<br />
dienst der Gerichte nicht überlastet werden sollte. Eine Klärung<br />
wurde der richterlichen Praxis überlassen.<br />
Die Bundesregierung war dem entgegengetreten, da für<br />
jede richterliche Untersuchungshandlung die §§ 168, 168a<br />
StPO gelten. Entsprechende Regelungen sollten in die RiSt-<br />
BV aufgenommen werden. 46 Das ist bis heute nicht geschehen.<br />
Es ist umstritten, ob lediglich eine Verschriftung des Videos,<br />
d.h. eine <strong>Inhalt</strong>sangabe, erfolgen 47 oder ein Protokoll<br />
i.S.d. § 168a StPO gefertigt werden soll. § 58a StPO trifft dazu<br />
keine generelle Aussage. Nur im Falle des Widerspruchs<br />
des Zeugen gegen eine Überlassung einer Kopie der Aufzeichnung<br />
seiner Vernehmung an die zur Akteneinsicht Berechtigten,<br />
ist eine Übertragung der Aufzeichnung in ein schriftliches<br />
Protokoll vorgesehen (s. § 58a Abs. 3 S. 1 und 2 StPO).<br />
Es sollte dann eine vollständige Übertragung i.S.d. § 168a<br />
StPO stattfinden, da es sich hinsichtlich des Audiobestandteils<br />
der Videovernehmung um eine vorläufige Aufzeichnung<br />
handelt und sich die weitere Aktenbearbeitung, sei es der<br />
Papierakte, sei es der elektronischen Akte, bisher noch vordringlich<br />
am Wort orientiert. 48<br />
9. Die Mitwirkungsrechte des Beschuldigten und eines<br />
Verteidigers sind in besonderer Weise zu beachten, um eine<br />
Verwertung der audiovisuellen Vernehmung durch Transfer<br />
in die Hauptverhandlung zu ermöglichen.<br />
Im strengsten Fall gem. § 255a Abs. 2 StPO, bei dem es<br />
um Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung, Tötungsdelikte<br />
und ähnlich schwere Delikte geht, kann die konservierte<br />
audiovisuelle Vernehmung die Zeugenaussage in der<br />
Hauptverhandlung nur ersetzen, wenn der Beschuldigte und<br />
sein Verteidiger Gelegenheit hatten, an der richterlichen Vernehmung<br />
mitzuwirken. Das gilt selbst dann, wenn nur der<br />
Verteidiger an der Vernehmung teilgenommen hat. 49 In den<br />
Fällen des § 255 a Abs. 1 StPO kann das Recht auf konfrontative<br />
Befragung gem. Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK verletzt sein,<br />
wenn der Beschuldigte ausgeschlossen wird und über die<br />
Fälle des §§ 140 Abs. 1 und 2 StPO hinaus zur Wahrnehmung<br />
des Fragerechts kein Verteidiger bestellt wird. 50 In diesen<br />
Fällen wird der Beweiswert des richterlichen Vernehmungsergebnisses<br />
derart gemindert, dass andere gewichtige<br />
Gesichtspunkte außerhalb der Aussage vorliegen müssen, um<br />
das Ergebnis der richterlichen Vernehmung zu bestätigen.<br />
III. Einsatz der Videotechnik im Rahmen der Haftprüfung<br />
Reformvorschläge zur Art und Weise der Durchführung einer<br />
Haftprüfung beruhen auf dem Gedanken der Kosteneinsparung<br />
z.B. für Gefangenentransporte, auf Gesichtspunkten der<br />
Verfahrenserleichterung für die Beteiligen (Transportumstände<br />
46<br />
Bundesregierung, BT-Drs. 13/4983, S. 10.<br />
47<br />
Wiesneth, Handbuch für das ermittlungsrichterliche Verfahren,<br />
2006, Rn. 588.<br />
48<br />
Vgl. zur Einordnung von Vernehmungsperson, Videokonserve<br />
und Protokoll Kölbel, NStZ 2005, 220, wobei die Problematik<br />
des transkribierten Wortprotokolls nicht behandelt<br />
wird.<br />
49<br />
BGH NJW 2004, 1605.<br />
50<br />
BGH NJW 2007, 237; BGH NJW 2000, 3505.<br />
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Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />
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Frank Buckow<br />
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und Wartezeiten für die Beschuldigten sowie Terminkollisionen,<br />
Fahrtwege für die Verteidiger) und auf Sicherheitsgesichtspunkten<br />
(Fluchtgefahr bei Transporten, Sicherheitsbedarf<br />
bei Gewalttätern etc.).<br />
1. Der Einfluss technischer Aspekte der Videokonferenz<br />
Er bezeichnet den Oberbegriff einer technisch vermittelten<br />
audiovisuellen Telekommunikationsform, die leitungsgebunden<br />
über ISDN oder andere Netze erfolgt. 51 Die klassische<br />
Videokonferenzform wird mit zwei Bildschirmen oder einem<br />
geteilten Bildschirm auf jeder Seite der Konferenzteilnehmer<br />
durchgeführt. Dadurch sieht der Konferenzteilnehmer einmal<br />
das Gegenüber und zum anderen auf einer Art Kontrollbildschirm<br />
oder einem Kontroll-Bildausschnitt das Bild, das dem<br />
anderen Teilnehmer übertragen und vor Augen geführt wird.<br />
Es kann bei der Übertragung des Videosignals in Abhängigkeit<br />
von der bereit stehenden Übertragungskapazität und dem<br />
Umfang des übertragenen Datenmaterials zu Verzögerungen<br />
vor allem des Audiosignals bis zu einer Sekunde kommen. 52<br />
Auch die Bildauflösung und die Bildwiederholungsrate sind<br />
von Bedeutung, da Verluste von Details und damit der veränderten<br />
Wahrnehmung des Gegenübers entstehen können. 53 Es<br />
handelt sich aufgrund der technisch bedingten teilweisen Verschiebung<br />
und den Asynchronitäten „um zwei Sequenzen von<br />
Kommunikationsereignissen“, die auf die Erwartung der jeweiligen<br />
Kommunikationsteilnehmer trifft, sich nur „einer<br />
ungeteilten Sequenz“ gegenüber zu sehen. 54 Die Wahrnehmung<br />
der Teilnehmer einer Videokonferenz unterscheidet sich<br />
von einer „direkten“ Kommunikation erheblich. Der Teilnehmer<br />
sieht auf dem eigenen Monitor (oder einem zweiten)<br />
das Videobild seiner eigenen Person und das Videobild des<br />
Gegenübers sowie eventuell noch das Videobild eines über<br />
eine Dokumentenkamera oder über ein Anwendungsprogramm<br />
(application sharing) eingeblendetes Schriftstück. Es<br />
kommt praktisch nicht zu einem gleichzeitigen direkten Au-<br />
51<br />
Pohl/Schmitz/Schulte, Videokonferenz als Form technisch<br />
vermittelter Kommunikation, 2006, S. 1.<br />
52<br />
Friebel/Loenhoff/Schmitz/Schulte, kommunikation@gesellschaft<br />
2003, Art. 1 S. 8, abrufbar unter<br />
http://www.soz.uni-frankfurt.de/K.G/<strong>Inhalt</strong>_alt.html#<strong>Inhalt</strong>_J<br />
g._4_2003: (1.11.2012).<br />
53<br />
Friebel/Loenhoff/Schmitz/Schulte, kommunikation@gesellschaft<br />
2003, Art. 1 S. 8 (vgl. Fn. 52).<br />
54<br />
Friebel/Loenhoff/Schmitz/Schulte, kommunikation@gesellschaft<br />
2003, Art. 1 S. 13 (vgl. Fn. 52); vgl. auch Meier, Arbeit<br />
als Interaktion, Videodokumentationen als Voraussetzung<br />
für die Untersuchung von flüchtigen Telekooperationsprozessen,<br />
1998, http://www.uni-giessen.de/~g31047/bericht2.pdf<br />
(1.11.2012).<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
556<br />
<strong>ZIS</strong> 11/2012<br />
genkontakt („eye contact dilemma“). 55 Die „raum-zeitliche<br />
Einheit“ der Verhandlung wird aufgelöst. 56<br />
Bei der Videokonferenz kann es zu Beeinträchtigungen<br />
der sogenannten „Backchannel-Kommunikation“ kommen.<br />
„Backchannel“-Signale sind Zwischenbemerkungen bzw.<br />
Zwischenlaute wie „mhm“ oder non- und paraverbale Signale<br />
der Gestik etc. 57 Derartige Signale kommen in der Videokonferenz<br />
aufgrund der Zeitverzögerung verspätet beim Gegenüber<br />
an, sie werden nicht vollständig übertragen oder es fehlt<br />
an einem Interpretationsrahmen mangels direkten Blickkontakts.<br />
58 Gänzlich andere und positive Erfahrungen hat Rieck<br />
hinsichtlich des Augenkontakts und der Tonverzögerung gemacht,<br />
59 so dass sich je nach der Qualität der technischen Anlage<br />
und der Übertragungswege die kommunikativen Probleme<br />
wesentlich verbessern lassen. Die Verwendung der Videokonferenz<br />
erfordert aber eine Medienkompetenz der Teilnehmenden,<br />
um Fehlinterpretationen zu vermeiden.<br />
Die gesamte Kommunikationsform unterscheidet sich auch<br />
bei Optimierung der technischen Gegebenheiten z.B. durch<br />
Probleme der Selbstwahrnehmung u.ä. erheblich von einer<br />
nichttechnisch vermittelten Kommunikation. 60 Der Bundesgerichtshof<br />
hat 1999 für die Videokonferenz i.S.d. § 247a<br />
StPO zu bedenken gegeben, „dass sich eine auf Distanz befragte<br />
Person dem durch Frage und Antwort entstehenden<br />
Spannungsverhältnis eher wird entziehen können, als in direktem<br />
Kontakt in ein und demselben Raum. Durch die technisch<br />
bedingte Distanz wird es zudem schwieriger sein, im<br />
Vorfeld der Aussage Hemmungen abzubauen, Vertrauen zu<br />
erwecken, sich selbst einen hinreichenden Eindruck von der<br />
individuellen Eigenart der Auskunftsperson und ihrem nonverbalen<br />
Aussageverhalten zu verschaffen“. 61<br />
Jedem Vernehmenden ist das Phänomen bekannt, dass bei<br />
der Beteiligung von Dolmetschern vor der Übersetzung in die<br />
Gerichtssprache Rückfragen durch diese an den Zeugen oder<br />
Beschuldigten erfolgen, die der Klarstellung des Gesagten dienen<br />
sollen. Der Vernehmende muss darauf achten, dass wörtlich,<br />
d.h. auch inhaltlich Unverständliches übersetzt wird und<br />
keine „Glättung“ durch den Dolmetscher erfolgt oder der<br />
Dolmetscher gar den Sinn der Frage oder des Vorhalts der<br />
Beweisperson erst erklärt, ohne dazu vom Vernehmenden auf-<br />
55<br />
Körschen/Pohl/Schmitz/Schulte, Forum Qualitative Social<br />
Research Sozialforschung 2002, Art. 19, im Internet unter<br />
http://www.qualitative-research.net/fqs-texte/2-02/2-<br />
02koerschenetal-d.htm#g51 (1.11.2012).<br />
56<br />
S. Marxen/Weinke, Inszenierungen des Rechts, Schauprozesse,<br />
Medienprozesse und Prozessfilme in der DDR, 2006,<br />
passim.<br />
57<br />
Braun, Kommunikation unter widrigen Umständen?, Fallstudien<br />
zu einsprachigen und gedolmetschten Videokonferenzen,<br />
2004, S. 52.<br />
58<br />
Braun (Fn. 57), S. 54.<br />
59<br />
Rieck (Fn. 38), S. 128 ff.<br />
60<br />
Friebel/Loenhoff/Schmitz/Schulte, kommunikation@gesellschaft<br />
2003, Art. 1 S. 8 (vgl. Fn. 52).<br />
61<br />
S. BGH NJW 1999, 3788; ähnliche Probleme ergeben sich<br />
bei der fernmündlichen Anordnung von Zwangsmaßnahmen,<br />
die unter Richtervorbehalt stehen.
Der Einsatz „neuer Medien“ im Dezernat des Ermittlungsrichters<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
gefordert worden zu sein. Ethnische und kulturelle Unterschiede,<br />
die ohnehin eine gesonderte Problematik in der<br />
Sinnerfassung einer Aussage darstellen, werden dadurch noch<br />
verschärft. Bei Videokonferenzen kann sich diese Problematik<br />
zuspitzen, da die technisch bedingten Sprechpausen, insbesondere<br />
die verzögerte Tonübertragung, dazu führen können,<br />
dass der Dolmetscher von dem Vernommenen in den<br />
Pausen befragt wird oder sich weiter äußert und der Dolmetscher<br />
das Gefragte oder Gesagte weitergeben muss. Es<br />
kommt dann zu Überlappungen des Gesprächsverlaufs, was<br />
einerseits der Dokumentation nicht förderlich ist und andererseits<br />
den Dolmetscher, der ja wörtlich zu übertragen hat, in<br />
eine Art „Moderatorenrolle“ bringt, die zwischen Gericht,<br />
Staatsanwaltschaft, Verteidigung und dem Zeugen/Beschuldigten<br />
zu vermitteln sucht. 62 Die bei der Videokonferenz<br />
bestehenden Probleme der Wahrnehmung des Gesprächsverlaufs<br />
aufgrund der Zeitverzögerung, der Wechsel der Sprecher,<br />
durch ungewollte Pausen oder Überlappungen und damit<br />
einhergehende Wiederholungen der Gegenseite, durch „Backchannel“-Signale,<br />
der Gestik oder durch bestätigende und<br />
sonstige Lautäußerungen 63 , können sich dadurch verstärken.<br />
2. Rechtliche Aspekte<br />
a) Der Gesetzentwurf sieht keine Regelungen zu Fragen der<br />
Protokollierung, der Dokumentation einer Beweisaufnahme<br />
im Rahmen des Haftprüfungsverfahrens oder der Aufzeichnung<br />
der Haftprüfung selbst (anders bei dem Entwurf zu einer<br />
Neufassung des § 91a der Finanzgerichtsordnung) vor.<br />
Inwieweit die §§ 168e S. 4, 247a StPO analog Anwendungen<br />
finden können, ist problematisch, da sie sich auf Zeugenaussagen<br />
beziehen.<br />
b) Handelt es sich überhaupt um eine Vernehmung im<br />
Rahmen der audiovisuellen Haftprüfung in Form einer Videokonferenz?<br />
Dies wird man bejahen können, da der vernehmende<br />
Richter den Beschuldigten in amtlicher Funktion gegenübertritt<br />
64 und es dabei keine Rolle spielen kann, dass sich<br />
der Vernehmende und der Beschuldigte nicht zugleich an<br />
einem Ort befinden.<br />
c) Sollen Schriftstücke (z.B. ergänzende oder neue Haftbefehlsanträge<br />
der Staatsanwaltschaft) dem Beschuldigten verlesen<br />
oder (über einen PC) an seinen Aufenthaltsort überspielt<br />
werden? Zum rechtlichen Gehör gehört nicht zwangsläufig<br />
die Verlesung. 65 Die sich dann aber oft anschließende<br />
„Verkündung“ i.S.d. § 115 StPO verlangt aber zumindest eine<br />
mündliche Erörterung. Dem Beschuldigten sind Vernehmungsbehelfe<br />
wie Pläne, Skizzen oder Lichtbilder in geeigneter<br />
Weise zur Kenntnis zu bringen, ohne dass dies durch<br />
die technische Übertragung verhindert oder beeinträchtigt<br />
wird. In den USA und beim Bundespatentgericht wird in der<br />
Hauptverhandlung eine Dokumentenkamera verwendet, die<br />
62<br />
Braun (Fn. 57), S. 54, 122.<br />
63<br />
Braun (Fn. 57), S. 31 ff.<br />
64<br />
Vgl. BGH NStZ 1995, 410; BGH NJW 2007, 2706; Bay-<br />
OblG NZV 2005, 494.<br />
65<br />
Für das Selbstleseverfahren bei Anklagesätzen vgl. LG<br />
Mühlhausen NStZ 2007, 358.<br />
Schriftstücke etc. in digitale Signale transformiert und so<br />
jedem Teilnehmer am Bildschirm zugänglich macht. 66<br />
Dazu kommt, dass der Gesetzentwurf des Bundesrates<br />
zwar die Erleichterung der Haftprüfung ermöglichen will, jedoch<br />
den Fall des § 115a StPO gerade nicht regelt. Damit ist<br />
die Festnahme eines Beschuldigten zur Verkündung oder<br />
zum Erlass eines Haftbefehls (§ 128 StPO) an einem anderen<br />
Ort als dem des zuständigen Haftgerichts gemeint. Gerade<br />
hier sind die Zeitersparnis und der unnötige Transport zu berücksichtigen,<br />
wenn der Beschuldigte im Wege der Videokonferenztechnik<br />
direkt von seinem zuständigen Richter vernommen<br />
werden könnte, anstatt den Umweg über den Richter<br />
des Ergreifungsortes zu gehen.<br />
d) In diesem Zusammenhang wird unter anwaltlicher Beratung<br />
häufig darauf verzichtet, den Beschuldigten zu einer<br />
Äußerung zu veranlassen. Vielmehr äußert sich dann der Verteidiger<br />
oder reicht ein vorbereitetes Schriftstück mit einer<br />
Sacheinlassung zu den Akten. Diese Praxis, die von Verteidigern<br />
auch als „Herunterdefinieren des Tatvorwurfs“ bezeichnet<br />
wird, erfüllt nicht die Voraussetzungen des § 136 StPO,<br />
da die Vernehmung grundsätzlich durch mündliche Befragung<br />
und mündliche Antworten des Beschuldigten selbst erfolgen<br />
muss. Derartige Verfahrensweisen könnten durch die<br />
„technische Distanz“ und die damit möglicherweise einhergehende<br />
Entpersonalisierung“ begünstigt werden. 67 Dem Richter<br />
obliegt bei Verhandlungen im Rahmen einer Videokonferenz<br />
daher eine besondere Schutzpflicht.<br />
66 Vgl. Siemer/Beskind/Bocchino/Rothschild, Effective Use of<br />
Courtroom Technology, A Lawyer´s Guide to Pretrial and<br />
Trial, 2002, passim; http://www.bundespatentgericht.de/cms/<br />
(1.11.2012).<br />
67 Vgl. Strafprozess „als ISDN-vermittelter Chat-Group“,<br />
Fischer, JZ 1998, 820.<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />
557
Strafrechtsrelevante Entwicklungen in der Europäischen Union – ein Überblick*<br />
Von Wiss. Mitarbeiter Dominik Brodowski, LL.M. (Univ. Pennsylvania), München**<br />
Das Europäische Parlament hat sich im Diskurs über eine<br />
europäische Kriminalpolitik zu Wort gemeldet; die Kommission<br />
hat einen Vorschlag zur Harmonisierung des strafrechtlichen<br />
Schutzes der finanziellen Interessen der Europäischen<br />
Union vorgelegt; der Rat der Europäischen Union hat sich<br />
auf Regelungen zu spezifischen transnationalen Ermittlungsmaßnahmen<br />
im Rahmen der Europäischen Ermittlungsanordnung<br />
geeinigt; der Gerichtshof hat über die Anwendbarkeit<br />
des Opferschutz-Rahmenbeschlusses auf juristische Personen<br />
geurteilt – diese vier Schlaglichter mögen exemplarisch<br />
stehen für die vielfältigen Entwicklungen im Bereich<br />
der Europäisierung des Strafrechts von November 2011 bis<br />
Oktober 2012, die hier im Anschluss an <strong>ZIS</strong> 2011, 940 im<br />
Überblick vorgestellt und einer ersten Bewertung unterzogen<br />
werden.<br />
The European Parliament taking part in the discourse on a<br />
EU criminal policy, the Commission tabling a proposal to<br />
harmonize criminal laws on the protection of the EU’s financial<br />
interests, the Council agreeing on rules on specific<br />
cross-border investigation techniques in the European Investigation<br />
Order, the Court judging on the application of the<br />
Framework Decision on the Standing of Victims to corporations<br />
– these four examples may illustrate the diverseness in<br />
the activities in EU Criminal Justice between November 2011<br />
and October 2012. Following up on <strong>ZIS</strong> 2011, 940, this<br />
fourth instalment continues the overview on these and other<br />
matters of EU Criminal Justice.<br />
I. Strafrechtsverfassung<br />
1. Europäische Kriminalpolitik – ein EU-Ansatz zum Strafrecht<br />
Das Europäische Parlament knüpfte mit seiner Entschließung<br />
vom 22.5.2012 zum EU-Ansatz zum Strafrecht 1 an die vorangegangenen<br />
Positionspapiere des Rates und der Kommission<br />
zur EU-Kriminalpolitik an, 2 konzentriert sich dabei aller-<br />
* Fortsetzung von <strong>ZIS</strong> 2010, 376; <strong>ZIS</strong> 2010, 749 und <strong>ZIS</strong><br />
2011, 940.<br />
** Der Verf. ist Wiss. Mitarbeiter am Lehrstuhl für Strafrecht,<br />
Strafprozessrecht und Wirtschaftsstrafrecht der Ludwig-Maximilians-Universität<br />
München (RiOLG Prof. Dr.<br />
Joachim Vogel). Alle in diesem Bericht aufgeführten EU-<br />
Rechtsakte und EU-Rechtsetzungsvorgänge sind in der Datenbank<br />
http://www.eurocrim.org/ (31.10.2012) verfügbar.<br />
1<br />
Entschließung des Europäischen Parlaments vom 22.5.2012<br />
zum EU-Ansatz zum Strafrecht (2010/2310 [INI]).<br />
2<br />
Zu Ratsdok. 11155/11 und KOM (2011) 573 endg. v. 20.9.<br />
2011 vgl. zuvor Brodowski, <strong>ZIS</strong> 2011, 940 (942). Über die<br />
a.a.O. bereits erwähnte Literatur vgl. nunmehr auch Heger,<br />
Recht und Politik 2012, 88; Muñoz de Morales Romero, El<br />
legislador penal europeo, legitimidad y racionalid, 2011,<br />
passim; Prittwitz, in: Ambos (Hrsg.), Europäisches Strafrecht<br />
post-Lissabon, 2011, S. 29. Zur thematisch verwandten EU-<br />
Strategie der inneren Sicherheit – Ratsdok. 7120/10 – veröf-<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
558<br />
dings auf die materiell-strafrechtlichen Entwicklungen, also<br />
auf den Bereich der Strafrechtsharmonisierung.<br />
In seiner Entschließung betont das Europäische Parlament<br />
die Bedeutung strafrechtlicher Grundprinzipien wie Verhältnismäßigkeit<br />
(Buchstabe E), Schuldprinzip (Buchstabe J),<br />
ultima ratio (Buchstabe I) und Normenbestimmtheit (Buchstabe<br />
K). Hinreichendes gegenseitiges Vertrauen erkennt es<br />
als conditio sine qua non für das Prinzip gegenseitiger Anerkennung<br />
an (Buchstabe F). Ferner verweist es auf den Grundsatz<br />
ne bis in idem, auf die Unschuldsvermutung und auf<br />
weitere Rechte beschuldigter Personen (4.). Schließlich fordert<br />
es u.a. die Einsetzung einer interinstitutionellen Arbeitsgruppe,<br />
die Prinzipien und Arbeitsmethoden ausarbeiten soll,<br />
um in Zukunft ein kohärentes europäisches Strafrecht verwirklichen<br />
zu können.<br />
2. Beitritt zur EMRK 3<br />
Der von einer Arbeitsgruppe vorgelegte Entwurf eines Beitrittsabkommens<br />
zum Beitritt der EU zur Europäischen Konvention<br />
zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten<br />
(EMRK) 4 ist auf ein geteiltes Echo gestoßen: Manche<br />
Mitgliedstaaten kritisieren die Reichweite des Beitritts und<br />
die drohenden Konsequenzen hinsichtlich der Kompetenzverteilung<br />
zwischen der EU und den Mitgliedstaaten. Auch die<br />
Ausübung des Stimmrechts durch den Vertreter der EU im<br />
Ministerkomitee bedürfe noch weiterer Klärung. 5 Indes einigte<br />
man sich im Rat der Europäischen Union – Justiz und<br />
Inneres – auf dessen 3162. Tagung am 26./27.4.2012 darauf,<br />
dass auf Basis dieses Entwurfs die Verhandlungen mit dem<br />
Europarat und dessen (weiteren) Mitgliedstaaten rasch aufzunehmen<br />
seien. 6 Im Rahmen der ersten beiden Verhandlungsrunden<br />
am 21.6.2012 sowie vom 17. bis 19.9.2012 unterbreitete<br />
die Kommission als Verhandlungsführerin der EU umfangreiche<br />
Änderungswünsche, 7 welche bei Nichtmitgliedstaaten<br />
auf merklichem Unmut gestoßen sind. 8<br />
So soll nach Auffassung der Kommission in Art. 59 Abs.<br />
2 EMRK-E ausdrücklich klargestellt werden, dass Konventionsverletzungen<br />
bei der Umsetzung und Durchführung („implement“)<br />
von Unionsrecht durch die Mitgliedstaaten allein<br />
diesen und nicht auch der EU zuzurechnen sind. Hinsichtlich<br />
der – oft intergouvernemental geprägten – Maßnahmen im<br />
Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik soll<br />
der Kommission zufolge entscheidend sein, ob sich eine<br />
fentlichte die Kommission ihren ersten Jahresbericht, KOM<br />
(2011) 790 endg. v. 25.11.2011.<br />
3<br />
Vgl. zuletzt Brodowski, <strong>ZIS</strong> 2011, 940; Kohler/Malferrari,<br />
EuZW 2011, 849; Obwexer, EuR 2012, 115.<br />
4<br />
CDDH (2011) 009.<br />
5<br />
Ratsdok. 18117/11.<br />
6<br />
Vgl. Ratsdok. 9171/12, S. 16.<br />
7<br />
Vgl. 47+1 (2012) R01, S. 2; 47+1 (2012) R02, S. 2 ff.;<br />
Ratsdok. 16385/11 (nicht öffentlich).<br />
8<br />
Vgl. 47+1 (2012) 002, S. 2 f. sowie 47+1 (2012) R01, S. 2<br />
Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />
f.
Strafrechtsrelevante Entwicklungen in der Europäischen Union – ein Überblick<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
Zurechenbarkeit zur EU und ihrem Rechtsrahmen aus der<br />
Rechtsprechung des EuGH (!) ergibt. Weitere Kritik richtet<br />
sich gegen die geplante Änderung der Geschäftsordnung des<br />
Ministerkomitees, der zufolge das (qualifizierte) Votum der<br />
Nichtmitgliedstaaten bei der Überwachung von gegen die EU<br />
ergangenen Urteilen entscheidend sein soll, um Abstimmungen<br />
„en bloc“ der EU-Mitgliedstaaten zugunsten der EU zu<br />
verhindern. Die EU möchte dies durch ein bloßes „gentlemen's<br />
agreement“ ersetzen, demzufolge ein – allerdings nicht<br />
bindendes – Schlichtungsverfahren durchzuführen wäre. Es<br />
ist zu befürchten, dass durch diese Änderungen – und durch<br />
die der EU eingeräumte Möglichkeit, Vorbehalte gem. Art.<br />
57 Abs. 1 EMRK anzubringen – die Durchschlagskraft der<br />
EMRK in Bezug auf das Recht der EU in erheblichem Maße<br />
gemindert wird.<br />
3. Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung –<br />
Datenschutz<br />
Der von der Kommission vorgelegte Vorschlag für [eine]<br />
Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zum<br />
Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener<br />
Daten und zum freien Datenverkehr (Datenschutz-<br />
Grundverordnung) 9 wirft die verfassungsrechtliche Frage auf,<br />
inwieweit der Schutz personenbezogener Daten auch zukünftig<br />
am Maßstab des Grundgesetzes zu prüfen sein wird, wenn<br />
Daten im Auftrag des Staates von privaten Unternehmen vorgehalten<br />
werden, wie dies etwa bei der Vorratsdatenspeicherung<br />
von Verbindungsdaten oder bei der geplanten Vorratsdatenspeicherung<br />
von Fluggastdatensätzen der Fall ist. Der<br />
für Fragen des Datenschutzrechtes zuständige Richter des<br />
Bundesverfassungsgerichts Masing kritisiert diesbezüglich,<br />
dass die geplante Vollharmonisierung – die auch den privaten<br />
und nicht-kommerziellen Meinungsaustausch erfassen könne<br />
– zu einem strukturell schlechteren Grundrechtsschutz führen<br />
werde. An die Stelle der deutschen Grundrechte würde die<br />
Europäische Grundrechtecharta treten, zu deren Auslegung<br />
der Europäische Gerichtshof in einem langatmigen Vorabentscheidungsverfahren<br />
berufen sei. Eine Verfassungsbeschwerde<br />
zum Europäischen Gerichtshof sei nicht gegeben; die<br />
Beschwerde zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte<br />
wiederum diene nur der Gewährleistung eines Mindeststandards.<br />
10 Allerdings ist zu berücksichtigen, dass die<br />
genuin straf- und polizeirechtliche Datenerhebung in einer<br />
Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zum<br />
Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener<br />
Daten durch die zuständigen Behörden zum Zwecke<br />
der Verhütung, Aufdeckung, Untersuchung oder Verfolgung<br />
von Straftaten oder der Strafvollstreckung sowie zum<br />
freien Datenverkehr geregelt werden soll. 11 Deren Umsetzung<br />
in deutsches Recht kann – unter Berücksichtigung der aus der<br />
Europafreundlichkeit des Grundgesetzes folgenden Ein-<br />
9<br />
KOM (2011) 11 endg. v. 25.1.<br />
10<br />
Masing, SZ v. 9.1.2012, S. 10 f.; s. auch Masing, NJW<br />
2012, 2305.<br />
11<br />
Vorschlag in KOM (2012) 10 endg. v. 25.1.2012; vgl.<br />
hierzu Hornung, Zeitschrift für Datenschutz 2012, 99; Kugelmann,<br />
DuD 2012, 581.<br />
schränkungen – auch am Maßstab des Grundgesetzes geprüft<br />
werden. Jener Vorschlag für eine Richtlinie ist gleichwohl<br />
nicht ohne Anlass für Kritik: So sieht Art. 7 des Entwurfs es<br />
für ausreichend an, wenn der Zweck der Datenverarbeitung<br />
„zur Wahrnehmung einer gesetzlichen Aufgabe“ notwendig<br />
ist. Ein solch weicher Rahmen setzte damit gerade keine<br />
normenklare und normenbestimmte Eingriffsgrundlage voraus,<br />
sondern sähe allein in der Zweckbestimmung „Strafverfolgung“<br />
eine ausreichende Eingriffsbefugnis auch für erhebliche<br />
datenschutzrelevante Eingriffe.<br />
Sowohl der Vorschlag für eine Richtlinie (dort Art. 55)<br />
als auch der Vorschlag für eine Verordnung (dort Art. 78)<br />
sehen vor, dass die Mitgliedstaaten wirksame, angemessene<br />
und abschreckende Sanktionen festlegen, die bei Verstößen<br />
gegen die jeweiligen Bestimmungen zu verhängen sind; dies<br />
wird bei der Verordnung noch ergänzt durch verwaltungsrechtliche<br />
Sanktionen (Art. 79), die von den datenschutzrechtlichen<br />
Aufsichtsbehörden bei bestimmten Verstößen verhängt<br />
werden können. Die Sanktionen müssen demnach nicht<br />
zwingend strafrechtlicher Natur sein. Ob durch diese Neuregelung<br />
daher dem Datenschutzrecht ein schärferes Schwert<br />
als §§ 43, 44 BDSG in die Hand gelegt wird, bleibt abzuwarten.<br />
Zwischenzeitlich erhob der Bundesrat gegen diese Kommissionsvorschläge<br />
eine Subsidiaritätsrüge; auch andere Mitgliedstaaten<br />
haben in den Gremien des Rates ihre Bedenken<br />
hinsichtlich der Subsidiarität geäußert. Darüber hinausgehend<br />
kritisieren diese die Reichweite der Richtlinie und zweifeln<br />
deren Rechtsgrundlage an, soweit diese auch die rein innerstaatliche<br />
Datenerhebung und -verarbeitung erfassen soll. 12<br />
4. Opt-out des Vereinigten Königreichs<br />
Die britische Koalitionsregierung erwägt, von der in Art. 10<br />
Abs. 4 Protokoll Nr. 36 über die Übergangsbestimmungen 13<br />
eingeräumten Möglichkeit Gebrauch zu machen, aus dem<br />
acquis im Bereich der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit<br />
in Strafsachen auszusteigen. Konsequenz wäre,<br />
dass sämtliche vor dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon<br />
ergangenen Rechtsakte ab dem 1.12.2014 nicht mehr<br />
gegenüber dem Vereinigten Königreich gälten; das Vereinigte<br />
Königreich müsste die sich hieraus ergebenen Kosten tragen<br />
(Art. 10 Abs. 4 UAbs. 3 Protokoll Nr. 36). Das Vereinigte<br />
Königreich könnte indes beantragen, an einzelnen Rechtsakten<br />
des acquis im Bereich der polizeilichen und justiziellen<br />
Zusammenarbeit in Strafsachen auch weiterhin teilzunehmen<br />
(Art. 10 Abs. 5 S. 1 Protokoll Nr. 36), was u.a. für den Europäischen<br />
Haftbefehl diskutiert wird. Allerdings muss der Rat<br />
einem solchen Antrag einstimmig zustimmen (Art. 10 Abs. 5<br />
S. 2 Protokoll Nr. 36 i.V.m. Art. 4 Protokoll Nr. 19 über den<br />
in den Rahmen der Europäischen Union einbezogenen<br />
Schengen-Besitzstand). 14<br />
Von alledem unberührt bleiben unter dem Vertrag von<br />
Lissabon ergangene Rechtsakte, bei denen das Vereinigte<br />
Königreich ohnehin sein „Opt-In“ erklären muss (Protokoll<br />
12 Ratsdok. 8596/12.<br />
13 ABl. EU 2012 Nr. C 326 v. 26.10.2012, S. 322.<br />
14 ABl. EU 2012 Nr. C 326 v. 26.10.2012, S. 290.<br />
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559
Dominik Brodowski<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
Nr. 21 über die Position des Vereinigten Königreichs und<br />
Irlands hinsichtlich des Raums der Freiheit, der Sicherheit<br />
und des Rechts 15 ).<br />
II. Institutionen<br />
1. Europäisches Parlament<br />
Aus Protest über eine Entscheidung des Rates, einen Rechtsakt<br />
zur Evaluierung des Schengen-Rechtsrahmens auf Art. 70<br />
AEUV zu stützen und daher nicht das gem. Art. 77 Abs. 2 lit.<br />
e AEUV zumindest mögliche ordentliche Gesetzgebungsverfahren<br />
zu beschreiten, unterbrach das Europäische Parlament<br />
am 14.6.2012 die interinstitutionellen Konsultationen hinsichtlich<br />
der Reform des Schengen-Rechtsrahmens, der Rahmenbeschlüsse<br />
über Angriffe auf Informationssysteme, 16<br />
über die Europäische Ermittlungsanordnung (s. hierzu noch<br />
unten V. 2.), über die Vorratsdatenspeicherung von Fluggastdatensätzen<br />
(s. hierzu noch unten IV. 6.) sowie des EU-<br />
Haushalts, soweit letzterer Fragen der Inneren Sicherheit<br />
betrifft. 17 Inzwischen sind die entsprechenden Triloge allerdings<br />
wiederaufgenommen worden; Entscheidungen im Plenum<br />
des Europäischen Parlaments über diese Gesetzgebungsverfahren<br />
werden aber derzeit noch blockiert.<br />
Am 14.3.2012 setzte das Europäische Parlament einen<br />
Sonderausschuss „Organisiertes Verbrechen“ ein. Dieses 41köpfige<br />
Gremium unter dem Vorsitz von MdEP Sonia Alfano<br />
(ALDE/IT) soll zum einen eine Lagebewertung der organisierten<br />
Kriminalität, Korruption und Geldwäsche, zum anderen<br />
Handlungskonzepte präventiver und repressiver Art entwerfen.<br />
Angesichts der zunächst auf ein Jahr begrenzten Amtszeit<br />
des Sonderausschusses ist bereits bald mit ersten Zwischenberichten<br />
zu rechnen. Erste Diskussionspapiere fordern<br />
eine Stärkung der Vermögensabschöpfung – auch auf nichtstrafrechtlichem<br />
Wege – (s. hierzu noch unten III. 5.) und<br />
regen eine Harmonisierung der Strafbestimmungen hinsichtlich<br />
organisiert-krimineller Vereinigungen an. 18<br />
Hinsichtlich der Immunität von Mitgliedern des Europäischen<br />
Parlaments stellte der Gerichtshof fest, dass die Immunität<br />
eines Parlamentariers einer Bestrafung wegen beleidigender<br />
Äußerungen dann nicht entgegensteht, wenn das Mitglied<br />
des Europäischen Parlaments sich außerhalb der Räumlichkeiten<br />
des Parlaments geäußert und die Äußerungen keinen<br />
direkten, offensichtlichen inhaltlichen Bezug zu seiner<br />
parlamentarischen Tätigkeit haben. Ob diese Bedingungen erfüllt<br />
seien, sei jeweils durch das nationale Gericht festzustellen.<br />
19<br />
15 ABl. EU 2012 Nr. C 326 v. 26.10.2012, S. 295.<br />
16 Zuletzt Ratsdok. 11566/11; vgl. hierzu Brodowski, <strong>ZIS</strong><br />
2011, 940 (945) m.w.N.<br />
17 Pressemitteilung des Europäischen Parlaments 20120614<br />
IPR46824.<br />
18 Zusammenfassend das Arbeitsdokument PE496.559v01-00<br />
des Berichterstatters Iacolino (EPP / IT).<br />
19 EuGH, Beschl. v. 19.1.2012 – C-496/10 (Patriciello).<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
560<br />
<strong>ZIS</strong> 11/2012<br />
2. Kommission<br />
Dem Arbeitsprogramm der Kommission für 2012 20 zufolge<br />
ist dieses Jahr noch mit einer Überarbeitung der Statuten von<br />
Europol 21 und Eurojust 22 zu rechnen; 2013 sollen Legislativmaßnahmen<br />
zur Errichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft,<br />
zur gegenseitigen Anerkennung von Rechtsverlusten<br />
(wie Berufsverboten) und zur Prozesskostenhilfe bzw. Pflichtverteidigung<br />
in Strafverfahren folgen. Entgegen der Angabe<br />
im Arbeitsprogramm wird sich die Aktualisierung der Vorratsdatenspeicherungs-Richtlinie<br />
noch bis 2013 verzögern<br />
(s. hierzu noch unten IV. 5.). 23<br />
Durch Beschluss v. 21.2.2012 setzte die Kommission eine<br />
20-köpfige Expertengruppe für die EU-Strafrechtspolitik ein, 24<br />
welche „die Arbeiten der Kommission zur weiteren Gestaltung<br />
der EU-Strafrechtspolitik unterstützen und zu allen<br />
relevanten Fragen beratend tätig werden“ soll und die am<br />
19.6.2012 ihre Arbeit aufgenommen hat. Neben Vertretern<br />
der Strafrechtswissenschaft – aus Deutschland Helmut Satzger<br />
– wurden auch Strafverteidiger, Richter und Strafverfolger<br />
in dieses Gremium berufen, so auch Frau RAin Dr. Margarete<br />
von Galen.<br />
3. Gerichtshof<br />
Der Gerichtshof hat sich – mit Genehmigung des Rates – eine<br />
neue Verfahrensordnung gegeben, die gemäß deren Art. 210<br />
zum 1. November 2012 in Kraft getreten ist. 25<br />
4. Europäische Staatsanwaltschaft 26<br />
Im Juni 2012 legte eine Gruppe von Strafrechtswissenschaftlern<br />
unter der Koordination von Katalin Ligeti eine Modell-<br />
Verfahrensordnung für eine Europäische Staatsanwaltschaft<br />
vor. 27 Deren bloßer Modellcharakter, der mit einem Verordnungsentwurf<br />
nicht verwechselt werden darf, wird insbesondere<br />
dadurch offensichtlich, dass einige Bestimmungen<br />
maßgeblich davon abhängen, für die Verfolgung welcher Kriminalitätsbereiche<br />
