Beiträge zum Gespräch zwischen Christen und Muslimen 2 ... - cibedo
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<strong>Beiträge</strong> <strong>zum</strong> <strong>Gespräch</strong><br />
<strong>zwischen</strong> <strong>Christen</strong> <strong>und</strong> <strong>Muslimen</strong><br />
2/2006<br />
Inhalt:<br />
Die prophetische Mission<br />
Muhammads<br />
Samir Khalil Samir SJ<br />
Dialog in der Kritik<br />
Ralph Ghadban<br />
Die »Wiener Erklärung«<br />
der Konferenz der Imame<br />
<strong>und</strong> SeelsorgerInnen<br />
Johannes Kandel<br />
Christlich-muslimische<br />
Begegnung: Multiplikatorenschulung<br />
im virtuellen Seminar<br />
Barbara Huber-Rudolf
Editorial<br />
Sehr geehrte Leserinnen <strong>und</strong> Leser,<br />
im September 2006 tagte <strong>zum</strong> ersten Mal die von B<strong>und</strong>esinnenminister<br />
Schäuble initiierte Islam-Konferenz in Berlin.<br />
Damit hat nun auch die Politik ihren Dialog mit dem<br />
Islam begonnen; ein Prozess, der längst überfällig war. Die<br />
christlich-islamische Arbeitsgemeinschaft (ICA) dagegen konnte auf ihrer Jahrestagung<br />
am 13./14. November 2006 bereits auf dreissig Jahre christlich-islamischen<br />
Dialog zurückblicken. Entwicklung <strong>und</strong> Bilanz dieser dreißig Jahre wurden auf der<br />
Tagung von Prof. Dr. Christoph Elsass <strong>und</strong> Imam Mehdi Razvi vorgetragen. Der Beitrag<br />
erscheint demnächst in dieser Zeitschrift.<br />
Im Mittelpunkt dieser Ausgabe steht die Konferenz der europäischen Imame von<br />
April 2006. Im Dokumentationsteil veröffentlichen wir den Wortlaut der Schlusserklärung,<br />
wie er uns vom Islamischen Zentrum München übermittelt worden ist.<br />
Johannes Kandel setzt sich in seinem Beitrag kritisch mit den Analysen <strong>und</strong> Forderungen<br />
der Imame auseinander. Wir hoffen, hiermit vor allem die öffentliche Debatte<br />
zur Islam-Konferenz zu beleben <strong>und</strong> anzureichern. Hierzu ist der Beitrag von Ralph<br />
Ghadban bestens geeignet, in dem er sich kritisch mit einigen muslimischen Positionen<br />
im Dialog auseinandersetzt. Es handelt sich dabei um eine leicht überarbeitete<br />
Fassung eines Vortrags, den er auf einer Tagung der katholischen Akademie in Stuttgart-Hohenheim<br />
im Oktober 2004 gehalten hat.<br />
Wir bemühen uns, in jeder Ausgabe in mindestens einem Beitrag ein theologisches<br />
Thema aufzugreifen. Diesmal schreibt Samir Khalil Samir SJ aus christlicher Sicht<br />
zur Prophetie Muhammads. Während Jesus im Koran als Prophet anerkannt wird,<br />
gilt Muhammad aus christlicher Perspektive nicht als Prophet. In seinem sehr interessanten<br />
Beitrag geht Samir Khalil Samir SJ dieser Frage nach.<br />
Wie bisher veröffentlichen wir auch diesmal wieder eine Liste mit Neuanschaffungen<br />
unserer Bibliothek, die jedem interessierten Leser offen steht. Ab der nächsten<br />
Ausgabe werden wir den Literaturservice auch auf Zeitschriften ausdehnen. Sie<br />
können dann sehen, welche <strong>Beiträge</strong> <strong>und</strong> Artikel in den wichtigsten internationalen<br />
Periodika <strong>und</strong> Zeitschriften <strong>zum</strong> Dialog erschienen sind. Wir hoffen, damit einen<br />
weiteren Beitrag für einen f<strong>und</strong>ierten christlich-islamischen Dialog beizusteuern.<br />
Frankfurt, den 29. September 2006<br />
Impressum<br />
Herausgeber:<br />
CIBEDO e.V.<br />
Verantwortlich:<br />
Dr. Peter Hünseler<br />
Redaktion:<br />
Dr. Barbara Huber-Rudolf<br />
Redaktionsbeirat:<br />
Alexander Görlach, Dr. Barbara<br />
Huber-Rudolf, Dr. Peter Hünseler,<br />
Prof. Dr. Christian W. Troll SJ<br />
Die Publikation dient dem Austausch<br />
von Meinungen <strong>zum</strong> <strong>Gespräch</strong> <strong>zwischen</strong><br />
<strong>Christen</strong> <strong>und</strong> <strong>Muslimen</strong>. Nachdruck,<br />
photomechanische oder elektronische<br />
Wiedergabe einzelner <strong>Beiträge</strong><br />
nur mit besonderer Erlaubnis.<br />
CIBEDO – <strong>Beiträge</strong> <strong>zum</strong> <strong>Gespräch</strong><br />
<strong>zwischen</strong> <strong>Christen</strong> <strong>und</strong> <strong>Muslimen</strong><br />
erscheint jährlich in vier Heften.<br />
Preise:<br />
Einzelheft: 8,00 EUR<br />
Jahresabonnement:<br />
28,00 EUR (4 Hefte)<br />
Bankkonten:<br />
CIBEDO, Postbank Frankfurt<br />
am Main, Konto-Nr. 6426-609,<br />
BLZ 500 100 60<br />
CIBEDO, Pax-Bank eG,<br />
Konto-Nr. 4004 747 017,<br />
BLZ 370 601 93<br />
Gestaltung: bleydesign, Köln<br />
Druck: Warlich Druck Köln GmbH<br />
ISSN: 0932-3945<br />
Editorial CIBEDO-<strong>Beiträge</strong> 2/2006
Inhaltsverzeichnis<br />
Editorial 2<br />
Die prophetische Mission Muhammads<br />
von Samir Khalil Samir SJ 4<br />
Dialog in der Kritik<br />
von Ralph Ghadban 12<br />
Die »Wiener Erklärung« der Konferenz der Imame <strong>und</strong> SeelsorgerInnen<br />
vom 8. April 2006<br />
von Johannes Kandel 18<br />
Dokumentation<br />
Schlusserklärung der Konferenz Europäischer Imame in Wien 2006 29<br />
Buchbesprechungen<br />
Mehdi Bazargan: Und Jesus ist sein Prophet. Der Koran <strong>und</strong> die <strong>Christen</strong><br />
Eine christliche Stellungnahme<br />
von Christian W. Troll SJ 36<br />
Reza Aslan: Kein Gott außer Gott. Der Glaube der Muslime von Muhammad bis zur Gegenwart<br />
von Alexander Görlach 40<br />
Projektbericht<br />
Christlich-muslimische Begegnung: Multiplikatorenschulung im virtuellen Seminar<br />
von Barbara Huber-Rudolf 41<br />
Neuanschaffungen der CIBEDO-Bibliothek 45<br />
Die Autoren der <strong>Beiträge</strong> 46<br />
CIBEDO-<strong>Beiträge</strong> 2/2006<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
3
4<br />
Die prophetische Mission<br />
Muhammads<br />
von Samir Khalil Samir SJ<br />
Die Karikaturen-Affäre, welche nach<br />
dem Abdruck der Bilder in einer dänischen<br />
Zeitschrift im September 2005<br />
innerhalb weniger Monate die muslimische<br />
Welt von Pakistan bis Nigeria<br />
entflammt hat, hat der Öffentlichkeit<br />
den Stellenwert verdeutlicht, den der<br />
Gründer, der »Prophet« Muhammad,<br />
im Islam innehat, auf gleichem Niveau<br />
wie das Dogma des einzigen Gottes.<br />
Um die Fragen unserer Leser zu beantworten,<br />
nehmen wir, mit fre<strong>und</strong>licher<br />
Erlaubnis der Editions Desclée in<br />
Brouwer, die Gedanken des Jesuitenpaters<br />
Samir Khalil auf, die in Enquêtes<br />