die Europäische Staatsanwaltschaft zuständig<br />
werden soll – begrenzt auf die Verfolgung von Straftaten<br />
zu Lasten des EU-Haushalts (sog. „PIF“, protection des<br />
intérêts financiers) 28 oder erweitert auf weitere Deliktsberei-<br />
20<br />
KOM (2011) 777 endg. v. 15.11.2011.<br />
21<br />
Bislang: Beschluss des Rates über die Errichtung des Europäischen<br />
Polizeiamts (Europol) = ABl. EU 200 Nr. L 121,<br />
S. 37; zum Reformbedarf aufgrund des Vertrags von Lissabon<br />
vgl. Albrecht/Janson, EuR 2012, 230; Brodowski, <strong>ZIS</strong><br />
2011, 940 (943) m.w.N.<br />
22<br />
Bislang: Beschluss des Rates über die Errichtung von Eurojust<br />
zur Verstärkung der Bekämpfung der schweren Kriminalität<br />
= CONSLEG 2002D0187 v. 4.6.2009.<br />
23<br />
Vgl. Malmström, FAZ v. 3.7.2012, http://www.faz.net/gq4-713uq<br />
(31.10.2012).<br />
24<br />
ABl. EU 2012 Nr. C 53, S. 9.<br />
25<br />
ABl. EU 2012 Nr. L 265, S. 1.<br />
26<br />
Vgl. zuvor Brodowski, <strong>ZIS</strong> 2011, 940 (942) m.w.N.;<br />
s. zudem Böse, RW 2012, 172.<br />
27<br />
Verfügbar unter http://www.eppo-project.eu/ (31.10.2012)<br />
28<br />
S. hierzu noch unten III. 1.
Strafrechtsrelevante Entwicklungen in der Europäischen Union – ein Überblick<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
che („PIF+“). Andererseits stellt diese Modell-Verfahrensordnung<br />
ein in sich geschlossenes, vollständiges System dar<br />
und könnte sich aus diesem Grund als Grundlage eines Legislativvorschlags<br />
der Kommission eignen.<br />
Diese Modell-Verfahrensordnung sieht unter anderem<br />
vor, dass Ermittlungsmaßnahmen, die von einem zuständigen<br />
Gericht eines Mitgliedstaats auf Antrag der Europäischen<br />
Staatsanwaltschaft angeordnet wurden, europaweit ausgeführt<br />
werden dürfen. Nachträglicher Rechtsschutz gegen in Grundrechte<br />
eingreifende Ermittlungsmaßnahmen soll durch einen<br />
europäischen Spruchkörper gewährt werden. Hinsichtlich der<br />
Ermittlungsmaßnahmen differenziert das Modell drei Grundtypen,<br />
die mit unterschiedlichen Eingriffshürden verbunden<br />
sind: Ermittlungsmaßnahmen ohne Zwangswirkung (z.B. Anfragen<br />
in öffentlichen Registern), Zwangsmaßnahmen ohne<br />
Richtervorbehalt (z.B. Beschlagnahmen, bestimmte „production<br />
orders“ und Standortbestimmung) und Zwangsmaßnahmen<br />
mit Richtervorbehalt (z.B. Durchsuchungen, Telekommunikationsüberwachung<br />
und Überwachung von Finantransaktionen).<br />
Aus deutschem Blickwinkel bemerkenswert ist insbesondere<br />
die Bestimmung in Art. 27 Abs. 6 des Entwurfs, demzufolge<br />
Zeugnisverweigerungsrechte nur in begrenztem Umfang<br />
gelten und einer Abwägung mit Strafverfolgungsinteressen<br />
zugänglich sein sollen: Ärzte, Geistliche, Journalisten<br />
usw. sollen sich nicht auf ihr Zeugnisverweigerungsrecht<br />
berufen dürfen und von einem Richter zur Aussage verpflichtet<br />
werden können, wenn deren Aussagen „unverzichtbar“<br />
seien für die Ermittlungen.<br />
5. Europäisches Zentrum zur Bekämpfung der Cyberkriminalität<br />
29<br />
In ihrer Mitteilung „Kriminalitätsbekämpfung im digitalen<br />
Zeitalter: Errichtung eines europäischen Zentrums zur Bekämpfung<br />
der Cyberkriminalität“ 30 schlug die Kommission<br />
vor, dieses – auch EC3 genannte – Zentrum bei Europol anzusiedeln.<br />
Die Errichtung eines solchen Zentrums war in der<br />
EU-Strategie der Inneren Sicherheit gefordert worden. 31 Ab<br />
Januar 2013 soll das Zentrum Informationen über Cyberkriminalität<br />
zusammentragen, um ein fundiertes, aktuelles Lagebild<br />
über die Bedrohungslage im Internet liefern zu können.<br />
Darüber hinausgehend soll es nationale Strafverfolgungsbehörden<br />
bei Ermittlungen unterstützen, etwa durch die Bereitstellung<br />
von forensischer Expertise oder auch durch entsprechende<br />
Schulungen für nationale Richter, Staatsanwälte<br />
und Polizeibeamte. Schließlich soll das Zentrum auch enge<br />
Kooperationen mit der Privatwirtschaft pflegen und etwa<br />
Informationen über aktuelle Bedrohungen austauschen. Der<br />
Rat der Europäischen Union – Justiz und Inneres – stimmte<br />
diesem Vorschlag auf seiner 3172. Tagung am 7./8.6.2012<br />
zu. 32<br />
29<br />
S. hierzu Ellermann/Drewer, Datenschutz-Berater 2012,<br />
151.<br />
30<br />
KOM (2012) 140 endg. v. 28.3.2012.<br />
31<br />
S. KOM (2010) 673 endg. v. 22.11.2010; Ratsdok. 5842/10,<br />
sowie Brodowski, <strong>ZIS</strong> 2011, 940 (941) m.w.N.<br />
32<br />
Schlussfolgerungen des Rates in Ratsdok. 10603/12.<br />
6. OLAF 33<br />
Kommission, Rat und Europäisches Parlament konnten sich<br />
weitgehend auf eine umfassende Modifikation der Verordnung<br />
über die Untersuchungen des Europäischen Amts für<br />
Betrugsbekämpfung (OLAF) einigen; noch nicht abschließend<br />
geklärt ist jedoch der Zugang von OLAF zu den Büros<br />
der Mitglieder des Europäischen Parlaments. 34 Der Kompromisstext<br />
sieht vor, dass die nationalen Strafverfolgungsbehörden<br />
und bei transnationalen Fällen Eurojust umfassend<br />
über Verdachtsmomente – auch solche, denen OLAF nicht<br />
nachgeht (Art. 3 Abs. 6, Art. 4 Abs. 8) – und Ermittlungsergebnisse<br />
zu informieren ist (Art. 9 Abs. 5, Art. 10 Abs. 2,<br />
Art. 10a Abs. 1 UAbs. 2). Rechtsschutz bei Verfahrensverstößen<br />
von OLAF soll primär durch einen Überwachungsausschuss<br />
und einen Verfahrensprüfer gewährt werden (Art. 11,<br />
Art. 11a).<br />
7. Europäische Agentur für das Betriebsmanagement von IT-<br />
Großsystemen 35<br />
Die Europäische Agentur für das Betriebsmanagement von<br />
IT-Großsystemen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und<br />
des Rechts 36 wird zum 1.12.2012 ihre Arbeit aufnehmen.<br />
III. Materielles Strafrecht<br />
1. Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Union 37<br />
Gestützt auf Art. 325 Abs. 4 AEUV legte die Kommission<br />
einen Vorschlag für [eine] Richtlinie des Europäischen Parlaments<br />
und des Rates über die strafrechtliche Bekämpfung<br />
von gegen die finanziellen Interessen der Europäischen Union<br />
gerichtetem Betrug vor, 38 welche das – noch immer nicht<br />
von allem Mitgliedstaaten ratifizierte 39 – Übereinkommen<br />
über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen<br />
Gemeinschaften und den diesbezüglichen Protokollen 40 erset-<br />
33<br />
Vgl. zuvor Brodowski, <strong>ZIS</strong> 2011, 940 (943).<br />
34<br />
Ratsdok. 12735/12 ADD 1 (nicht öffentlich); Pressemitteilung<br />
des Europäischen Parlaments 20121008IPR53194;<br />
Kommissionsvorschlag in KOM (2011) 135 endg. v. 17.3.<br />
2011.<br />
35<br />
Vgl. zuvor Brodowski, <strong>ZIS</strong> 2011, 940 (943).<br />
36<br />
Verordnung (EU) Nr. 1077/2011 des Europäischen Parlaments<br />
und des Rates v. 25.10.2011 zur Errichtung einer Europäischen<br />
Agentur für das Betriebsmanagement von IT-Großsystemen<br />
im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des<br />
Rechts = ABl. EU 2011 L 286, S. 1.<br />
37<br />
Vgl. zuvor Brodowski, <strong>ZIS</strong> 2011, 940 (943 f.).<br />
38<br />
KOM (2012) 363 endg. v. 11.7.2011; s. zuvor KOM (2001)<br />
272 endg. v. 23.5.2011 sowie KOM (2002) 577 endg. v. 16.10.<br />
2002.<br />
39<br />
Vgl. KOM (2012) 363 endg. v. 11.7.2011, S. 4 f. bei und<br />
mit Fn. 6.<br />
40<br />
Dies sind, in chronologischer Reihenfolge:<br />
Übereinkommen vom 26.7.1995 aufgrund von Artikel K.3<br />
des Vertrags über die Europäische Union über den Schutz der<br />
finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften<br />
(ABl. EG 1995 Nr. C 316, S. 49),<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />
561
Dominik Brodowski<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
zen soll. Der Vorschlag konzentriert sich auf die Harmonisierung<br />
des materiellen Strafrechts und lässt somit die verfahrensrechtlichen<br />
Fragen im Hinblick auf die für 2013 geplante<br />
Legislativmaßnahme zur Errichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft<br />
41 außen vor.<br />
Die Mitgliedstaaten sollen dazu verpflichtet werden, Betrug<br />
(Art. 3) und betrugsähnliche Straftaten (Art. 4) – hierzu<br />
sollen auch Geldwäsche, Bestechung, Bestechlichkeit und<br />
eine missbräuchliche Verwendung von Geldern durch Amtsträger<br />
zählen – sowie deren Versuch und die Teilnahme hieran<br />
unter Strafe zu stellen. Im Vergleich zu sonstigen Harmonisierungsinstrumenten<br />
bemerkenswert sind die „Allgemeine[n]<br />
Bestimmungen“ im Titel III des Vorschlags: Über<br />
Mindesthöchststrafen – fünf bzw. bei bandenmäßiger Begehung<br />
zehn Jahre Freiheitsstrafe – hinausgehend schreibt der<br />
Richtlinienvorschlag auch Mindeststrafen 42 vor, namentlich<br />
sechs Monate Freiheitsstrafe, sofern ein gewisser Mindestschaden<br />
(100.000 Euro bei Betrug, 30.000 Euro bei Geldwäsche<br />
und Korruption) überschritten ist (Art. 8). Auch sollen<br />
der Richtlinie unterfallende Straftaten frühestens nach fünf<br />
Jahren verjähren dürfen; bei einer „effektive[n] Aufnahme<br />
der Ermittlungen oder der Strafverfolgung“ soll die Verjährung<br />
zumindest innerhalb der ersten zehn Jahre unterbrochen<br />
werden.<br />
Der Kommissionsvorschlag ist gleichwohl als zurückhaltend<br />
zu bezeichnen. Die Kommission hat als Regelungsmodell<br />
die Richtlinie gewählt und versucht somit nicht, über eine<br />
Verordnung unmittelbare, europäische Strafnormen einzuführen.<br />
43 Auch sieht sie davon ab, nähere Definitionen über<br />
die Beihilfe und Anstiftung, Versuch und Vollendung, Vorsatz<br />
und Fahrlässigkeit vorzugeben. 44<br />
Erstes Protokoll vom 27.9.1996 zum Übereinkommen über<br />
den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen<br />
Gemeinschaften (ABl. EG 1996 Nr. C 313, S. 2),<br />
Protokoll vom 29.11.1996 betreffend die Auslegung des<br />
Übereinkommens über den Schutz der finanziellen Interessen<br />
der Europäischen Gemeinschaften durch den Gerichtshof der<br />
Europäischen Gemeinschaften im Wege der Vorabentscheidung<br />
(ABl. EG 1997 Nr. C 151, S. 2),<br />
Übereinkommen vom 26.5.1997 über die Bekämpfung der<br />
Bestechung, an der Beamte der Europäischen Gemeinschaften<br />
oder der Mitgliedstaaten der Europäischen Union beteiligt<br />
sind (ABl. EG 1997 Nr. C 195, S. 2) und<br />
Zweites Protokoll zum Übereinkommen über den Schutz der<br />
finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften<br />
vom 19.6.1997 (ABl. EG 1997 Nr. C 221, S. 12).<br />
S. zu alledem Fromm, HRRS 2008, 87 m.w.N.<br />
41<br />
S. hierzu oben II. 4.<br />
42<br />
Vgl. hierzu bereits Brodowski, <strong>ZIS</strong> 2011, 940 (940, 942)<br />
unter Verweis auf KOM (2011) 573 endg. v. 20.9.2011.<br />
43<br />
Zum Streitstand, ob Art. 325 Abs. 4 AEUV auch zum Erlass<br />
einer Verordnung ermächtigt, s. nur Krüger, HRRS 2012,<br />
311 mit umfangreichen Nachw.<br />
44<br />
Dies war in KOM (2011) 293 endg. v. 26.5.2011, S. 13<br />
noch als Möglichkeit erörtert worden.<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
562<br />
<strong>ZIS</strong> 11/2012<br />
2. Insiderhandel und Marktmanipulation 45<br />
Auf seiner 3162. Sitzung am 26./27.4.2012 erzielte der Rat<br />
der Europäischen Union – Justiz und Inneres – eine partielle<br />
allgemeine Ausrichtung hinsichtlich Art. 5-12 einer Richtlinie<br />
des Europäischen Parlaments und des Rates über strafrechtliche<br />
Sanktionen für Insider-Geschäfte und Marktmanipulationen.<br />
46 Dies betrifft damit die Bestimmungen hinsichtlich<br />
Versuch, Anstiftung und Beihilfe (Art. 5) und hinsichtlich<br />
der Rechtsfolgen – auch für juristische Personen –<br />
(Art. 6, 7). Der 14. Erwägungsgrund, demzufolge „weitestmöglich“<br />
auch die Strafbarkeit auf juristische Personen auszudehnen<br />
sei, wurde dahingehend entschärft, dass effektive,<br />
verhältnismäßige und abschreckende Sanktionen ausreichen.<br />
Mindesthöchststrafen sollen entgegen dem Wunsch einiger<br />
Mitgliedstaaten vorerst nicht durch die Richtlinie vorgegeben<br />
werden; dies wird aber nach vier Jahren einer Evaluation zu<br />
unterziehen sein (Art. 9).<br />
Die partielle allgemeine Ausrichtung klammert die maßgeblich<br />
von den wertpapierhandelsrechtlichen Fragestellungen<br />
abhängigen Delikte vorerst aus (Art. 3 und Art. 4). Diesbezügliche<br />
Diskussionen in den Gremien des Rates kreisen<br />
um die Frage, wie gewährleistet werden kann, dass die strafrechtlichen<br />
Sanktionen nur bei „schwersten Fällen“ („most<br />
serious facts“) greifen. Neben subjektiven Einschränkungen<br />
wird dabei erwogen, an die Höhe des Gewinns, an das Volumen<br />
des bemakelten Geschäfts, an den Kurseffekt der Manipulation<br />
und an die Pflichtwidrigkeit des Verhaltens anzuknüpfen<br />
(Art. 4 Abs. 3). Insider-Geschäfte sollen dann als<br />
schwerwiegend gelten, wenn die Insider-Informationen durch<br />
kriminelles oder anderweitig pflichtwidriges Verhalten erlangt<br />
wurden (Art. 3 Abs. 6 lit. b, d) oder wenn sie ein – nach<br />
Maßgabe des nationalen Rechts – werthaltiges Finanzinstrument<br />
betreffen (Art. 3 Abs. 6 lit. a). Ferner sollen Verstöße<br />
von Amtsträgern zu kriminalisieren sein (vgl. Art. 3 Abs. 6<br />
lit. c, Art. 4 Abs. 3 lit. b). 47 Im Lichte des nemo tenetur-<br />
Grundsatzes wird es für problematisch erachtet, dass die<br />
wertpapierhandelsrechtlichen Verordnungen umfangreiche<br />
Auskunfts- und Mitwirkungspflichten vorsehen. Hier hatte<br />
die Ratspräsidentschaft vorgeschlagen, ein Verwertungsverbot<br />
für Informationen zu normieren, die von einem Beschuldigten<br />
ohne gebührende Beachtung des Rechts auf Selbstbelastungsfreiheit<br />
erlangt wurden („collected from the suspected<br />
or accused person without due regard to the privilege<br />
against self-incrimination“). 48 Der aktuelle Kompromissvorschlag<br />
enthält jedoch keine solche Klausel, sondern weist<br />
lediglich darauf hin, dass die Verhängung von Administrativsanktionen<br />
nach der wertpapierhandelsrechtlichen Verord-<br />
45<br />
Vgl. zuvor Brodowski, <strong>ZIS</strong> 2011, 940 (945 f.); aus dezidiert<br />
strafrechtlicher Sicht s. zudem Schork/Reichling, StraFo<br />
2012, 125; s. ferner Hellgardt, AG 2012, 154; Kalss, EuZW<br />
2012, 361; Koch, BB 2012, 1365; Salewski, Gesellschaftsund<br />
Wirtschaftsrecht 2012, 265; Teigelack, BB 2012, 1361;<br />
Walla, BB 2012, 1358.<br />
46<br />
Ratsdok. 9019/12; s. zuvor KOM (2011) 654 endg. v.<br />
20.10.2010.<br />
47<br />
Ratsdok. 14511/12; zuvor Ratsdok. 12089/12.<br />
48<br />
Ratsdok. 12089/12.
Strafrechtsrelevante Entwicklungen in der Europäischen Union – ein Überblick<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
nung eine parallele Strafverfolgung unberührt lässt (Art.<br />
8a). 49<br />
Diese potentielle Parallelität von Administrativsanktionen<br />
und Kriminalstrafen betrachten einige Mitgliedstaaten im<br />
Lichte von Art. 4 Protokoll Nr. 7 zur EMRK, Art. 50 GRC<br />
(ne bis in idem) und der hierzu ergangenen Rechtsprechung<br />
des EGMR sowie des EuGH für grundsätzlich problematisch<br />
und verlangen, die Richtlinie und die Verordnung um Regelungen<br />
zu ergänzen, welche Konflikte zwischen den beiden<br />
Sanktionsmodellen ausschließen. 50<br />
Die Verhandlungen über die wertpapierhandelsrechtlichen<br />
Verordnungen haben im Vergleich zu den Vorschlägen der<br />
Kommission u.a. zu Ausnahmeregelungen für akzeptierte<br />
Marktpraktiken (Art. 8a), zu Ausnahmetatbeständen bei Insidergeschäften<br />
(Art. 7a) und zu einem Verbot der Verbreitung<br />
von Insiderinformationen außerhalb des dafür vorgesehenen<br />
Weges (Art. 7b) geführt. 51<br />
Ein erstes Stimmungsbild im Europäischen Parlament<br />
zeigte einerseits Kritik an der Reichweite der vorgesehenen<br />
Pönalisierungsverpflichtungen, besonders hinsichtlich der<br />
Fahrlässigkeitsdelikte und der Einführung einer Versuchsstrafbarkeit;<br />
andererseits aber seien Mindesthöchststrafen zu<br />
definieren. Schließlich schlug die Kommission im Zuge der<br />
bekannt gewordenen Manipulationen des LIBOR-Benchmarks<br />
ihrerseits Änderungen vor: 52 Sie will auch derartige<br />
Praktiken bei Kriminalstrafe unterbunden wissen.<br />
Hinsichtlich des bestehenden Rechtsrahmens entschied der<br />
EuGH, 53 dass bei zeitlich gestreckten Entscheidungsvorgängen<br />
– im konkreten Fall handelte es sich um das Ausscheiden<br />
des Vorstandsvorsitzenden der Daimler AG – auch bereits<br />
Zwischenschritte Insider-Informationen darstellen und Publizitätspflichten<br />
nach sich ziehen können.<br />
3. Sexuelle Ausbeutung von Kindern, Kinderpornographie 54<br />
Rat und Europäisches Parlament nahmen den Kompromiss<br />
hinsichtlich der Richtlinie 2011/93/EU des Europäischen Parlaments<br />
und des Rates v. 13.12.2011 zur Bekämpfung des<br />
sexuellen Missbrauchs und der sexuellen Ausbeutung von<br />
Kindern sowie der Kinderpornografie sowie zur Ersetzung<br />
des Rahmenbeschlusses 2004/68/JI des Rates an. 55 Die Umsetzungsfrist<br />
läuft bis zum 18.12.2013 (Art. 27 Abs. 1); der<br />
49 Ratsdok. 14511/12.<br />
50 Ratsdok. 14598/12.<br />
51 Ratsdok. 14601/12; zuvor Ratsdok. 13313/12; Ratsdok.<br />
11183/12 sowie KOM (2011) 651 endg. v. 20.10.2010; KOM<br />
(2011) 652 endg. v. 20.10.2010.<br />
52 KOM (2012) 420 endg. v. 30.7.2012; KOM (2012) 421<br />
endg. v. 30.7.2012.<br />
53 EuGH, Urt. v. 28.6.2012 – C-19/11 (Geltl v. Daimler AG)<br />
m. Anm. u. Bespr. Kocher/Widder, BB 2012, 1817; Schall,<br />
ZIP 2012, 1288; Szesny, Gesellschafts- und Wirtschaftsrecht<br />
2012, 292.<br />
54 Vgl. zuvor Brodowski, <strong>ZIS</strong> 2011, 940 (945); s. zudem<br />
Brand, DRiZ 2011, 318.<br />
55 ABl. EU 2011 Nr. L 335, S. 1; Berichtigung des Titels in<br />
ABl. EU 2011 Nr. L 18, S. 7.<br />
begrenzte Umsetzungsbedarf in Deutschland wurde bereits<br />
zuvor skizziert. 56<br />
4. Gegenseitige Anerkennung von Visa und Fahrerlaubnissen<br />
Zwei aktuelle Entscheidungen des EuGH betreffen die Frage,<br />
inwieweit administrative Entscheidungen eines anderen Mitgliedstaates<br />
– auch wenn diese unter tatsächlichen oder rechtlichen<br />
Mängeln leiden – anzuerkennen sind und somit einer<br />
strafrechtlichen Ahndung entgegenstehen: In einem (beschleunigten)<br />
Vorabentscheidungsverfahren befand der Gerichtshof,<br />
dass jemand auch dann wegen Einschleusens von Ausländern<br />
bestraft werden kann, wenn die eingeschleusten Drittstaatsangehörigen<br />
über ein Visum verfügen, das sie durch arglistige<br />
Täuschung erlangt haben und das nicht zuvor annulliert<br />
worden ist. Einem solchen erschlichenen Visum kommt mithin<br />
– auch im europäisierten Visakodex – keine Sperrwirkung<br />
zu. 57 Anders jedoch die vom Gerichtshof fortgesetzte<br />
Rechtsprechung hinsichtlich der Anerkennung von Fahrerlaubnissen<br />
der zufolge von anderen Mitgliedstaaten ausgestellte<br />
Fahrerlaubnisse grundsätzlich anzuerkennen sind. Eine<br />
Ausnahme erkennt der Gerichtshof lediglich dann an, wenn<br />
der Inhaber der Fahrerlaubnis zum Zeitpunkt deren Erteilung<br />
keinen Wohnsitz im ausstellenden Mitgliedstaat hatte. Dieser<br />
Umstand muss jedoch aufgrund von unbestreitbaren, vom<br />
Ausstellungsmitgliedstaat herrührenden Informationen feststehen.<br />
58<br />
5. Sicherstellung und Einziehung von Vermögen<br />
Mit ihrem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen<br />
Parlaments und des Rates über die Sicherstellung und Einziehung<br />
von Erträgen aus Straftaten in der Europäischen Union<br />
59 intendiert die Kommission, den bestehenden europäischen<br />
Rechtsrahmen 60 nur teilweise zu ersetzen, so dass eine<br />
56 Brodowski, <strong>ZIS</strong> 2011, 940 (945).<br />
57 EuGH, Urt. v. 10.4.2012 – C-83/12 PPU (Minh Khoa Vo).<br />
58 EuGH, Urt. v. 1.3.2012 – C-467/10 (Akyüz) m. Anm.<br />
Dauer, NJW 2012, 1940.<br />
59 KOM (2012) 85 endg. v. 12.3.2012.<br />
60 Dies sind:<br />
Gemeinsame Maßnahme 98/699/JI v. 3.12.1998 betreffend<br />
Geldwäsche, die Ermittlung, das Einfrieren, die Beschlagnahme<br />
und die Einziehung von Tatwerkzeugen und Erträgen aus<br />
Straftaten (ABl. EG 1998 Nr. L 333, S. 1),<br />
Rahmenbeschluss des Rates 2001/500/JI v. 26.6.2001 über<br />
Geldwäsche sowie Ermittlung, Einfrieren, Beschlagnahme und<br />
Einziehung von Tatwerkzeugen und Erträgen aus Straftaten<br />
(ABl. EG 2001 Nr. L 182, S. 1),<br />
Rahmenbeschluss des Rates 2003/77/JI v. 22.7.2003 über die<br />
Vollstreckung von Entscheidungen über die Sicherstellung<br />
von Vermögensgegenständen oder Beweismitteln in der Europäischen<br />
Union (ABl. EU 2003 Nr. L 96, S. 45),<br />
Rahmenbeschluss des Rates 2005/212/JI v. 24.2.2005 über<br />
die Einziehung von Erträgen, Tatwerkzeugen und Vermögensgegenständen<br />
aus Straftaten (ABl. EU 2005 Nr. L 68, S. 49)<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
und<br />
Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />
563
Dominik Brodowski<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
weitere Fragmentierung des geltenden Rechts zu befürchten<br />
ist: Da sich das neue Instrument auf Art. 83 Abs. 1 AEUV<br />
stützt, kann es nur Vorgaben betreffend der Abschöpfung von<br />
Erträgen aus bestimmten Straftaten enthalten (Art. 2 Abs. 6);<br />
ferner ist zu vermuten, dass sich nicht alle Mitgliedstaaten an<br />
der Richtlinie beteiligen (vgl. Art. 14).<br />
Obwohl nur „begrenzte statistische Daten“ über die tatsächlichen<br />
Erträge aus Straftaten vorliegen, erachtet die<br />
Kommission die derzeitige Vermögensabschöpfung für unzureichend.<br />
Die Mitgliedstaaten sollen daher Maßnahmen ergreifen,<br />
so dass Tatwerkzeuge, Erträge aus – bestimmten<br />
(Art. 2 Abs. 6) – Straftaten (Art. 3 Abs. 1) und deren wirtschaftliche<br />
Surrogate (Art. 3 Abs. 2) nach rechtskräftigen<br />
Verurteilungen eingezogen werden können. Darüber hinausgehend<br />
sollen Vermögenswerte abgeschöpft werden können,<br />
wenn „ein Gericht es aufgrund konkreter Tatsachen für wesentlich<br />
wahrscheinlicher hält, dass die betreffenden Vermögensgegenstände<br />
aus ähnlichen kriminellen Aktivitäten der<br />
verurteilten Person stammen und nicht aus anderen Tätigkeiten“<br />
(Art. 4 Abs. 1) – es soll also nicht auf die Überzeugung<br />
des Gerichts ankommen, sondern auf den in ausländischen<br />
Zivilrechtsordnungen üblichen Standard einer überwiegenden<br />
Wahrscheinlichkeit (preponderance of evidence). Diese sehr<br />
weitgehende Möglichkeit einer Vermögensabschöpfung solle<br />
nur dann nicht möglich sein, wenn diese andere (vermutete)<br />
Tat verjährt oder bereits abgeurteilt ist (Art. 4 Abs. 2). Im<br />
Vorfeld sollen die Mitgliedstaaten Möglichkeiten zur Sicherstellung<br />
vorhalten, die bei Gefahr in Verzug auch ohne vorherige<br />
richterliche Anordnung ergriffen werden können (Art.<br />
7).<br />
Der Rat der Europäischen Union – Justiz und Inneres –<br />
begrüßte in einer ersten Stellungnahme diesen Vorschlag.<br />
Manche Mitgliedstaaten und Mitglieder des Europäischen<br />
Parlaments schlagen jedoch vor, die Abschöpfung von Vermögensgegenständen<br />
noch weitergehend am aufgezeigten<br />
„zivilrechtlichen“ Modell (civil forfeiture) , d.h. mit variableren<br />
Anforderungen an das Beweismaß, zu orientieren und<br />
selbst nach einem Freispruch eine Vermögensabschöpfung<br />
vornehmen zu können, wenn nur die überwiegende Wahrscheinlichkeit<br />
für die Inkriminierung des Vermögens spreche.<br />
So wirbt Irland für seine zwei parallel anwendbaren Verfahrensmodelle,<br />
die sich nicht nur in personam gegen verurteilte<br />
Personen, sondern auch in rem gegen inkriminiertes Vermögen<br />
richten. 61 Indes wird erwogen, die erweiterte Vermögensabschöpfung<br />
nach Art. 4 an das Vorliegen weiterer<br />
Merkmale – wie etwa eine Mindestfreiheitsstrafe, einen Mindestbetrag<br />
an abzuschöpfendem Vermögen oder das Vorliegen<br />
eines schweren Falles – zu knüpfen. 62<br />
Rahmenbeschluss des Rates 2006/783/JI v. 6.10.2006 über<br />
die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung<br />
auf Einziehungsentscheidungen (ABl. EU 2006 Nr. 328,<br />
S. 59).<br />
61 Ratsdok. 10759/12; s. hierzu auch die Antwort Finnlands,<br />
Ratsdok. 11965/12, sowie das Diskussionspapier Ratsdok.<br />
12680/12.<br />
62 Ratsdok. 14826/12.<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
564<br />
<strong>ZIS</strong> 11/2012<br />
In engem thematischem Zusammenhang steht ein Diskussionspapier<br />
der zypriotischen Ratspräsidentschaft über die<br />
Effektuierung von Finanzermittlungen, das die Einführung<br />
eines automatisierten Abrufsystems von Kontoinformationen<br />
(in Deutschland § 24c KWG) in sämtlichen Mitgliedstaaten<br />
anregt. 63<br />
6. Schutz geistigen Eigentums<br />
Auf Vorlage des 1. Strafsenats des BGH 64 hatte der Gerichtshof<br />
in einem Verfahren zu urteilen, in dem das maßgebliche<br />
Verhalten – der Vertrieb von Einrichtungsgegenständen im<br />
„Bauhaus“-Stil – am Erfolgsort (Deutschland) strafrechtlich<br />
relevant war, am Handlungsort (Italien) jedoch nicht. Der<br />
Gerichtshof befand, dass sich der Händler nicht auf das niedrigere<br />
urheberrechtliche Schutzniveau in Italien berufen dürfe,<br />
da er sein Gewerbe maßgeblich auf den anderen Mitgliedstaat<br />
(Deutschland) ausgerichtet habe: so etwa durch zielgerichtete<br />
Werbung, spezifische Lieferungssysteme und „spezifische<br />
Zahlungsmodalitäten“. 65<br />
IV. Strafverfahrensrecht<br />
1. Beschuldigtenrechte – Übersicht<br />
Auf dem Internetportal e-Justice der Kommission sind zusammenfassende<br />
Informationen über die Rechte von Beschuldigten<br />
in Strafverfahren für jedes der 27 Mitgliedstaaten der<br />
Europäischen Union veröffentlicht 66 und werden nun nach<br />
und nach in die verschiedenen Amtssprachen übersetzt. Diese<br />
dienen nicht nur Beschuldigten als erste Information über die<br />
ihnen drohenden Verfahrensschritte, sondern können auch für<br />
Verteidiger, Strafverfolger und Gerichte einen nützlichen<br />
Ausgangspunkt darstellen für die Bearbeitung transnationaler<br />
Sachverhalte.<br />
2. Recht auf Belehrung in Strafverfahren 67<br />
Rat und Europäisches Parlament konnten sich auf einen Kompromiss<br />
hinsichtlich einer Richtlinie über das Recht auf Belehrung<br />
in Strafverfahren einigen, 68 welche der Gewährleistung<br />
und auch der Fortentwicklung des Mindeststandards an<br />
Belehrungspflichten dient, wie sie bereits Art. 5 Abs. 2,<br />
Art. 6 Abs. 3 lit. a EMRK und die korrespondierende Rechtsprechung<br />
des EGMR vorsehen. Der ursprüngliche Kommissionsvorschlag<br />
69 ist in mehrerlei Hinsicht entschärft: So sind<br />
63 Ratsdok. 14597/12.<br />
64 BGH NStZ-RR 2011, 178.<br />
65 EuGH, Urt. v. 21.6.2012 – C-5/11 (Donner).<br />
66 e-justice.europa.eu/content_rights_of_defendants_in_criminal_proceedings_-169-de.do<br />
(Stand: 31.10.2012).<br />
67 Vgl. zuvor Brodowski, <strong>ZIS</strong> 2011, 940 (946 f.); s. zudem<br />
Corell/Sidhu, StV 2012, 246; Gatzweiler, StraFo 2011, 293;<br />
Philipp, EuZW 2012, 84. Allgemein zum „Fahrplan zur Stärkung<br />
der Verfahrensrechte von Verdächtigten oder Beschuldigten“<br />
(ABl. EU 2009 Nr. C 295, S. 1) Blackstock, European<br />
Criminal Law Review 2 (2012), 20; Spronken, European<br />
Criminal Law Review 1 (2011), 212.<br />
68 ABl. EU 2012 Nr. L 142, S. 1.<br />
69 KOM (2010) 392 endg. v. 20.7.2010.
Strafrechtsrelevante Entwicklungen in der Europäischen Union – ein Überblick<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
Bußgeldverfahren vor einer Verwaltungsbehörde aus dem Anwendungsbereich<br />
der Richtlinie ausgenommen (Art. 2 Abs. 2),<br />
so ist eine schriftliche Belehrung – etwa unter Zuhilfenahme<br />
des im Anhang beigefügten Musters – nur bei einer Festnahme<br />
erforderlich (Art. 4). Die ursprünglich vorgesehenen, weitgehenden<br />
Akteneinsichtsrechte wurden aufgeweicht (Art. 7):<br />
So ist Untersuchungshäftlingen bzw. ihren Verteidigern nur<br />
Einsicht in solche Aktenbestandteile zu gewähren, die für die<br />
Haftprüfung essenziell seien. Für das Hauptverfahren wurde<br />
eine merkwürdige Formel vereinbart: Einerseits ist davon die<br />
Rede, dass dem Beschuldigten oder seinem Verteidiger „Einsicht<br />
in zumindest [sic!] alle im Besitz der zuständigen Behörden<br />
befindlichen Beweismittel [...] gewährt wird“, andererseits<br />
wird dies durch die Inbezugnahme des fairen Verfahrens<br />
einer Abwägungslösung zugeführt („um ein faires Verfahren<br />
zu gewährleisten“), die in Art. 7 Abs. 3 näher ausgeführt<br />
wird. Schließlich wurde der Vorschlag der damaligen<br />
ungarischen Ratspräsidentschaft aufgegriffen, dass allein auf<br />
innerstaatliche Rechtsbehelfe verwiesen wird, mit denen die<br />
Verweigerung von Akteneinsicht gerügt werden kann (Art. 8<br />
Abs. 2). Die Richtlinie ist bis zum 2.6.2014 umzusetzen (Art.<br />
11 Abs. 1). 70<br />
3. Recht auf Rechtsbeistand in Strafverfahren und auf Kontaktaufnahme<br />
bei der Festnahme 71<br />
In Bezug auf den Vorschlag für [eine] Richtlinie des Europäischen<br />
Parlaments und des Rates über das Recht auf Rechtsbeistand<br />
in Strafverfahren und das Recht auf Kontaktaufnahme<br />
bei der Festnahme 72 wies die dänische Ratspräsidentschaft<br />
darauf hin, dass in dieser Richtlinie im Vordergrund<br />
stehe, ob ein Verteidiger beteiligt und inwieweit – insbesondere<br />
inhaftierten Beschuldigten – Unterstützung bei der Suche<br />
nach einem Verteidiger gewährt werden müsse. Fragen<br />
der Pflichtverteidigung seien hiervon im Ausgangspunkt zu<br />
trennen. Der Rat der Europäischen Union – Justiz und Inneres<br />
– erzielte auf seiner 3172. Tagung am 7./8.6.2012 eine<br />
allgemeine Ausrichtung, 73 die sich signifikant vom Vorschlag<br />
der Kommission unterscheidet: Geringfügige Verfahren, die<br />
nur zu einer Geldbuße oder -strafe führen können, seien prinzipiell<br />
aus dem Anwendungsbereich der Richtlinie auszunehmen<br />
(Art. 2 Abs. 3, Abs. 4). Es sei primär eine Frage des<br />
nationalen Rechts, bei welchen Ermittlungsmaßnahmen ein<br />
Verteidiger anwesend sein dürfe; die Richtlinie soll dies nur<br />
bei Vernehmungen, Gegenüberstellungen, Konfrontationen<br />
und Tatrekonstruktionen vorschreiben (Art. 3 Abs. 3 lit. b<br />
und c); ferner sei zwischen inhaftierten und nicht inhaftierten<br />
70 Zur Umsetzung dieser Richtlinie und der Richtlinie<br />
2010/64/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom<br />
20. Oktober 2010 über das Recht auf Dolmetschleistungen<br />
und Übersetzungen in Strafverfahren (ABl. EU 2010 Nr. L<br />
280, S. 1) legte das Bundesministerium der Justiz kürzlich<br />
einen Referentenentwurf vor, der nur geringfügigen Anpassungen<br />
im GVG und in der StPO vorsieht.<br />
71 Vgl. zuvor Brodowski, <strong>ZIS</strong> 2011, 940 (947 f.); s. zudem<br />
Corell/Sidhu, StV 2012, 246; Gatzweiler, StraFo 2011, 293.<br />
72 Kommissionsvorschlag KOM (2011) 326 endg. v. 8.6.2011.<br />
73 Ratsdok. 10467/12.<br />
Beschuldigten (s. etwa Art. 3 Abs. 4) zu differenzieren. An<br />
die Stelle einer Kontaktaufnahme durch den Beschuldigten<br />
selbst tritt die Benachrichtigung einer vom Beschuldigten benannten<br />
Person durch die Ermittlungsbehörden (Art. 5). Diese<br />
Benachrichtigung und auch die Hinzuziehung eines Verteidigers<br />
sollen von den Ermittlungsbehörden aufgeschoben<br />
werden dürfen, wenn dies aus „zwingenden Gründen“ erforderlich<br />
sei und die Fairness des Verfahrens nicht beeinträchtige<br />
(Art. 3 Abs. 5, Art. 4 Abs. 2, Art. 5 Abs. 3, jeweils i.V.m.<br />
Art. 7). Anstelle des ursprünglich vorgesehenen Beweisverwertungsverbots<br />
bei Verstößen und anstelle einer zwischenzeitlich<br />
diskutierten, an der Fairness des gesamten Verfahrens<br />
orientierten Abwägungslösung, verweist der Entwurf nur noch<br />
auf einen nach nationalem Recht auszugestaltenden „effektiven<br />
Rechtsbehelf“ bei Verstößen gegen das Recht auf Rechtsbeistand.<br />
Aus dem Europäischen Parlament ist zu vernehmen,<br />
dass dessen Verhandlungsposition für den nun anstehenden<br />
Trilog sich eher an dem Kommissionsentwurf – und damit an<br />
einer weitreichenden Stärkung des Rechts auf einen Rechtsbeistand<br />
– orientiert. Daher gestaltet sich der Trilog bislang<br />
ausgesprochen zäh.<br />
4. Stärkung der Rechte und des Schutzes von Opfern, insbesondere<br />
in Strafverfahren 74<br />
Rat und Europäisches Parlament konnten sich auf einen Kompromiss<br />
hinsichtlich einer Richtlinie des Europäischen Parlaments<br />
und des Rates über Mindeststandards für die Rechte<br />
und den Schutz von Opfern von Straftaten sowie für die Opferhilfe<br />
75 einigen. Im Vergleich zum Kommissionsvorschlag<br />
sieht die Richtlinie nicht länger einen gerichtlichen Rechtsbehelf<br />
des Opfers gegen eine Verfahrenseinstellung vor; eine<br />
Überprüfung soll auch durch eine Verwaltungsbehörde oder<br />
die jeweils oberste Strafverfolgungsbehörde, etwa die Generalstaatsanwaltschaften,<br />
erfolgen können. Bei Einstellungen<br />
nach dem Opportunitätsprinzip, die mit Zustimmung des<br />
Beschuldigten erfolgen („out-of-court settlements“), ist eine<br />
Überprüfungsmöglichkeit – im Einklang mit der Rechtslage<br />
in Deutschland – ohnehin nicht zu gewährleisten (Art. 10<br />
Abs. 3). Ferner wurden einerseits die Mitteilungspflichten<br />
entschärft. So ist eine Begründungspflicht bei Verfahrenseinstellungen<br />
oder Freisprüchen nicht länger vorgesehen, wenn<br />
diese auch im nationalen Recht nicht gegeben ist. Andererseits<br />
ist nunmehr das Opfer über die Freilassung oder Flucht<br />
des Täters aus der Untersuchungs- oder Strafhaft zu verständigen<br />
(Art. 5 Abs. 2). Beibehalten wurden umfassende Belehrungspflichten<br />
(Art. 3) und differenzierte Bestimmungen<br />
hinsichtlich Dolmetschleistungen (Art. 4 Abs. 2 und 3; Art.<br />
7). Ob für eine Nebenklage Prozesskostenhilfe gewährt wird,<br />
soll sich nach nationalem Recht richten (Art. 12).<br />
74 Vgl. zuvor Brodowski, <strong>ZIS</strong> 2011, 940 (949 f.). Zu dem<br />
a.a.O. referierten Urt. des EuGH v. 15.9.2011 – C-483/09 und<br />
C-1/10 s. nunmehr Schmälzger, European Law Reporter<br />
2011, 301.<br />
75 Ratsdok. 11702/12; Ratsdok. 13617/12 sowie PE-CONS<br />
37/12.<br />
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565
Dominik Brodowski<br />
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Hinsichtlich des bestehenden Rahmenbeschlusses, 76 der<br />
durch die Richtlinie abgelöst werden soll, befand der Gerichtshof,<br />
dass dieser die Mitgliedstaaten nicht dazu verpflichte,<br />
auf Antrag eines besonders gefährdeten Opfers ein<br />
besonderes „Beweissicherungsverfahren“ – man denke in<br />
Deutschland etwa an eine richterliche Zeugenvernehmung –<br />
durchzuführen. 77 Des Weiteren beziehe sich die Maßgabe,<br />
dass „Opfer einer Straftat ein Recht darauf haben, […] eine<br />
Entscheidung über die Entschädigung durch den Täter zu<br />
erwirken“ (Art. 9 Abs. 1), nur auf natürliche Personen, nicht<br />
hingegen auf Zuwiderhandlungen juristischer Personen. 78<br />
Auch den Opferbegriff begrenzte der Gerichtshof auf natürliche<br />
Personen. 79 Präjudizwirkung entfaltet all dies für die<br />
Richtlinie jedoch nicht, doch auch diese spricht hinsichtlich<br />
des Opfers ausdrücklich nur von „natürlichen Personen“<br />
(Art. 2 Abs. 1 lit. a sublit. i) und auch auf diese lässt sich die<br />
Begründungslinie des Gerichtshofs übertragen, denn wie der<br />
Rahmenbeschluss zwingt auch die Richtlinie nicht zur Einführung<br />
einer strafrechtlichen Verantwortlichkeit juristischer<br />
Personen, was dem Gerichtshof zufolge ein wesentlicher Anhaltspunkt<br />
dafür ist, dass dieser auch generell nicht auf Straf-<br />
oder Bußgeldverfahren gegen juristische Personen anwendbar<br />
sei.<br />
5. Vorratsdatenspeicherung von Telekommunikations-<br />
Verbindungsdaten 80<br />
Gegen Deutschland erhob die Kommission am 31.5.2012 eine<br />
Vertragsverletzungsklage wegen nicht ordnungsgemäßer<br />
Umsetzung der bestehenden Richtlinie. 81 In einem weiteren<br />
Verfahren vor dem Gerichtshof ersucht der High Court of Ireland<br />
in einem Vorabentscheidungsverfahren die Klärung der<br />
Frage, ob die Pflicht zur Vorratsdatenspeicherung von Verbindungsdaten<br />
verhältnismäßig und mit der Grundrechtecharta<br />
vereinbar ist. 82<br />
Im Hinblick auf die zunächst für 2012 geplante, nun aber<br />
auf 2013 verschobene 83 Überarbeitung der Vorratsdatenspeicherungs-Richtlinie<br />
84 weist eine vertrauliche Information der<br />
76<br />
Rahmenbeschluss 2001/220/JI des Rates v. 15.3.2001 über<br />
die Stellung des Opfers im Strafverfahren = ABl. EG 2001<br />
Nr. L 82, S. 1.<br />
77<br />
EuGH, Urt. v. 21.12.2011 – C-507/10 (X).<br />
78<br />
EuGH, Urt. v. 12.7.2012 – C-79/11 (Giovanardi) = NJW<br />
2012, 2418.<br />
79<br />
EuGH, Urt. v. 21.10.2010 – C-205/09 (Eredics und Sápi)<br />
m. Anm. u. Bespr. Bock, JZ 2011, 469; Moalem, European<br />
Law Reporter 2011, 156; EuGH, Urt. v. 28.6.2007 – C-467/<br />
05 (Dell’Orto).<br />
80<br />
Vgl. zuvor Brodowski, <strong>ZIS</strong> 2011, 940 (948); s. zudem<br />
Breyer, MMR 9/2011, V; Petri, DuD 2011, 607; Rettenmaier/Palm,<br />
<strong>ZIS</strong> 2012, 469 (472 f.); Zeitzmann, Zeitschrift für<br />
Europarechtliche Studien 2011, 433.<br />
81<br />
Rs. C-329/12.<br />
82<br />
Rs. C-293/12; s. hierzu auch Ratsdok. 12785/12.<br />
83<br />
S. bereits oben II. 2. bei und mit Fn. 17.<br />
84<br />
Richtlinie 2006/24/EG des europäischen Parlaments und<br />
des Rates v. 15.3.2006 über die Vorratsspeicherung von Daten,<br />
die bei der Bereitstellung öffentlich zugänglicher elekt-<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
566<br />
<strong>ZIS</strong> 11/2012<br />
Kommission darauf hin, dass die bislang von den Mitgliedstaaten<br />
übermittelten Angaben nicht ausreichen, um die Notwendigkeit<br />
und den Nutzen der Vorratsdatenspeicherung empirisch<br />
belegen zu können. Ferner stellt sie fest, dass manche<br />
Datentypen derzeit noch nicht vorgehalten werden müssen,<br />
etwa Instant Messaging sowie Up- und Downloads. Die meisten<br />
Anfragen richteten sich auf die Zuordnung von dynamischen<br />
IP-Adressen auf Bestandsdaten; die vergleichsweise<br />
geringe Nutzung anderer Datentypen – etwa auf Anfragen,<br />
wer wann mit wem per E-Mail kommuniziert habe – kommentiert<br />
die Kommission mit der Mutmaßung, insoweit könne<br />
es an Ausbildung oder Ermittlungskapazitäten mangeln. 85<br />
Insbesondere die letzten beiden Aspekte lassen aufhorchen:<br />
Eine Vorratsdatenspeicherung auch sämtlicher Up- und Downloads<br />
würde bedeuten, dass auch alle Besuche auf Webseiten<br />
für mindestens sechs Monate nachzuvollziehen wären. Die<br />
vorrangige Nutzung von Vorratsdaten zur Zuordnung von IP-<br />
Adressen zu Bestandsdaten wiederum unterstreicht den vordringlichen<br />
Bedarf, für diesen begrenzten Zweck ein Ermittlungsinstrument<br />
vorzuhalten. Hingegen ist es durchwegs zu<br />
begrüßen, dass von der – datenschutz- und menschenrechtlich<br />
weitaus gefährlicheren – Ausforschung des Kommunikationsumfelds<br />
eines Beschuldigten nur zurückhaltend Gebrauch<br />
gemacht wird.<br />
6. Vorratsdatenspeicherung von Fluggastdatensätzen (PNR) 86<br />
Der Rat der Europäischen Union – Justiz und Inneres – erzielte<br />
auf seiner 3162. Tagung am 26./27.4.2012 eine allgemeine<br />
Ausrichtung hinsichtlich des Vorschlags für eine<br />
Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über<br />
die Verwendung von Fluggastdatensätzen zu Zwecken der<br />
Verhütung, Aufdeckung, Aufklärung und strafrechtlichen Verfolgung<br />
von terroristischen Straftaten und schwerer Kriminalität.<br />
87 Seine Verhandlungsposition im nun folgenden Trilog<br />
zielt darauf ab, den Mitgliedstaaten die Möglichkeit einzuräumen,<br />
das an sich nur für die EU-Außengrenzen überschreitende<br />
Flüge gedachte System auch auf innereuropäische Flüge<br />
zu erstrecken. Ferner soll nach Auffassung des Rates die<br />
Speicherdauer auf fünf Jahre festgelegt werden, wobei nach<br />
zwei Jahren ein Zugriff auf den Klarnamen und auf sonstige<br />
personenbezogene Daten dem Vorbehalt einer vorherigen<br />
Genehmigung durch einen Richter oder durch eine andere, im<br />
nationalen Recht hierfür vorgesehenen Stelle unterliegen soll.<br />
ronischer Kommunikationsdienste oder öffentlicher Kommunikationsdienste<br />
erzeugt oder verarbeitet werden, und zur<br />
Änderung der Richtlinie 2002/58/EG = ABl. EU 2006 Nr. L<br />
105, S. 54; Evaluation in KOM (2011) 225 endg. v. 18.4.<br />
2011.<br />
85 Ratsdok. 18620/11.<br />
86 Vgl. zuvor Brodowski, <strong>ZIS</strong> 2011, 940 (948 f.).<br />
87 I.d.F. Ratsdok. 8196/12; s. zuvor KOM (2011) 32 endg. v.<br />
2.2.2011.
Strafrechtsrelevante Entwicklungen in der Europäischen Union – ein Überblick<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
7. EU-System zum Aufspüren der Terrorismusfinanzierung<br />
(EU-TFTP) 88<br />
Nach wie vor werden Meinungsverschiedenheiten zwischen<br />
den Mitgliedstaaten hinsichtlich der Erforderlichkeit und<br />
Zweckmäßigkeit eines eigenen europäischen Systems zum<br />
Aufspüren der Terrorismusfinanzierung (EU-TFTP) deutlich.<br />
Einerseits wird hervorgehoben, dass durch ein europäisches<br />
System die Notwendigkeit des Transfers größerer Mengen<br />
personenbezogener Daten – auch Unschuldiger – an Drittstaaten<br />
vermieden werden könnte. Andererseits jedoch werden<br />
die hohen Kosten eines solchen Systems betont. Letzteres<br />
ziehen manche Mitgliedstaaten als Argument dafür heran, das<br />
System auch zum Aufspüren anderer Kriminalitätsformen<br />
heranzuziehen. 89<br />
8. Freizügigkeit, Ausreiserestriktionen und Ausweisungsverfügungen<br />
Der Gerichtshof stellte erneut klar, dass die Freizügigkeit<br />
(Art. 21 AEUV, Art. 27 Freizügigkeitsrichtlinie 90 ) auch zur<br />
Verhütung von Straftaten eingeschränkt werden dürfe. Diese<br />
Grundfreiheit stehe nationalen Ausreiserestriktionen nicht entgegen,<br />
die verurteilten Straftätern die Ausreise verwehren,<br />
jedenfalls sofern erstens das persönliche Verhalten dieses<br />
Staatsangehörigen eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche<br />
Gefahr darstellt, zweitens die Ausreiserestriktion verhältnismäßig<br />
ist und drittens eine gerichtliche Überprüfung<br />
der Ausreiserestriktion im Einzelfall möglich ist. 91<br />
Die Große Kammer urteilte auf eine Vorlage des OVG<br />
NRW, dass von einem ausländischen Unionsbürger begangene<br />
„Straftaten wie die in Art. 83 Abs. 1 Unterabs. 2 AEUV angeführten<br />
als besonders schwere Beeinträchtigung eines grundlegenden<br />
gesellschaftlichen Interesses“ angesehen werden dürfen<br />
und somit „zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit“<br />
i.S.d. Art. 28 Abs. 3 Freizügigkeitsrichtlinie darstellen<br />
können, welche eine Ausweisungsverfügung und somit eine<br />
Einschränkung der Freizügigkeit rechtfertigen könne. 92<br />
88<br />
Vgl. zuvor Brodowski, <strong>ZIS</strong> 2011, 940 (950).<br />
89<br />
Ratsdok. 18287/11; zuvor KOM (2011) 429 endg. v. 13.7.<br />
2011.<br />
90<br />
Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und<br />
des Rates v. 29.4.2004 über das Recht der Unionsbürger und<br />
ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten<br />
frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung<br />
der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der<br />
Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/<br />
148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/<br />
EWG und 93/96/EWG =ABl. EU 2004 Nr. L 158, S. 123.<br />
91<br />
EuGH, Urt. v. 17.11.2011 – C-430/10.<br />
92<br />
EuGH, Urt. v. 22.5.2012 – C-348/09 (P.I. v. Oberbürgermeisterin<br />
der Stadt Remscheid).<br />
9. Ne bis in idem – Art. 50 GRC, Art. 54 SDÜ 93<br />
Dem EuGH liegt die Frage zur Entscheidung vor, ob das aus<br />
Art. 50 GRC folgende Doppelbestrafungsverbot einer strafrechtlichen<br />
Verurteilung entgegensteht, wenn gegen den Täter<br />
zuvor wegen derselben unrichtigen Angaben ein Steuerzuschlag,<br />
also eine wirtschaftliche Sanktion, festgesetzt wurde.<br />
94 Problematisch ist, wie Generalanwalt Villalón in seinen<br />
Schlussanträgen herausarbeitet, bereits die Zulässigkeit der<br />
Vorlage, weil die Grundrechtecharta nur bei der „Durchführung<br />
des Rechts der Union“ (Art. 51 Abs. 1 GRC) anwendbar<br />
sei. Auch wenn das Strafverfahren eine Materie – hier die<br />
Umsatzsteuer – betreffe, die einer europarechtlichen Harmonisierung<br />
unterworfen sei, genüge dies laut Villalón für sich<br />
genommen nicht, um die „Verteilung der Verantwortlichkeit<br />
für die Gewährleistung der Grundrechte zwischen der Union<br />
und den Staaten“ zu verlagern. Mithin sei die Vorlage unzulässig;<br />
hilfsweise auch unbegründet, soweit nämlich die vorherige<br />
verwaltungsrechtliche Sanktion bei der Strafzumessung<br />
berücksichtigt werden kann.<br />
V. Zusammenarbeit in Strafsachen<br />
1. Europäischer Haftbefehl 95<br />
Der britische Staatsbürger West war von französischen, ungarischen<br />
und finnischen Behörden jeweils mit einem Europäischen<br />
Haftbefehl gesucht worden, weil er in den jeweiligen<br />
Staaten des Diebstahls historischer Bücher verdächtigt<br />
wurde bzw. bereits in absentia verurteilt worden war. Er<br />
wurde von Großbritannien zunächst an Ungarn ausgeliefert.<br />
Nach Verbüßung der ungarischen Freiheitsstrafe wurde er mit<br />
Zustimmung der britischen Behörden nach Finnland überstellt.<br />
Da er nun auch die finnische Freiheitsstrafe verbüßt<br />
hat, stellt sich die Frage, ob West von Finnland nach Frankreich<br />
überstellt werden darf. Da West seiner Überstellung<br />
nicht zustimmte, ist gem. Art. 28 Abs. 2 RbEuHb 96 hierfür<br />
grundsätzlich die „Zustimmung des Vollstreckungsmitgliedstaats“<br />
97 erforderlich: Ungarn stimmte zu, Großbritannien hingegen<br />
nicht. Der Gerichtshof entschied auf Vorlage des finnischen<br />
Gerichts, dass die Zustimmung des zuletzt beteiligten<br />
93<br />
Vgl. hierzu – aus neuerer Zeit – BVerfG, Beschl. v. 15.12.<br />
2011 – 2 BvR 148/11 = NJW 2012, 1202; BGHSt 56, 11;<br />
Böse, GA 2011, 504; Bravo, New Journal of European Criminal<br />
Law 2 (2011), 393; Burchard/Brodowski, StraFo 2010,<br />
179; Eckstein, ZStW 124 (2012), 490; Hackner, NStZ 2011,<br />
425; Hecker, JuS 2012, 261; Merkel/Scheinfeld, <strong>ZIS</strong> 2012,<br />
206; Schomburg/Suominen-Picht, NJW 2012, 1190.<br />
94<br />
Rs. C-617/10 (Fransson).<br />
95<br />
Vgl. zuvor Brodowski, <strong>ZIS</strong> 2011, 940 (952). Zu dem a.a.O.<br />
referierten Urt. des EuGH v. 16.11.2010 – C-261/09 (Mantello)<br />
s. nunmehr Böse, HRRS 2012, 19.<br />
96<br />
Rahmenbeschluss 2002/584/JI des Rates v. 13.6.2002 über<br />
den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren<br />
zwischen den Mitgliedstaaten i.d.F. CONSLEG 2002F0584<br />
v. 28.3.2009.<br />
97<br />
Keiner der beteiligten Mitgliedstaaten hat von der Möglichkeit<br />
des Art. 28 Abs. 1 RbEuHb Gebraucht gemacht, auf<br />
dieses Recht zu verzichten.<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
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567
Dominik Brodowski<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
Staates – hier also Ungarn – ausreiche. Auch wenn Ungarn<br />
seinerseits eine „[w]eitere Übergabe oder Auslieferung“<br />
vorgenommen hatte, sei die Zustimmung der britischen Behörden<br />
zum nunmehrigen Verfahren nicht notwendig. 98<br />
In einem weiteren Vorabentscheidungsersuchen urteilte<br />
der Gerichtshof über die Frage, ob eine mit §§ 80 Abs. 1 Nr.<br />
1, 83b Abs. 2 IRG vergleichbare französische Regelung mit<br />
Unionsrecht vereinbar ist, die eine Privilegierung eigener<br />
Staatsangehöriger vorsieht 99 : Die Vollstreckung eines Europäischen<br />
Haftbefehls kann gem. Art. 695-24 CPP von der<br />
Bedingung abhängig gemacht werden, dass eine später gegen<br />
einen französischen Staatsangehörigen verhängte Freiheitsstrafe<br />
sodann in Frankreich vollstreckt wird. Der Beschuldigte<br />
im vorliegenden Verfahren, ein Portugiese mit Wohnsitz in<br />
Frankreich, wehrt sich dagegen, dass er nicht den gleichen<br />
Schutz genieße. Der Gerichtshof folgte den Schlussanträgen<br />
des Generalanwalts Mengozzi: Die in Art. 4 Nr. 6 RbEuHb<br />
angelegte Möglichkeit, neben eigenen Staatsangehörigen auch<br />
im Inland residierende Personen zu privilegieren, verdichte<br />
sich im Lichte des allgemeinen Diskriminierungsverbots (Art.<br />
18 AEUV) zu einer Pflicht, nicht nur eigenen Staatsangehörigen<br />
den Ausschlussgrund des Art. 4 Nr. 6 RbEuHb zu gewähren,<br />
sondern – nach Maßgabe des Einzelfalls – dies auch<br />
auf Drittstaatsangehörige mit Wohnsitz und sozialen Bindungen<br />
im Inland zu erstrecken. Infolge dieses Urteils werden<br />
§§ 80 Abs. 1 Nr. 1, 83b Abs. 2 IRG unionsrechtskonform<br />
auszulegen sein.<br />
Ein rumänisches Vorabentscheidungsersuchen wirft die<br />
grundsätzliche Frage auf, ob die Ablehnungsgründe in Art. 4<br />
und Art. 5 RbEuHb abschließend sind oder ob sich aus der<br />
EMRK, auch in Verbindung mit der Grundrechtecharta, aus<br />
dem Verhältnismäßigkeitsprinzip oder aus einer unzureichenden<br />
Umsetzung des RbEuHb im Ausstellungsmitgliedstaat<br />
weitere Ablehnungsgründe ergeben können. 100<br />
Generalanwältin Sharpston zufolge sei bei Willkür und in<br />
sonstigen Ausnahmefällen über die in Art. 4 und Art. 5<br />
RbEuHb genannten Gründe eine Ablehnung möglich, „wenn<br />
nachgewiesen wird, dass die Menschenrechte der Person, die<br />
übergeben werden soll, bei oder nach dem Übergabeverfahren<br />
verletzt worden sind oder in Zukunft verletzt werden<br />
[… etwa, wenn] die Fairness des Verfahrens fundamental<br />
zerstört wird.“ Die bisherige Rechtsprechung des EuGH 101<br />
und auch die Schlussanträge des Generalanwalts Bot in einem<br />
aktuellen spanischen Vorabentscheidungsersuchen 102 legen<br />
jedoch nahe, dass der Katalog der Ablehnungsgründe abschließend<br />
ist und insbesondere nicht durch einen Verweis<br />
auf Art. 1 Abs. 3 RbEuHb, auf Art. 53 GRC oder auf nationales<br />
Verfassungsrecht erweitert werden kann. Sollte der Gerichtshof<br />
dieser Auffassung folgen, wäre somit auch der in<br />
98<br />
EuGH, Urt. v. 28.6.2012 – C-192/12 PPU (West).<br />
99<br />
Rs. C-42/11 (Lopes Da Silva Jorge).<br />
100<br />
Rs. C-396/11 (Radu).<br />
101<br />
EuGH, Urt. v. 16.11.2010 – C-261/09 (Mantello), NJW<br />
2011, 983; s. allgemein hierzu Böse, in: Grützner/Pötz/Kreß,<br />
IRG, 3. Aufl., 26. Lfg. 2012, Vor § 78 Rn. 25 m.w.N.<br />
102<br />
Rs. C-399/11 (Melloni); s. hierzu Tinsley, NJECL 3<br />
(2012), 19; Torres Pérez, ECLR 2012, 105.<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
568<br />
<strong>ZIS</strong> 11/2012<br />
Deutschland vorgesehene Ablehnungsgrund des europäischen<br />
ordre public (§ 73 Abs. 2 IRG) in Gefahr.<br />
Im genannten spanischen Vorabentscheidungsersuchen<br />
vertritt Bot zudem die Auffassung, dass die Regelung in Art.<br />
4a RbEuHb hinsichtlich Verurteilungen in absentia mit Unionsrecht<br />
und mit der EMRK vereinbar ist. Auf die Problematik,<br />
dass die EMRK nur einen Mindeststandard darstellt, der<br />
unter Umständen einer Weiterentwicklung bedarf, geht Bot<br />
allerdings nur unzureichend ein. Es soll seiner Auffassung<br />
nach – auch aus dem Blickwinkel der menschenrechtlich<br />
gebotenen Verteidigungsrechte – somit jede der folgenden<br />
Alternativen ausreichen:<br />
� Der Angeklagte wurde vor Beginn des Verfahrens in<br />
absentia unter Androhung eines Abwesenheitsverfahrens<br />
„persönlich vorgeladen“ oder „auf andere Weise tatsächlich<br />
offiziell [...] unterrichtet“, wobei zudem „zweifelsfrei“<br />
feststehen muss, dass der Angeklagte „von der anberaumten<br />
Verhandlung Kenntnis hatte“ (Art. 4a Abs. 1 lit.<br />
a RbEuHb);<br />
� der Angeklagte wurde bei dem Verfahren in absentia<br />
durch einen von ihm mandatierten Rechtsbeistand verteidigt<br />
(Art. 4a Abs. 1 lit. b RbEuHb);<br />
� dem Verurteilten wurde nach dem Verfahren in absentia<br />
die Entscheidung zugestellt, er verzichtete aber auf ein<br />
Nachverfahren (Berufungs- oder Wiederaufnahmeverfahren)<br />
oder beantragte dies binnen der vorgesehenen Frist<br />
nicht (Art. 4a Abs. 1 lit. c RbEuHb); oder<br />
� dem Verurteilten wird während dem Auslieferungs- und<br />
Übergabeverfahren die Möglichkeit eingeräumt, ein solches<br />
Nachverfahren zu beantragen (Art. 4a Abs. 1 lit. d<br />
RbEuHb).<br />
2. Europäische Ermittlungsanordnung 103<br />
Der Ausschuss für Bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres<br />
(LIBE) des Europäischen Parlaments ließ am 8.5.2012 verlauten,<br />
dass er in der Europäische Ermittlungsanordnung in<br />
Strafsachen 104 gewisse Kontrollmöglichkeiten durch den<br />
Vollstreckungsstaat – insbesondere zur Gewährleistung der<br />
Verhältnismäßigkeit und anderer wesentlicher Verfahrensprinzipien<br />
– und damit eine Möglichkeit, im Einzelfall vom<br />
Prinzip der gegenseitigen Anerkennung abzuweichen, als<br />
Korrektiv in der Richtlinie verankert sehen möchte.<br />
Während die Verhandlungen hinsichtlich der Erwägungsgründe<br />
und der Anlagen (insbesondere also hinsichtlich der<br />
Formulare) in den Gremien des Rates noch andauern, 105<br />
103 Vgl. zuvor Brodowski, <strong>ZIS</strong> 2011, 940 (950 f.); s. ferner<br />
Heard/Mansell, New Journal of European Criminal Law 2<br />
(2011), 353.<br />
104 Initiative des Königreichs Belgien, der Republik Bulgarien,<br />
der Republik Estland, des Königreichs Spanien, der Republik<br />
Österreich, der Republik Slowenien und des Königreichs<br />
Schweden für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments<br />
und des Rates über die Europäische Ermittlungsanordnung<br />
in Strafsachen; partielle allgemeine Ausrichtung in<br />
Ratsdok. 11735/11; ursprünglich Ratsdok. 9145/10.<br />
105 Ratsdok. 7014/12.
Strafrechtsrelevante Entwicklungen in der Europäischen Union – ein Überblick<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
konnte eine weitere partielle allgemeine Ausrichtung auch zu<br />
den Regelungen der spezifischen Ermittlungsmaßnahmen<br />
erzielt werden. 106 Deren Regelungsinhalt lässt sich wie folgt<br />
skizzieren:<br />
a) Überstellung von Inhaftierten für die Durchführung von<br />
Ermittlungsmaßnahmen (Art. 19, 20)<br />
Auf Anordnung eines Mitgliedstaates können Inhaftierte in<br />
andere Mitgliedstaaten verbracht werden, um dort Ermittlungsmaßnahmen<br />
durchführen zu können, die seine Anwesenheit<br />
erfordern. Ist dies ein Ersuchen des Staates, in dem er inhaftiert<br />
ist, kann dies auch gegen seinen Willen erfolgen, andernfalls<br />
stellt seine Weigerung einen zwingenden Ausschlussgrund<br />
dar.<br />
b) Audiovisuelle Vernehmungen und Vernehmungen per<br />
Telefon (Art. 21, 22)<br />
Zeugen und Sachverständige sollen stets mittels einer Europäischen<br />
Ermittlungsanordnung audiovisuell oder via Telefonkonferenz<br />
angehört werden können, Beschuldigte hingegen<br />
nur, wenn dies mit dem nationalen ordre public vereinbar ist<br />
und wenn sie einwilligen. Zeugnisverweigerungsrechte sowohl<br />
des anordnenden als auch des durchführenden Staates<br />
sollen Anwendung finden (Meistbegünstigungsprinzip, Art. 21<br />
Abs. 6 lit. e). Die Mitgliedstaaten sollen dafür Sorge tragen,<br />
dass Falschaussagen oder die unberechtigte Verweigerung einer<br />
Aussage in gleicher Weise nach dem Recht des durchführenden<br />
Staates bestraft wird, als ob ein solches Delikt vor<br />
einem nationalen Gericht in einem nationalen Strafverfahren<br />
begangen würde.<br />
c) Kontenabruf, Abruf und Überwachung von Finanztransaktionen<br />
(Art. 23, 24, 27)<br />
Eine Europäische Ermittlungsanordnung soll auch zur Verfügung<br />
stehen, um Kontenstammdaten sowie von einem Konto<br />
ein- oder ausgehende Finanztransaktionen abfragen zu können.<br />
Insoweit wird dem anordnenden Mitgliedstaat eine erhöhte<br />
Begründungspflicht auferlegt, warum er diese Ermittlungsmaßnahme<br />
für zweckdienlich hält. Ergänzend sieht<br />
Art. 27 vor, dass Finanztransaktionen eines bestimmten Kontos<br />
auch laufend verdeckt überwacht werden können; etwas<br />
systemfremd ist an gleicher Stelle auch die Möglichkeit verdeckter<br />
(Drogen-)Lieferungen geregelt.<br />
d) Einsatz verdeckter Ermittler (Art. 27a)<br />
Mit einer Europäischen Ermittlungsanordnung sollen schließlich<br />
andere Mitgliedstaaten zu Unterstützungsleistungen beim<br />
Einsatz verdeckter Ermittler herangezogen werden können.<br />
Hierbei soll jedoch das Recht desjenigen Staates maßgeblich<br />
sein, in dem der Einsatz des verdeckten Ermittlers durchgeführt<br />
wird; kommt insoweit keine Einigung zwischen den<br />
beteiligten Mitgliedstaaten zustande, steht dem ersuchten<br />
Mitgliedstaat ein Ablehnungsgrund zu.<br />
106 Ratsdok. 18918/11.<br />
e) Telekommunikationsüberwachung (Art. 27b, Art. 27d)<br />
Die Regelungen zur verdeckten Telekommunikationsüberwachung<br />
orientieren sich an denjenigen, die bereits im EU-<br />
Rechtshilfeübereinkommen aus dem Jahr 2000 107 enthalten<br />
sind. Die Durchführung dieser Ermittlungsmaßnahme darf<br />
abgelehnt werden, wenn sie in einem vergleichbaren nationalen<br />
Ermittlungsverfahren nicht angeordnet werden würde<br />
(bzw. könnte); damit ergibt sich hier nicht nur aus Art. 10<br />
Abs. 1b lit. b), sondern auch unmittelbar aus Art. 27b Abs. 4,<br />
dass die Telekommunikationsüberwachung auch weiterhin<br />
vom Vorliegen eines Listendelikts i.S.d. § 100a Abs. 2 StPO,<br />
von einem Richtervorbehalt und zudem von einer Zweckmäßigkeitsprüfung<br />
abhängig ist. Eine Ermächtigungsgrundlage<br />
für eine Quellen-Telekommunikationsüberwachung enthalten<br />
Art. 27b, 27d nicht; Zugriffe auf Vorratsdaten unterliegen<br />
demselben Ablehnungsregime wie Zwangsmaßnahmen (Erwägungsgrund<br />
14g), mithin dem weiten Katalog von Ablehnungsgründen<br />
in Art. 10 Abs. 1b.<br />
3. Europäische Schutzanordnung; gegenseitige Anerkennung<br />
von Schutzmaßnahmen in Zivilsachen 108<br />
Die Richtlinie 2011/99/EU des Europäischen Parlaments und<br />
des Rates über die europäische Schutzanordnung, 109 die sich<br />
auf die gegenseitige Anerkennung von in Strafverfahren ergangenen,<br />
opferschützenden Anordnungen bezieht, ist von<br />
den Mitgliedstaaten bis zum 11.1.2015 umzusetzen.<br />
Der Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments<br />
und des Rates über die gegenseitige Anerkennung<br />
von Schutzmaßnahmen in Zivilsachen 110 war Gegenstand von<br />
Beratungen des Rats der Europäischen Union – Justiz und<br />
Inneres – auf dessen 3162. Tagung am 26./27.4.2012. Dabei<br />
stellte der Rat klar, dass das in dieser Verordnung zu entwickelnde<br />
System trotz der Vielzahl möglicher Schutzmaßnahmen<br />
und der Vielzahl potentiell beteiligter Akteure unkompliziert,<br />
schnell und flexibel funktionieren solle. Daher sei<br />
eine automatische gegenseitige Anerkennung der Schutzmaßnahmen<br />
erforderlich, eine förmliche Bestätigung der Anerkennung<br />
hingegen hinderlich. Opfer sollten ein Zertifikat erhalten,<br />
mit dem sie selbst Schutzmaßnahmen in anderen Mitgliedstaaten<br />
beantragen können, ohne dass es einer Übersetzung<br />
oder einer förmlichen Übermittlung durch den Ausstellungsstaat<br />
bedürfe.<br />
107 ABl. EG 2000 Nr. C 197, S. 3.<br />
108 Vgl. zuvor Brodowski, <strong>ZIS</strong> 2011, 940 (951 f.); s. zudem<br />
Brand, DRiZ 2011, 389; Jekewitz, Recht und Politik 2012, 80.<br />
109 ABl. EU 2011 Nr. L 338 v. 21.12.2011, S. 2.<br />
110 Ratsdok. 8913/12; zuvor KOM (2011) 276 endg. v.<br />
18.5.2011.<br />
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569
Dominik Brodowski<br />
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VI. Zusammenarbeit mit Drittstaaten und Internationalen<br />
Organisationen<br />
1. Island und Norwegen – EU-Rechtshilfeübereinkommen 111<br />
Mit Beschluss des Rates v. 7.6.2012 wurde nach Zustimmung<br />
des Europäischen Parlaments das Übereinkommen zwischen<br />
der Europäischen Union sowie der Republik Island und dem<br />
Königreich Norwegen über die Anwendung einiger Bestimmungen<br />
des Übereinkommens v. 29.5.2000 über die Rechtshilfe<br />
in Strafsachen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen<br />
Union und des dazu gehörigen Protokolls von 2001<br />
genehmigt. 112 Der Zeitpunkt des Inkrafttretens des Übereinkommens<br />
wird nach erfolgter Notifikation im Amtsblatt bekanntgegeben<br />
werden.<br />
2. PNR-Abkommen mit Australien und den USA 113<br />
Die Abkommen über die Übermittlung von Fluggastdatensätzen<br />
(PNR) mit Australien und den USA konnten aufgrund<br />
der Zustimmung des Europäischen Parlaments und des Rats<br />
zum 1.6.2012 114 bzw. 1.7.2012 115 in Kraft treten. Hinsichtlich<br />
des Abkommens mit den USA ist festzuhalten, dass die dabei<br />
übermittelten Daten über die Terrorismusbekämpfung hinausgehend<br />
auch zur Verfolgung und Verhütung sonstiger grenzübergreifender<br />
schwerer Kriminalität – Mindesthöchststrafe<br />
drei Jahre – dienen dürfen. Nach sechs Monaten wird der Zugriff<br />
auf die Fluggasdatensätze eingeschränkt, ist jedoch für<br />
einen Maximalzeitraum von bis zu 15 Jahren möglich (fünf<br />
Jahre in einer sogenannten „aktiven“ Datenbank, anschließend<br />
zehn Jahre in einer sogenannten „ruhenden“ Datenbank, auf<br />
die eine geringere Anzahl an Ermittlern zugreifen kann).<br />
111<br />
S. hierzu Brodowski, New Journal of European Criminal<br />
Law 2 (2011), 21; zu den verfassungsrechtlichen Komplikationen<br />
in Ungarn s. zudem Ligeti, in: Vernimmen-van Tiggelen/Surano/Weyembergh<br />
(Hrsg.), The future of mutual recognition<br />
in criminal matters in the European Union, 2009,<br />
S. 259 (S. 261 ff.).<br />
112<br />
ABl. EU 2012 Nr. L 153, S. 1; das Abkommen ist abgedruckt<br />
in ABl. EU 2004 Nr. L 26, S. 3.<br />
113<br />
Vgl. zuvor Brodowski, <strong>ZIS</strong> 2012, 940 (953 f.).<br />
114<br />
ABl. EU 2012 Nr. L 186, S. 1; das Abkommen zwischen<br />
der Europäischen Union und Australien über die Verarbeitung<br />
von Fluggastdatensätzen (Passenger Name Records – PNR)<br />
und deren Übermittlung durch die Fluggesellschaften an den<br />
Australian Customs and Border Protection Service ist abgedruckt<br />
a.a.O. S. 4.<br />
115<br />
ABl. EU 2012 Nr. L 174, S. 1; das Abkommen zwischen<br />
der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten von<br />
Amerika über die Verwendung von Fluggastdatensätzen und<br />
deren Übermittlung an das United States Department of Homeland<br />
Security ist abgedruckt in ABl. EU 2012 Nr. L 215, S. 5.<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
570<br />
<strong>ZIS</strong> 11/2012<br />
3. Handelsübereinkommen zur Bekämpfung der Produkt- und<br />
Markenpiraterie (ACTA) 116<br />
Das – auch wegen seiner strafrechtlichen Implikationen – umstrittene<br />
Handelsübereinkommen zur Bekämpfung von Produkt-<br />
und Markenpiraterie zwischen der Europäischen Union<br />
und ihren Mitgliedstaaten, Australien, Kanada, Japan, der<br />
Republik Korea, den Vereinigten Mexikanischen Staaten, dem<br />
Königreich Marokko, Neuseeland, der Republik Singapur,<br />
der Schweizerischen Eidgenossenschaft und den Vereinigten<br />
Staaten von Amerika (ACTA) 117 wurde zwar vom Rat angenommen,<br />
vom Europäischen Parlament hingegen abgelehnt.<br />
116 Vgl. zuvor Brodowski, <strong>ZIS</strong> 2011, 940 (954); s. zudem,<br />
statt vieler Hoeren, MMR 2012, 137; Lorenzmeier, ZJS 2012,<br />
322.<br />
117 KOM (2011) 379 endg. v. 24.6.2011; KOM (2011) 380<br />
endg. v. 24.6.2011.
Reglas primarias de obligación<br />
Las “reglas del derecho penal” en el concepto de derecho de H.L.A. Hart*<br />
De Prof. Dr. Juan Pablo Mañalich R., Universidad de Chile<br />
The article offers a reconstruction of the picture of so called<br />
“rules of criminal law” that can be found in H.L.A Hart’s<br />
The Concept of Law. According to the argument here presented,<br />
the basic features of this picture can be stated as<br />
following: a rejection of an imperativistic conception of legal<br />
rules; the recognition of a pragmatic connection between<br />
obligations and sanctions; and a functional understanding of<br />
the logical distinction between (primary) conduct norms and<br />
(secondary) sanction norms.<br />
El artículo ofrece una reconstrucción de la imagen de las así<br />
llamadas “reglas del derecho penal” que es posible extraer<br />
de El concepto de derecho de H.L.A. Hart. Con arreglo al<br />
argumento aquí presentado, las características fundamentales<br />
de esa imagen pueden ser enunciadas como sigue: un<br />
rechazo de una concepción imperativista de las reglas del<br />
derecho; el reconocimiento de una conexión pragmática<br />
entre la obligación y la sanción; y una comprensión funcional<br />
de la distinción lógica entre normas primarias de<br />
comportamiento y normas secundarias de sanción.<br />
I. Introducción<br />
Observa Hart: “En el caso de las reglas del derecho penal, es<br />
lógicamente posible y puede ser deseable que haya tales<br />
reglas aun a pesar de que no hubiese amenaza de un castigo u<br />
otro mal. Ciertamente, podrá sostenerse que en tal caso no<br />
habría reglas jurídicas; sin embargo, podemos distinguir claramente<br />
la regla que prohíbe cierto comportamiento de la<br />
provisión de las penalidades a ser impuestas si la regla es<br />
quebrantada, y suponer que la primera existe sin la segunda.<br />
En cierto sentido, podemos sustraer la sanción y todavía dejar<br />
un estándar de comportamiento inteligible para cuyo mantenimiento<br />
[la sanción] fuera diseñada”. 1<br />
Este pasaje está extraído de la célebre sección de El<br />
concepto de derecho en que Hart demuestra la confusión<br />
categorial implicada en la concepción kelseniana de la nulidad<br />
como sanción. En dicho pasaje se insinúa una determinada<br />
concepción de la relación en que se encuentra la regla (o<br />
norma) cuyo quebrantamiento puede ser delictivo, por una<br />
parte, y la regla (o norma) que fija la pena susceptible de ser<br />
impuesta a consecuencia del quebrantamiento de aquella<br />
primera regla (o norma), por otra. El presente artículo pretende<br />
indagar en los méritos de semejante concepción, dando<br />
cuenta de cómo ella se inserta en el proyecto hartiano de una<br />
teoría analítica del derecho.<br />
* El presente artículo ha podido ser elaborado en el contexto<br />
de una estadía de investigación posdoctoral realizada en la<br />
Universidad de Bonn, financiada por la Fundación Alexander<br />
von Humboldt, y se enmarca en el proyecto FONDECYT (de<br />
iniciación a la investigación) No. 11110274, del cual el autor<br />
es investigador responsable.<br />
1 Hart, The Concept of Law, 2. ed. 1994, pp. 33 ss.<br />
II. La crítica del modelo imperativista<br />
Hart ofrece algunas consideraciones preliminares acerca de la<br />
estructura y la función de “las reglas del derecho penal”, 2 tras<br />
haber expuesto sistemáticamente la concepción de las normas<br />
jurídicas asociada a la obra de Austin, y en igual medida a la<br />
de Bentham, 3 sugiriendo que este último modelo parecería<br />
plausible, a primera vista al menos, para dar cuenta de cómo<br />
opera el derecho penal.<br />
Esto lleva a que Hart constate la existencia de una “fuerte<br />
analogía” entre tal imagen preliminar de “las reglas del derecho<br />
penal”, por un lado, y la concepción imperativista de<br />
las reglas jurídicas de Bentham/Austin, por otro. 4 Pero buena<br />
parte del esfuerzo argumentativo desplegado por Hart, una<br />
vez establecida la base para la analogía en cuestión, consiste<br />
en demostrar la inviabilidad del modelo imperativista, 5<br />
incluso en aquel ámbito en que el mismo parecería exhibir,<br />
prima facie al menos, mayor plausibilidad; esto es: en el<br />
ámbito de “las reglas del derecho penal”, en contraposición,<br />
por ejemplo, a las reglas que confieren potestades de diversa<br />
índole. 6<br />
El núcleo del modelo de Bentham/Austin consiste en una<br />
equiparación de la existencia de una obligación jurídica a la<br />
predictibilidad de la irrogación de un mal a modo de<br />
sanción. 7 Sobre este trasfondo, las razones que Hart ofrece<br />
2<br />
Hart (n. 1), p. 27.<br />
3<br />
Hart, Essays on Bentham, 1982, pp. 105 ss.<br />
4<br />
Hart (n. 1), pp. 20 s.<br />
5<br />
Aquí se vuelve necesario introducir una precisión terminológica,<br />
que resulta de la mayor importancia para la indagación<br />
global que aquí se persigue, y que concierne a la<br />
caracterización usual de la concepción atribuida a Bentham y<br />
a Austin como una concepción imperativista. Pues semejante<br />
caracterización supone dar prioridad a una de las dos<br />
variables que, siguiendo a Hacker, pueden ser diferenciadas<br />
en el contexto del análisis comparativo de las múltiples<br />
“teorías del deber” que se dejan reconocer en el discurso de la<br />
teoría general del derecho, a saber: (1) la naturaleza de la<br />
conexión postulada entre la falta de ejecución o de omisión<br />
de una determinada acción y la consiguiente imposición de<br />
una sanción; y (2) el estatus de la exigencia de comportamiento<br />
que vuelve obligatoria la ejecución o la omisión de la<br />
acción en cuestión. Véase Hacker, en: Simpson (ed.), Oxford<br />
Essays in Jurisprudence, 1973, p. 131. En estos términos, la<br />
caracterización de una concepción como imperativista es<br />
relativa a la segunda variable: la exigencia de comportamiento<br />
ha de estar constituida por una orden. Véase Röhl/Röhl,<br />
Allgemeine Rechtslehre, 3. ed. 2008, pp. 230 s.<br />
6<br />
Hart (n. 1), pp. 35 ss.<br />
7<br />
Hart (n. 3), pp. 132 ss. De ahí que su caracterización como<br />
“imperativista” deba ser entendida a la manera de una abreviatura,<br />
en el entendido de que, en atención al específico<br />
concepto de orden que hace suyo ese modelo, el hecho de que<br />
a una persona se dirija una orden de ejecutar u omitir la<br />
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para demostrar la inviabilidad de semejante modelo imperativista<br />
en tanto aplicado al ámbito del derecho penal afectan,<br />
en lo fundamental, el problema que Hart identifica con la<br />
cuestión del “rango de aplicación”. 8 El problema está en que<br />
el modelo imperativista se apoya en una imagen “vertical” de<br />
subordinación para dar cuenta de la relación que vincularía al<br />
emisor del imperativo coercitivamente reforzado con las personas<br />
a quienes el mismo se encuentra “dirigido”. Al respecto,<br />
Hart enuncia dos observaciones, la primera de las cuales<br />
es fértilmente explotada en su crítica de la concepción de la<br />
soberanía (unitaria e ilimitada) implicada en la concepción de<br />
la legislación inherente al modelo imperativista por él criticado,<br />
9 mientras que la segunda, a pesar de su aparente menor<br />
significación sistemática, ofrece una clave para la superación<br />
de la identificación del concepto de norma obligante o vinculante<br />
con la noción de imperativo.<br />
La primera observación se encuentra referida a la imagen<br />
vertical – o “desde arriba hacia abajo” – de la producción del<br />
derecho que es propia del modelo imperativista. 10 La crítica<br />
de esta imagen vertical que Hart propone es dual. Por una<br />
parte, Hart explora la idea de que la dificultad que parece<br />
traer consigo la posibilidad de una auto-vinculación del<br />
legislador se dejaría despejar sin más si, abandonando el<br />
recurso a la noción de órdenes respaldadas por amenaza, se<br />
privilegiara el recurso al concepto de promesa. Pero inmediatamente<br />
a continuación, Hart sostiene que el problema se resuelve<br />
íntegramente si, en contra del monismo ontológico<br />
implicado en la concepción imperativista, se acepta el hecho<br />
de que entre las reglas del derecho también se cuentan reglas<br />
acción ϕ implica que, en caso contrario, esa persona quede<br />
expuesta a sufrir, con un determinado grado de probabilidad,<br />
la irrogación de un mal a consecuencia de la falta de<br />
ejecución o de omisión de la acción ϕ. Véase Austin, The<br />
Province of Jurisprudence Determined, 1832, pp. 5 ss.; así<br />
como Bentham, Of Laws in General, 1970, pp. 133 ss. Para<br />
un argumento general acerca de la dependencia de la<br />
normatividad de la eventualidad de la imposición de<br />
sanciones, véase Stemmer, Normativität, Eine ontologische<br />
Untersuchung, 2008, pp. 135 ss. Esto explica que Hart caracterice<br />
el modelo de Bentham como expresivo de una “teoría<br />
mixta de la obligación jurídica”. En tal medida, este modelo<br />
“mixto” debe ser diferenciado de una concepción “puramente”<br />
imperativista de las reglas del derecho, bajo la cual la<br />
norma que prevé la imposición de una sanción para el caso<br />
del quebrantamiento de un imperativo (primario) pudiera ser<br />
entendida como un imperativo secundario, desacoplado del<br />
correspondiente imperativo primario. Así Hart (n. 3), pp. 141<br />
s. Semejante concepción se encuentra desarrollada, por ejemplo,<br />
en Thon, Rechtsnorm und subjectives Recht, 1878,<br />
pp. 1 ss., así como en Bierling, Juristische Prinzipienlehre,<br />
tomo 1, 1894, pp. 71 ss., 133 ss.; para una defensa matizada<br />
de la misma, véase Engisch, Einführung in das juristische<br />
Denken, 7. ed. 1975, pp. 22 ss., así como Röhl/Röhl (n. 5),<br />
pp. 230 ss.<br />
8 Hart (n. 1), pp. 42 ss.<br />
9 Hart (n. 1), pp. 50 ss.; el mismo (n. 3), pp. 143 s.<br />
10 Hart (n. 1), pp. 42 s.<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
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<strong>ZIS</strong> 11/2012<br />
que instituyen el proceso legislativo como tal, las cuales – en<br />
virtud de su carácter constitutivo 11 – se distinguirían por<br />
establecer condiciones para que la actividad legislativa sea<br />
siquiera concebible como praxis institucionalizada. 12 En tales<br />
términos, la crítica a la concepción imperativista de la legislación<br />
va asociada a la defensa de una tesis ontológicamente<br />
pluralista acerca de los componentes de la infraestructura del<br />
sistema jurídico, que renuncia a entender las reglas que confieren<br />
potestades como meros “fragmentos de normas”.<br />
La segunda observación es escuetamente esbozada por<br />
Hart, a propósito de la redefinición de la noción misma de<br />
legislación que tendría que seguirse de la crítica del modelo<br />
imperativista. A este respecto, lo fundamental sería la elaboración<br />
de “una concepción fresca de la legislación como la<br />
introducción o modificación de estándares generales de comportamiento<br />
a ser seguidos por la sociedad en su conjunto”. 13<br />
Ello lleva a Hart a proponer una articulación de lo que<br />
significa estar obligado por el derecho que tendría que lograr<br />
lo que a primera vista parecería imposible, a saber: evitar<br />
cualquier compromiso con una sospechosa metafísica de la<br />
validez jurídica, así como una comprensión psicologicista de<br />
la noción de obligación, sin conceder la igualmente problemática<br />
reducción de la normatividad del derecho a su sola coercitividad.<br />
14<br />
III. Reglas “sociales” de obligación<br />
1. Ni regularismo ni regulismo<br />
Precisamente en el contexto de su análisis de la muy sensible<br />
diferencia semántica que existiría entre un enunciado del tipo<br />
“X se ve obligado a hacer (o no hacer) ϕ” y uno del tipo “X<br />
tiene la obligación de hacer (o no hacer) ϕ”, Hart formula dos<br />
objeciones en contra del modelo imperativista, en lo tocante a<br />
la reducción de la normatividad a la sola coercitividad<br />
predicable de las reglas del derecho. 15 La primera objeción<br />
consiste en que la tesis de la obligación como predictibilidad<br />
de una sanción “oscurece el hecho de que, allí donde existen<br />
reglas, las desviaciones de éstas no son meramente razones<br />
para una predicción de que se seguirán reacciones hostiles o<br />
de que un tribunal aplicará sanciones a aquellos que las<br />
quebranten, sino que también sirven de razón o justificación<br />
para tal reacción y para la aplicación de sanciones”. 16 La<br />
segunda objeción, por su parte, asume la forma de una<br />
reductio ad absurdum: “Si fuera verdad que el enunciado de<br />
que una persona tenía una obligación significara que ella<br />
probablemente habría de padecer [la irrogación de un mal] en<br />
el evento de una desobediencia, sería contradictorio decir que<br />
él tenía una obligación [...], pero que, debido al hecho de<br />
haber huido de la jurisdicción o de haber sobornado a la<br />
11<br />
Véase Searle, The Construction of Social Reality, 1995,<br />
pp. 43 ss.<br />
12<br />
Hart (n. 1), pp. 43 s.<br />
13<br />
Hart (n. 1), p. 44.<br />
14<br />
Hart (n. 3), pp. 144 ss.; Raz, The Concept of a Legal System,<br />
2. ed. 1980, pp. 230 ss.<br />
15<br />
Hart (n. 1), pp. 82 s.<br />
16 Hart (n. 1), p. 84.
Reglas Primarias de Obligación<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
policía o al tribunal, no había posibilidad alguna de que fuera<br />
capturado o puesto a sufrir”. 17<br />
La relación en que se encuentran una y otra objeción está<br />
lejos de ser clara a primera vista. Pues mientras que la<br />
segunda objeción descansa sobre el supuesto de la viabilidad<br />
de una desvinculación del reconocimiento de una obligación<br />
jurídica de la eventual irrogación de un mal a modo de<br />
sanción en caso de incumplimiento de la misma, la primera<br />
objeción parece discurrir en la dirección inversa, precisamente<br />
porque ella se refiere al modo en que el quebrantamiento<br />
de una regla obligante pudiera servir de razón o<br />
fundamento para la imposición de una sanción.<br />
La conjunción de las dos objeciones sólo se deja sostener,<br />
en efecto, sobre el trasfondo de la concepción de las reglas<br />
que imponen obligaciones que Hart opone al modelo imperativista.<br />
18 A este respecto, Hart comienza ofreciendo un análisis<br />
preliminar – todavía no circunscrito al contexto propiamente<br />
jurídico – del significado del enunciado según el cual<br />
la persona P tiene la obligación de ejecutar (o de omitir) la<br />
acción ϕ: en el caso normal, un presupuesto contextual de tal<br />
enunciado estará constituido por la existencia de “reglas<br />
sociales”, que se distinguen por estandarizar determinadas<br />
formas de comportamiento, de modo tal que ese mismo enunciado<br />
se deje entender como una instancia de aplicación de<br />
alguna de esas reglas generales a la situación en la cual se<br />
encuentra una persona determinada. 19<br />
Pero Hart ciertamente no desconoce que la semántica de<br />
una proposición del tipo “la regla X existe” está lejos de ser<br />
transparente. 20 Para su clarificación, Hart recurre a una comparación<br />
entre el concepto de un mero hábito y el concepto<br />
más complejo de una regla social, entre los cuales cabría re-<br />
17 Hart (n. 1), p. 84.<br />
18 La noción de “reglas que imponen obligaciones”, que Hart<br />
emplea sistemáticamente, podría ser objeto de objeciones<br />
desde el punto de vista de su conveniencia idiomática. Al<br />
respecto, basta con considerar la sugerencia de v. Wright,<br />
Norm and Action, 1963, pp. 6 s., en cuanto a diferenciar los<br />
conceptos de regla y de prescripción como designando diversas<br />
especies de normas, en circunstancias de que lo distintivo<br />
de las prescripciones sería que ellas consisten en “órdenes o<br />
permisiones, dadas por alguien en posición de autoridad a<br />
alguien en posición de sujeción”; análogamente Honoré, en:<br />
Simpson (n. 5), p. 1 (p. 4). Para evitar confusiones, cabe<br />
advertir que el uso que Hart hace del término “regla”<br />
coincide, grosso modo, con el uso que v. Wright hace del<br />
término “norma”. Para una terminología todavía divergente,<br />
véase por ejemplo Raz, Practical Reasons and Norms, 2. ed.<br />
1990, pp. 49 s., quien habla de “normas imperativas”<br />
(mandatory norms) para designar aquello que Hart denomina<br />
“reglas de obligación”, descartando además la conveniencia<br />
de recurrir al término “prescripción” para ello; y Schauer,<br />
Playing by the Rules, 1991, pp. 3 ss., quien identifica el<br />
concepto de “regla prescriptiva” (contrapuesto al de “regla<br />
descriptiva”) como el género respecto del cual el concepto de<br />
“regla imperativa” (mandatory rule) constituiría una especie.<br />
19 Hart (n. 1), p. 85.<br />
20 Hart (n. 1), p. 8.<br />
conocer, empero, una significativa similitud: “en ambos casos<br />
el comportamiento en cuestión [...] tiene que ser general,<br />
aunque no necesariamente invariable; esto significa que es<br />
repetido por la mayoría del grupo cuando surgen ocasiones”. 21<br />
Sin embargo, es igualmente claro que la sola apelación a la<br />
constatación de una regularidad social relativa a una determinada<br />
forma de comportamiento no alcanza a servir de<br />
criterio de reconocimiento de una regla social. 22 Pues de lo<br />
contrario uno terminaría abrazando una variante de lo que<br />
Brandom llama “regularismo”, esto es, la concepción según<br />
la cual las reglas no serían más que descripciones de<br />
regularidades de comportamiento socialmente observable. 23<br />
El defecto de semejante tesis “regularista” radica en la consiguiente<br />
imposibilidad de dar cuenta del sentido en que una<br />
regla social, a diferencia de un mero hábito, cuenta como<br />
pauta de corrección. 24<br />
La caracterización hartiana de las reglas sociales, en pos<br />
de su contraste frente a meros hábitos conductuales socialmente<br />
observados, logra evitar una reducción “regularista”<br />
del concepto de regla: en primer lugar, la desviación frente a<br />
una regla social característicamente cuenta como una falla<br />
expuesta a evaluación crítica; en segundo lugar, la desviación<br />
frente a la regla es tenida por una razón que justifica semejante<br />
evaluación crítica; y en tercer lugar, al menos algunos<br />
miembros del grupo respectivo, 25 adoptando una actitud<br />
crítico-reflexiva que puede manifestarse en el uso de un<br />
vocabulario distintivamente normativo, han de aceptar la<br />
regla como una pauta de comportamiento a ser generalmente<br />
seguida, en el sentido de lo que Hart célebremente identificara<br />
como “el aspecto interno de las reglas”. 26<br />
Ahora bien: lo que cualificaría a una regla como una regla<br />
jurídica sería el hecho de que ella admite ser identificada<br />
bajo determinados criterios de reconocimiento, referidos al<br />
modo característico de su producción, en el sentido de que su<br />
puesta en vigor sería identificable con un ejercicio de autoridad<br />
legislativa lato sensu, 27 de lo cual dependería, por lo<br />
demás, la posibilidad de la conservación de la identidad de un<br />
determinado ordenamiento jurídico a través del tiempo. Pero<br />
a través de semejante apelación al concepto de autoridad<br />
21 Hart (n. 1), p. 55.<br />
22 La cuestión relativa a la incidencia que la formación de<br />
hábitos puede tener para el seguimiento de reglas no necesita<br />
ser considerada aquí. Al respecto MacCormick, Institutions of<br />
Law, 2007, pp. 61 ss.<br />
23 Brandom, Making it Explicit, 1994, pp. 26 ss.<br />
24 Brandom (n. 23), p. 27: “La dificultad inmediata con tal<br />
propuesta es que ella amenaza con difuminar el contraste<br />
entre tratar una performance como sometida a evaluación<br />
normativa de alguna índole y tratarla como sometida a leyes<br />
físicas”.<br />
25 Esto no supone desconocer la complejidad de la pregunta<br />
acerca de las condiciones bajo las cuales cabe reconocer,<br />
efectivamente, la existencia de un grupo. Sobre el problema<br />
véase Honoré (n. 18), pp. 2 ss.<br />
26 Hart (n. 1), pp. 55 s.; al respecto MacCormick, H.L.A.<br />
Hart, 1981, pp. 30 ss.<br />
27 Hart (n. 1), pp. 57 s.<br />
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legislativa (lato sensu) se vuelve patente que la concepción<br />
de Hart enfrenta un riesgo teórico contrapuesto al riesgo<br />
asociado a la tentación “regularista”. Se trata del riesgo asociado<br />
a lo que Brandom llama “regulismo”, consistente en<br />
una reducción de la normatividad a un determinado conjunto<br />
de reglas explícitas. 28 Pues el análisis de Hart precisamente<br />
apunta a la necesidad de postular reglas (“secundarias”) que<br />
instituyan la autoridad legislativa por referencia a la cual<br />
pueden ser identificadas las reglas jurídicas que imponen<br />
obligaciones para la generalidad de los miembros de un determinado<br />
grupo. 29 Lo cual parecería quedar entregado a una<br />
posible versión de la objeción wittgensteiniana del así llamado<br />
“regreso al infinito de las reglas”: 30 si es necesario reconocer<br />
reglas de segundo nivel para identificar las respectivas de<br />
primer nivel, entonces será necesario reconocer reglas de<br />
tercer nivel para identificar las respectivas reglas de segundo<br />
nivel, y así sucesivamente.<br />
La disolución del dilema, que Brandom intenta encontrar<br />
en las célebres observaciones de Wittgenstein acerca del<br />
concepto de seguir una regla, pasa por validar una concepción<br />
pragmatista de la normatividad, en el sentido preciso de<br />
que el reconocimiento de determinadas reglas explícitas sólo<br />
es posible sobre el trasfondo de normas que permanecen implícitas<br />
en la práctica de identificación y aplicación de tales<br />
reglas explícitas. 31 De ahí que “seguir una regla [sea] una<br />
praxis”. 32 Y lo distintivo de una concepción pragmatista de la<br />
normatividad se encuentra, siguiendo a Brandom, en una<br />
comprensión “actitudinal” de la génesis de la normatividad:<br />
la actitud favorable a juzgar una performance como correcta<br />
es conceptualmente primaria frente al estatus de esa misma<br />
performance como correcta. 33 En esto consiste el núcleo del<br />
principio de la autonomía de las prácticas normativas: “la<br />
autoridad de las normas deriva de su reconocimiento”; 34 o en<br />
la terminología de Hart: de su aceptación bajo la adopción de<br />
una actitud crítico-reflexiva.<br />
Así, en pos de sortear el riesgo de un regreso al infinito<br />
asociado a una concepción “regulista” de la normatividad, ha<br />
de ser posible dar cuenta de la existencia de reglas de obligación<br />
que cuenten como razones vinculantes para los miembros<br />
de un determinado grupo social de un modo que no presuponga<br />
ya la existencia de reglas (secundarias) que posibiliten<br />
su identificación por referencia a un ejercicio de autoridad<br />
ya instituida, esto es, ya institucionalizada. De ahí que el<br />
28 Brandom (n. 23), pp. 18 ss.<br />
29 Brandom (n. 23), pp. 57 ss.<br />
30 Brandom (n. 23), pp. 20 s.<br />
31 Brandom (n. 23), pp. 21 ss.<br />
32 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 1984, § 202.<br />
Algunas muestras representativas de exégesis y elaboración<br />
en la literatura secundaria se encuentran en Kripke, Wittgenstein<br />
on Rules and Private Language, 1982, pp. 7 ss.;<br />
Boghossian, Mind 98 (1989), 507; McDowell, Mind, Value,<br />
and Reality, 1998, pp. 221 ss.; el mismo, The Engaged Intelect,<br />
Philosophical Essays, 2009, pp. 96 ss.; y Stern, Wittgenstein’s<br />
Philosophical Investigations, 2004, pp. 139 ss.<br />
33 Brandom (n. 23), pp. 30 ss.<br />
34 Brandom (n. 23), pp. 50 ss.<br />
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574<br />
<strong>ZIS</strong> 11/2012<br />
reconocimiento de una regla no pueda identificarse sin más<br />
con el reconocimiento de una regla bajo una determinada<br />
regla de reconocimiento. 35<br />
2. ¿Reglas como prácticas?<br />
La plausibilidad de esta lectura de los correspondientes<br />
pasajes de la segunda sección del Cap. V de El concepto de<br />
derecho queda de manifiesto si se repara en la denominación<br />
a través de la cual contemporáneamente suele hacerse referencia,<br />
en el contexto de la filosofía analítica del derecho, a la<br />
concepción hartiana de las reglas de obligación, a saber: “la<br />
concepción de las reglas como prácticas”, 36 denominación<br />
que Hart llegaría a hacer suya. 37 El problema estriba, empero,<br />
en que esta denominación distorsiona la conexión entre el<br />
concepto de regla y el concepto de práctica implicada en la<br />
concepción hartiana de las reglas sociales que imponen<br />
obligaciones.<br />
Ello se explica, desde ya, porque la tesis de Hart ciertamente<br />
no consiste, en contra de lo sugerido por Raz, 38 en una<br />
mera identificación de los conceptos de regla y práctica, en<br />
términos tales que una regla no sería más que una práctica de<br />
determinadas características. Antes bien, la tesis consiste en<br />
que, en un contexto pre-institucional – esto es, en un contexto<br />
en que aún no es posible invocar criterios de reconocimiento<br />
fijados por reglas secundarias –, la identificación de una regla<br />
que imponga obligaciones sobre los miembros de un<br />
determinado grupo social sólo puede tener lugar en atención<br />
al hecho de que esa regla sea efectivamente practicada por<br />
buena parte de quienes integran ese grupo. 39 En esto consiste<br />
el compromiso pragmatista que se deja reconocer en la concepción<br />
de Hart. Y las objeciones que Raz dirige en contra de<br />
ésta pueden ser entendidas, a su vez, como fundadas en un<br />
fuerte compromiso con una tesis “regulista”, que precisamente<br />
desconoce las implicaciones del “giro pragmático” que<br />
subyace a las observaciones de Hart.<br />
Las dos primeras objeciones invocadas por Raz admiten<br />
ser consideradas conjuntamente. En primer lugar, Raz sostiene<br />
que la propiedad de una regla consistente en ser practicada<br />
– esto es, efectivamente seguida por un conjunto suficientemente<br />
amplio de agentes – sería extrínseca al concepto de<br />
regla: “una regla no es una regla social a menos que sea<br />
practicada por una cierta comunidad, pero todavía podría ser<br />
una regla”. 40 La segunda objeción, por su parte, apunta a una<br />
supuesta confusión entre lo que cuenta como una regla prac-<br />
35 Tapper, en: Simpson (n. 5), p. 242 (pp. 252 s.).<br />
36 Raz (n. 18), pp. 49 ss.<br />
37 Hart (n. 1), pp. 254 s.<br />
38 Raz (n. 18), pp. 51 ss.<br />
39 Que ese presupuesto de identificación de una regla obligante<br />
se vuelve irrelevante una vez que el análisis puede<br />
descansar en criterios de reconocimiento fijados en reglas<br />
secundarias, es algo que Hart hace explícito cuando observa<br />
que, en el contexto de un sistema jurídico ya propiamente<br />
institucionalizado, la eficacia de una regla aislada no cuenta<br />
como criterio de validez de esa misma regla. Véase Hart (n.<br />
1), pp. 103 s., 109 s.<br />
40 Raz (n. 18), pp. 53 s.
Reglas Primarias de Obligación<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
ticada y lo que cuenta como una razón aceptada. 41 Lo que<br />
subyace a ambas objeciones es una apelación al concepto de<br />
regla como si se tratase de un “superlativo filosófico”. 42 El<br />
“regulismo” subyacente se deja reconocer en el modo en que<br />
Raz pretende ejemplificar su segunda objeción: “Considérese<br />
una comunidad en la cual prácticamente todos creen que los<br />
bebés deberían ser amamantados o que los niños deberían ser<br />
estimulados a aprender a leer una vez que su edad alcance los<br />
tres años. Esto es generalmente hecho y la gente tiende a<br />
reprochar a las madres que no amamantan o a los padres que<br />
no enseñan a leer a sus hijos de tres años de edad. Pero las<br />
personas de la comunidad no consideran éstas como reglas.<br />
Simplemente piensan que se trata de cosas que está bien<br />
hacer”. 43<br />
La proposición de que en semejante comunidad no existiría<br />
una regla social con arreglo a la cual las madres deben<br />
amamantar a sus hijos recién nacidos descansa en la premisa<br />
“regulista” de que tal regla (o norma) social sólo podría ser<br />
reconocida en la forma de una regla explícitamente articulada.<br />
Pues sólo bajo este presupuesto cabría otorgar relevancia<br />
al hecho de que los miembros de esa comunidad no<br />
asuman la existencia de tal regla como razón para descartar<br />
que esa regla efectivamente exista. En cambio, bajo la tesis<br />
pragmatista de que determinadas reglas explícitas sólo pueden<br />
llegar a ser identificadas sobre un trasfondo (genéticamente<br />
primario) de normas ya implícitas en una práctica<br />
social, 44 la objeción deja de ser comprensible. Pues entonces<br />
ya no será posible entender que la consciencia explícita de un<br />
grupo de agentes acerca de la estandarización de una<br />
determinada forma de comportamiento en la forma de una<br />
regla social pudiera fungir como criterio de reconocimiento<br />
de ésta.<br />
Con ello se hace patente, al mismo tiempo, el defecto insuperable<br />
que aqueja a una tesis “regulista” como la que<br />
subyace al argumento de Raz: si como regla social sólo fuese<br />
reconocible aquello que buena parte de sus miembros ya<br />
identifica explícitamente como tal, sería imposible ofrecer<br />
una explicación no-circular de la génesis de las reglas<br />
sociales que llegan a adquirir vigencia al interior de una<br />
comunidad de agentes. Esto quiere decir, en otros términos,<br />
que una tesis como la de Raz da por supuesto aquello que<br />
precisamente ha de ser explicado. Pero así también se viene<br />
abajo la primera de las dos objeciones hasta aquí consideradas:<br />
la distinción entre lo que contaría como una regla “a<br />
secas” y lo que contaría como una regla (“además”) practicada,<br />
que según Raz sería irrealizable bajo una concepción<br />
como la de Hart, presupone que uno ya cuenta con la posibilidad<br />
de recurrir a la noción de regla como herramienta de<br />
análisis, de modo tal que tenga sentido, por ejemplo, plantear<br />
la posibilidad de que una regla (vigente) no sea efectivamente<br />
seguida. Y si Hart tiene razón, tal posibilidad sólo se deja<br />
plantear una vez que ya disponemos de una comprensión de<br />
lo que significa que en un determinado grupo sea reconocible<br />
41<br />
Raz (n. 18), pp. 55 s.<br />
42<br />
Wittgenstein (n. 32), § 192; Stern (n. 32), pp. 152 ss.<br />
43<br />
Raz (n. 18), p. 56.<br />
44<br />
MacCormick (n. 22), pp. 16 ss., 24 ss.<br />
una regla que vuelve obligatoria la ejecución o la omisión de<br />
una determinada acción.<br />
Así también queda preparado el terreno para evaluar la<br />
tercera objeción que Raz dirige en contra de la comprensión<br />
pragmatista de las reglas sociales que imponen obligaciones<br />
atribuible a Hart, a saber: su supuesta inidoneidad para dar<br />
cuenta de la normatividad de los enunciados relativos a obligaciones.<br />
45 A este respecto, Raz se apoya en una interpretación<br />
aparentemente no problemática de la observación de<br />
Hart acerca del aspecto interno de las reglas, con arreglo a la<br />
cual la actitud de aceptación crítico-reflexiva de una regla<br />
social obligante se manifestaría en el hecho de que “los<br />
miembros de la comunidad relevante usan expresiones tales<br />
como ‘es una regla que uno debe [...]’ para justificar sus propias<br />
acciones, y justificar exigencias y críticas dirigidas a<br />
otros”. 46<br />
Está lejos de ser evidente que, así formulada, la tesis sea<br />
efectivamente atribuible a Hart, 47 sobre todo porque si la<br />
actitud de aceptación crítico-reflexiva de una determinada<br />
regla social como estándar de comportamiento correcto se<br />
manifiesta en el uso de vocabulario distintivamente normativo,<br />
un enunciado normativo estructurado de conformidad con<br />
la interpretación de Raz – esto es, cuya forma sea “es una<br />
regla que uno debe [...]” – resultaría ser redundante, esto es:<br />
constitutivo de un pleonasmo.<br />
Esto explica que Raz concluya sosteniendo que, de acuerdo<br />
con la tesis acerca del uso de vocabulario normativo que él<br />
atribuye a Hart, los enunciados “es una regla que uno debe<br />
ejecutar la acción ϕ” y “uno debe ejecutar la acción ϕ”<br />
resultarían ser semánticamente equivalentes, con la salvedad<br />
de que el primero presupondría la existencia de una determinada<br />
práctica (de seguimiento de la regla en cuestión). Lo<br />
cual demostraría que el hecho de que exista una regla sería<br />
irrelevante para la normatividad del respectivo enunciado. 48<br />
Pero la conclusión sólo se sigue si se acepta la interpretación<br />
del argumento hartiano que Raz da por supuesta. Pues la tesis<br />
de Raz pierde completamente de vista que, según la propuesta<br />
de Hart, el uso de vocabulario normativo cuenta como criterio<br />
de reconocimiento de una regla que ciertamente no<br />
necesita ser objeto de articulación o formulación explícita por<br />
parte de quienes la reconocen como vigente a través de la<br />
correspondiente adopción de una actitud de aceptación crítico-reflexiva<br />
característica del punto de vista del participante.<br />
De este modo, al pretender convertir en un componente<br />
del contenido proposicional del respectivo enunciado normativo<br />
aquello que, en términos del análisis de Hart, sólo puede<br />
representar un presupuesto implícito del mismo, la objeción<br />
de Raz no alcanza siquiera a identificar la decisiva innova-<br />
45 Raz (n. 18), pp. 56 ss.<br />
46 Raz (n. 18), p. 57.<br />
47 Hart ciertamente sostiene que tal actitud de aceptación<br />
crítico-reflexiva se manifiesta en el empleo de un vocabulario<br />
distintivamente normativo, pero esto no equivale a sostener<br />
que los enunciados expresivos de esa actitud hubieran de<br />
exhibir la estructura que Raz les atribuye. Véase Hart (n. 1),<br />
pp. 56 s., 85.<br />
48 Raz (n. 18), p. 58.<br />
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Juan Pablo Mañalich R.<br />
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ción teórica implicada en el análisis del concepto de regla<br />
social ofrecido por Hart, a saber: la introducción de un giro<br />
pragmático – además de “hermenéutico” 49 – en la reflexión<br />
filosófica acerca de la normatividad del derecho.<br />
IV. La conexión pragmática entre obligación y sanción<br />
1. La expresividad de las disposiciones sancionatorias<br />
Lo que se impone como siguiente paso es el análisis del concepto<br />
más preciso de una regla social que impone obligaciones<br />
– esto es, de una regla (social) obligante –, que Hart<br />
introduce como una especificación del concepto (más general)<br />
de regla social. 50<br />
Según Hart, lo que distingue a una regla social propiamente<br />
obligante – por oposición, verbigracia, a una regla de<br />
etiqueta o una regla idiomática – consiste en que “la exigencia<br />
general de conformidad es insistente y la presión social<br />
ejercida sobre aquellos que se desvían o amenazan con desviarse<br />
es considerable”. 51 Hart observa de inmediato que la<br />
posibilidad de discernir el carácter moral o jurídico de la<br />
obligación impuesta por la regla en cuestión – no existiendo<br />
aún un sistema centralizadamente organizado de castigos para<br />
el quebrantamiento de las reglas – dependerá de que sea practicable<br />
la diferenciación de dos formas que podría asumir la<br />
presión social ejercida en respaldo de la exigencia de observancia<br />
de la regla.<br />
Así, la presión social podrá estar “limitada a manifestaciones<br />
verbales de desaprobación o de apelación al respeto<br />
del individuo por la regla violada”, dependiendo fundamentalmente<br />
“de la operación de sentimientos de vergüenza, arrepentimiento<br />
y culpabilidad”, en cuyo caso tendría sentido<br />
atribuir carácter primariamente moral a la obligación respectiva.<br />
En cambio, “cuando las sanciones físicas son prominentes<br />
o usuales [...], aunque no sean precisamente definidas ni<br />
administradas por agentes oficiales, sino que sean dejadas a<br />
la comunidad en su conjunto”, tendría sentido caracterizar la<br />
obligación impuesta por la regla como una obligación rudimentariamente<br />
jurídica. 52 Y el hecho indubitable de que la<br />
presión social ejercida en pos de la observancia de una regla<br />
obligante pueda llegar a asumir, simultáneamente, una y otra<br />
forma, lleva a Hart a conceder que, en un estadio pre-institucional,<br />
la distinción misma entre derecho y moral no será<br />
fácil de practicar. 53<br />
49<br />
MacCormick (n. 25), pp. 29 s.<br />
50<br />
MacCormick (n. 25), pp. 55 ss. Esto, porque si bien el<br />
hecho de que una persona sea portadora de una obligación<br />
implicaría la existencia de una regla (social) que la impone, el<br />
hecho de que exista una regla (social) ciertamente no implica<br />
que ésta fundamente deberes u obligaciones para aquellos<br />
cuyo comportamiento puede ser evaluado bajo esa regla. Así<br />
Hart (n. 1), pp. 85 s. Para una crítica del recurso al concepto<br />
(estricto) de regla, en este contexto véase MacCormick<br />
(n. 25), pp. 67 ss., 100 s.<br />
51<br />
Hart (n. 1), p. 86.<br />
52<br />
Hart (n. 1), p. 86.<br />
53<br />
Hart (n. 1), p. 86. Lo cual tendría que resultar bastante<br />
poco sorprendente en la medida en que, en la senda de Hart,<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
576<br />
<strong>ZIS</strong> 11/2012<br />
Por el momento, lo crucial es enfatizar el compromiso de<br />
Hart con la idea de que, en un estadio pre-institucional, el<br />
efecto obligante de una regla social sólo se deja reconocer en<br />
atención a determinados patrones de reacción crítica y hostil<br />
frente a su quebrantamiento. 54 Y si bien Hart complementa lo<br />
anterior enunciando otras dos características que serían distintivas<br />
de las reglas sociales obligantes, una y otra se dejan<br />
derivar sin más de su caracterización como una regla reforzada<br />
a través de mecanismos informales de presión social. 55<br />
Lo anterior significa que, bajo el análisis de Hart, el hecho de<br />
que una persona resulte obligada a hacer o dejar de hacer algo<br />
por una regla social depende irreductiblemente de la circunstancia<br />
de que quienes integran la forma de vida de la cual<br />
participa esa misma persona en general exhiban una disposición<br />
a reaccionar crítica y hostilmente al eventual quebrantamiento<br />
de la regla.<br />
Ello ciertamente puede bastar para disolver la aparente<br />
perplejidad asociada a la noción metafórica de una vinculación<br />
a la regla, como lo sugiere el término “obligación”, o<br />
bien de una deuda para con aquello que la regla exige, como<br />
lo sugiere el término “deber”, de un modo que logre eludir<br />
cualquier compromiso con alguna forma latente de psicologicismo.<br />
56 Pero la pregunta pasa a ser: ¿puede un enfoque como<br />
el de Hart efectivamente diferenciarse del enfoque que<br />
intenta redefinir el concepto de obligación (jurídica) en el<br />
sentido de la sola predictibilidad de la irrogación de un mal a<br />
modo de sanción?<br />
se acepte la tesis de que los conceptos de derecho y moral<br />
pueden ser entendidos como designando modos alternativos<br />
de validez normativa (o práctica), en conjunción con la tesis<br />
de que la tematización de la validez jurídica de un<br />
determinado estándar de comportamiento sólo es posible una<br />
vez que se dispone de reglas (lógicamente) secundarias que<br />
fijan o instituyen condiciones de validez para un determinado<br />
conjunto de reglas.<br />
54 Al respecto MacCormick (n. 25), pp. 134 ss., y Raz (n. 14),<br />
pp. 149 ss. En relación con el carácter constitutivo de la<br />
adopción de determinadas “actitudes reactivas” para la configuración<br />
de formas pre-institucionales de censura y castigo,<br />
sigue siendo imprescindible el análisis ofrecido por Strawson,<br />
Libertad y resentimiento, 1995, pp. 37 ss.<br />
55 Desde ya, la exigencia de que las reglas así reforzadas sean<br />
consideradas importantes, “por el hecho de creerse que son<br />
necesarias para la conservación de la vida social o algún<br />
aspecto altamente valorado de ella” (Hart [n. 1], p. 87), se<br />
deja entender como una implicación del reforzamiento de la<br />
regla a través de los correspondientes mecanismos de presión<br />
social, precisamente porque lo que el ejercicio de presión<br />
social muestra es la significación que los miembros del grupo<br />
reconocen a la regla. Y por otra parte, que la respectiva<br />
exigencia de comportamiento pueda perfectamente estar en<br />
conflicto con aquello que la persona obligada por la regla<br />
pueda desear hacer o dejar de hacer es lo que confiere sentido<br />
al hecho de que en relación con la observancia de la regla sea<br />
reconocible un ejercicio de presión social de cierta<br />
intensidad.<br />
56 Hart (n. 1), pp. 87 s.
Reglas Primarias de Obligación<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
En la elaboración de una respuesta afirmativa a esta última<br />
pregunta, Hart introduce la célebre distinción entre el<br />
punto de vista externo (o del observador) y el punto de vista<br />
interno (o del participante), para dar cuenta de la manera en<br />
que semejante concepción imperativista sería enteramente<br />
insensible al “aspecto interno” de las reglas. 57 La relevancia<br />
de la distinción está en que, desde el punto de vista interno,<br />
“la violación de una regla no es sólo una base para la<br />
predicción de que se seguirá una reacción hostil, sino una<br />
razón para la hostilidad”. 58 Y la mejor interpretación de esta<br />
afirmación, como se intentará mostrar a continuación, pasa<br />
por atribuir a Hart el siguiente compromiso teórico: no<br />
obstante la diferencia lógica que – en contra del modelo<br />
imperativista de Bentham/Austin – ha de reconocerse entre<br />
los conceptos de obligación y sanción, entre ellos cabe<br />
reconocer, al mismo tiempo, una conexión pragmática, sin<br />
referencia a la cual no resulta posible explicar – sin concesiones<br />
metafísicas – la emergencia de una normatividad protojurídica.<br />
La tesis de la diferencia lógica se encuentra expresamente<br />
consagrada en el pasaje de El concepto de derecho reproducido<br />
al comienzo del presente artículo. La consecuencia es<br />
clara: el hecho de que exista una regla social que impone<br />
obligaciones exhibe prioridad lógica frente al hecho de su<br />
reforzamiento a través de una disposición a la imposición de<br />
sanciones, en el sentido de que la caracterización de la regla<br />
como una cuyo quebrantamiento puede dar lugar a la imposición<br />
de sanciones se obtiene por referencia a una propiedad<br />
que es extrínseca a la regla en cuestión. De ahí que, en contra<br />
de lo sugerido por Tapper, 59 así como – matizadamente – por<br />
MacCormick, 60 sea desde ya imprecisa la caracterización de<br />
la concepción de la obligatoriedad de las reglas jurídicas<br />
atribuible a Hart como una variante de “teoría de la sanción”. 61<br />
Pero el problema está en que, en un estadio pre-institucional,<br />
determinado por la inexistencia de un sistema jurídico<br />
institucionalmente diferenciado, el criterio de reconocimiento<br />
de la regla como una regla obligante sólo podrá encontrarse<br />
en el correspondiente ejercicio de presión social, que eventualmente<br />
asumirá la forma de una imposición (y ejecución)<br />
descentralizada de sanciones. En estos términos, el reforzamiento<br />
punitivo informal de determinadas reglas sociales<br />
opera como un criterio pre-institucional de reconocimiento<br />
(mediato), al modo de un criterio de significación: el carácter<br />
obligante de la regla es reconocible por la importancia<br />
(relativa) de la regla; y la importancia (relativa) de la regla es<br />
reconocible, a su vez, por la intensidad de la presión social<br />
ejercida para reforzar su observancia o seguimiento.<br />
57<br />
Hart (n. 1), pp. 88 ss.<br />
58<br />
Hart (n. 1), p. 90.<br />
59<br />
Tapper (n. 35), pp. 160 s.<br />
60<br />
MacCormick (n. 25), pp. 134 ss.<br />
61<br />
A este respecto, el argumento de Hart muestra un significativo<br />
parecido con el (temprano) argumento elaborado por<br />
Bierling (n. 7), pp. 40 ss., para refutar, precisamente, la tesis<br />
de que el carácter jurídico de una norma sería inexorablemente<br />
dependiente de su reforzamiento coercitivo.<br />
Ello hace posible evaluar los méritos de la objeción levantada<br />
por MacCormick en contra del criterio que Hart propone<br />
para distinguir una regla social obligante frente a reglas<br />
sociales de otra clase. Según MacCormick, el criterio relativo<br />
a la insistencia de la demanda general por uniformidad y la<br />
medida de presión social ejercida para ello se encontraría<br />
especificado, irónicamente, desde el solo punto de vista<br />
externo, en términos tales que la distinción en cuestión no<br />
sería explicada como una distinción cualitativa, sino como<br />
una de grado. 62 Ciertamente, el criterio alternativo que Mac-<br />
Cormick propone resulta enteramente viable en un nivel de<br />
análisis puramente conceptual: lo distintivo de una regla<br />
social obligante sería que su aplicación característicamente<br />
podría llevar a un enunciado del tipo “hacer x es hacer algo<br />
incorrecto”. 63 Pero la pregunta entonces pasa a ser: siendo<br />
correcta la descripción de las reglas que imponen obligaciones<br />
como reglas que operan como estándares sustantivos de<br />
comportamiento mínimamente correcto, ¿cómo es posible reconocer<br />
que semejante estándar de comportamiento existe, en<br />
la forma de una regla pública o compartida, sino en atención<br />
a la manera en que los miembros del respectivo grupo social<br />
tienden a reaccionar frente a una desviación del mismo? Y a<br />
este respecto, MacCormick entiende que el criterio tendría<br />
que consistir en un juzgamiento generalizado de esa desviación<br />
como inaceptable (o “indeseable en sentido fuerte”), 64 en<br />
el sentido de ameritar censura o reproche, concediendo que,<br />
en tal medida, su argumento no representa más que una<br />
modificación del argumento de Hart.<br />
2. La base actitudinal de la normatividad<br />
El argumento de Hart se deja entender al modo de la postulación<br />
de una conexión pragmática entre el carácter obligante<br />
de una determinada regla social y su reforzamiento<br />
(informalmente) punitivo. Así formulado, el argumento parece<br />
constituir una aplicación específica – en tanto circunscrita<br />
al reconocimiento de reglas sociales de obligación – del argumento<br />
desarrollado por Brandom en defensa de una concepción<br />
pragmatista de la normatividad, con arreglo a la cual<br />
el concepto de actitud normativa exhibe prioridad explicativa<br />
frente al concepto de estatus normativo. 65 En vocabulario<br />
brandomiano: el estatus normativo – y más precisamente: déontico<br />
– de una acción ϕ como prohibida u ordenada es, en<br />
último término, dependiente de las actitudes normativas de<br />
quienes pueden juzgar – ante todo: en tercera persona – la<br />
62 MacCormick, en: Simpson (n. 5), p. 101 (pp. 119 s.).<br />
63 Lo distintivo de la aplicación de una “regla instrumental”,<br />
en cambio, sería que ella llevaría a un enunciado del tipo<br />
“hacer x de la manera m es hacer x incorrectamente”. Así, la<br />
distinción se dejaría reformular como la distinción entre<br />
reglas bajo las cuales es posible efectuar una crítica<br />
sustantiva de una determinada instancia de comportamiento,<br />
por un lado, y reglas bajo las cuales es posible efectuar una<br />
crítica (solamente) procedimental de una determinada<br />
instancia de comportamiento, por otro. Así MacCormick<br />
(n. 62), pp. 121 s.<br />
64 MacCormick (n. 62), pp. 123 s. n. 27.<br />
65 Brandom (n. 23), pp. 30 ss.<br />
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Juan Pablo Mañalich R.<br />
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omisión o la ejecución de la acción ϕ como correcta o incorrecta.<br />
Lo fundamental de esta reformulación del problema se<br />
halla en el recurso de Brandom al concepto de sanción, en<br />
términos de lo que él denomina un “enfoque retributivo”:<br />
“Semejante enfoque puede asumir varias formas, dependiendo<br />
de cómo sean configuradas las sanciones. En el caso más<br />
simple, aplicar una sanción negativa puede ser entendido en<br />
términos de castigo corporal; una comunidad pre-lingüística<br />
podría expresar su comprensión práctica de una norma de<br />
conducta por la vía de batir a palos a cualquiera de sus<br />
miembros que sean percibidos como transgrediendo esa norma.<br />
En estos términos es posible explicar, por ejemplo, en<br />
qué consiste que haya una norma práctica en vigor según la<br />
cual, para estar autorizado a entrar en una cabaña particular,<br />
uno esté obligado a mostrar una hoja de cierto tipo de árbol.<br />
La respuesta comunal de golpear a cualquiera que intente<br />
entrar sin tal muestra confiere a las hojas del tipo adecuado la<br />
significación normativa, para los miembros de la comunidad,<br />
de una licencia. De esta manera, los miembros de la<br />
comunidad pueden mostrar, a través de lo que hacen, qué es<br />
lo que ellos toman como una conducta apropiada e<br />
inapropiada”. 66<br />
Según Brandom, la tesis según la cual todo estatus normativo<br />
es, en último término, “actitudinalmente” instituido,<br />
admitiría ser rastreada hasta la filosofía de Pufendorf, 67 en<br />
particular en lo tocante a su comprensión del proceso a través<br />
del cual emergerían los entia moralia, que no son más que<br />
propiedades normativas de objetos y eventos que exhiben una<br />
función práctica al guiar la acción de agentes cuya propia<br />
praxis las instituye o impone. 68 Hasta aquí, sin embargo, el<br />
reconocimiento de normas por referencia a la disposición a<br />
sancionar positiva o negativamente a quien las siga o no las<br />
siga parece quedar sometido a un patrón atomista: cada norma<br />
no podrá más que ser reconocida aisladamente, en atención<br />
a las actitudes normativas manifestadas en las correspondientes<br />
disposiciones sancionatorias que refuerzan su<br />
seguimiento. Esto se explica por el hecho de que hasta aquí<br />
las correspondientes sanciones sólo pueden exhibir el estatus<br />
de sanciones externas en relación con el conjunto (o “sistema”)<br />
de normas de cuya identificación se trata. Lo cual contrasta<br />
con la posibilidad de que las sanciones que sirven de<br />
criterio de reconocimiento de normas puedan llegar a adquirir<br />
el estatus de sanciones internas. 69<br />
Una sanción es interna, en este sentido, si aquello que la<br />
cualifica como sanción, en tanto reacción (positiva o negativa)<br />
a una determinada performance, “sólo es susceptible de<br />
especificación en términos normativos, esto es, en términos<br />
de la corrección o incorrección [...] de ulteriores performan-<br />
66 Brandom (n. 23), p. 34.<br />
67 Brandom (n. 23), pp. 46 ss.<br />
68 Brandom (n. 23), p. 48: “Nuestra actividad instituye normas,<br />
impone significaciones normativas sobre un mundo<br />
natural que intrínsecamente carece de significación para la<br />
guía o la evaluación de la acción”.<br />
69 Brandom (n. 23), pp. 42 ss.<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
578<br />
<strong>ZIS</strong> 11/2012<br />
ces de acuerdo con otras normas”. 70 Esto supone una redefinición<br />
normativista de la noción misma de sanción, en el<br />
sentido de que, por ejemplo, la sanción (negativa) impuesta<br />
sobre quien ha ejecutado una acción incorrecta sea especificada<br />
como la privación de una determinada autorización, o<br />
bien como la imposición de una determinada obligación, de<br />
modo tal que el castigo consista en “un cambio de estatus<br />
normativo más que de estado natural”. 71 Así, en la medida en<br />
que la sanción (negativa) consiguiente a la contravención de<br />
una norma consista en una modificación del estatus normativo<br />
asociado a la posición relativa del agente (así) sancionado,<br />
la norma reforzada a través de la sanción se encontrará internamente<br />
conectada con la norma correspondiente al estatus<br />
que se ve modificado a modo de sanción.<br />
De esta manera, la identificación de las normas vigentes<br />
en una determinada comunidad de agentes pasa a quedar<br />
sometida a un patrón holista, o más propiamente: sistémico. 72<br />
Pero aquí hay que notar que el sistema de normas así<br />
resultante puede seguir siendo, bajo la representación de<br />
Brandom, un sistema de normas que permanecen implícitas<br />
en las prácticas correspondientes. En contraposición a ello, el<br />
análisis de las reglas sociales que ofrece Hart, en tanto<br />
circunscrito al campo de la teoría del derecho, se distingue<br />
por ocuparse de las implicaciones de la emergencia de un<br />
sistema jurídico propiamente diferenciado, que haga posible<br />
una identificación de reglas de obligación susceptibles de<br />
articulación explícita con arreglo a criterios institucionalizados.<br />
V. La distinción funcional entre reglas primarias y reglas<br />
secundarias<br />
1. La diferenciación reflexiva del sistema jurídico<br />
La digresión precedente pretende haber ilustrado la conexión<br />
pragmática que, en un estadio pre-institucional, caracteriza la<br />
relación entre el reconocimiento de una determinada regla<br />
social obligante, por un lado, y la disposición a la imposición<br />
aún informal y descentralizada de sanciones como manifestación<br />
de la presión social por la conformidad con esa regla,<br />
por otro. Esa conexión pragmática se distingue por aparecer,<br />
en primer lugar, como una relación de dependencia heurística:<br />
el ejercicio de presión social relativa a la observancia de<br />
un determinado estándar de comportamiento opera como<br />
criterio de reconocimiento de ese estándar como una regla<br />
social obligante. Pero esta relación de dependencia heurística<br />
no obsta, según ya se anticipara, a que, desde un punto de<br />
vista lógico, la relación de dependencia sea justamente la<br />
inversa, tal como se sigue de la siguiente observación de<br />
Hart, reproducida al comienzo: “[...] sin embargo, podemos<br />
distinguir claramente la regla que prohíbe cierto comporta-<br />
70<br />
Brandom (n. 23), p. 44.<br />
71<br />
Brandom (n. 23), p. 43.<br />
72<br />
Brandom (n. 23), p. 45: “La atribución de cualquier norma<br />
cuyo reconocimiento por la comunidad asuma la forma de<br />
evaluaciones expresadas en sanciones internas [...] compromete<br />
al intérprete a atribuir también aquellas normas de las<br />
cuales ello depende”.
Reglas Primarias de Obligación<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
miento de la provisión de las penalidades a ser impuestas si la<br />
regla es quebrantada, y suponer que la primera existe sin la<br />
segunda. En cierto sentido, podemos sustraer la sanción y<br />
todavía dejar un estándar de comportamiento inteligible para<br />
cuyo mantenimiento [la sanción] fuera diseñada”. 73<br />
En estos términos, la posibilidad misma de interpretar la<br />
respectiva instancia de ejercicio de presión social como constitutiva<br />
de una sanción descansa en la hipótesis de que existe<br />
una regla social ante cuyo quebrantamiento la irrogación de<br />
un determinado mal ha de contar como reacción, en circunstancias<br />
de que el carácter (débil o fuertemente) punitivo de<br />
esta reacción presupone el carácter obligante de la regla<br />
social así reforzada. Y esta relación de dependencia lógica<br />
del concepto de sanción respecto del concepto de (regla de)<br />
obligación se vuelve explícita una vez que el contexto de análisis<br />
deja de estar constituido por un escenario pre-institucional,<br />
pasando a quedar constituido por la situación propia de<br />
un sistema jurídico propiamente diferenciado.<br />
¿Pero qué significa exactamente que en la forma de vida<br />
de un grupo social emerja un sistema jurídico propiamente<br />
diferenciado? La respuesta que cabría extraer de El concepto<br />
de derecho es la siguiente: un sistema jurídico propiamente<br />
diferenciado se distingue por exhibir una estructura reflexiva,<br />
en el sentido de que el mismo no sólo queda integrado por<br />
reglas que fundamentan obligaciones para los miembros del<br />
respectivo grupo social, sino al mismo tiempo por reglas que<br />
institucionalizan criterios de identificación de esas reglas,<br />
fijan condiciones para su creación y supresión, e instituyen<br />
procedimientos para el establecimiento de su eventual quebrantamiento,<br />
así como sanciones a ser impuestas a consecuencia<br />
del mismo. 74 Tales reglas “secundarias” pueden ser<br />
clasificadas en reglas de reconocimiento, reglas de cambio y<br />
reglas de adjudicación. 75 Y su estatus como reglas secundarias<br />
sería la consecuencia del hecho de estar referidas, de<br />
una manera específica, a las reglas de obligación que contarían,<br />
en relación con aquéllas, como primarias. 76<br />
73<br />
Hart (n. 1), pp. 34 s.<br />
74<br />
Hart (n. 1), pp. 91 ss.<br />
75<br />
De ahí que, en contra de lo sugerido por Zaibert/Smith, en:<br />
Tsohatzidis (ed.), Institutional Acts and Institutional Facts,<br />
p. 157 (p. 158), así como de paso también por Hart (n. 1),<br />
p. 202, de hecho no sea posible “imaginarse tal vez una<br />
sociedad entera en la cual sólo existieran reglas primarias”.<br />
Pues de existir sólo “reglas primarias”, éstas ya no podrían<br />
ser definidas, precisamente, como primarias.<br />
76<br />
La descripción ortodoxa es la que sigue: las reglas de<br />
reconocimiento fijan criterios de identificación de las reglas<br />
primarias de obligación, haciendo posible la existencia de<br />
certidumbre a su respecto; las reglas de cambio fijan<br />
condiciones para la modificación de las reglas primarias de<br />
obligación, confiriendo dinamismo al proceso de (auto-<br />
)modificación del derecho;<br />
las reglas de adjudicación,<br />
finalmente, fijan condiciones de procedimiento para el<br />
establecimiento autoritativo y centralizado del posible<br />
quebrantamiento de una o más reglas primarias de obligación,<br />
y determinan las consecuencias que han de seguirse del<br />
Pero es claro que semejante descripción de la relación entre<br />
reglas primarias y reglas secundarias es tanto incompleta<br />
como imprecisa. Su incompletitud se explica por el hecho de<br />
que el modelo, así presentado, parece hecho a la medida de la<br />
descripción tradicional del derecho público (lato sensu),<br />
resultando dudosa, en cambio, su idoneidad para dar cuenta<br />
de la estructura normativa del derecho privado. 77 De ahí que<br />
para completar el cuadro sea en todo caso imprescindible<br />
reconocer que no toda regla secundaria, en sentido hartiano,<br />
necesita encontrarse referida a una regla de obligación,<br />
pudiendo tener por objeto, en cambio, la identificación, la<br />
modificación, o bien el reforzamiento o la imposición coercitiva<br />
de una posición jurídica cuyo fundamento no esté<br />
constituido por una regla heterónomamente obligante, sino<br />
por un mecanismo de auto-vinculación, como lo es característicamente<br />
un contrato.<br />
Una reflexión similar puede ilustrar la imprecisión que<br />
aqueja, como segundo vicio, a la presentación hartiana de la<br />
distinción entre reglas primarias y reglas secundarias. Pues el<br />
hecho de que las reglas secundarias puedan normalmente ser<br />
caracterizadas como reglas referidas a reglas – o bien: a<br />
mecanismos alternativos de generación de obligaciones – no<br />
equivale en modo alguno a que puedan ser caracterizadas<br />
como reglas necesariamente referidas a reglas primarias. 78<br />
Antes bien: las reglas secundarias pueden estar referidas, en<br />
terminología hartiana, tanto a reglas primarias como a reglas<br />
secundarias. 79 Esto muestra que la descripción de las reglas<br />
mismo, dotando así de eficiencia al ejercicio de presión social<br />
referido a su observancia.<br />
77<br />
Según Tapper (n. 35), p. 267, en los términos de Hart una<br />
“regla secundaria de derecho privado” (private secundary<br />
rules) difícilmente podría ser diferenciada de una regla<br />
primaria. Lo cual contrasta, irónicamente, con el hecho de<br />
que, en el primer esbozo de su concepción ontológicamente<br />
pluralista de la estructura y la función de las reglas jurídicas,<br />
Hart introduzca la noción de “reglas que confieren poderes”<br />
en referencia a las reglas (constitutivas) características del<br />
derecho privado bajo las cuales las personas pueden<br />
modificar – paradigmáticamente: por vía contractual – su<br />
posición jurídica relativa a otros. Véase Hart (n. 1), pp. 27 ss.<br />
Tales reglas “constitutivas” de las condiciones de autovinculación<br />
contractual ciertamente admiten ser sometidas a<br />
especificación ulterior. Así por ejemplo, MacCormick (n. 22),<br />
pp. 35 ss., distingue entre “reglas institutivas”, “reglas consecuenciales”<br />
y “reglas terminativas”. La tesis de que, en<br />
sentido estricto, el derecho privado no conocería normas<br />
como fundamentos de obligaciones, a pesar de que sí existirían<br />
normas (de derecho público lato sensu) que<br />
protegerían relaciones de derecho privado, es defendida por<br />
Binding, Die Normen und ihre Übertretung, tomo 1, 4. ed.<br />
1922, p. 97.<br />
78<br />
Tapper (n. 35), pp. 252 s.<br />
79<br />
Lo cual tendría que resultar suficientemente obvio si se<br />
repara en que tiene perfecto sentido, por ejemplo, admitir la<br />
existencia de reglas de cambio de cuya satisfacción dependa<br />
la instauración, modificación o supresión de (esas mismas u<br />
otras) reglas de cambio. En este sentido, no hay obstáculo<br />
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Juan Pablo Mañalich R.<br />
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secundarias como “parasitarias” respecto de las reglas primarias<br />
de obligación resulta equívoca, en la medida en que una<br />
regla primaria, en tanto regla de obligación, pueda ser perfectamente<br />
“parasitaria” de una o más reglas primarias, 80 así<br />
como también de una o más reglas secundarias. 81<br />
2. La interpretación funcional de la distinción<br />
Lo que explica la incompletitud y la imprecisión de la<br />
presentación explícita de la distinción por parte de Hart es la<br />
hipótesis de que el estatus de una regla como regla secundaria<br />
sería dependiente de su posición relativa en el marco del<br />
respectivo sistema de reglas, en el sentido de tratarse de una<br />
regla que se encontraría “por encima” de las correspondientes<br />
reglas primarias. En contra de esta sugerencia, lo que arroja<br />
la argumentación precedente es el hallazgo de que el estatus<br />
de regla secundaria no depende de una propiedad sistémicoestructural<br />
de la regla en cuestión, sino más bien de una<br />
propiedad puramente sistémico-funcional: a diferencia de las<br />
reglas primarias, que se distinguen por operar como bases<br />
jurídicas para obligaciones, las reglas secundarias se distinguen<br />
por fijar las condiciones para la auto-constatación, la<br />
auto-conservación y la auto-realización del correspondiente<br />
sistema jurídico.<br />
La premisa fundamental para esta interpretación funcional<br />
de la distinción se encuentra en lo que Hart identifica como<br />
la “función primaria” del derecho: “designar, mediante reglas,<br />
ciertos tipos de comportamiento como estándares que<br />
guíen ya sea a todos los miembros de la sociedad o algunas<br />
clases especiales [de personas] dentro de ella”. 82 Pero para<br />
que la realización de esta función primaria sea predicable de<br />
un sistema jurídico propiamente diferenciado, resulta imprescindible<br />
la innovación cualitativa que sobreviene a la emer-<br />
lógico alguno a la eventual recursividad de una o más reglas<br />
secundarias. Fundamental al respecto Hart, Essays in Jurisprudence<br />
and Philosophy, 1983, pp. 170 ss.<br />
80<br />
Por ejemplo: la prohibición que quebranta el autor de un<br />
delito de receptación es conceptualmente dependiente de<br />
aquellas prohibiciones a través de cuyo quebrantamiento el<br />
objeto de la receptación puede haber quedado a disposición<br />
del “reducidor”.<br />
81<br />
Por ejemplo: la prohibición que quebranta un juez que<br />
comete prevaricación es conceptualmente dependiente de las<br />
reglas (secundarias) de adjudicación que constituyen el<br />
“derecho aplicable” en el contexto de la correspondiente<br />
decisión judicial. Véase Hart (n. 1), p. 97. Una interpretación<br />
divergente, que se distingue por adoptar un punto de vista<br />
estructural, por oposición a funcional, es ofrecida por<br />
MacCormick (n. 25), pp. 105 s., según quien semejante regla<br />
habría de ser entendida como una regla secundaria de<br />
obligación.<br />
82<br />
Hart (n. 1), pp. 38 s. Ello muestra que no resulta fundada la<br />
sugerencia de Raz (n. 14), pp. 148 s., en cuanto a que el<br />
análisis de Hart tendería a pasar por alto la distinción entre<br />
reglas de obligación dirigidas (= aplicables) a todos los<br />
miembros de un grupo social y reglas de obligación dirigidas<br />
(= aplicables) a alguna clase específica de personas dentro de<br />
ese grupo.<br />
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580<br />
<strong>ZIS</strong> 11/2012<br />
gencia de reglas (funcionalmente) secundarias: la existencia<br />
de una regla obligante ahora puede ser diferenciadamente<br />
tematizada como la existencia de una regla jurídica, cuyo<br />
modo cualificado de existencia se deja identificar, precisamente,<br />
como su validez. 83 Y lo característico de la validez<br />
como modo de existencia cualificado de una regla (o norma)<br />
consiste precisamente en su implicación sistémica: una regla<br />
jurídica existe, en tanto exhibe validez, en la medida en que<br />
pertenece a un sistema de reglas.<br />
VI. Las “normas de sanción” como reglas secundarias de<br />
adjudicación<br />
1. El espectro de las reglas de adjudicación<br />
La reflexividad característica de un sistema jurídico diferenciado<br />
constituye una prestación posibilitada por la operatividad<br />
de las reglas secundarias: las reglas de reconocimiento<br />
sirven a la auto-constatación del sistema jurídico, por la vía<br />
de fijar condiciones institucionalizadas para la identificación<br />
de las reglas que lo constituyen; las reglas de cambio sirven a<br />
la auto-conservación del sistema jurídico, por la vía de fijar<br />
condiciones institucionalizadas para su propia transformación;<br />
y las reglas de adjudicación sirven a la auto-realización<br />
del sistema jurídico, por la vía de fijar condiciones institucionalizadas<br />
para la determinación de la satisfacción de los<br />
presupuestos de aplicación de las reglas que lo constituyen. 84<br />
83<br />
Hart (n. 1), pp. 109 s. De ahí que el concepto de validez<br />
(jurídica) no pueda ser equiparado al concepto de obligatoriedad<br />
jurídica, en la medida en que el carácter vinculante u<br />
obligante de una regla puede ser, más bien, una consecuencia<br />
de su validez. Véase MacCormick (n. 22), pp. 160 ss.; también<br />
Delgado, DOXA 7 (1990), 101. Acerca de las implicaciones<br />
de la comprensión de la validez como modo de<br />
existencia para las posibilidades de una (genuina) lógica<br />
deóntica, véase Ruiter, Law & Philosophy 16 (1997), 479.<br />
84<br />
En relación con esto último, hay que advertir que la<br />
descripción ofrecida por Hart aquí también resulta equívoca.<br />
Afirma Hart (n. 1), pp. 96 s.: “El tercer suplemento al<br />
régimen simple de reglas primarias, dirigido a remediar la<br />
ineficiencia de su presión social difusa, consiste en reglas<br />
secundarias que confieren poderes a individuos a efectuar<br />
determinaciones autoritativas acerca de la cuestión de si, en<br />
una ocasión particular, ha sido quebrantada una regla<br />
primaria”. La equivocidad de la descripción se sigue del<br />
hecho de que la aplicación de una regla de adjudicación no<br />
necesita estar referida al establecimiento del eventual<br />
quebrantamiento de una regla primaria. Pues es obvio que<br />
también pueden surgir desacuerdos acerca de la satisfacción<br />
de las condiciones de aplicabilidad de una o más reglas<br />
secundarias, pudiendo resultar necesario o conveniente hacer<br />
posible un pronunciamiento autoritativo al respecto. Y al<br />
mismo tiempo, también es claro que la aplicación de reglas<br />
secundarias de adjudicación también sirve a la determinación<br />
autoritativa acerca del incumplimiento de obligaciones no<br />
fundadas en reglas primarias sino en mecanismos de autovinculación<br />
contractual.
Reglas Primarias de Obligación<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
Esto exige volver sobre la noción de “reglas del derecho<br />
penal”, a la cual Hart recurre en varios pasajes de su crítica<br />
del modelo imperativista. Pues si lo distintivo de las “reglas<br />
del derecho penal” consiste en una provisión de castigos cuya<br />
imposición tiene como presupuesto una “infracción de un<br />
deber en la forma de la violación de una regla establecida<br />
para guiar la conducta de los ciudadanos en general”, 85 cabe<br />
concluir, en atención a la distinción funcional entre reglas<br />
primarias y reglas secundarias, que el complejo de reglas<br />
identificado a través de la expresión “reglas del derecho<br />
penal” representa más bien un entramado de reglas primarias<br />
de obligación reforzadas por reglas secundarias de adjudicación.<br />
La fundamentación de esta tesis hace conveniente reproducir<br />
el siguiente pasaje in extenso: “Apenas necesita ser<br />
dicho que en pocos sistemas jurídicos los poderes judiciales<br />
quedan circunscritos a determinaciones autoritativas del hecho<br />
de la violación de reglas primarias. [...] En cambio, ellos han<br />
complementado las reglas primarias de obligación a través de<br />
ulteriores reglas secundarias, especificando o (a lo menos)<br />
limitando las penalidades por [su] violación, y han conferido<br />
a los jueces, una vez que éstos han constatado el hecho de tal<br />
violación, el poder exclusivo de dirigir la aplicación de penalidades<br />
por parte de otros funcionarios oficiales. Estas reglas<br />
secundarias proveen las “sanciones” oficiales centralizadas<br />
del sistema”. 86<br />
Parece claro que, según Hart, las reglas que proveen las<br />
sanciones centralizadas del correspondiente sistema jurídico,<br />
cuyo paradigma está constituido por aquello que cabe denominar<br />
“normas de sanción (penal)”, han de ser entendidas<br />
como reglas secundarias. 87 Lo interesante, más bien, es reparar<br />
en las implicaciones de su categorización específica como<br />
reglas de adjudicación. Esto último podría ser puesto en duda<br />
si se admitiera la sugerencia, hecha por Tapper, de una<br />
taxonomía cuádruple de las reglas secundarias, bajo la cual,<br />
junto a las reglas de reconocimiento, de cambio y de adjudicación,<br />
se incluyeran reglas de imposición del derecho como<br />
constitutivas de una categoría autónoma. 88 En contra de la<br />
lectura propuesta por Tapper cabe oponer, desde ya, la<br />
objeción obvia de que la categoría de “reglas de imposición”<br />
no figura en la enunciación sistemática que Hart ofrece de las<br />
reglas secundarias. Pero en su contra también cabe esgrimir<br />
el hecho de que, en el Postscript a la segunda edición de El<br />
concepto de derecho, Hart parezca entender el término<br />
85 Hart (n. 1), p. 39.<br />
86 Hart (n. 1), pp. 97 s.<br />
87 Véase sin embargo Röhl/Röhl (n. 5), pp. 223 s., según<br />
quienes lo que Hart entiende bajo el término “reglas primarias”<br />
quedaría integrado tanto por las normas de comportamiento<br />
como por las normas de sanción. Esta interpretación<br />
parece encontrar su premisa en la idea de que las reglas<br />
secundarias se circunscribirían a aquellas “con arreglo a las<br />
cuales se determina la validez de las ‘reglas primarias’”.<br />
Acertadamente en contra Renzikowski, en: Dölling/Erb (eds.),<br />
Festschrift für Karl Heinz Gössel zum 70. Geburtstag am 16.<br />
Oktober 2002, 2002, p. 3 (pp. 11 s.).<br />
88 Tapper (n. 35), p. 268.<br />
“imposición” (enforcement) como sinónimo de “adjudicación”<br />
(adjudication). 89<br />
Lo que subyace a ello es una ampliación del alcance<br />
atribuido a la noción de poderes judiciales, en el sentido de<br />
que éstos no quedan circunscritos al solo pronunciamiento<br />
autoritativo concerniente al eventual quebrantamiento de una<br />
regla primaria de obligación, sino que también comprenden la<br />
potestad de “dirigir la aplicación de penalidades por parte de<br />
otros funcionarios oficiales”. Esto quiere decir que Hart<br />
reconoce una subclase de reglas secundarias de adjudicación,<br />
integrada por aquellas reglas con arreglo a las cuales un<br />
órgano jurisdiccional queda habilitado para la imposición de<br />
sanciones a ser ejecutadas por otros agentes públicos que quedan<br />
vinculados por el respectivo pronunciamiento jurisdiccional.<br />
Y si bien el correspondiente catálogo de sanciones no<br />
necesita estar circunscrito a sanciones penales en sentido<br />
estricto, éstas últimas no dejan de constituir el paradigma de<br />
lo que cuenta como una sanción jurídica. 90<br />
2. Las reglas de adjudicación como reglas secundarias<br />
Es fundamental advertir cuáles son las implicaciones de la<br />
categorización de las reglas de adjudicación de esta subclase,<br />
que se distinguen por conferir potestades para la imposición y<br />
ejecución de sanciones, como reglas secundarias; en palabras<br />
de Hart: “a pesar de que pueden estar reforzadas por ulteriores<br />
reglas que impongan deberes sobre los jueces, [las reglas<br />
de adjudicación] no imponen deberes sino que confieren poderes<br />
judiciales, así como un estatus especial a las declaraciones<br />
judiciales acerca de la infracción de obligaciones”. 91<br />
Esta observación constituye un punto de apoyo fundamental<br />
para la interpretación funcional de la distinción entre<br />
reglas primarias y reglas secundarias, ya propuesta. Pues con<br />
arreglo a esa misma interpretación, las reglas secundarias son<br />
reglas que se distinguen por no imponer deberes u obligaciones,<br />
sino por especificar las condiciones bajo las cuales un<br />
sistema jurídico se reconoce, se modifica y se realiza a sí<br />
mismo.<br />
Esta conclusión desafía un lugar común del discurso contemporáneo<br />
de la teoría de las normas, a saber: la tesis de que<br />
las reglas de adjudicación no serían más que reglas de obligación<br />
en el nivel del “sistema normativo (secundario) del<br />
juez”, por oposición al “sistema normativo (primario) del<br />
súbdito”. 92 Frente a ello, la concepción esbozada por Hart<br />
89<br />
Sostiene Hart (n. 1), p. 249: “los rasgos distintivos del<br />
derecho son la provisión de reglas secundarias para la identificación,<br />
el cambio y la imposición [enforcement] de sus<br />
estándares, así como su pretensión de prioridad sobre otros<br />
estándares”.<br />
90<br />
La demarcación puede resultar sumamente compleja. En<br />
este contexto, empero, basta con asumir la plausibilidad de<br />
identificar sanciones propiamente punitivas en atención a lo<br />
que Feinberg, Doing & Deserving, 1970, pp. 95 ss., denominara<br />
su “función expresiva”.<br />
91<br />
Hart (n. 1), p. 97.<br />
92<br />
Véase Alchourrón/Bulygin, Normative Systems, 1971,<br />
pp. 146 ss., 151 ss., así como Röhl/Röhl (n. 5), p. 223. En<br />
detalle al respecto Dan-Cohen, Harmful Thoughts, Essays on<br />
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Juan Pablo Mañalich R.<br />
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resulta mucho más próxima a la tesis de Binding, con arreglo<br />
a la cual las normas de sanción (o “leyes penales”) se caracterizarían<br />
por no imponer deber alguno, sino por configurar la<br />
correspondiente relación jurídico-punitiva entre el Estado y la<br />
persona que ha quebrantado la norma primaria de comportamiento<br />
(o “norma”). 93 En la terminología actualmente en uso,<br />
la norma de sanción sería una regla (“puramente”) constitutiva:<br />
la norma de sanción confiere estatus institucional al quebrantamiento<br />
de la norma de comportamiento como instancia<br />
de comportamiento punible, así como a la correspondiente<br />
reacción al quebrantamiento de la norma como instancia de<br />
punición jurídica. 94 Y que las normas de sanción, así entendidas,<br />
sean aplicadas por el cuadro de funcionarios al cual compete<br />
el ejercicio de las potestades relativas a la administración<br />
del respectivo “sistema centralizado de sanciones”, mas sin<br />
imponer – por sí mismas – deber alguno sobre esos mismos<br />
funcionarios, es exactamente lo que se expresa en su caracterización<br />
funcional como reglas secundarias de adjudicación,<br />
con arreglo a la concepción de Hart.<br />
VII. Las reglas primarias como razones obligantes<br />
1. El desacoplamiento de las reglas de obligación<br />
La cuestión que resta por examinar es la siguiente: ¿cómo<br />
han de ser reconstruidas las reglas de obligación en tanto<br />
reglas (funcionalmente) primarias que integran un sistema<br />
jurídico propiamente diferenciado? Ello requiere ser analizado,<br />
puesto que con la diferenciación de un sistema jurídico<br />
reflexivo tiene lugar un desacoplamiento funcional de las<br />
reglas jurídicas que fundamentan obligaciones, por un lado, y<br />
las reglas jurídicas que fijan condiciones para la imposición y<br />
ejecución de sanciones para el caso de su quebrantamiento,<br />
por otro. De ello se sigue que las reglas primarias de obligación<br />
pueden ser diferenciadas de las reglas secundarias de<br />
adjudicación que establecen las sanciones a ser impuestas en<br />
Law, Self, and Morality, 2002, pp. 37 ss., quien indaga en la<br />
posibilidad de reconstruir la diferencia entre las reglas de uno<br />
y otro nivel como una de “separación acústica”, a ser institucionalmente<br />
realizada a través de “estrategias de transmisión<br />
selectiva”.<br />
93<br />
Binding (n. 77), pp. 19 ss.<br />
94<br />
Mañalich, Nötigung und Verantwortung, 2009, pp. 25<br />
ss. En palabras de Searle (n. 11), p. 50: “Todo el punto del<br />
derecho penal es que éste es regulativo, no constitutivo. El<br />
punto es prohibir, por ejemplo, formas de comportamiento<br />
previamente existentes, tal como matar. Pero para hacer<br />
efectivas estas regulaciones, tiene que haber sanciones, y ello<br />
requiere la atribución de un nuevo estatus a la persona que<br />
quebranta el derecho. Así, a la persona que, bajo ciertas<br />
condiciones [...], mata a otra persona, y es encontrada culpable<br />
de ello, se asigna el estatus de “condenada por asesinato”<br />
[...]; y con este nuevo estatus vienen aparejadas las<br />
penas correspondientes. Así, el regulativo ‘no debes matar’<br />
genera el correspondiente constitutivo: ‘matar, bajo<br />
determinadas circunstancias, cuenta como asesinato, y el<br />
asesinato cuenta como un crimen susceptible de ser castigado<br />
con pena de muerte o de prisión’”.<br />
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<strong>ZIS</strong> 11/2012<br />
caso de que aquéllas resulten quebrantadas. Lo cual parece<br />
tener una consecuencia obvia para la determinación de la<br />
estructura de las reglas primarias de obligación: el anuncio de<br />
determinadas sanciones susceptibles de ser impuestas a<br />
consecuencia de su quebrantamiento es externo a la regla en<br />
tanto razón obligante.<br />
Esta interpretación está lejos de ser unánimemente compartida<br />
en el nivel de la recepción doctrinal de la concepción<br />
de Hart. Una interpretación divergente emerge, por ejemplo,<br />
en la lectura sugerida por Renzikowski, que se distingue por<br />
asimilar decisivamente la concepción de Hart a la de<br />
Bentham, no obstante la obvia advertencia del rechazo del<br />
modelo imperativista del segundo por parte del primero. 95 La<br />
premisa fundamental, a este respecto, está constituida por un<br />
análisis comparativo de la distinción entre “ley principal” y<br />
“ley subsidiaria” por parte de Bentham, por un lado, y la<br />
distinción entre “norma” y “ley penal” por parte de Binding,<br />
por otro. 96 Lo que la comparación arroja como resultado es lo<br />
siguiente: mientras que Binding desacopla estrictamente la<br />
norma de comportamiento de la norma de sanción, en el<br />
sentido de que la primera sería enteramente autónoma, en<br />
tanto primaria, frente a la segunda, 97 Bentham entiende que la<br />
norma primaria integraría ya, junto a la respectiva exigencia<br />
de comportamiento, el anuncio (“predictivo”) de la sanción a<br />
ser impuesta en caso de su contravención. 98 Y según Renzikowski,<br />
la concepción de Bentham exhibiría la ventaja de ser<br />
“más realista”, al dar cuenta de la divergencia de la normatividad<br />
característica del derecho frente a la de la moral: “las<br />
normas jurídicas son seguidas en tanto normas jurídicas por<br />
miedo ante la pena o alguna otra consecuencia jurídica desagradable”.<br />
99<br />
A pesar de reconocer explícitamente la crítica hartiana al<br />
modelo imperativista, Renzikowski cree hallar una coincidencia<br />
decisiva entre ambas concepciones, en el sentido de que<br />
una y otra lograrían sortear, de igual manera, la objeción<br />
relativa al supuesto colapso de la distinción entre derecho y<br />
moral que se seguiría del aislamiento de la norma (primaria)<br />
de comportamiento respecto de la norma (secundaria) de<br />
sanción. 100 El problema radica, sin embargo, en que la tesis<br />
95<br />
Renzikowski (n. 87), pp. 11 s.<br />
96<br />
Renzikowski (n. 87), pp. 8 s.<br />
97<br />
Binding, Handbuch des Strafrechts, 1885, pp. 155 ss.<br />
98<br />
Bentham (n. 7), pp. 133 ss. Tal comprensión de la estructura<br />
de las “normas del derecho penal” es validada por Hoerster,<br />
JZ 1989, 10, en su crítica al modelo monista de Schmidhäuser,<br />
Form und Gehalt der Strafgesetze, 1988, passim, bajo<br />
el cual las tradicionalmente denominadas “normas de comportamiento”<br />
carecerían de estatus jurídico.<br />
99<br />
Renzikowski (n. 87), p. 9.<br />
100<br />
En palabras de Renzikowski (n. 87), pp. 12 s.: “Esta<br />
objeción no alcanza a Bentham y Hart. De acuerdo con ellos,<br />
con la sanción anunciada por vía de amenaza las normas<br />
primarias contienen, en conjunto con la regla de comportamiento,<br />
un motivo para la conformidad. La sanción no está<br />
vinculada aquí con el comportamiento en la forma específica<br />
de la conexión entre supuesto de hecho y consecuencia<br />
jurídica (si – entonces). Pero la diferencia frente a una pres-
Reglas Primarias de Obligación<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
de Renzikowski pasa completamente por alto lo que está en<br />
juego en la refutación hartiana del modelo imperativista de<br />
Bentham/Austin. Pues si bien es cierto que Hart reconoce la<br />
coercitividad como una propiedad distintiva del derecho, 101 el<br />
núcleo de su proyecto teórico se deja identificar con la crítica<br />
a la reducción de su normatividad a su coercitividad, 102 en<br />
circunstancias de que la defensa de semejante reducción es lo<br />
que mejor caracteriza al modelo de Bentham/Austin. Y esta<br />
discrepancia fundamental se manifiesta en la concepción noreduccionista<br />
de la autoridad legislativa (lato sensu) articulada<br />
por Hart, como se intentará mostrar a continuación.<br />
2. La estructura pragmático-lingüística de la promulgación<br />
de reglas de obligación<br />
Tal como ya se ha establecido, Hart sugiere que en un estadio<br />
pre-institucional no es posible identificar la forma embrionaria<br />
de semejante autoridad más que por referencia a una<br />
disposición socialmente generalizada a reaccionar hostilmente<br />
frente al quebrantamiento de determinados estándares de<br />
comportamiento, cuya fuerza obligante es reconocible en esa<br />
disposición informalmente represiva, que a su vez es expresiva<br />
de la adopción de actitudes normativas que imponen el<br />
correspondiente estatus normativo sobre la acción en cuestión.<br />
Pero con la emergencia de un sistema jurídico propiamente<br />
diferenciado, el reconocimiento de la autoridad para la<br />
producción de reglas vinculantes deja de ser (al menos:<br />
directamente) dependiente de la adopción generalizada de<br />
actitudes normativas manifestadas en la disposición a responder<br />
con sanciones a su eventual quebrantamiento. Pues lo que<br />
distingue a un sistema jurídico propiamente diferenciado es,<br />
ante todo, la institucionalización de criterios de reconocimiento<br />
de reglas primarias de obligación – así como de reglas<br />
cripción moral se obtiene del hecho de que una sanción es<br />
anunciada a modo de amenaza, que es impuesta en un procedimiento<br />
judicialmente organizado”.<br />
101<br />
Hart (n. 1), pp. 200 ss.<br />
102<br />
Hart (n. 3), pp. 144 s. De ahí que, en contra de lo sugerido<br />
por Dan-Cohen (n. 92), pp. 95 ss., la concepción de Hart no<br />
pueda identificarse con una “concepción aditiva”, bajo la cual<br />
“[l]a normatividad y la coerción son retratadas como dos<br />
estrategias separadas, pero complementarias”, pues ello desconoce<br />
manifiestamente el compromiso del modelo de Hart<br />
con lo que aquí se ha denominado la “conexión pragmática”<br />
entre los conceptos de obligación y de sanción (jurídicas). No<br />
está de más notar aquí que la “concepción disyuntiva” favorecida<br />
por Dan-Cohen, según la cual, “[m]ás que ser dispositivos<br />
complementarios y de reforzamiento mutuo, la<br />
normatividad y la coerción también se hallan en pugna la una<br />
con la otra”, se deja explicar por el hecho de que él identifica<br />
la coerción con la coacción motivacionalmente eficaz, esto<br />
es, con la coacción mediante amenaza. Su constatación de la<br />
dificultad de compatibilizar la normatividad y la coercitividad<br />
del derecho, en tal medida, deja intacta la plausibilidad de un<br />
modelo que articule esa relación a partir de un “enfoque retributivo”,<br />
en la medida en que el concepto de coerción implicado<br />
por éste se corresponda con la noción de vis absoluta.<br />
Al respecto Mañalich, Terror, pena y amnistía, 2010, pp. 95 ss.<br />
secundarias de diversa índole – que exhiben validez jurídica<br />
en tanto pertenecientes a un determinado sistema jurídico. 103<br />
La transformación que trae consigo semejante institucionalización<br />
de criterios de reconocimiento, entendidos como<br />
criterios de validez, se deja describir con mayor precisión<br />
como sigue: el estatus normativo de la acción cuya omisión o<br />
ejecución es jurídicamente exigida – esto es: su estatus deóntico<br />
como acción prohibida u ordenada, respectivamente – es<br />
impuesto sobre ella como resultado de un acto de habla<br />
formalizado, consistente en la promulgación (o puesta en vigencia)<br />
de una regla de obligación. 104 La ventaja del recurso a<br />
la noción de acto de habla, en este contexto, es que así se<br />
hace posible reformular con mayor exactitud la diferencia<br />
que ha de reconocerse entre la concepción no-reduccionista<br />
de la legislación favorecida por un modelo no-imperativista<br />
como el de Hart, por un lado, y la concepción reduccionista<br />
favorecida por un modelo imperativista como el de Bentham/<br />
Austin, por otro.<br />
En los términos de la teoría de los actos de habla, este<br />
último modelo se caracteriza por entender la promulgación de<br />
una regla de obligación como la conjunción de la realización<br />
de dos clases de actos ilocutivos, a saber: un acto de habla<br />
directivo, consistente en la formulación de la respectiva exigencia<br />
de comportamiento, y un acto de habla compromisorio,<br />
consistente en el anuncio de la irrogación de un mal a<br />
modo de amenaza condicional para el caso en que la<br />
exigencia de comportamiento se vea contravenida. 105 De ahí<br />
que el criterio para la evaluación del éxito de semejante<br />
instancia de acto de habla ilocutivamente mixto sea el propio<br />
de la acción estratégica: el efecto obligante de la regla así<br />
promulgada no sería disociable de su (eventual) efecto perlocutivo,<br />
consistente en la efectiva intimidación de los destinatarios<br />
de la exigencia de comportamiento respaldada por la<br />
amenaza. 106<br />
A la concepción de la legislación que es propia del modelo<br />
hartiano subyace una diferente estructura pragmáticolingüística.<br />
Tal como en el caso anterior, aquí la promulgación<br />
o puesta en vigencia de una regla de obligación también<br />
puede ser entendida como la conjunción de la realización de<br />
dos actos ilocutivos de dos tipos. Pero esa conjunción ya no<br />
103<br />
Sobre la conexión conceptual entre la identidad de un<br />
sistema jurídico y los criterios de pertenencia de las reglas<br />
que lo integran, véase Raz (n. 14), pp. 188 ss.<br />
104<br />
Que la regla primaria de obligación no se encuentre explícitamente<br />
formulada por ley no obsta a que ella pueda ser<br />
pragmáticamente inferida a partir de la correspondiente norma<br />
de sanción, tal como lo demostrara Binding (n. 77), p. 45;<br />
véase también Bierling (n. 7), pp. 134 s.<br />
105<br />
La correspondiente taxonomía de los tipos (puros) de<br />
actos ilocutivos se encuentra en Searle, Expression and<br />
Meaning, 1979, pp. 1 ss. Para una crítica de la pretensión de<br />
exhaustividad sistemática de la clasificación, véase Mañalich,<br />
Estudios Públicos 119 (2010), 121 con ulteriores referencias.<br />
106<br />
Lo cual se ajusta enteramente a la observación de Renzikowski,<br />
ya comentada: “las normas jurídicas son seguidas en<br />
tanto normas jurídicas por miedo ante la pena o alguna otra<br />
consecuencia jurídica desagradable”.<br />
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583
Juan Pablo Mañalich R.<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
admite ser entendida como una simple adición, sino más bien<br />
como una derivación de una fuerza ilocutiva a partir de la<br />
otra. Con arreglo a la interpretación aquí defendida, las reglas<br />
de obligación se distinguen por la imposición de un<br />
determinado estatus deóntico sobre una acción de cierta clase.<br />
Tal imposición de un estatus se deja entender como el<br />
resultado de un acto de habla declarativo, 107 en la medida en<br />
que ese estatus cuente como un estatus funcional (o “estatusfunción”),<br />
esto es, como un estatus cuya imposición sirve a<br />
un determinado propósito, 108 que consiste en proveer una<br />
razón para la omisión o la ejecución de la acción correspondiente.<br />
De ahí que, a través del acto habla declarativo por el<br />
cual se impone el correspondiente estatus normativo sobre la<br />
acción en cuestión, consistente en su declaración como prohibida<br />
u ordenada, se obtenga el resultado ilocutivo característico<br />
de un acto de habla directivo. 109<br />
3. Las reglas de obligación como razones para la acción<br />
Lo anterior hace posible explicar en qué consiste la producción<br />
de reglas con fuerza obligante, sin que sea en absoluto<br />
necesario incorporar una referencia al eventual anuncio de la<br />
imposición (y ejecución) de sanciones para el caso de su<br />
quebrantamiento. De ahí que, conceptualmente, nada se<br />
oponga al eventual reconocimiento de una regla de obligación<br />
en la forma de una lex imperfecta. 110 Pues esto es<br />
precisamente lo que se afirma cuando se observa que “podemos<br />
distinguir claramente la regla que prohíbe cierto comportamiento<br />
de la provisión de las penalidades a ser impuestas si<br />
la regla es quebrantada, y suponer que la primera existe sin la<br />
segunda”. 111 El paso clave se halla en la consideración de que<br />
el estatus normativo de una acción opera proveyendo una<br />
razón para la acción. Y el carácter específicamente jurídico<br />
de semejante razón para la acción se identifica, según Hart,<br />
con una doble característica de las reglas jurídicas que<br />
fundamentan obligaciones: se trata de razones perentorias o<br />
“excluyentes de la deliberación”, por una parte, así como de<br />
razones independientes-de-su-contenido, por otra. 112<br />
107<br />
Searle (n. 105), pp. 16 ss.<br />
108<br />
Según Searle, Making the Social World, 2010, pp. 58 ss.,<br />
lo distintivo de todo estatus funcional consiste, por un lado,<br />
en el hecho de que su imposición y conservación es dependiente<br />
de un ejercicio de intencionalidad colectiva, así como,<br />
por otro lado, en el hecho de que la entidad en cuestión<br />
exhiba el estatus respectivo no exclusivamente por su estructura<br />
intrínseca, sino en virtud de la imposición y el reconocimiento<br />
colectivo de ese estatus.<br />
109<br />
Searle (n. 105), p. 28.<br />
110<br />
Binding (n. 77), pp. 63 ss.<br />
111<br />
Hart (n. 1), pp. 34 s.<br />
112<br />
Hart (n. 3), pp. 244 ss. Aquí no es posible entrar en el<br />
análisis pormenorizado de las similitudes y diferencias entre<br />
tal caracterización de las reglas de obligación, por un lado, y<br />
su caracterización como “razones excluyentes” (Raz [n. 18],<br />
pp. 58 ss.) o como “generalizaciones atrincheradas (Schauer<br />
[n. 18], pp. 38 ss.), por otro. Hart hace explícita, en todo<br />
caso, su deuda para con la seminal propuesta de Raz.<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
584<br />
<strong>ZIS</strong> 11/2012<br />
En la terminología de von Wright, esto quiere decir que<br />
Hart entiende las razones primarias que imponen obligaciones<br />
como desafíos (challenges), esto es, como razones externas<br />
para la acción, cuya existencia – entendida como validez<br />
– depende de la satisfacción de criterios objetivos de reconocimiento,<br />
con independencia de si ellas son subjetivamente<br />
reconocidas como razones por parte de aquellos a quienes se<br />
encuentran dirigidas; esto es, de aquellos a quienes esas<br />
reglas resultan aplicables. 113 Esta última es la terminología<br />
favorecida por Hart en contra del usual recurso a la noción de<br />
destinatario, que tendería a favorecer una problemática asimilación<br />
de la situación de la puesta en vigor de un estándar<br />
de comportamiento general a la situación de la emisión de<br />
una orden particular a una persona determinada. 114 El rendimiento<br />
de este aspecto específico del análisis del concepto de<br />
regla obligante que ofrece Hart se muestra en su potencial<br />
contribución a la disolución del tradicional “problema del<br />
destinatario” en el contexto de la teoría de las normas. Pues el<br />
análisis de Hart vuelve clara la diferencia entre la pregunta<br />
por la aplicabilidad de una regla (o norma) en la situación en<br />
que se encuentra una persona cualquiera, por un lado, y la<br />
pregunta acerca de si esa misma persona es individualmente<br />
capaz de darle seguimiento, por otro. 115<br />
VIII. Epílogo: la teoría de las normas frente a la teoría de<br />
la pena<br />
A modo de conclusión, cabe sostener que el desarrollo consistente<br />
de la poderosa tesis de “la unión de reglas primarias y<br />
secundarias” vuelve inviable el recurso indiferenciado a la<br />
etiqueta – incidentalmente empleada por el propio Hart – de<br />
“las reglas del derecho penal”, como si ella designara una<br />
categoría homogénea. Una descripción mínimamente sofisticada<br />
de un régimen de derecho penal exige diferenciar, en lo<br />
inmediato, 116 dos sistemas de reglas pragmáticamente entrela-<br />
113<br />
Vgl. v. Wright, Practical Reason, 1983, pp. 53 s.<br />
114<br />
Hart (n. 1), pp. 21 s. Análogamente Kelsen, Allgemeine<br />
Theorie der Normen, 1979, p. 7: “‘Destinatario de la norma’<br />
es sólo la expresión de que el comportamiento establecido en<br />
la norma como debido es un comportamiento humano, el<br />
comportamiento de un ser humano”.<br />
115<br />
Mañalich (n. 94), pp. 37 ss., 46 ss. Para la tesis de la<br />
restricción del “círculo de destinatarios” de una norma a las<br />
personas individualmente capaces de darle seguimiento,<br />
véase Binding (n. 77), pp. 243 s. Para una consistente defensa<br />
de la necesidad de reconocer la existencia de un “injusto<br />
puramente objetivo” en la recepción de la construcción<br />
teórica de Binding, véase sin embargo Nagler, en: Beling et<br />
al (eds.), Festschrift für Karl Binding zum 4. Juni 1911, 1911,<br />
tomo 2, p. 273 (p. 331 ss., 367 s.).<br />
116<br />
Todavía han de diferenciarse, además, las así llamadas<br />
“reglas de imputación”, que fijan las condiciones de las<br />
cuales depende la imputabilidad del quebrantamiento de<br />
alguna norma primaria de comportamiento (o regla primaria<br />
de o-bligación) a una persona determinada, y que se dejan<br />
entender como reglas que fijan condiciones de aplicabilidad<br />
de la correspondiente norma de sanción (o regla secundaria
Reglas Primarias de Obligación<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
zados. 117 A este respecto, la insistencia de Hart en la necesidad<br />
de dar cuenta de las reglas primarias de obligación sin<br />
reducir su obligatoriedad a la coercitividad de su reforzamiento<br />
a través de reglas secundarias de adjudicación instituyentes<br />
de un sistema de sanciones centralizado, es la consecuencia<br />
de su advertencia de que un modelo que – como el de<br />
Kelsen 118 o el de Schmidhäuser 119 – tendiera a prescindir de<br />
las primeras no alcanzaría siquiera a dar cuenta de la distinción<br />
conceptual entre penas e impuestos. 120<br />
Cuestión distinta es si las reglas primarias de obligación<br />
han de ser entendidas, en último término, como reglas del<br />
derecho penal. En este punto, la discrepancia entre la concepción<br />
de Hart y la concepción de Binding difícilmente podría<br />
ser mayor. Pues mientras que el primero no duda en atribuir<br />
al derecho penal la función primaria de proveer estándares<br />
que sirvan de guía de comportamiento, identificando así la<br />
función primaria del derecho penal con la función primaria<br />
del derecho en su conjunto, 121 el segundo parte de la base del<br />
carácter estrictamente secundario del derecho penal, hasta el<br />
punto de caracterizar las normas de comportamiento como<br />
normas de derecho público general. 122 Notablemente, la premisa<br />
sobre la cual Binding pretende apoyar esta conclusión<br />
está constituida por la necesidad de evitar una caracterización<br />
del derecho penal como (directamente) orientado a la prevención,<br />
123 en circunstancias de que la prevención (general) sería,<br />
según Hart, la finalidad cuya persecución justificaría globalmente<br />
– bajo el límite impuesto por una exigencia de “retribución”<br />
como criterio de distribución de cada instancia de<br />
castigo – la institución de la pena. 124<br />
Determinar si, y en su caso en qué medida, esta última<br />
concepción sustantiva de la justificación del castigo es<br />
compatible con el modelo dualista-reflexivo de las “reglas del<br />
derecho penal” que se deja extraer de El concepto de de-<br />
de adjudicación). Al respecto en detalle Mañalich (n. 94), pp.<br />
23 ss., con ulteriores referencias.<br />
117 De modo congruente con su sugerencia de que “es generalmente<br />
suficiente describir el derecho penal sólo en términos<br />
de deberes” – esto es, sin referencia a derechos – (Hart<br />
[n. 3], pp. 185 s.), al dar cuenta de las eximentes usualmente<br />
reconocidas como causas de justificación constituidas por<br />
reglas permisivas, Hart (n. 1), pp. 178 s., se inclina por su<br />
comprensión como excepciones frente a la correspondiente<br />
“prohibición general”. En cuanto a esto último véase también<br />
Binding (n. 77), pp. 127 ss.; el mismo (n. 97), pp. 173 ss.<br />
118 Kelsen (n. 114), pp. 77 s., 108 ss.<br />
119 Schmidhäuser (n. 98), passim.<br />
120 Hart (n. 1), pp. 35 ss. Para la recepción del modelo kelseniano<br />
en pos de la elaboración de una teoría monista de las<br />
normas del derecho penal, véase Hoyer, Strafrechtsdogmatik<br />
nach Armin Kaufmann, 1997, pp. 43 ss.; para una exposición<br />
crítica véase Renzikowski, ARSP 87 (2001), 110.<br />
121 Hart (n. 1), pp. 38 s.<br />
122 Binding (n. 77), pp. 96 s.; el mismo (n. 97), pp. 162 ss.<br />
123 Al respecto Mañalich (n. 102), pp. 103 ss.<br />
124 Hart, Punishment and Responsibility, 2. ed. 2008, pp. 1<br />
ss., 230 ss.<br />
recho, es una tarea que excede el marco de la presente indagación.<br />
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585
BVerfG, Beschl. v. 7.12.2011 – 2 BvR 2500/09 u.a. Steinsiek/Vollmer<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
586<br />
E n t s c h e i d u n g s a n m e r k u n g<br />
Mindestanforderungen an die Schadensfeststellungen bei<br />
einem Erfüllungsbetrug<br />
1. Im Zeitpunkt des Abschlusses von Lebensversicherungen<br />
liegt noch kein vollendeter Eingehungsbetrug vor,<br />
wenn der Täter zu diesem Zeitpunkt beabsichtigt, die<br />
Versicherungsprämien zu entrichten, aber die Versicherungssumme<br />
durch eine spätere Täuschung über den<br />
Eintritt eines Versicherungsfalls zu erlangen.<br />
2. Das verfassungsrechtliche Bestimmtheitsgebot schließt<br />
es aus, das Vorliegen nicht bezifferter Verlustwahrscheinlichkeiten<br />
bereits als vollendeten Schadenseintritt i.S.e.<br />
Eingehungsbetruges anzusehen.<br />
3. Die einschränkende verfassungsgerichtliche Rechtsprechung<br />
zum Vermögensnachteil i.S.d. § 266 StGB ist auch<br />
auf den Schadensbegriff des § 263 StGB zu übertragen.<br />
4. Der Rechtsprechung des BGH zum sog. Quotenschaden<br />
wird durch die vorliegende Entscheidung des BVerfG<br />
nicht die Grundlage entzogen.<br />
(Leitsätze der Verf.)<br />
GG Art. 103 Abs. 2<br />
StGB § 263<br />
BVerfG, Beschl. v. 7.12.2011 – 2 BvR 2500/09 u.a. 1<br />
I. Einführung<br />
Der vorliegende, aus Sicht der Verf. im Ergebnis und in der<br />
Begründung zutreffende Beschluss des BVerfG trifft im<br />
Wesentlichen drei Aussagen zu verschiedenen, am Maßstab<br />
des Verfassungsrechts zu messenden strafprozessualen und<br />
materiell-strafrechtlichen Rechtsfragen: Er bestätigt die bisherige<br />
Rechtsprechung des Gerichts zu Fragen des Schutzes<br />
eines unantastbaren grundrechtlichen Kernbereichs privater<br />
Lebensgestaltung menschenwürderechtlichen Gehalts 2 (II.),<br />
billigt von verfassungsrechtlicher Warte her abermals die<br />
vom BGH in st. Rspr. angewandte Abwägungslehre 3 zur<br />
Frage des Bestehens von Beweisverwertungsverboten (III.)<br />
und sucht – und dieses scheint den Verf. am bedeutsamsten –<br />
den Schadensbegriff des Betruges nach § 263 StGB anhand<br />
der Anforderungen des verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebots<br />
näher zu konturieren 4 (IV.). Nach einer jeweiligen<br />
Erörterung und Bewertung dieser Rechtsprechung werden die<br />
Verf. der Frage nachgehen, ob die bisherige Rechtsprechung<br />
des BGH in Fällen der Wettmanipulation aufrechterhalten<br />
werden kann (V.).<br />
1 Urteil im Volltext abrufbar unter<br />
http://www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/rs201<br />
11207_2bvr250009.html und abgedruckt in NJW 2012, 907.<br />
2 Vgl. BVerfG, Beschl. v. 7.12.2011 – 2 BvR 2500/09 u.a.,<br />
Rn. 99 ff.<br />
3 Vgl. BVerfG, Beschl. v. 7.12.2011 – 2 BvR 2500/09 u.a.,<br />
Rn. 109 ff.<br />
4 Vgl. BVerfG, Beschl. v. 7.12.2011 – 2 BvR 2500/09 u.a.,<br />
Rn. 162 ff.<br />
<strong>ZIS</strong> 11/2012<br />
II. Geltung des Kernbereichsschutzes auch bei gefahrenabwehrrechtlichen<br />
Eingriffen<br />
Nach dem hier zu besprechenden Beschluss des BVerfG ist<br />
der Kernbereich der privaten Lebensgestaltung als absolut<br />
unantastbarer Bereich 5 bei präventiven Maßnahmen zur Wohnraumüberwachung<br />
in gleichem Umfang zu wahren, wie dies<br />
bei strafprozessualen Maßnahmen der Fall ist. Dieses Ergebnis<br />
kann, unter Berücksichtigung der bisherigen Linie des<br />
BVerfG zum Kernbereich privater Lebensgestaltung, 6 kaum<br />
überraschen, weil das Gericht bereits in früheren Entscheidungen<br />
den Stellenwert und die Garantie dieses Rechtsguts<br />
durch Verortung seiner Wurzeln v.a. in der Menschenwürdegarantie<br />
des Art. 1 Abs. 1 GG klargestellt hat und die Wahrung<br />
dieses Rechts vor diesem Hintergrund unabhängig von<br />
der Richtung der staatlichen Maßnahme 7 als absolut schutzwürdig<br />
erscheint.<br />
III. Vereinbarkeit der Abwägungslehre des BGH mit dem<br />
verfassungsrechtlichen Recht des Angeklagten auf ein<br />
faires Verfahren<br />
Ebenso wenig überrascht die Bestätigung der bisherigen<br />
Rechtsprechung des BGH 8 zum Verfahren und der Annahme<br />
von Beweisverwertungsverboten durch das BVerfG. Nach<br />
dieser Rspr. führe nicht jeder Rechtsverstoß bei der Beweisgewinnung<br />
zu einem Verwertungsverbot; vielmehr sei eine<br />
einzelfallorientierte Abwägung der widerstreitenden Interessen<br />
vorzunehmen, bei der auch die Erfordernisse einer funktionstüchtigen<br />
Strafrechtspflege in den Blick zu nehmen<br />
seien. 9 Das verfassungsrechtlich im Rechtsstaatsprinzip des<br />
Art. 20 Abs. 3 GG i.V.m. der Menschenwürdegarantie des<br />
Art. 1 Abs. 1 GG sowie (bei drohenden Freiheitsstrafen) im<br />
Recht auf Freiheit aus Art. 2 Abs. 2 GG niedergelegte Recht<br />
auf ein faires Verfahren wirke sich im Ergebnis in der Annahme<br />
eines Beweisverwertungsverbotes, insbesondere bei<br />
schweren Straftaten, daher nur in Ausnahmefällen aus. 10 Seine<br />
Verletzung liege unter Beachtung dieser restriktiven Vorgaben<br />
erst vor, wenn die Fachgerichte rechtsstaatlich zwin-<br />
5<br />
BVerfGE 119, 1 (29 f.); 120, 274 (335); 124, 43 (69).<br />
6<br />
Zu dessen Garantie vgl. BVerfGE 6, 32 (41); 27, 1 (6); 32,<br />
373 (378 f.); 34, 238 (245); 80, 367 (373). Auch die bisherigen<br />
Entscheidungen des BVerfG zu Fragen des Kernbereichsschutzes<br />
blieben jedoch nicht auf strafprozessuale Ermittlungsmaßnahmen<br />
beschränkt (vgl. etwa BVerfGE 113, 348 zu<br />
§ 33a des Niedersächsischen Gesetzes über Sicherheit und<br />
Ordnung [Nds. SOG]).<br />
7<br />
Zu Tendenzen der Schaffung eines Grenzen verwischenden<br />
Sicherheitsrechts zwischen repressiv und präventiv wirkenden<br />
Eingriffsmaßnahmen, vgl. ausführlich Steinsiek, Terrorabwehr<br />
durch Strafrecht?, 2012.<br />
8<br />
BGHSt 24, 125 (128 ff.); 38, 214 (219 f.); 44, 243 (248 f.).<br />
9<br />
Vgl. BVerfG, Beschl. v. 7.12.2011 – 2 BvR 2500/09 u.a.,<br />
Rn. 113.<br />
10<br />
Vgl. BVerfG, Beschl. v. 7.12.2011 – 2 BvR 2500/09 u.a.,<br />
Rn. 117.
BVerfG, Beschl. v. 7.12.2011 – 2 BvR 2500/09 u.a. Steinsiek/Vollmer<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
gende Folgerungen nicht gezogen hätten oder rechtsstaatlich<br />
Unverzichtbares preisgegeben worden sei. 11<br />
IV. Nähere Konturierung des Schadensbegriffs des § 263<br />
StGB<br />
Abweichend von den bisher aufgezeigten Kontinuitäten erfährt<br />
die Rechtsprechung durch das Urteil des BVerfG jedoch<br />
eine wesentliche Fortentwicklung in Bezug auf Auslegungsmöglichkeiten<br />
und -grenzen des Schadensbegriffs des § 263<br />
StGB. Über den verfassungsrechtlich naheliegenden Maßstab<br />
des Bestimmtheitsgebots des Art. 103 Abs. 2 GG gibt das<br />
Verfassungsgericht den Fachgerichten mit dieser Entscheidung<br />
auch in materiell-strafrechtlicher Hinsicht Leitlinien vor.<br />
Diese aus Sicht der Verf. erfreuliche Tendenz bedeutet eine<br />
konsequente Rechtsanwendung, welche gleichzeitig die Bedeutung<br />
des Verfassungsrechts unterstreicht. Von der Untreue-Entscheidung<br />
12 einmal abgesehen, handelt es sich jedoch<br />
um einen für den Bereich des materiellen Strafrechts<br />
durchaus seltenen Vorgang. 13 Das BVerfG mag in anderen<br />
Entscheidungen seit dem Lüth-Urteil 14 zu recht in ständiger<br />
Rspr. betonen, dass eine Fortführung einfach rechtlicher<br />
Streitigkeiten auf verfassungsrechtlicher Ebene zu verhindern<br />
und es selbst keine „Superrevisionsinstanz“ sei. Sind jedoch<br />
– wie hier – Einbruchstellen für eine verfassungsrechtliche<br />
Überprüfung gegeben, ist diese auf Antrag insbesondere aufgrund<br />
der Eingriffsintensität strafrechtlicher Maßnahmen auch<br />
wahrzunehmen.<br />
Der BGH bejahte in seinem nun überprüften Urteil 15 das<br />
Vorliegen eines vollendeten Betruges i.S.d. § 263 StGB bereits<br />
bei Abschluss von Verträgen über Lebensversicherungen,<br />
wenn hierbei die Absicht bestanden habe, sich die Versicherungssumme<br />
später jeweils durch die Vorlage gefälschter<br />
Todesbescheinigungen auszahlen zu lassen. Die relevante<br />
Täuschung bestehe in der vorgespiegelten Bereitschaft, den<br />
Versicherungsschutz vertragskonform allein zur Abdeckung<br />
des zukünftigen Risikos eines ungewissen Schadenseintritts<br />
nutzen zu wollen. Bereits zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses<br />
habe sich unter Anlegung der Maßstäbe des sog. „Eingehungsbetruges“<br />
ein Vermögensschaden bei dem jeweiligen<br />
Versicherungsunternehmen manifestiert. Der BGH begründete<br />
dieses Ergebnis damit, dass die Inanspruchnahme des Versicherers<br />
aufgrund der beabsichtigten Manipulation sicher zu<br />
erwarten und die Leistungswahrscheinlichkeit der Versicherungen<br />
gegenüber dem vertraglich vereinbarten Einstandsrisiko<br />
signifikant erhöht gewesen sei. 16 Eine spätere tatsächliche<br />
Auszahlung der Versicherungssumme hätte nur zu einer<br />
weiteren Schadensvertiefung geführt und den Eingehungs- zu<br />
einem Erfüllungsbetrug werden lassen. Der Höhe nach bezifferte<br />
der BGH den Vermögensschaden in Form der Gefähr-<br />
11<br />
Vgl. BVerfG, Beschl. v. 7.12.2011 – 2 BvR 2500/09 u.a.,<br />
Rn. 112 m.w.N., Rn. 119.<br />
12<br />
BVerfGE 126, 170 = NJW 2010, 3209.<br />
13<br />
Ähnlich Joecks, wistra 2010, 179 (181), das BVerfG tue<br />
sich schwer, das Bestimmtheitsgebot zu bemühen.<br />
14<br />
BVerfGE 7, 198 = NJW 1958, 257.<br />
15<br />
BGHSt 54, 69 = NJW 2009, 3448.<br />
16 BGHSt 54, 69 (123 f.).<br />
dung durch die Eingehung des Versicherungsvertrages nicht<br />
und schuf in dieser Weise ein über die bisher anerkannten<br />
Figuren von Eingehungsbetrug und konkreter Vermögensgefährdung<br />
hinausgehend-erweiterndes Verständnis des Schadensbegriffs.<br />
Diese bloße Verlustwahrscheinlichkeit als Schaden einzuordnen,<br />
wird durch das BVerfG unter Berücksichtigung<br />
des aus dem Bestimmtheitsgrundsatz abzuleitenden strikten<br />
Verbots strafbegründender Analogien richtigerweise abgelehnt.<br />
Zwar ist in Rspr. und Literatur nahezu unstreitig, dass<br />
von dem Vorliegen eines Vermögensschadens nicht allein<br />
dann ausgegangen werden kann, wenn das Opfer der Tat<br />
einen physisch-manifestierten und somit faktischen Vermögensnachteil<br />
erlitten hat. Ein solcher mag sich in zahlreichen<br />
Fällen des Alltags tatsächlich einstellen, viele strafwürdige<br />
Fälle eines komplexen Wirtschaftslebens umfasste er aber<br />
nicht. Vor diesem Hintergrund verwundert die seit langem<br />
gebräuchliche offene Definition nicht, wonach ein Vermögensschaden<br />
gegeben sei, wenn eine Saldierung vor und nach<br />
der Vermögensverfügung des Opfers ergebe, dass es zu einer<br />
Vermögensminderung gekommen sei, die nicht kompensiert<br />
werde (Gesamtsaldierung). 17 Da insbesondere bei Vertragsabschlüssen,<br />
bei denen ein Vertragspartner von vornherein<br />
seiner Leistungspflicht nicht nachkommen kann und/oder<br />
will, oft unklar ist, zu welchem Zeitpunkt der Vermögensschaden<br />
in Form des Ausbleibens der Gegenleistung eintritt,<br />
sind in Literatur und Rechtsprechung verschiedene Formen<br />
des Vermögensschadens entwickelt worden. Zahlreichen, z.T.<br />
auch in Kombination angewendeten, dogmatischen Konstruktionen<br />
zum Vermögensschaden ist gemein, dass sie eine Vorverlagerung<br />
der Annahme eines Vermögensschadens bewirken.<br />
18 Dieses Vorgehen soll, wie auch von der Verfassungsgerichtsentscheidung<br />
nicht bezweckt, 19 nicht grundsätzlich in<br />
Frage gestellt werden. Einige Grenzpfähle einzuschlagen erscheint<br />
dennoch geboten.<br />
Vor dem Hintergrund der vorliegenden Entscheidung erscheinen,<br />
bevor zu einem späteren Zeitpunkt noch zu Mög-<br />
17<br />
Vgl. BGHSt 3, 99 (102); 16, 220 (221); 34, 199 (201);<br />
Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, Kommentar, 59.<br />
Aufl. 2012, § 263 Rn. 111; Cramer/Perron, in: Schönke/Schröder,<br />
Strafgesetzbuch, Kommentar, 28. Aufl. 2010,<br />
§ 263 Rn. 99.<br />
18<br />
Auf die Entscheidung des BGH bezogen Thielmann/Groß-<br />
Bölting/Strauß, HRRS 2010, 38 f.; Thielmann, StraFo 2010,<br />
412 (419); vgl. vertiefend außerdem Hefendehl, in: Joecks/<br />
Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch,<br />
Bd. 4, 2. Aufl. 2012, § 263 Rn. 532 ff. (Vermögensgefährdung<br />
als Vermögensschaden); Kindhäuser, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen<br />
(Hrsg.), Nomos Kommentar, Strafgesetzbuch,<br />
Bd. 2, 3. Aufl. 2010, § 263 Rn. 226 ff. (Vermögensschaden).<br />
19<br />
Ausdrücklich Rn. 171, die Figur des Eingehungsbetruges<br />
sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, sowie Rn. 175,<br />
es sei grundsätzlich mit dem verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebot<br />
vereinbar, bereits bei der konkreten Gefahr eines<br />
zukünftigen Verlusts einen gegenwärtigen Vermögensschaden<br />
anzunehmen.<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />
587
BVerfG, Beschl. v. 7.12.2011 – 2 BvR 2500/09 u.a. Steinsiek/Vollmer<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
lichkeiten von Schadensschätzungen Stellung genommen wird,<br />
insbesondere zwei den Strafbarkeitseintritt vorverlagernde<br />
Figuren erörternswert. Die Konstruktion eines Eingehungsbetrugs<br />
geht vom Vorliegen eines Vermögensschadens bereits<br />
dann aus, wenn ein Vertragspartner schon bei Vertragsschluss<br />
weiß, dass er seiner Leistungspflicht nicht nachkommen<br />
wird und hierbei mit entsprechender Bereicherungsabsicht<br />
handelt. 20 Ebenfalls anerkannt ist die Figur des konkreten<br />
Gefährdungsschadens, die erfüllt ist, wenn mit einer an<br />
Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit die Erfüllung der<br />
Forderung ausbleiben wird. 21 Beides – gerade in Kombination<br />
miteinander – führt zu einer deutlichen Erweiterung der<br />
Strafbarkeit gegenüber der – dem Wortsinn „[…] das Vermögen<br />
eines anderen dadurch beschädigt […]“ des § 263<br />
StGB näherliegenden – Konstellation des Erfüllungsbetrugs.<br />
Ein solcher sei gegeben, sobald das Opfer seinerseits die<br />
Gegenleistung erhalte und diese entweder hinter dem Versprochenen<br />
zurückbleibe oder es selbst mehr als geschuldet<br />
leiste, 22 sodass erst die weitere Abwicklung eines Vertrages<br />
zu Vermögenseinbußen führe. 23<br />
Augenfällig wird die vorverlagernde Wirkung insbesondere<br />
durch die Kritik des BGH an der Vorinstanz. Das OLG<br />
Düsseldorf 24 war auch in den Fällen, in denen es zum Abschluss<br />
eines Versicherungsvertrages gekommen war, zu einem<br />
nur versuchten Betrug gelangt. 25 Die Kritik des BGH an<br />
dem Schuldspruch wegen versuchten Betrugs gründete auf<br />
dem Umstand, dass zwischen aktueller Situation im Zeitpunkt<br />
der Festnahme der Betroffenen und der tatsächlichen<br />
Auszahlung der Versicherungssumme noch zahlreiche wesentliche<br />
Zwischenschritte erforderlich seien. Von einem unmittelbaren<br />
Ansetzen (zu einem Erfüllungsbetrug) könne daher<br />
noch nicht ausgegangen werden. 26 In der Sache ist die<br />
Kritik des BGH bei einem Tatplan, der vor der tatsächlichen<br />
Erlangung der Versicherungssumme zumindest noch eine vorsätzliche<br />
Reise nach Ägypten, die vorsätzliche Bestechung<br />
von dortigen Amtspersonen zur Ausstellung unrichtiger Ur-<br />
20<br />
Vertiefend s. Kindhäuser (Fn. 18), § 263 Rn. 316 ff.; Cramer/Perron<br />
(Fn. 17), § 263 Rn. 128.<br />
21<br />
Aus Sicht der Verf. sind beide Kategorien nicht deckungsgleich<br />
(mit solcher Tendenz aber Rn. 172 des BVerfG-Urteils),<br />
da das Vorliegen einer konkreten Vermögensgefährdung<br />
ebenso in Fällen des Erfüllungsbetruges möglich erscheint<br />
(wie hier Thielmann/Groß-Bölting/Strauß HRRS 2010,<br />
38 [40 f.]).<br />
22<br />
Fischer (Fn. 17), § 263 Rn. 177; Küper, Strafrecht, Besonderer<br />
Teil, 8. Aufl. 2012, S. 381.<br />
23<br />
BGHSt 32, 211 (213) = NJW 1985, 75, Fischer (Fn. 17),<br />
§ 263 Rn. 175, 177.<br />
24<br />
OLG Düsseldorf, Urt. v. 5.12.2007 – III-IV 10/05.<br />
25<br />
Nach der Rezeption durch den BGH soll dieses auf die<br />
Figur eines Erfüllungsbetruges abgestellt haben, insb. Thielmann/Groß-Bölting/Strauß<br />
(HRRS 2010, 38 [40]) bestreiten<br />
dies. Vorliegend ist eine Stellungnahme hierzu nicht erforderlich.<br />
26<br />
BGHSt 54, 69 (127 f.) in Übereinstimmung mit der weitgehend<br />
herrschenden Zwischenakttheorie; zust. Thielmann,<br />
StraFo 2010, 412 (414).<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
588<br />
<strong>ZIS</strong> 11/2012<br />
kunden, die vorsätzliche Vorlage der erlangten Urkunden bei<br />
den Versicherungen verbunden mit der Todesmeldung, das<br />
Überleben des Begünstigten sowie die Anweisung durch die<br />
Versicherungsgesellschaft und die Entgegennahme der Versicherungssumme<br />
durch den Begünstigten vorsah, zutreffend.<br />
Gerade diese Verneinung einer Versuchsstrafbarkeit im Vorbereitungsstadium<br />
eines Erfüllungsbetrugs aber verdeutlicht,<br />
wie weitgehend die vorverlagernden Wirkungen der Konstruktion<br />
eines Eingehungsbetrugs sein können.<br />
Speziell unter den engen, die Vorhersehbarkeit eines Strafbarkeitseintritts<br />
für Jedermann fordernden 27 Grenzen des<br />
Art. 103 Abs. 2 GG hat das BVerfG derartigen Bestrebungen<br />
der Vorverlagerung Grenzen gesetzt. Mehr als folgerichtig<br />
war hierbei die vorgenommene Übertragung der vom Verfassungsgericht<br />
im Jahr 2010 im Rahmen der Untreue-Entscheidung<br />
28 dargetanen Grundsätze auch auf den Betrugstatbestand.<br />
In seiner damaligen Entscheidung forderte das Gericht,<br />
für eine konkrete Vermögensgefährdung müsse ein bezifferter<br />
Mindestschaden vorliegen. 29 Die Übertragbarkeit dieser<br />
Grundsätze auch auf § 263 StGB fuße auf mehreren rechtsdogmatischen<br />
Erwägungen: Neben dem ähnlichen Wortlaut<br />
in Bezug auf den Taterfolg („Vermögen […] beschädigt“ in<br />
§ 263 StGB bzw. „Nachteil zufügt“ in § 266 StGB) ist dieses<br />
zum einen bereits der Umstand, dass es sich bei beiden Delikten<br />
um Verletzungs- bzw. Erfolgsdelikte und nicht lediglich<br />
um abstrakte Gefährdungsdelikte handeln soll. 30 Zum anderen<br />
zeigen sich zwischen beiden Tatbeständen keine derart<br />
großen Abweichungen, die eine unterschiedliche Interpretation<br />
des Schadensbegriffs im Rahmen des § 263 StGB angezeigt<br />
erscheinen ließe. Zwar wurde die restriktive Auslegung<br />
des Schadensbegriffs im Rahmen des § 266 StGB in der dem<br />
BVerfG 31 folgenden Literatur 32 häufig auch mit dem Argument<br />
begründet, der Versuch der Untreue sei vom Gesetzgeber<br />
bewusst nicht unter Strafe gestellt worden, weshalb Vorverlagerungen<br />
der Strafbarkeit durch Erweiterungen des<br />
Schadensbegriffs Grenzen gesetzt seien. Trotz der Strafbarkeit<br />
des versuchten Betruges gemäß § 263 Abs. 2 StGB sind<br />
Grenzziehungen hier jedoch kaum weniger geboten. Zwar<br />
lauten die Alternativen im Rahmen des § 263 StGB je nach<br />
Auslegung des Schadensbegriffs sodann zwar nicht stets auf<br />
Strafbarkeit wegen vollendeter Tat oder Straflosigkeit, aber<br />
zumindest auf Strafbarkeit wegen vollendeter Tat oder Versuchsstrafbarkeit,<br />
was wegen der Rechtsfolgen in § 23 Abs. 2<br />
und § 24 StGB unter Gesichtspunkten des freiheitssichernden<br />
Grundrechtsschutzes kaum weniger gewichtig erscheint. Zwei<br />
weitere Argumente für die Übertragbarkeit der zu § 266<br />
StGB von der Rspr. entwickelten Grundsätze auf § 263 StGB<br />
werden schließlich auch vom BVerfG selbst in überzeugen-<br />
27 Vgl. Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik<br />
Deutschland, Kommentar, 12. Aufl. 2012, Art. 103 Rn. 51;<br />
Degenhart, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar GG,<br />
6. Aufl. 2011, Art. 103 Rn. 67.<br />
28 BVerfGE 126, 170.<br />
29 BVerfGE 126, 170 (211 f., 228 f.).<br />
30 Für § 266 StGB BVerfGE 126, 170 (221, 226).<br />
31 BVerfGE 126, 170 (226, 228).<br />
32 Frisch, EWiR 2010, 657; Radtke, GmbHR 2010, 1121.
BVerfG, Beschl. v. 7.12.2011 – 2 BvR 2500/09 u.a. Steinsiek/Vollmer<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
der Weise dargetan. Zum einen weist das Gericht zutreffend<br />
darauf hin, die Figur der schadensgleichen Vermögensgefährdung<br />
sei ursprünglich im Rahmen des § 263 StGB entwickelt<br />
und sodann auf § 266 StGB übertragen worden, sodass<br />
gleichsam auch die Rückübertragung der hierzu ergangenen<br />
Rechtsprechung auf § 263 StGB geboten sei. Zum anderen<br />
würden Fragestellungen im Zusammenhang mit der Frage der<br />
schadensgleichen Vermögensgefährdung auch von der Rspr.<br />
und ganz überwiegenden Literatur in Bezug auf beide Tatbestände<br />
einheitlich behandelt. 33<br />
Die vom BVerfG aufgestellte Pflicht zur Bezifferung eines<br />
konkreten Schadens ist hierbei ein geeignetes Werkzeug<br />
zur Vermeidung zu weitgehender Strafbarkeitsausdehnungen.<br />
Denn sie zwingt bereits den Tatrichter zu wirtschaftlich nachvollziehbaren<br />
Feststellungen und damit dazu, nicht allein das<br />
Bestehen abstrakter Risiken ausreichen zu lassen. Es wahrt in<br />
dieser Weise den Charakter des Betruges als Erfolgsdelikt<br />
sowie den ultima ratio-Charakter des Strafrechts. 34 Zugleich<br />
schafft das Kriterium der Bezifferbarkeit neben der bislang<br />
gebräuchlichen Formulierung „es müsse vom Zufall abhängen,<br />
ob sich die Vermögensgefährdung zu einem tatsächlichen<br />
Vermögensschaden verdichte“, einen weiteren Maßstab<br />
zur Abgrenzung konkreter von (zur Tatbestandsverwirklichung<br />
nicht ausreichender) abstrakten Vermögensgefährdungen,<br />
ohne hierbei die Figur der schadensgleichen Vermögensgefährdung<br />
grundsätzlich in Frage zu stellen. 35 „Schadensgleich“<br />
kann diese jedoch richtigerweise nur sein, wenn ein<br />
Gefährdungsgrad erreicht wird, der einen Schadenseintritt<br />
mehr als nur möglich erscheinen lässt. Zudem stärkt das<br />
Merkmal der Bezifferbarkeit den wirtschaftlichen Bezug und<br />
damit den Charakter des Betrugstatbestands als Vermögensdelikt.<br />
Hierfür ist es unschädlich, wenn wie vom Verfassungsgericht<br />
in der Untreue-Entscheidung betont, neben wirtschaftlichen<br />
auch normative Aspekte Berücksichtigung finden. 36<br />
Diese dürfen die eindeutig wirtschaftlichen Wertungen jedoch<br />
nicht deutlich überwiegen, denn ein solches Vorgehen<br />
stellte den Charakter des Betrugs als Vermögensdelikt in<br />
Frage. Die Pflicht zur Bezifferung eines konkreten Schaden<br />
kann hierbei ein geeignetes Werkzeug zur Sicherung der<br />
Bedeutung dieser wirtschaftlichen Bezüge sein.<br />
Die Entscheidung des Verfassungsgerichts überzeugt aber<br />
auch deshalb, weil sie trotz dieser restriktiven Zielrichtung<br />
praktischen Nachweisschwierigkeiten ausreichend Rechnung<br />
trägt. Denn das Gericht erlaubt auch weiterhin die Möglichkeit<br />
einer erleichterten Schadensfeststellung: Notfalls könne<br />
diese, wenn ein Schaden nicht durch ein Sachverständigengutachten<br />
oder aufgrund wirtschaftlicher Erfahrung festgestellt<br />
werden kann, durch eine vorsichtige Schätzung ersetzt<br />
werden. 37 Beachtet werden muss jedoch das hiermit festgelegte<br />
Stufenverhältnis, wonach Schätzungen und die Annah-<br />
33<br />
Vgl. BVerfG, Beschl. v. 7.12.2011 – 2 BvR 2500/09 u.a.,<br />
Rn. 174 f.<br />
34<br />
Ebenso Joecks, wistra 2010, 179 (181).<br />
35<br />
Vgl. für die a.A. die Nachweise bei BVerfG, Beschl. v.<br />
7.12.2011 – 2 BvR 2500/09 u.a., Rn. 174.<br />
36<br />
BVerfGE 126, 170 (212).<br />
37<br />
BVerfGE 126, 170 (230).<br />
me von Mindestschadenssummen erst dann in Betracht kommen,<br />
wenn konkrete Berechnungen durch das Gericht (ggf.<br />
unter Einschaltung von Sachverständigen) keine näheren<br />
Bezifferungen ermöglichen. Eine konkrete Schadensbezifferung<br />
ist im vorliegenden Fall weitgehend unterblieben, obwohl<br />
mögliche Ansatzpunkte hierfür bereit gestanden hätten<br />
(etwa die garantierten Todesfallsummen der Verträge, Vergleiche<br />
zwischen statistischen Mittelwerten hinsichtlich der<br />
Dauer bis zum Eintritt des Leistungsfalls und seiner Wahrscheinlichkeit<br />
mit den hiesigen Wahrscheinlichkeiten). Auch<br />
sind die Anforderungen an die Zugrundlegung eines geschätzten<br />
Mindestschadens nicht gewahrt worden. Denn es<br />
bedarf im Lichte rechtsstaatlicher Entscheidungen und eines<br />
effektiven Grundrechtsschutzes auch in Fällen von Schätzungen<br />
der Darlegung, worauf die Schätzung beruhte, da sie<br />
allein dann obergerichtlich überprüft werden kann. Eine solche<br />
Schätzung mag – gerade auch im vorliegenden Fall, dessen<br />
Versicherungsverträge stets Risikogeschäfte darstellen<br />
und bei denen der Grad der täuschungsbedingten Risikoerhöhung<br />
schwierig zu bestimmen sein kann 38 – die Praxis im<br />
Einzelfall vor schwierige Aufgaben stellen. Sie einzufordern,<br />
ist nicht allein aus den vorgenannten Gründen, sondern wegen<br />
der Bedeutung der jeweiligen Schadenshöhe auch für die<br />
Frage einer schuldangemessenen Strafzumessung relevant.<br />
Zeigt sich in der Konsequenz im konkreten Fall aber gar, dass<br />
derartige Umstände auch unter Heranziehung von schätzweisen<br />
Näherungswerten keine Bezifferung ermöglichen, kann<br />
ein Vermögensschaden nicht angenommen werden. Eine<br />
bloße Erhöhung 39 eines Schadensrisikos jedenfalls kann allein<br />
nicht ausreichen. Ein solches Vorgehen pönalisierte ansonsten<br />
jedes vertragswidrige Verhalten gegenüber einer Versicherung.<br />
40 Mit diesen Vorgaben ist es dem BVerfG gelungen,<br />
dem Schadensbegriff zumindest in Randbereichen schärfere<br />
Konturen zu verleihen und Tendenzen einer fortschreitenden<br />
Ausdehnung des Schadensbegriffs entgegenzutreten.<br />
V. Parallelen und Unterschiede zur Rechtsprechung des<br />
BGH zum sog. „Quotenschaden“ in Wettbetrugsfällen<br />
Fraglich bleibt im Lichte des Vorstehenden jedoch, inwieweit<br />
unter diesen Rahmenbedingungen die Rspr. des BGH zum<br />
sog. „Quotenschaden“ aufrechterhalten werden kann. Unter<br />
diesem Begriff wird – seit der juristischen Aufarbeitung der<br />
Vorgänge um den Fußballschiedsrichter Robert Hoyzer 41 –<br />
das Bestehen eines Vermögensschadens angenommen, wenn<br />
durch Manipulationshandlungen von Wettteilnehmern Gewinnchancen<br />
erhöht werden sollen, was zu einem Missverhältnis<br />
der eingeräumten Gewinnchance zum hierfür geforderten<br />
Spieleinsatz führt. Die o.g. Entscheidung betraf Sportwetten,<br />
bei denen der Ausgang bestimmter Fußballspiele un-<br />
38<br />
Nach Joecks, wistra 2010, 179 (180) ist dies gar unmöglich.<br />
39<br />
Das vom BGH (nicht weiter inhaltlich ausgefüllte) Merkmal<br />
der „signifikanten“ Erhöhung ist ebenso nicht geeignet,<br />
eine ausreichende Konkretisierung zu bewirken.<br />
40<br />
Ähnlich BGH StV 1985, 368; krit. zu einem solchen Vorgehen<br />
auch Joecks, wistra 2010, 179 (180).<br />
41<br />
BGHSt 51, 165 = NJW 2007, 782 = NStZ 2007, 151.<br />
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BVerfG, Beschl. v. 7.12.2011 – 2 BvR 2500/09 u.a. Steinsiek/Vollmer<br />
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ter Zugrundlegung fester, durch den Wettanbieter aufgrund<br />
einer vorherigen Risikoanalyse bestimmter Quoten („oddset“)<br />
vorhergesagt werden konnte. Nach Ansicht des 5. Strafsenats<br />
des BGH stellten diese festgelegten Quoten den „Verkaufspreis“<br />
der Wettchance dar. Durch die Manipulation des Spiels<br />
habe das tatsächliche Risiko nun nicht mehr demjenigen entsprochen,<br />
welches die Wettanbieter bei ihrer Entscheidung zu<br />
grundgelegt hätten, sodass bereits durch diese Differenz ein<br />
Vermögensschaden eingetreten sei. 42<br />
Im Vergleich dazu werden beim Abschluss einer Lebensversicherung<br />
durch den Versicherungsanbieter ähnliche Risikoanalysen<br />
durchgeführt, um die Entscheidung, ob und unter<br />
welchen Umständen der Vertrag geschlossen werden kann,<br />
zu treffen. Diese Ermittlung der Eintrittswahrscheinlichkeit<br />
eines Versicherungsfalls, lässt sich mit der Festlegung einer<br />
Wettquote grundsätzlich vergleichen, da in beiden Fällen<br />
trotz Analyse und Wahrscheinlichkeiten ein Zufallselement<br />
verbleibt, von dem die Leistungspflicht abhängig ist. 43 Vor<br />
diesem Zeitpunkt hat der Wettkunde/Versicherungsnehmer<br />
lediglich einen vertraglichen Anspruch auf Risikoübernahme<br />
begründet. Es spricht zudem für eine Vergleichbarkeit beider<br />
Konstellationen, dass der Eintritt eines Schadens in beiden<br />
Fällen jeweils unumkehrbar zu einem Zeitpunkt bejaht wird,<br />
bei dem noch offen ist, ob der spätere Leistungsfall gerade<br />
aufgrund der Manipulation (Schiedsrichterfehlentscheidung/<br />
Vorlage zu Unrecht ausgestellter Todesbescheinigung) oder<br />
nachfolgend eigentlich vertragsgemäßem Verhalten (fehlende<br />
Beeinflussung des Spielverlaufs/tatsächlicher Tod des Versicherungsnehmers)<br />
beruht. Somit haben die Angeklagten auch<br />
in den vom BVerfG behandelten Fällen durch die Eingehung<br />
des Versicherungsvertrages bei zuvor geplanter Manipulation<br />
das tatsächliche Verlustrisiko der Versicherung gegenüber<br />
dem angenommenen Risiko bei Vertragsschluss erhöht. Gemein<br />
ist beiden Fällen ebenso die Wertung des BGH, eine<br />
Bezifferung des „(Quoten-)Schadens“ jeweils nicht für erforderlich<br />
zu erachten. Es reiche vielmehr aus, wenn die relevanten<br />
Risikofaktoren gesehen und bewertet würden. 44 Fraglich<br />
ist jedoch, ob die Rspr. des BVerfG zu den hiesigen Versicherungsfällen<br />
trotz der vorstehend dargelegten Parallelen<br />
tatsächlich auf Fälle des Wettbetrugs übertragbar ist. Hiergegen<br />
spricht entscheidend der jeweils unterschiedliche Grad<br />
der bewirkten Vorverlagerung von Strafbarkeiten. Während<br />
es sich in den Versicherungsfällen nach Rspr. des BGH jeweils<br />
um einen Eingehungsbetrug handelt, da die eigentliche<br />
Leistung der Versicherung in der späteren, von weiteren Prüfungen<br />
abhängigen Auszahlung der Versicherungssumme<br />
liegt, handelt es sich in den Wettfällen nicht um Fälle eines<br />
Eingehungsbetrugs, da das Opfer (der Wettanbieter) seine<br />
Verpflichtung im Zeitpunkt des Vertragsschlusses bereits<br />
42 BGH NStZ 2007, 151 (154).<br />
43 So auch Radtke, Jura 2007, 445 (451), der den Quotenschaden<br />
als spezifischen Schadenstypus bei Rechtsgeschäften ansieht,<br />
die sich auf den zufälligen Eintritt eines Ereignisses<br />
beziehen.<br />
44 BGH NStZ 2007, 151 (154).<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
590<br />
<strong>ZIS</strong> 11/2012<br />
vollständig erbracht hat. 45 Denn dessen Leistung besteht nicht<br />
erst in der späteren Auszahlung des Gewinns, sondern maßgeblich<br />
bereits in dem Einräumen einer (im Verhältnis zur<br />
eingesetzten Geldsumme zu großen) Gewinnchance bei Vertragsschluss.<br />
46 Die spätere Auszahlung des Gewinns stellt –<br />
anders als in den Versicherungsfällen – sodann lediglich eine<br />
bloße Formalie dar, da bei dieser keine erneute Prüfung einer<br />
Bezugsberechtigung stattfindet. In den Versicherungsfällen<br />
hingegen ist zur tatsächlichen Erlangung der Vermögensvorteile<br />
eine zweite Täuschung (nämlich über den Eintritt des<br />
Leistungsfalls) und damit auch ein zweiter – bei wertender<br />
Betrachtung u.U. schwerer wiegender 47 – Irrtum erforderlich, 48<br />
während ein solcher zweiter Irrtum in den Wettfällen (der<br />
vorgelegte Wettschein dürfte allenfalls noch auf Echtheit<br />
überprüft werden, aber nicht auf das unbeeinflusste Zustandekommen<br />
des Ergebnisses) fehlt. Dieser Unterschied aber<br />
bewirkt, dass die Annahme eines Quotenschadens nicht zu<br />
vergleichbar weiten Vorverlagerungen von Strafbarkeiten<br />
weg von der endgültigen Schadensmanifestation des Erfüllungsbetrugs<br />
führt, daher weniger weitgehende Ausweitungen<br />
des Schadensbegriffs mit sich bringt 49 und mithin auch<br />
einer weniger restriktiven Handhabung bedarf. Mithin ist eine<br />
Änderung der Rechtsprechung zum Quotenschaden nach Ansicht<br />
der Verf. im Lichte der verfassungsrechtlichen Rechtsprechung<br />
nicht zwingend geboten.<br />
Regierungsrat Dr. Mark Steinsiek, Diplom-Jurist/verwaltungswirt<br />
Philipp Vollmer, Hannover*<br />
45 I.E. entspricht dieses auch den Ausführungen des BGH<br />
(vgl. NStZ 2007, 151 [154]); es verwundert daher, wenn<br />
dieser zuvor dennoch den Begriff des Eingehungsbetruges<br />
verwendet (vgl. ebd.).<br />
46 BGH NStZ 2007, 151 (154 f.); ebenso Radtke, Jura 2007,<br />
445 (451).<br />
47 Thielmann, StraFo 2010, 412 (417).<br />
48 Zutreffend herausgearbeitet von Thielmann, StraFo 2010,<br />
412 (415).<br />
49 Solche bestehen in gewissem Umfang aber vor dem Hintergrund,<br />
dass wegen der nach Vertragsschluss noch nötigen<br />
Manipulationshandlungen noch keine konkrete, sondern eine<br />
lediglich abstrakte Vermögensgefährdung angenommen werden<br />
kann (BGH NStZ 2007, 151 [155], zust. Radtke, Jura<br />
2007, 445 [451]).<br />
* Der Autor Steinsiek war wissenschaftlicher Mitarbeiter, der<br />
Autor Vollmer war stud. Hilfskraft am Lehrstuhl für Strafrecht,<br />
Strafprozessrecht und Internationales Strafrecht (RiBGH<br />
Prof. Dr. Henning Radtke), Hannover, und ist jetzt als Dozent<br />
an der Polizeiakademie Niedersachsen tätig.
Zum Prüfungsumfang des Revisionsgerichts bei der sachlichen Zuständigkeit<br />
gem. § 6 StPO<br />
Besprechung von BGH, Beschl. v. 8.11.2011 – 3 StR 244/11 = NStZ-RR 2012, 76<br />
Von Rechtsanwältin Anja Sturm, Berlin, Rechtsanwalt Andreas Lickleder, München<br />
Die sachliche Zuständigkeit ist eine von Amts wegen zu prüfende<br />
Verfahrensvoraussetzung. Verfahrensvoraussetzungen stehen<br />
neben Verfahrensfehlern materiellrechtlicher und verfahrensrechtlicher<br />
Natur, die nur auf Rüge des Revisionsführers<br />
zu prüfen sind. Die Auffassung der h.M. (zuletzt im besprochenen<br />
Beschl. des BGH v. 8.11.2011 – 3 StR 244/11) ist<br />
nicht widerspruchsfrei, wenn sie die sachliche Zuständigkeit<br />
auch beim Revisionsgericht von der Beurteilung eines Sachverhaltes<br />
nach der „objektiven Rechtslage“ des konkreten<br />
Einzelfalls abhängig macht und damit dem Revisionsgericht<br />
die Prüfung der „objektiven materiellen Rechtslage“ auferlegt,<br />
obwohl diese Prüfung von der Geltendmachung der<br />
Sachrüge abhängt. Der Beitrag versucht, diesen Widerspruch<br />
durch eine Reduktion des Prüfungsumfangs im Rahmen des<br />
§ 6 StPO aufzulösen.<br />
I. Einleitung<br />
Die Reichweite des Prüfungsrechts des Revisionsgerichts war<br />
bislang nicht im Fokus von Meinungsstreitigkeiten, weil die<br />
gesetzliche Regelung klar zu sein scheint: aufgrund einer<br />
Revision überprüft das Revisionsgericht gem. § 337 StPO<br />
allein eine Verletzung des Gesetzes, nicht aber schuld- oder<br />
strafzumessungsrelevante Tatsachen. Der Revisionsführer<br />
bestimmt gem. §§ 344 Abs. 1, Abs. 2 S. 1 StPO den Umfang<br />
der Anfechtung im Hinblick auf verfahrensrechtliche und auf<br />
materiellrechtliche Mängel. Hieran ist das Revisionsgericht<br />
gebunden, § 352 Abs. 1 StPO.<br />
Der Disposition des Revisionsführers entzogen sind indes<br />
die „v.A.w. zu beachtenden Verfahrensvoraussetzungen“. Diese<br />
unterliegen einer umfänglichen Prüfungspflicht und eröffnen<br />
mithin ein eigenständiges Prüfungsrecht, auch wenn eine<br />
ausdrückliche gesetzliche Regelung fehlt. 1 Bislang unerörtert<br />
blieb dabei in Rechtsprechung und Literatur gleichermaßen,<br />
welche Grundlage bei einer solchen Prüfung v.A.w. heranzuziehen<br />
ist: zu denken ist pauschal an das Urteil insgesamt<br />
oder gar den vollständigen Akteninhalt. Dies verhilft jedoch<br />
gerade dann zu keiner Lösung, wenn sich die getroffenen<br />
Feststellungen nicht mit der rechtlichen Würdigung in Einklang<br />
bringen lassen.<br />
In seinem Beschluss vom 8.11.2011 verwies der 3. Senat<br />
des Bundesgerichtshofes mit der ganz h.M. auf die „objektive<br />
Rechtslage“, die für die sachliche Zuständigkeit maßgeblich<br />
sein soll. 2 Diese Begründung lässt eine stringente Auseinandersetzung<br />
mit den angesprochenen Problemkreisen missen.<br />
1<br />
Meyer-Goßner, Prozessvoraussetzungen und Prozesshindernisse,<br />
2011, S. 1.<br />
2<br />
Vgl. BGH, Beschl. v. 8.11.2011 – 3 StR 244/11, Rn. 10.<br />
II. Die sachliche Zuständigkeit als Verfahrensvoraussetzung<br />
1. Die v.A.w. zu beachtende Verfahrensvoraussetzung<br />
Bei Verfahrensvoraussetzungen handelt es sich um – im Einzelnen<br />
nicht näher bestimmte 3 – „besonders schwerwiegende<br />
Verfahrensverstöße“. 4 Anders als die funktionelle und die<br />
örtliche Zuständigkeit, die nach §§ 6a, 16 StPO einer Präklusionswirkung<br />
unterliegen und in der Revision „nur“ als Verfahrensfehler<br />
gem. § 337 StPO 5 geltend gemacht werden<br />
können, ist die sachliche Zuständigkeit dem Wortlaut des § 6<br />
StPO nach „in jeder Lage des Verfahrens“, also in jeder Instanz<br />
„v.A.w. zu prüfen“ 6 . Diese Verpflichtung gilt auch für<br />
das Revisionsgericht. Das Fehlen der sachlichen Zuständigkeit<br />
stellt somit ein Prozesshindernis dar. 7<br />
2. Befassungsverbote und Bestrafungsverbote<br />
Die Behandlung der v.A.w. zu beachtenden Verfahrensvoraussetzungen<br />
erfolgt in der Praxis indes nicht mit der Eindeutigkeit,<br />
die die Einordnung als „besonders schwer wiegender<br />
Verfahrensverstoß“ suggeriert. Einen ersten Hinweis gibt<br />
die differenzierende Betrachtungsweise, 8 bei den Verfahrensvoraussetzungen<br />
zwischen Befassungsverboten und Bestrafungsverboten<br />
zu unterscheiden:<br />
Befassungsverbote verbieten jegliche Befassung des Gerichts<br />
mit dem Sachverhalt und führen zwingend zur Einstellung<br />
des Verfahrens. Die wichtigsten Befassungsverbote sind<br />
das Fehlen einer wirksamen Anklage, des Eröffnungsbeschlusses<br />
sowie die Strafunmündigkeit – aber auch die sachliche<br />
Zuständigkeit.<br />
Demgegenüber erlauben Bestrafungsverbote eine Befassung<br />
des Gerichts mit dem angeklagten Lebenssachverhalt;<br />
sie verhindern eine Bestrafung des Angeklagten. In diese<br />
3<br />
Zur Kritik an dieser Definition Meyer-Goßner (Fn. 1), S. 2.<br />
4<br />
Vgl. BGH, Urt. v. 25.10.2000 – 2 StR 232/00 = BGHSt 46,<br />
159 f.: „Umstände, die es ausschließen, dass über einen Prozessgegenstand<br />
mit dem Ziel einer Sachentscheidung verhandelt<br />
werden darf. Sie müssen so schwer wiegen, dass von<br />
ihrem Vorhandensein oder Nichtvorhandensein die Zulässigkeit<br />
des gesamten Verfahrens abhängig gemacht werden<br />
muss.“<br />
5<br />
Wenn auch (stets) das Beruhen des Urteils auf dem Fehler<br />
fingiert wird, vgl. § 338 Nr. 4 StPO.<br />
6<br />
Vgl. BGH, Beschl. v. 5.10.1962 – GSSt 1/62 = BGHSt 18,<br />
79 (83); Rotsch, in: Krekeler/Löffelmann/Sommer (Hrsg.),<br />
Anwaltkommentar StPO, 2. Aufl. 2010, § 6 Rn. 3.<br />
7<br />
BGH, Urt. v. 22.4.1999 – 4 StR 19/99 = BGHSt 45, 58.<br />
8<br />
Meyer-Goßner, Strafprozessordnung, Kommentar, 55. Aufl.<br />
2012, Einl. Rn. 143; ders. (Fn. 1), S. 38. Tendenzen, sich<br />
dieser Auffassung anzuschließen, finden sich in BGH, Beschl.<br />
v. 10.1.2007 – 5 StR 305/06 = BGHSt 51, 202 (205).<br />
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591
Anja Sturm/Andreas Lickleder<br />
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Kategorie gehören Verjährung, fehlender Strafantrag oder<br />
überlange Verfahrensdauer.<br />
Die Unterscheidung zeigt vielfach Auswirkungen: Bei einem<br />
Befassungsverbot ist das Verfahren einzustellen, auch<br />
wenn dem Angeklagten keine Straftat vorgeworfen werden<br />
kann. 9 Bei einem Bestrafungsverbot wäre freizusprechen. 10<br />
Befassungsverbote gehen also dem für den Angeklagten<br />
günstigeren Freispruch vor. Fehler mit verfahrensrechtlichem<br />
Bezug, 11 die zu einer Einstellung führen können und somit<br />
ebenfalls ein Prozesshindernis darstellen, unterliegen als Bestrafungsverbote<br />
den Voraussetzungen der Verfahrensrüge. 12<br />
Ob für die Berücksichtigung eines Bestrafungsverbotes mit<br />
materiellrechtlichem Bezug wie z.B. die Verjährung oder der<br />
Strafantrag die Sachrüge erhoben werden muss, 13 damit das<br />
Revisionsgericht den materiellrechtlichen Gegenstand einer<br />
Verurteilung überprüfen kann, hat der Bundesgerichtshof<br />
soweit ersichtlich noch nicht entschieden.<br />
III. BGH, Beschl. v. 8.11.2011 – 3 StR 244/11 = NStZ-RR<br />
2012, 76<br />
1. Sachverhalt<br />
Der Entscheidung lag folgender Sachverhalt zugrunde:<br />
Der Angeklagte hatte einen Bundesminister angeschrieben,<br />
dieser solle sich um eine Person kümmern, welche zu<br />
Unrecht strafrechtlich verfolgt werde. Ansonsten werde er<br />
den Minister töten. Der Bundesminister reagierte auf dieses<br />
Schreiben nicht.<br />
Der Angeklagte wurde von der Staatsanwaltschaft u.a.<br />
wegen versuchter Nötigung eines Mitglieds eines Verfassungsorgans<br />
gem. §§ 106, 22, 23 StGB zum Landgericht angeklagt<br />
und dementsprechend verurteilt. Die im Hinblick auf diesen<br />
Vorwurf ausschließlich beim OLG liegende sachliche Zuständigkeit<br />
gem. § 120 Abs. 1 Nr. 5 GVG wurde von allen<br />
Prozessbeteiligten übersehen.<br />
Gegen das Urteil erhob der Angeklagte mit der Revision<br />
eine zulässige, aber unbegründete Verfahrensrüge sowie die<br />
Sachrüge.<br />
2. Die Entscheidung des Senats<br />
Der Senat befasste sich mit dem Problem der sachlichen<br />
Zuständigkeit, die den Sachverhalt dem OLG vorbehalten<br />
hätte. Seiner Prüfung legte er die vom Landgericht getroffenen<br />
Feststellungen zugrunde und kam in der rechtlichen Bewertung<br />
zu dem Ergebnis, dass der Tatbestand des § 106<br />
StGB nicht erfüllt sei mit der Folge, dass § 120 Abs. 1 Nr. 5<br />
9<br />
BGH, Urt. v. 17.8.2000 – 4 StR 245/00 = BGHSt 46, 130<br />
bei Fehlen einer wirksamen Anklage.<br />
10<br />
Meyer-Goßner (Fn. 8), § 260 Rn. 45: Freispruch bei fehlendem<br />
Strafantrag.<br />
11<br />
Z.B. überlange Verfahrensdauer, staatliche Tatprovokation.<br />
12<br />
BGH, Beschl. v. 17.12.2003 – 1 StR 445/03 = NStZ 2004,<br />
449 für die überlange Verfahrensdauer.<br />
13<br />
So Meyer-Goßner (Fn. 1), S. 53.<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
592<br />
<strong>ZIS</strong> 11/2012<br />
GVG nicht einschlägig, das OLG folglich nicht zuständig<br />
gewesen sei. 14<br />
Der Senat verurteilte den Angeklagten unter Korrektur<br />
des Schuldspruches gem. § 354 Abs. 1 StPO wegen versuchter<br />
Nötigung gem. §§ 240, 22 StGB und setzte die Rechtsfolge<br />
im Einvernehmen mit dem Generalbundesanwalt auf die<br />
gesetzlich niedrigste Strafe herab. Das Landgericht sei nach<br />
den eigenen Feststellungen sachlich zuständig gewesen, so<br />
dass der Senat lediglich die Tenorierung abänderte.<br />
Offen bleibt dabei, auf welcher Basis – wenn auch mit<br />
dem Hinweis auf eine „entsprechende oder direkte Anwendung<br />
des § 354 Abs. 1 StPO“ – der Senat den Schuldspruch<br />
geändert hat. Unter Verweis auf zwei Reichsgerichtsentscheidungen<br />
bestätigte der Senat die überkommene Rechtsprechung,<br />
15 wonach es für die sachliche Zuständigkeit nicht auf<br />
die subjektive, d.h. vom Tatgericht getroffene materielle Entscheidung,<br />
sondern auf die objektive Rechtslage ankomme.<br />
Maßgeblich für die sachliche Zuständigkeit sei demnach, zu<br />
welchem Ergebnis die Vorinstanz bei zutreffender Rechtsanwendung<br />
auf der Basis ihrer Feststellungen hätte gelangen<br />
müssen. Irrelevant sei hingegen die tatsächliche rechtliche<br />
Bewertung der Vorinstanz.<br />
IV. Entscheidungsgrundlagen in BGH – 3 StR 244/11<br />
Der Senat zieht zur Begründung seines Beschlusses zwei<br />
Entscheidungen des Reichsgerichts und eine des 1. Strafsenats<br />
des BGH aus dem Jahr 1951 heran.<br />
1. RGSt 6, 309 16<br />
Das Schöffengericht hatte den Angeklagten wegen Sachbeschädigung<br />
verurteilt, wogegen dieser Berufung eingelegt<br />
hatte. Erst in der Berufungsinstanz kam der Tatbestand der<br />
fahrlässigen Körperverletzung zur Sprache. Dafür wäre nach<br />
der damaligen Regelung das Landgericht erstinstanzlich zuständig<br />
gewesen. Der Angeklagte wurde daraufhin entsprechend<br />
verurteilt.<br />
Das Reichsgericht stellte fest, dass das Schöffengericht<br />
für die Handlung in dieser durch die Verhandlung in der<br />
Berufungsinstanz hervorgetretenen Gestalt seine Zuständigkeit<br />
mit Unrecht angenommen hatte. Maßgeblich für die<br />
Beurteilung der Zuständigkeit sei in einem solchen Fall der<br />
Tatidentität das Ergebnis der Beweisaufnahme in der zweiten<br />
Instanz. Daraus schloss das Reichsgericht, dass die Worte<br />
„mit Unrecht“ in der Zuständigkeitsnorm „objektiv, nicht<br />
subjektiv zu verstehen“ seien. Nachdem das Berufungsgericht<br />
diesen Zuständigkeitsfehler erkannt habe, habe es zu Recht<br />
das Urteil des Schöffengerichts aufgehoben, die zwei weite-<br />
14<br />
BGH, Beschl. v. 8.11.2011 – 3 StR 244/11 = NStZ-RR<br />
2012, 76.<br />
15<br />
Für viele Frisch, in: Wolter (Hrsg.), Systematischer Kommentar<br />
zur Strafprozessordnung und zum Gerichtsverfassungsgesetz,<br />
42. Lfg., Stand: Dezember 2005, § 338 Rn. 87; Meyer-Goßner<br />
(Fn. 8), § 338 Rn. 32; Hanack, in: Rieß (Hrsg.),<br />
Löwe/ Rosenberg, Die Strafprozeßordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz,<br />
Bd. 5, 25. Aufl. 2004, § 338 Rn. 71.<br />
16<br />
RG, Urt. v. 22.4.1882 – Rep 446/82 = RGSt 6, 309.
Zum Prüfungsumfang des Revisionsgerichts bei der sachlichen Zuständigkeit gem. § 6 StPO<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
ren Richter, die für eine Kammerbesetzung beim Landgericht<br />
als erste Instanz erforderlich waren, hinzugezogen und sodann<br />
als erstinstanzliches Gericht verhandelt.<br />
2. RGSt 44, 139 17<br />
Das Amtsgericht hatte den Angeklagten wegen eines Vergehens<br />
gem. § 175 StGB a.F. verurteilt. Mit ihrer Berufung<br />
begehrte die Staatsanwaltschaft eine Verurteilung wegen des<br />
Verbrechens des Verstoßes gegen § 2 der VO geg. Volksschädlinge<br />
v. 5.9.1939. Entsprechend dieser Auffassung verurteilte<br />
das Berufungsgericht den Angeklagten, wobei es das<br />
Urteil des Amtsgerichts aufhob, weil dieses gem. § 24 GVG<br />
für die Entscheidung nicht zuständig war. Der Angeklagte<br />
richtete hiergegen die Revision.<br />
Das Reichsgericht prüfte im Rahmen der Zulässigkeit zunächst<br />
seine eigene sachliche Zuständigkeit, da ein Rechtsmittel<br />
gegen Berufungsurteile nicht gegeben war. Es stellte<br />
fest, dass die rechtliche Bewertung der Tat in der Berufungsinstanz<br />
die Kompetenz des Amtsgerichts überschritten habe,<br />
weshalb das Landgericht zu Recht das Urteil aufgehoben und<br />
selbst als erste Instanz in der Sache entschieden habe. Zu der<br />
sachlichen Zuständigkeit führte es an die zuvor genannte<br />
reichsgerichtliche Entscheidung anknüpfend aus, dass die<br />
Worte „mit Unrecht“ sachlich, nicht persönlich zu verstehen<br />
seien. Da das Landgericht sachlich zuständig als erste Instanz<br />
entschieden habe, sei die Revision gegen das Urteil zulässig.<br />
3. BGHSt 1, 346 18<br />
Der Senat hatte über eine Revision des Angeklagten zu entscheiden,<br />
mit welcher dieser u.a. die sachliche Zuständigkeit<br />
der Strafkammer rügte. Ihm lag nach Anklage und Eröffnungsbeschluss<br />
ein versuchter besonders schwerer Raub gem.<br />
§§ 251, 43 StGB a.F. zur Last, der gem. § 80 GVG a.F. die<br />
Zuständigkeit des Schwurgerichts begründet hätte. Verurteilt<br />
wurde er wegen versuchten schweren Raubes gem. § 250<br />
Abs. 1 Nrn. 1, 3 StGB. Zur Aburteilung dieses Verbrechens<br />
war die Strafkammer sachlich gem. § 74 GVG zuständig.<br />
Der Senat bestätigte die sachliche Zuständigkeit der Strafkammer.<br />
Nach der in der Hauptverhandlung gewonnenen Erkenntnis,<br />
dass in Richtung des § 251 StGB kein Verdacht<br />
mehr bestand, sei dieser die Möglichkeit genommen gewesen,<br />
den Verfahrensfehler in Anklage und Eröffnungsbeschluss<br />
durch Verweisung gem. § 270 StPO zu heilen. Eine Aufhebung<br />
und Zurückverweisung an das sachlich zuständige Gericht<br />
könne auf Basis dieses Urteils nur mehr an die Strafkammer<br />
und nicht das Schwurgericht erfolgen.<br />
4. Zusammenfassung zum Ausgangspunkt der Begründung<br />
Allen drei vom Senat zitierten Entscheidungen ist gemein,<br />
dass das Revisionsgericht jeweils bei der Prüfung der sachlichen<br />
Zuständigkeit die vom letzten Instanzgericht getroffenen<br />
Feststellungen und dessen rechtliche Bewertung übernahm.<br />
Einigkeit besteht zunächst darüber, dass der im Zeitpunkt<br />
des Urteils festgestellte Sachverhalt der Tatsachenin-<br />
17<br />
RG, Urt. v. 2.4.1940 – 4 D 151/40 = RGSt 44, 139.<br />
18<br />
Vom Senat zitiert bei Dallinger, MDR 1952, 118 Fn. 5 =<br />
BGH, Urt. v. 2. 10.1951 – 1 StR 434/51 = NJW 1952, 192.<br />
stanz die Zuständigkeit bestimmt. 19 Weicht dieser von Anklage<br />
oder Eröffnungsbeschluss in einer die Zuständigkeit<br />
beseitigenden Weise ab, ändert dies nichts, 20 solange das<br />
Gericht wegen eines Tatbestands verurteilt, für den es zuständig<br />
ist. 21 Dieser Zeitpunkt ist auch dann maßgeblich,<br />
wenn in der Rechtsmittelinstanz die eine anderweitige Zuständigkeit<br />
begründenden Sachverhalte entfallen sind, weil<br />
der Angeklagte nur diejenigen Teile angefochten hatte, für<br />
die das Gericht zuständig war, 22 oder aber Tatteile, für die<br />
eine anderweitige Zuständigkeit bestanden hätte, abgetrennt<br />
worden sind. Aus einer anderweitigen Zuständigkeit resultiere<br />
kein Trennungsverbot; die Unzuständigkeit werde nicht<br />
perpetuiert. 23<br />
Unumstritten ist die Prüfungskompetenz für das Nichtvorliegen<br />
von Tatbestandsmerkmalen nicht – diese soll nach der<br />
Gegenauffassung 24 allein dem insoweit zuständigen Gericht<br />
vorbehalten bleiben; solange ein dem Anklagevorwurf entsprechender<br />
Lebenssachverhalt angeklagt sei, sei das höhere<br />
Gericht zuständig, selbst wenn sich dieser Sachverhalt später<br />
nicht erhärten lasse. Anders verhalte es sich nur dann, wenn<br />
die Anklage rechtsirrig von einem schwereren Tatbestand ausgeht.<br />
Die Zuständigkeitsfrage müsse zuerst beschieden werden,<br />
bevor man sich mit der Tat auseinander setze.<br />
Der BGH ist der zuletzt genannten Auffassung verschiedentlich<br />
gefolgt: Der 4. Strafsenat 25 hielt allein das höhere<br />
Gericht für befugt, den Tatverdacht bzgl. der schwereren Straftat<br />
zu überprüfen. Zweifel an dieser Vorgehensweise werden<br />
allerdings insoweit geäußert, als der Angeklagte nicht beschwert<br />
sei, wenn er von einem niedrigeren Gericht wegen<br />
19<br />
Vgl. Hanack (Fn. 15), § 338 Rn. 71; Temming, in: Gercke/<br />
Julius/Temming/Zöller (Hrsg.), Strafprozessordnung, Heidelberger<br />
Kommentar, 5. Aufl. 2012, § 338 Rn. 38; Pfeiffer,<br />
Strafprozessordnung, Kommentar, 5. Aufl. 2005, § 338 Rn. 14;<br />
BGH, Urt. v. 28.10.1986 – 1 StR 507/86 = NStZ 1987, 132;<br />
BGH, Beschl. v. 3.5.1991 – 3 StR 483/90 = NStZ 1991, 503;<br />
Lohse, in: Krekeler/Löffelmann/Sommer (Fn. 6), § 338<br />
Rn. 29; zu § 328 StPO vgl. Paul, in: Hannich (Hrsg.), Karlsruher<br />
Kommentar zur Strafprozessordnung, 6. Aufl. 2008,<br />
§ 328 Rn. 13; BGH, Beschl. v. 29.10.2009 – 3 StR 141/09 =<br />
NStZ-RR 2010, 284.<br />
20<br />
Der Zeitpunkt des Urteils ist natürlich dann nicht maßgebend,<br />
wenn die sachliche Zuständigkeit durch einen anderen<br />
Bezugspunkt begründet wird: Die besondere Bedeutung des<br />
Falles (vgl. § 24 Abs. 1 Nr. 3 GVG) wird allein im Zeitpunkt<br />
des Eröffnungsbeschlusses (nach objektiven Gesichtspunkten)<br />
gemessen. Einer ausführlichen Darlegung bedarf es nicht<br />
(BGH, Urt. v. 10.5.2001 – 1 StR 504/00 = BGHSt 47, 16 [21]).<br />
Gleiches gilt für die Straferwartung nach § 24 Abs. 1 Nr. 2<br />
und § 25 Nr. 2 GVG.<br />
21<br />
BGH, Urt. v. 2.10.1951 – 1 StR 434/51 = MDR 1952, 117<br />
= BGHSt 1, 346.<br />
22<br />
BGH, Urt. v. 8.1.1957 – 5 StR 378/56 = BGHSt 10, 64.<br />
23<br />
BGH, Urt. v. 2.10.1973 – 1 StR 217/73 = MDR 1974, 54.<br />
24<br />
Dallinger, MDR 1952, 118.<br />
25<br />
BGH, Beschl. v. 19.8.1971 – 4 StR 304/71 = MDR 1972,<br />
18 (bei Dallinger), ebenso BGH, Urt. v. 11.7.1961 – 5 StR<br />
246/61; anders aber RGSt 8, 238 (253).<br />
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eines schwereren Tatbestands nicht verurteilt werde. 26 Dagegen<br />
spricht allerdings, dass es bei Verfahrensvoraussetzungen<br />
auf eine Beschwer des Angeklagten nicht ankommt.<br />
V. Fehlende Vergleichbarkeit der unter IV. zitierten Entscheidungen<br />
auf die Bestimmung der sachlichen Zuständigkeit<br />
durch das Revisionsgericht (BGH, Beschl. v.<br />
8.11.2011 – 3 StR 244/11)<br />
Die Sachverhalte der vom Senat in Anspruch genommenen<br />
Entscheidungen des RG 27 weichen von demjenigen der<br />
Senatsentscheidung ab. Beim RG ging es um die Frage, ob<br />
das Berufungsgericht als Rechtsmittelgericht sachlich zuständig<br />
war und blieb, wenn in der Berufungsverhandlung ein<br />
neuer Tatverdacht auftrat, der in der Vorinstanz noch nicht<br />
Gegenstand der Hauptverhandlung gewesen war, und der die<br />
Zuständigkeit eines anderen Gerichts begründet hätte, oder<br />
ob eine Verweisung an das dann erstinstanzlich zuständige<br />
Gericht erforderlich war (nach § 328 Abs. 2 StPO bzw. dem<br />
ähnlich lautenden § 369 StPO a.F.). Ihre Übertragbarkeit erscheint<br />
ohne differenzierende Auseinandersetzung fraglich:<br />
Der Prüfungshorizont eines Berufungsgerichts weicht grundlegend<br />
von dem eines Revisionsgerichts ab. Sofern innerhalb<br />
der gleichen prozessualen Tat aufgrund neuer Tatsachenfeststellungen<br />
eine andere sachliche Zuständigkeit begründet wird,<br />
ergibt sich daraus ohne weiteres, dass das erstinstanzliche<br />
Gericht, insbesondere dann, wenn der weitere Sachverhalt<br />
dort bereits bekannt war, 28 sachlich unzuständig war.<br />
Das Revisionsgericht ist demgegenüber nicht befugt, eigenständig<br />
andere schuld- oder strafzumessungsrelevante Tatsachen<br />
festzustellen, sondern ist ausschließlich an die Feststellungen<br />
der Vorinstanz gebunden. Neben dieser prozessrechtlichen<br />
Tatsachenbindung durch das Urteil besteht eine weitere<br />
prozessrechtliche Bindung des Revisionsgerichts: die Reichweite<br />
der Überprüfung wird durch den Revisionsführer bestimmt,<br />
§§ 344, 352 StPO.<br />
VI. Weitere Lösungsansätze<br />
1. Verwandte Entscheidungen anderer Obergerichte<br />
Die Übertragung der Reichsgerichtsentscheidungen hätte also<br />
unter Berücksichtigung der besonderen Prämissen des Revisionsverfahrens<br />
zu erfolgen. Näher gelegen hätte daher eine<br />
Orientierung an zwei anderen obergerichtlichen Entscheidungen,<br />
die in der Sachverhaltsgestaltung dem diskutierten Fall<br />
eher entsprechen<br />
a) OLG Celle, Urt. v. 8.3.1950 – Ss 25/50 = JR 1950, 414<br />
Die Strafkammer hatte den Angeklagten unzutreffenderweise<br />
wegen einer Straftat verurteilt, für die nicht sie, sondern (damals)<br />
das Schwurgericht zuständig gewesen wäre. Sie hätte<br />
also das Verfahren dementsprechend aussetzen und an das<br />
26 So Hanack (Fn. 15), § 338 Rn. 72.<br />
27 Auch BGHSt 1, 346 weicht ab: hier war die Strafkammer<br />
aus Sicht des Revisionsgerichts im Urteil zum zutreffenden<br />
Ergebnis gelangt; lediglich für die angeklagte Tat war das<br />
Instanzgericht unzuständig.<br />
28 So zu vermuten bei RGSt 6, 309.<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
594<br />
<strong>ZIS</strong> 11/2012<br />
Schwurgericht verweisen müssen. Der Angeklagte legte Revision<br />
ein. Das OLG Celle vertrat die Auffassung, dass es<br />
unsinnig sei, als Revisionsgericht das Urteil aufzuheben und<br />
an das – auf der Grundlage der unzutreffenden rechtlichen<br />
Bewertung des Instanzgerichts – zuständige Gericht zu verweisen,<br />
weil dann das Schwurgericht über einen Sachverhalt<br />
zu entscheiden hätte, für den es bei korrekter juristischer<br />
Bewertung nicht zuständig sei. „Zu Unrecht seine Zuständigkeit<br />
angenommen“ sei objektiv zu verstehen. Es komme<br />
darauf an, dass der erste Richter bei einer sachlich „richtigen“<br />
Beurteilung der Tat unzuständig war. Nur dann habe er seine<br />
Zuständigkeit „mit Unrecht“ angenommen, im Übrigen „habe<br />
er lediglich Rechtsvorschriften verkannt“.<br />
Das OLG Celle hielt es daher für erforderlich und zulässig,<br />
zur Feststellung der Zuständigkeit eine materiellrechtliche<br />
Prüfung vorzunehmen. 29<br />
b) OLG Oldenburg GA 1992, 471 (472)<br />
Der Nebenkläger hatte gegen ein verurteilendes Erkenntnis<br />
eines Schöffengerichts Revision eingelegt und Sach- und Verfahrensrügen<br />
erhoben: Aus den Feststellungen ergab sich,<br />
dass eine Verurteilung wegen eines versuchten Tötungsdeliktes<br />
zumindest nahe lag, was vom Schöffengericht zwar diskutiert,<br />
aber im Ergebnis abgelehnt wurde.<br />
Das OLG Oldenburg hielt das Schöffengericht für sachlich<br />
unzuständig, weil auch diese negative Entscheidung des<br />
Nicht-Vorliegens eines Tötungsdeliktes dem Schwurgericht<br />
vorbehalten bleibt. Das OLG Oldenburg hob dementsprechend<br />
das Urteil auf und verwies das Verfahren an das Schwurgericht.<br />
2. Die sachliche Zuständigkeit im Revisionsverfahren<br />
a) Prüfungsumfang des Revisionsgerichts<br />
Der Revisionsführer bestimmt den Umfang der Überprüfung:<br />
Die Verfahrensrüge bedarf einer Darstellung der Tatsachen,<br />
aus denen sich der Fehler ergibt, § 344 Abs. 2 S. 2 StPO.<br />
Allein auf die Sachrüge hin 30 überprüft es vollumfänglich die<br />
materielle Rechtslage. Keiner besonders durch den Revisionsführer<br />
zu erhebenden Rüge bedürfen die v.A.w. zu beachtenden<br />
Verfahrensvoraussetzungen. Das Revisionsgericht ist<br />
zur Prüfung verpflichtet. Offen ist aber, welche Grundlagen<br />
heranzuziehen sind. Gesetzliche Regelungen, inwieweit das<br />
Revisionsgericht bei der Prüfung von Verfahrensvoraussetzungen<br />
Urteil und Akteninhalt zum Gegenstand machen<br />
kann, existieren nicht.<br />
Grundsätzlich erfolgt die Prüfung der Verfahrensvoraussetzungen<br />
unter Zuhilfenahme aller verfügbaren Erkenntnis-<br />
29<br />
Ob der Angeklagte auch die Sachrüge erhoben hatte, wird<br />
in JR 1950, 414 nicht mitgeteilt.<br />
30<br />
Abweichungen gelten für die Staatsanwaltschaft; BGH,<br />
Beschl. v. 7.11.2002 – 5 StR 336/02 = NJW 2003, 839, zuletzt<br />
auch BGH, Beschl. v. 5.11.2009 – 2 StR 324/09 = NStZ-<br />
RR 2010, 288.
Zum Prüfungsumfang des Revisionsgerichts bei der sachlichen Zuständigkeit gem. § 6 StPO<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
quellen im Wege des Freibeweises. 31 Für Verfahrensvoraussetzungen,<br />
die die materielle Rechtslage betreffen, kann dies<br />
aber schon deshalb nicht gelten, weil sich ansonsten dem<br />
Revisionsgericht ein Einfallstor für Tatsachenfeststellungen<br />
eröffnen würde, das ansonsten verschlossen bliebe; 32 eine<br />
(Frei-)Beweiserhebung zur Tat findet nicht statt. Vielmehr ist<br />
das Revisionsgericht bei „doppelt-relevanten Tatsachen“,<br />
also bei materiellrechtlichen Fragen, die (auch) Verfahrensvoraussetzungen<br />
betreffen, auf das Urteil beschränkt. 33<br />
Von welchem Prüfungsumfang das Revisionsgericht in<br />
der aktuellen Entscheidung ausgegangen ist, ergibt sich aus<br />
dem Beschluss nicht; der Senat begnügt sich der h.M. entsprechend<br />
mit dem Hinweis, dass allein die „objektive Rechtslage“,<br />
nicht aber die „rechtliche Beurteilung des Instanzgerichts“<br />
maßgeblich sei.<br />
b) Verfahrensvoraussetzungen als besonders massive Verstöße<br />
Die oben bereits angesprochene Differenzierung zwischen<br />
Befassungs- und Bestrafungsverboten zielt grundsätzlich in<br />
die Richtung, Vorfragen der Durchführung eines Strafprozesses<br />
als Befassungsverbot zu klassifizieren; Bestrafungsverbote<br />
hindern lediglich eine Bestrafung, nicht aber die Befassung<br />
mit der Sache als solcher. 34 Gerade die sachliche Zuständigkeit<br />
zeigt aber, dass das materielle Recht basierend auf den<br />
getroffenen Feststellungen auch für ein Befassungsverbot<br />
Bedeutung haben könnte. Eine Prüfungsabfolge, wonach die<br />
Prüfung der allgemeinen Verfahrensvoraussetzungen logisch<br />
stets vor der Prüfung materiellen Rechts stattzufinden habe, 35<br />
scheint auf den ersten Blick bei der sachlichen Zuständigkeit<br />
nicht möglich zu sein, wenn sie von den Feststellungen oder<br />
gar der materiell-rechtlichen Beurteilung abhinge.<br />
c) Präzisierung des Prüfungsumfangs bei der sachlichen<br />
Zuständigkeit<br />
Gegenstand der Prüfung der sachlichen Zuständigkeit ist<br />
nicht allein die sachliche Prüfung der Vorinstanz, sondern<br />
insbesondere die Prüfung der eigenen Zuständigkeit. Diese<br />
hat mit den im Revisionsverfahren erhobenen Sach- oder<br />
Verfahrensrügen zunächst nichts zu tun. Das Gericht hat für<br />
sich festzustellen, ob es sich als angegangenes Revisionsgericht<br />
mit bestimmten Sachverhalten überhaupt befassen darf.<br />
Es sind bei genauerer Betrachtung zwei Fragen zu unterscheiden,<br />
nämlich<br />
� ob das Revisionsgericht überhaupt (abstrakt) als Rechtsmittelgericht<br />
für die Vorinstanz tätig sein kann;<br />
31<br />
Hanack (Fn. 15), § 337 Rn. 33; BGH NJW 1989, 1742 (für<br />
die Verhandlungsfähigkeit der Angeklagten); Kuckein, in:<br />
Hannich (Fn. 19), § 337 Rn. 25.<br />
32<br />
BGH, Beschl. v. 27.10.1961 – 2 StR 193/61 = BGHSt 16,<br />
399 (403).<br />
33<br />
In diesem Sinne für „doppelt-relevante“ Tatsachen auch<br />
Hanack (Fn. 15), § 337 Rn. 35.<br />
34<br />
Meyer-Goßner (Fn. 1), S. 38.<br />
35<br />
So Meyer-Goßner (Fn. 1), S. 51.<br />
� ob das Revisionsgericht und die Vorinstanz auf der Basis<br />
der im Urteil getroffenen Feststellungen der Vorinstanz<br />
sachlich unzuständig sind, wenn die Vorinstanz zutreffend<br />
entschieden hätte.<br />
Im Ergebnis können damit zwei Fehler vorliegen, wobei<br />
möglicherweise der zweite Fehler den ersten „korrigieren“<br />
kann. In der Konsequenz stellt sich zuletzt die Frage, ob das<br />
Revisionsgericht in der Sache selbst dann das zutreffende<br />
Ergebnis herstellen kann.<br />
Das Landgericht hatte im zu besprechenden Fall seine<br />
Zuständigkeit zu Unrecht angenommen (im Hinblick auf<br />
§ 120 Abs. 1 Nr. 5 GVG), gleichzeitig lag aber ein weiterer<br />
(zweiter) Rechtsanwendungsfehler vor, der den ersten Fehler<br />
kompensierte: Das Landgericht hatte zusätzlich übersehen,<br />
dass wegen fehlenden Dienstbezugs überhaupt kein Fall des<br />
§ 106 StGB vorgelegen hatte und damit § 106 StGB falsch<br />
ausgelegt. Fehlerhaft war damit im Ergebnis nur der Tenor,<br />
das Landgericht war aber eigentlich – bei richtiger Rechtsanwendung<br />
„nach der objektiven Rechtslage“– sachlich zuständig.<br />
3. Kritik an der h.M.: Bestimmung der sachlichen Zuständigkeit<br />
anhand der „objektiven Rechtslage“<br />
Die bislang in der dargestellten Rechtsprechung behandelten<br />
Fälle konnten insoweit zu einem vordergründig „richtigen“<br />
Ergebnis kommen, als im Rahmen der jeweils auch erhobenen<br />
Sachrüge dem Revisionsgericht die materiellrechtliche<br />
Überprüfung eröffnet war.<br />
a) Unzutreffende Entscheidung der Vorinstanz<br />
Fraglich ist aber, ob die Prüfung der „richtigen Rechtsanwendung<br />
auf der Basis der Feststellungen“ vom Revisionsgericht<br />
im Rahmen der sachlichen Zuständigkeit nach § 6 StPO<br />
überhaupt geprüft werden kann: Eine Überprüfung der Rechtsanwendung<br />
in materiellrechtlicher Hinsicht ist dem Revisionsgericht<br />
allein aufgrund der Sachrüge möglich. Es gilt also,<br />
diesen Widerspruch bzgl. des Prüfungsumfangs aufzulösen.<br />
Zur Verdeutlichung folgendes<br />
Beispiel: A fordert B auf, aus einem Geschäft des E Zigaretten<br />
zu stehlen, ansonsten werde er B körperlich misshandeln.<br />
B kommt der Aufforderung nach. Das Amtsgericht<br />
– Strafrichter – verurteilt dem Wortlaut des § 253<br />
StGB entsprechend, aber in Verkennung der nach der<br />
ganz h.M. 36 erforderlichen Nähebeziehung zwischen Verfügendem<br />
und Geschädigten wegen einer räuberischen<br />
Erpressung, §§ 253, 255 StGB. Der Angeklagte legt Revision<br />
ein und begründet diese allein mit einer zulässigen,<br />
aber unbegründeten Verfahrensrüge. Die der Sachrüge<br />
36<br />
Zum Näheverhältnis und dem erforderlichen „Freikaufverhalten“<br />
BGH, Urt. v. 20.4.1995 – 4 StR 27/95 = BGHSt 41,<br />
123 (125) sowie Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze,<br />
Kommentar, 59. Aufl. 2012, § 253 Rn. 11, krit. Kudlich, in:<br />
Satzger/Schmitt/Widmaier (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Kommentar,<br />
2009, § 253 Rn. 21.<br />
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Anja Sturm/Andreas Lickleder<br />
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596<br />
vorbehaltene materiellrechtliche Prüfung ist an sich ausgeschlossen.<br />
Für eine räuberische Erpressung nach §§ 253, 255 StGB ist<br />
der Strafrichter wegen des Verbrechenscharakters unzuständig,<br />
§ 25 GVG. Materiellrechtlich korrekt wäre bei diesem<br />
Sachverhalt eine Verurteilung wegen Diebstahls in Tateinheit<br />
mit Nötigung gem. §§ 240, 242, 25 Abs. 1 Alt. 2, 52 StGB. 37<br />
Der Strafrichter war daher eigentlich sachlich zuständig. Im<br />
Ergebnis ist „nur“ der Tenor falsch, d.h. nur die konkret angewendete<br />
Strafnorm würde zur sachlichen Unzuständigkeit<br />
des Strafrichters führen.<br />
Nach der h.M. würde in einer solchen Konstellation das<br />
Revisionsgericht die materiellrechtliche Lage prüfen können,<br />
obwohl eine materiellrechtliche Prüfung des erstinstanzlichen<br />
Urteils seitens des Revisionsführers nicht gewollt war. Zwar<br />
könnte das Revisionsgericht gegebenenfalls im Wege einer<br />
Schuldspruchberichtigung den Fehler korrigieren. Diese ist<br />
allerdings nach h.M. 38 nur nach erhobener Sachrüge zulässig:<br />
die Schuldspruchberichtigung in Analogie zu § 354 Abs. 1<br />
StPO setzt eine Rechtsverletzung bei Anwendung des Strafgesetzes<br />
auf „die dem Urteil zugrunde liegenden Feststellungen“<br />
voraus, so dass die Rechtsverletzung bei Bestimmung<br />
der sachlichen Zuständigkeit – auch wenn sie auf den Urteilsgründen<br />
beruht – gerade nicht genügt. 39<br />
Ist eine Schuldspruchberichtigung dagegen nicht möglich,<br />
würde das Urteil – samt unzutreffendem Tenor – bestehen<br />
bleiben, obwohl die Vorinstanz gegen ein Befassungsverbot<br />
verstoßen hat. Die h.M. würde also einen Fehler erkennen,<br />
mangels Befugnis zur Korrektur diesen aber stehen lassen.<br />
Der Strafrichter hätte rechtskräftig wegen eines Verbrechens<br />
verurteilt. 40<br />
b) „Objektive Rechtslage“<br />
Kritisch ist zudem der Begriff der „objektiven Rechtslage“,<br />
die die Zuständigkeit bestimmen soll und auf die sich der<br />
Senat in Anlehnung an die reichsgerichtlichen Entscheidungen<br />
beruft. Eine solche gibt es nicht, sie wurde vielmehr<br />
durch die rechtliche Bewertung des Revisionsgerichts bestimmt.<br />
41<br />
37<br />
Weil B durch den Diebstahl nicht den Geschädigten, sondern<br />
sich selbst von der Bedrohung „freikauft“.<br />
38<br />
Meyer-Goßner (Fn. 8), § 354 Rn. 14; Nagel, in: Radtke/<br />
Hohmann (Hrsg.), Strafprozessordnung, Kommentar, 2011,<br />
§ 354 Rn. 14.<br />
39<br />
Wohlers, in: Wolter (Fn. 15), § 354 Rn. 31.<br />
40<br />
Kritisch wird diese Fallgruppe immer dann, wenn die sachliche<br />
Zuständigkeit von einer Katalogtat abhängt, neben dem<br />
der Entscheidung zugrunde liegenden Fall des § 120 GVG<br />
insbesondere also die Fälle der §§ 74 Abs. 2, 74a GVG. Im<br />
Verhältnis zu den anderen Strafkammern der §§ 74 ff. GVG<br />
handelt es sich um eine funktionelle Zuständigkeitsverteilung,<br />
gegenüber dem Amtsgericht aber um eine Frage der sachlichen<br />
Zuständigkeit, ferner für den Verbrechenscharakter einer<br />
Tat bei § 25 GVG.<br />
41<br />
Ob die Annahme einer „objektiven Rechtslage“ als eindeutigem<br />
Ergebnis einer Auslegung durch das RG einer Art<br />
<strong>ZIS</strong> 11/2012<br />
aa) Zutage tritt dies indes erst, wenn die materiellrechtliche<br />
Prüfung, die das Revisionsgericht bei der Bestimmung<br />
der sachlichen Zuständigkeit durchführt, zu keinem eindeutigen<br />
Ergebnis führt, eine „objektive Rechtslage“ (gemeint ist<br />
wohl eine „einhellige Auffassung“) also nicht existiert. Dazu<br />
ein weiteres<br />
Beispiel: Das Amtsgericht – Strafrichter – verurteilt den<br />
Angeklagten, der mit Gewalt (vis absoluta) ein Fahrzeug<br />
in seine Gewalt gebracht hat, um es anschließend wieder<br />
zurückzubringen, wegen Nötigung in Tateinheit mit Ingebrauchnahme<br />
eines Kraftfahrzeugs gem. §§ 240, 248b, 52<br />
StGB. Gegen das Urteil legt die Staatsanwaltschaft Sprungrevision<br />
ein und begründet diese mit einer zulässigen,<br />
aber im Ergebnis unbegründeten Verfahrensrüge.<br />
Der h.M. in der Rechtsprechung 42 zufolge hätte der Angeklagte<br />
wegen räuberischer Erpressung, §§ 253, 255 StGB,<br />
verurteilt werden müssen, während die h.M. in der Literatur<br />
den erkannten Tenor für zutreffend halten würde. 43<br />
Für die Verurteilung nach der h.M. wäre der Strafrichter<br />
angesichts des Verbrechenscharakters nicht zuständig, § 25<br />
GVG. Nach Auffassung der h.M. bei der Frage der sachlichen<br />
Zuständigkeitsprüfung müsste in einem solchen Fall das<br />
OLG v.A.w. prüfen, ob die Rechtsauffassung des Amtsgerichts<br />
in materiellrechtlicher Hinsicht zutreffend ist. Es würde<br />
das vom Strafrichter gefundene materiellrechtliche Ergebnis<br />
durch sein eigenes ersetzen, die Verurteilung aufheben und<br />
die Sache an das Schöffengericht weiter verweisen, obwohl<br />
seitens der Staatsanwaltschaft keine Sachrüge erhoben wurde.<br />
Dieses Fallbeispiel verdeutlicht, worin der h.M. zufolge<br />
die „objektive Rechtslage“, die bei der Prüfung der sachlichen<br />
Zuständigkeit festzustellen ist, besteht: Die „objektive Rechtslage“<br />
wird individuell vom Rechtsmittelgericht bestimmt, indem<br />
dieses eine eigenständige Subsumtion auf der Basis des<br />
festgestellten Lebenssachverhaltes vornimmt. 44<br />
„Begriffsjurisprudenz“ i.S.v. v. Jherings geschuldet ist, kann<br />
an dieser Stelle nicht vertieft werden.<br />
42<br />
BGH, Urt. v. 5.7.1960 – 5 StR 80/60 = BGHSt 14, 386.<br />
43<br />
Die praktische Relevanz dieser Konstellation zeigt v.a. das<br />
Problem der „Sicherungserpressung“, bei der es nur von<br />
Nuancen abhängt, ob ein über den Vorschaden hinausgehender<br />
eigener Schaden entsteht, vgl. zuletzt BGH, Beschl. v.<br />
26.5.2011 – 3 StR 318/10 = StV 2011, 677; vgl. auch Grabow,<br />
NStZ 2010, 371.<br />
44<br />
So auch bereits das OLG Celle JR 1950, 414. Zu erinnern<br />
sei in diesem Zusammenhang einmal an den unvergessenen<br />
Erich Ribbeck: „Ich kann es mir als Verantwortlicher für die<br />
Mannschaft nicht erlauben, die Dinge subjektiv zu sehen.<br />
Grundsätzlich werde ich versuchen zu erkennen, ob die subjektiv<br />
geäußerten Meinungen subjektiv sind oder objektiv<br />
sind. Wenn sie subjektiv sind, dann werde ich an meinen<br />
objektiven festhalten. Wenn sie objektiv sind, werde ich überlegen<br />
und vielleicht die objektiven subjektiv geäußerten Meinungen<br />
der Spieler mit in meine objektiven einfließen lassen.“
Zum Prüfungsumfang des Revisionsgerichts bei der sachlichen Zuständigkeit gem. § 6 StPO<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
Eine solche Subsumtion ist aber gerade Gegenstand einer<br />
materiellrechtlichen Prüfung und wäre unzulässig, soweit<br />
eine Sachrüge wie im Beispiel nicht erhoben wurde. Ohne<br />
Erhebung einer Sachrüge darf das Revisionsgericht die Tatsachenfeststellungen<br />
nicht „eigenmächtig“ materiellrechtlich<br />
bewerten, um sie sodann zur Grundlage der Entscheidung<br />
über die sachliche Zuständigkeit machen. Allein die materiellrechtliche<br />
Beurteilung des Revisionsgerichts könnte ansonsten<br />
auf der Basis „eindeutiger“ Feststellungen mittels der<br />
eigenen rechtlichen Bewertung die sachliche Zuständigkeit<br />
der Vorinstanz (und damit die eigene) bestimmen.<br />
bb) Dass die materiellrechtliche Prüfung der „objektiven<br />
Rechtslage“ durch das Rechtsmittelgericht kein brauchbares<br />
Kriterium ist, um die sachliche Zuständigkeit festzustellen,<br />
zeigt auch der umgekehrte Fall: Hat das Instanzgericht Feststellungen<br />
für einen Tatbestand getroffen, für den es abstrakt<br />
nicht zuständig ist (also z.B. der Strafrichter einen Sachverhalt<br />
festgestellt hat, der die Tatbestandsvoraussetzungen eines<br />
Raubes 45 erfüllt), aber nicht wegen dieses, sondern eines<br />
milderen Tatbestandes (§ 242 StGB) verurteilt, wäre das<br />
Revisionsgericht, sofern sich die sachliche Zuständigkeit<br />
nach der „objektiven Rechtslage“ auf der Grundlage der Sachverhaltsfeststellungen<br />
bestimmt, gehalten, das Urteil aufzuheben<br />
und an das dann zuständige Gericht zu verweisen. Das<br />
Rechtsmittelgericht wäre im Ergebnis stets v.A.w. verpflichtet,<br />
im Rahmen des § 6 StPO die Urteilsfeststellungen einer<br />
materiellrechtlichen Prüfung zu unterziehen, selbst wenn keine<br />
Sachrüge erhoben wurde. Folglich würde die Überprüfung<br />
der Verfahrensvoraussetzung der sachlichen Zuständigkeit zu<br />
einer Art „Sachrüge light“ führen, die das Revisionsgericht<br />
zumindest verpflichtet, die Feststellungen im Hinblick auf<br />
eine anderweitige sachliche Zuständigkeit hin zu kontrollieren.<br />
Die Urteilsfeststellungen müssten selbst dann geprüft<br />
werden, wenn nichts darauf hindeutet, dass eine Verletzung<br />
des materiellen Rechts vorliegt. Ein Abgleich der Feststellungen<br />
samt Subsumtion ist aber allein Gegenstand der Prüfung,<br />
die auf Sachrüge hin vorzunehmen ist.<br />
Evident ist dies auch bei in sich widersprüchlichen Feststellungen,<br />
die eine eindeutige materiellrechtliche Bewertung<br />
gerade nicht zulassen.<br />
VII. Eigener Lösungsvorschlag<br />
1. Prüfungshorizont ohne Sachrüge<br />
Die Bestimmung der sachlichen Zuständigkeit aufgrund einer<br />
angenommenen „objektiven Rechtslage“ ist nicht möglich,<br />
weil ein Zugriff auf die Feststellungen und die Urteilsgründe<br />
grundsätzlich nur bei erhobener Sachrüge möglich ist. 46 Das<br />
45 Wie nahe dies gerade beim Raub liegt, zeigt BGH, Urt. v.<br />
26.6.2008 – 3 StR 182/08 = NStZ 2008, 625, wo trotz sich<br />
aufdrängendem Raubes/räuberischen Diebstahls das Landgericht<br />
nur gem. §§ 223, 241, 52 StGB verurteilte und für den<br />
„versuchten Diebstahl“ von Rücktritt ausging. Auf die Problematik<br />
des Raubs durch Unterlassen sei verwiesen, vgl. dazu<br />
Kudlich (Fn. 37), § 249 Rn. 14, 15 und Fischer (Fn. 37),<br />
§ 249 Rn. 10 ff.<br />
46 Meyer-Goßner (Fn. 1), S. 51.<br />
OLG hat als Revisionsgericht bei einer Sprungrevision keine<br />
Korrekturmöglichkeit, wenn es zu dem Ergebnis kommt, der<br />
Strafrichter habe fehlerhafterweise ein Verbrechen angenommen,<br />
sei aber nach den zugrunde liegenden Feststellungen<br />
wegen eines Vergehens zuständig gewesen.<br />
Das Revisionsverfahren ist kontradiktorisch angelegt,<br />
weil es dem Revisionsführer überlässt, den Prüfungsumfang<br />
des Revisionsgerichts bzgl. des konkreten Urteils zu bestimmen,<br />
§§ 344, 352 StPO. Daher stellt sich zunächst losgelöst<br />
vom Einzelfall die Frage, ob das Gericht den tenorierten Tatbestand<br />
bei seiner Entscheidung anwenden darf. Für die Prüfung<br />
der sachlichen Zuständigkeit kann es daher, so lange<br />
keine Sachrüge erhoben ist, nur auf den Urteilstenor ankommen.<br />
Das Revisionsgericht kann lediglich prüfen, ob das<br />
Instanzgericht für den tenorierten Tatbestand und infolgedessen<br />
es selbst als Rechtsmittelgericht gegen diese Entscheidung<br />
zuständig ist. Gerade dieser die sachliche Zuständigkeit<br />
des höheren Gerichts begründende „abstrakte“ Fehler des<br />
anzuwendenden Tatbestandes liegt für den Instanzrichter auf<br />
der Hand, hier geht es nicht um Rechtsanwendung, sondern<br />
um schlichte Rechtskenntnis, also um die Verkennung grundlegender<br />
strafverfahrensrechtlicher Zuständigkeitsvorschriften.<br />
Die Zuständigkeitsbestimmung des § 120 Abs. 1 Nr. 5<br />
GVG hängt im Unterschied zu § 120 Abs. 2 GVG nicht einmal<br />
von der Übernahme durch die Generalstaatsanwaltschaft<br />
ab. Bevor das Gericht einen bestimmten Tatbestand anwendet,<br />
hat es zu prüfen, ob es für diesen abstrakt, also losgelöst<br />
vom konkreten Einzelfall nach seiner Rechtsanwendung zuständig<br />
ist. In anderen Worten: Die Tenorierung eines Tatbestandes<br />
erfolgt in zwei Schritten, nämlich zunächst eine abstrakten<br />
Prüfung der Frage der Anwendungsbefugnis und anschließend<br />
der Subsumtion des festgestellten Sachverhaltes<br />
unter diesen Tatbestand. Prüfungsgegenstand der sachlichen<br />
Zuständigkeit ist allein der erste Schritt. Auch der Wortlaut<br />
der Zuständigkeitsbestimmungen verweist auf eine Prüfung<br />
der Einordnung in rechtliche Kategorien: Dem Strafrichter<br />
muss „abstrakt“ bewusst sein, dass er für Verbrechen nie zuständig<br />
ist. Ob er als Grundlage dafür Feststellungen trifft,<br />
die ein Vergehen oder ein Verbrechen ausmachen, ist irrelevant.<br />
Die im Rahmen der Verfahrensvoraussetzungen relevante<br />
grobe Fehlerhaftigkeit 47 liegt also nicht in der irrtümlichen<br />
Annahme eines Sachverhaltes, der im Einzelfall zu einem<br />
Tatbestand anderer Zuständigkeit führt, sondern in der Einordnung<br />
einer abstrakten Rechtsnorm als zuständigkeitsbegründender<br />
Tatbestand. Ein solcher Fehler kann einer „groben<br />
Verfahrenswidrigkeit“ gleichgestellt werden. 48 Gleiches<br />
47<br />
Vgl. oben die Definition der Verfahrensvoraussetzung nach<br />
BGH, Urt. v. 22.12.2000 – 3 StR 378/00 = BGHSt 46, 238.<br />
48<br />
Vgl. insoweit die Argumentation bei Befangenheit § 26a<br />
StPO – BVerfG NJW 2005, 3410; Meyer-Goßner (Fn. 8),<br />
§ 26a Rn. 4a, bei der Zuständigkeit für Zwangsmaßnahmen<br />
§§ 105, 81a StPO – BVerfG NJW 2001, 1121; BVerfG NJW<br />
2010, 2864; Meyer-Goßner (Fn. 8), § 81a Rn. 25a; § 105<br />
Rn. 2. Überspitzt gesagt ist es dem Instanzgericht nach §§ 25,<br />
74, 120 GVG nicht verwehrt, einen Sachverhalt festzustellen,<br />
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gilt für den hier im Raum stehenden § 106 StGB: auch hier<br />
muss dem Landgericht ohne weiteres bewusst sein, dass es<br />
für eine Verurteilung nach § 106 StGB aufgrund der Zuständigkeitsverteilung<br />
im GVG nicht berufen ist. Ob gerade eine<br />
„willkürliche Annahme der Zuständigkeit“, also eine subjektive<br />
Komponente erforderlich ist, wie sie an anderen Stellen<br />
für eine Verletzung des Art 101 Abs. 1 S. 2 GG gefordert<br />
wird, scheint zweifelhaft. Der 3. Strafsenat 49 hat zuletzt willkürliches<br />
Handeln bei der Annahme der Zuständigkeit bei<br />
§ 338 Nr. 4 StPO auf Ausnahmen beschränkt und zumindest<br />
bei § 74a GVG nicht für erforderlich erachtet. Ob für eine<br />
v.A.w. zu beachtende Verfahrensvoraussetzung strengere Anforderungen<br />
gelten, kann hier dahinstehen, weil zumindest –<br />
gemessen an der Rechtsprechung zu § 26a StPO 50 – willkürliches<br />
Verhalten bei Verletzung zwingender prozessualer Vorschriften<br />
nahe liegt. 51<br />
Das Befassungsverbot bezieht sich danach im Rahmen<br />
der sachlichen Zuständigkeit – so es einen konkreten Tatbestand<br />
gibt, von dem die Zuständigkeit abhängt – auf die Anwendung<br />
dieses Tatbestands. Auch im Rahmen des § 24<br />
Abs. 2 GVG prüft das Revisionsgericht nur, ob das Instanzgericht<br />
den zur Verfügung gestellten Strafrahmen überschritten<br />
hat; die Zuständigkeit bestimmt sich nach der verhängten<br />
Rechtsfolge, nicht aber nach den Feststellungen.<br />
Es handelt sich damit nicht (nur) um einen Rechtsanwendungsfehler<br />
bzgl. materiellen Rechts, wenn der Strafrichter<br />
wegen eines Verbrechens verurteilt; vielmehr ist diesem bereits<br />
zuvor die richtige abstrakte Qualifizierung (§ 12 Abs. 1<br />
oder 2 StGB) nicht gelungen. Auf die Feststellungen kommt<br />
es hier nicht an: Allein anhand des Tenors ist nicht erkennbar,<br />
ob eine Entscheidung richtig oder falsch ist. Dazu müsste auf<br />
die Urteilsfeststellungen zurückgegriffen werden, was aber<br />
dem Revisionsgericht untersagt ist, wenn keine Sachrüge erhoben<br />
ist. V.A.w. darf das Revisionsgericht, wenn keine<br />
Sachrüge erhoben wurde, daher nur prüfen, ob<br />
� das Amtsgericht seinen Strafrahmen gem. § 24 Abs. 2<br />
GVG überschritten oder der Strafrichter wegen eines<br />
Verbrechens oder einer anderen zuständigkeitsbestimmenden<br />
Katalogtat verurteilt hat,<br />
� das erstinstanzlich verurteilende Landgericht eine Katalogtat<br />
des § 120 GVG übersehen hat.<br />
Eine Orientierung der sachlichen Zuständigkeit an der „objektiven<br />
Rechtslage“ ist nur möglich, wenn dem Revisionsgericht<br />
zugleich im Umfang der Prüfung der sachlichen Zuständigkeit<br />
eine Prüfungs- und Aufhebungskompetenz zugebilligt<br />
würde. Dagegen spricht indes der eindeutige Wortlaut des<br />
§ 344 Abs. 2 S. 1 StPO, der die materiellrechtliche Überprü-<br />
der zur Zuständigkeit eines anderen Gerichts führt, sondern<br />
(nur), wegen dieses Tatbestands zu verurteilen.<br />
49<br />
BGH, Beschl. v. 13.9.2011 – 3 StR 196/11.<br />
50<br />
Meyer-Goßner (Fn. 8), § 26a Rn. 4a.<br />
51<br />
Auf die „Richtigkeit“ der Entscheidung kommt es nicht an,<br />
wenn bei der Entscheidung gegen das Recht auf den gesetzlichen<br />
Richter, Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG verstoßen wurde; so<br />
deutlich auch BGH, Beschl. v. 22.11.2011 – VIII ZB 81/11.<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
598<br />
<strong>ZIS</strong> 11/2012<br />
fung eines Urteils von der Erhebung der Sachrüge abhängig<br />
macht.<br />
2. Prüfungshorizont bei erhobener Sachrüge<br />
Hat der Revisionsführer auch die Sachrüge erhoben, kann das<br />
Revisionsgericht anhand der Urteilsfeststellungen den Sachverhalt<br />
überprüfen. Ob dies aber eine eigene Bewertung bzgl.<br />
der sachlichen Zuständigkeit anhand der Feststellungen rechtfertigt,<br />
ist wiederum zweifelhaft. Zwei Lösungsansätze sind<br />
denkbar:<br />
� Die Sachrüge erweitert im kontradiktorisch angelegten<br />
Revisionsverfahren den Prüfungshorizont des Revisionsgerichts<br />
bzgl. der v.A.w. zu beachtenden Verfahrensvoraussetzungen.<br />
Das Revisionsgericht kann zur Prüfung<br />
der sachlichen Zuständigkeit auch die Feststellungen im<br />
Urteil heranziehen. Danach würde sich aber für das Revisionsgericht<br />
die Frage stellen, welche Entscheidung zu<br />
treffen ist, wenn das Instanzgericht aufgrund zutreffender<br />
tatsächlicher Feststellungen wegen einer Straftat verurteilt<br />
hat, für die es nicht zuständig ist. Soll es hier auf die tatsächlichen<br />
Feststellungen ankommen, könnte das Revisionsgericht<br />
in der Sache selbst entscheiden. Diesen Weg<br />
hat der 3. Strafsenat 52 beschritten, als er im Wege der<br />
Schuldspruchberichtigung den Angeklagten wegen versuchter<br />
Nötigung verurteilt hat.<br />
Ob die (sachlich unzuständige) Vorinstanz allerdings in<br />
der Lage ist, Feststellungen bzgl. eines Tatbestandes, für<br />
den es nicht zuständig ist, mit Bindungswirkung für das<br />
Revisionsgericht zu treffen, scheint schon dann fraglich,<br />
wenn das Instanzgericht den Tatbestand im Ergebnis ablehnt;<br />
erst recht gilt das, wenn es den Tatbestand im Ergebnis<br />
annimmt.<br />
Hier wären Kriterien zu entwickeln, wie weit das Prüfungsrecht<br />
des Instanzgerichts geht. Übernimmt man hier<br />
die Auffassung zum Prüfungsrecht nach § 270 StPO, 53<br />
wird das Revisionsgericht im Rahmen der v.A.w. zu beachtenden<br />
Verfahrensvoraussetzungen prüfen können, inwieweit<br />
sich aus den Feststellungen ein hinreichender<br />
Tatverdacht ergibt, der dem Instanzgericht die sachliche<br />
Zuständigkeit nimmt. 54<br />
� Alternativ vermag auch die Sachrüge den Prüfungshorizont<br />
nicht zu erweitern; es bleibt bei der Prüfung der sachlichen<br />
Zuständigkeit anhand der oben unter VI. 1. entwickelten<br />
Kriterien. Die sachliche Zuständigkeit in Abhängigkeit<br />
vom Urteilstenor ginge danach den Feststellungen<br />
des Instanzgerichts vor. Danach erweist sich die Entschei-<br />
52<br />
BGH, Beschl. v. 8.11.2011 – 3 StR 244/11 = NStZ-RR<br />
2012, 76.<br />
53<br />
Vgl. zum Prüfungsrecht bei § 270 Abs.1 StPO Meyer-Goßner<br />
(Fn. 8), § 270 Rn. 9.<br />
54<br />
Zwar wird das Urteil auf (die hier unterstellte) Sachrüge<br />
hin vollständig geprüft, so dass das Revisionsgericht die Feststellungen<br />
in vollem Umfang heranziehen und prüfen kann.<br />
Relevant ist dies daher nur bei Sachrügen mit beschränktem<br />
Prüfungsumfang, z.B. der Revision des Nebenklägers, vgl.<br />
Meyer-Goßner (Fn. 8), § 400 Rn. 6.
Zum Prüfungsumfang des Revisionsgerichts bei der sachlichen Zuständigkeit gem. § 6 StPO<br />
_____________________________________________________________________________________<br />
dung des 3. Strafsenates als unzutreffend: Er hätte nicht<br />
auf der Basis der von einem sachlich unzuständigen Gericht<br />
getroffenen Feststellungen eine Entscheidung über<br />
§§ 105, 106 StGB treffen dürfen. Diese Vorschrift kann<br />
nicht Prüfungsgegenstand der BGH-Entscheidung sein,<br />
weil der BGH dafür nicht als Revisionsgericht gegen die<br />
Entscheidung des Landgerichts zuständig ist. Das Verfahren<br />
hätte an das eigentlich zuständige OLG verwiesen<br />
werden müssen.<br />
VIII. Zusammenfassung<br />
Die Entscheidung des 3. Strafsenats ist unter der Maßgabe<br />
zutreffend, dass dem Senat über die erhobene Sachrüge die<br />
Prüfung zugebilligt wird, die sachliche Zuständigkeit anhand<br />
der Urteilsfeststellungen zu prüfen. Die Systematik und Bedeutung<br />
der allgemeinen Verfahrensvoraussetzungen im Verhältnis<br />
zu materiellrechtlichen Fragen legt indes das Gegenteil<br />
nahe. Hat das Tatgericht verkannt, dass es bei § 106 StGB<br />
gerade auf einen bestimmten Zusammenhang zwischen der<br />
Tätigkeit des Opfers und der abgenötigten Verhaltensweise<br />
ankommt, hat es möglicherweise verabsäumt, entsprechende<br />
Feststellungen zu treffen.<br />
Nach der hier vertretenen Auffassung könnte Grundlage<br />
der Korrektur durch den 3. Strafsenat nicht das v.A.w. zu<br />
beachtende Verfahrenshindernis der sachlichen Zuständigkeit<br />
nach § 6 StPO, sondern allenfalls die Sachrüge sein. Erst die<br />
Sachrüge könnte das Revisionsgericht befähigen, auf der<br />
Basis der Urteilsgründe eine andere, von der Vorinstanz<br />
abweichende materiellrechtliche Entscheidung zu treffen.<br />
Wie gezeigt, spricht die fehlende Befugnis des Instanzgerichts,<br />
bindend Feststellungen für einen Tatbestand zu treffen,<br />
für den es nicht zuständig ist, dagegen. 55 Die fehlende sachliche<br />
Zuständigkeit geht der materiellrechtlichen Rechtslage<br />
vor. 56<br />
Eindeutig wäre das Ergebnis dann, wenn keine Sachrüge<br />
erhoben wurde. Hier ist dem Revisionsgericht der Weg über<br />
die Schuldspruchberichtigung, den der 3. Strafsenat in großzügiger<br />
(„direkter oder analoger“) Anwendung des § 354<br />
Abs. 1 StPO beschreitet, verschlossen. Das Verfahren ist<br />
zwingend zurückverweisen. Diese könnte an das Ausgangsgericht<br />
erfolgen, um dieses für den Fall des Vorliegens des<br />
§ 106 StGB zu einer Verweisung zu veranlassen oder ansonsten<br />
eine Entscheidung nach Maßgabe der Rechtsauffassung<br />
des Revisionsgerichts zu treffen. Alternativ könnte in der<br />
Verurteilung des Instanzgerichts die konkludente Bejahung<br />
des hinreichenden Tatverdachts zu sehen sein, so dass an das<br />
für den jeweiligen Tatbestand zuständige Gericht zu verweisen<br />
wäre.<br />
Dass dann eventuell ein Gericht über einen Sachverhalt<br />
entscheidet, für den es nicht zuständig ist, ist kein Argument<br />
55<br />
So das OLG Oldenburg GA 1992, 470.<br />
56<br />
Zu verweisen ist darauf, dass wegen § 106 StGB nach dem<br />
Geschäftsverteilungsplan der für Staatsschutzsachen zuständige<br />
3. Strafsenat über die Revision zu entscheiden hatte, wie<br />
dies auch bei einer Revision gegen ein Urteil des OLG der<br />
Fall gewesen wäre. Der 3. Strafsenat wäre daher in jedem<br />
Fall zuständig gewesen.<br />
gegen eine Verweisung: 57 auch eine Anklage, bei der sich der<br />
Tatbestand letztendlich nicht nachweisen lässt, begründet<br />
letztendlich die Zuständigkeit des angegangenen Gerichts.<br />
Die vom Senat zitierten Reichsgerichtsentscheidungen<br />
erweisen sich sowohl nach der hier vertretenen Auffassung<br />
wie auch nach der h.M. als zutreffend, weil bei § 328 Abs. 2<br />
StPO dem Berufungsgericht eine eigene Tatsachenfeststellung<br />
möglich war und das Ausgangsgericht jeweils nach dem<br />
Tenor des Berufungsgerichts nicht (mehr) zuständig war.<br />
Etwas anderes würde aber dann gelten, wenn das Berufungsgericht<br />
keine Tatsachen zur Schuldfrage prüfen darf.<br />
Beispiel: Ein AG-Strafrichter verurteilt wegen Raubs,<br />
obwohl er Feststellungen allein zu § 242 StGB getroffen<br />
hat, der Angeklagte beschränkt seine Berufung auf die<br />
Rechtsfolge.<br />
Das Berufungsgericht müsste<br />
� nach der hier vertretenen Auffassung wegen fehlender<br />
sachlicher Zuständigkeit der Vorinstanz für diesen<br />
Schuldspruch auf den falschen Tenor (Verbrechen) hin<br />
das Urteil aufheben und, ohne die Feststellungen zu überprüfen,<br />
an das AG-Schöffengericht verweisen,<br />
� nach der h.M. die sachliche Zuständigkeit des Strafrichters<br />
(und die eigene) bejahen, weil nach den Feststellungen<br />
kein Verbrechen vorliegt, könnte aber den Tenor<br />
nicht beseitigen. Die Strafe würde, sofern kein Durchgriff<br />
auf den Tenor möglich ist, über § 249 StGB zuzumessen<br />
sein.<br />
Die vorstehend entwickelte Lösung hält im Übrigen auch der<br />
Prämisse Meyer-Goßners 58 stand, Verfahrensvoraussetzungen<br />
seien vor der materiell-rechtlichen Prüfung im konkreten<br />
Einzelfall festzustellen. Die Frage der Einordnung eines Tatbestands<br />
als Vergehen oder Verbrechen durch den Strafrichter<br />
oder auch nur der Heranziehung des § 106 StGB entgegen<br />
§ 120 GVG durch das Landgericht hat keinen Bezug zum<br />
konkreten Sachverhalt.<br />
57 So OLG Celle JR 1950, 414.<br />
58 Meyer-Goßner (Fn. 1), S. 51.<br />
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Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik – www.zis-online.com<br />
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