sur l’Islam (Betrachtungen des Islam)<br />
von Anne-Marie Delcambre <strong>und</strong><br />
Joseph Bosshard erschienen sind, mit<br />
Unterstützung von R. Arnaldez, M.<br />
Borrmans , G. Troupeau, D. <strong>und</strong> M.-<br />
T. Urvoy, etc.<br />
1. Die Auswirkungen der<br />
Anzweiflung des Prophetentums<br />
Muhammads<br />
Der prophetische Charakter Muhammads<br />
ist für die Muslime ein gr<strong>und</strong>legendes<br />
Element ihres Glaubens. Die Auswirkungen<br />
des Glaubens an Muhammad als<br />
Propheten sind nicht ohne Gewicht für<br />
das globale Bild des Islam <strong>und</strong> den islamisch-christlichen<br />
Dialog. Dieser Glaube<br />
an Muhammad als den Propheten Gottes<br />
ist gr<strong>und</strong>legend, da er die Hälfte des muslimischen<br />
Glaubens (die shahâda) ausmacht.<br />
Dieses Glaubenszeugnis beteuert:<br />
»Ich bezeuge dass es keine Gottheit gibt<br />
außer Allah <strong>und</strong> dass Muhammad der Prophet<br />
Gottes ist«.<br />
Der muslimische Glaube an Muhammad<br />
als den Propheten Gottes ist auch<br />
deshalb gr<strong>und</strong>legend, da er die Beziehungen<br />
<strong>zwischen</strong> <strong>Christen</strong> <strong>und</strong> <strong>Muslimen</strong><br />
zweifellos am meisten stört. Die Frage des<br />
Prophetentums Muhammads ist auch<br />
deshalb eine gr<strong>und</strong>legende, da – entgegen<br />
der Tradition der christlichen Kirchen,<br />
die den Begründer des Islam niemals als<br />
Propheten anerkannt haben – heutzutage<br />
einige katholische Theologen keine<br />
Bedenken haben, ihn als solchen zu<br />
akzeptieren, <strong>zum</strong>indest auf eine gewisse<br />
Art. Schließlich entspricht nach der Meinung<br />
vieler Leute diese Anerkennung<br />
Muhammads als Propheten am besten<br />
der vom Zweiten Vatikanischen Konzil<br />
geforderten Bereitschaft <strong>zum</strong> Dialog <strong>und</strong><br />
auf jeden Fall dem Geiste unserer Zeit.<br />
Mit der Frage nach der Prophetie<br />
Muhammads ist die Frage nach dem<br />
Koran <strong>und</strong> somit der muslimischen Religion<br />
als ganzer gestellt. Wenn Muhammad<br />
ein von Gott gesandter Prophet ist,<br />
erscheint es als logische Folge, dass auch<br />
der Koran von Gott stammt. Ist Muhammad<br />
jedoch kein Prophet, muss man sich<br />
die Frage nach dem Ursprung des Koran<br />
stellen.<br />
Sich Gedanken über Muhammad <strong>und</strong><br />
den Koran zu machen, führt unweigerlich<br />
<strong>zum</strong> Überdenken des Islam. Wo soll<br />
man ihn einordnen? Ist der Islam eine<br />
Naturreligion? Ist er eine Religion im Sinne<br />
der Bibel? Ist er eine Religion der<br />
Offenbarung? Wenn er letzteres ist, wie<br />
erklärt es sich, das die Offenbarung im<br />
Koran von der biblischen Offenbarung<br />
<strong>und</strong> insbesondere vom der Offenbarung<br />
des Evangeliums abweicht? Und wenn<br />
der Islam nicht eine offenbarte Religion<br />
ist, weshalb gibt es so viele Übereinstimmungen<br />
<strong>zwischen</strong> der Offenbarung des<br />
Koran <strong>und</strong> der Bibel?<br />
Samir, Die prophetische Mission Muhammads CIBEDO-<strong>Beiträge</strong> 2/2006
Radikaler ausgedrückt: Gab es wirklich<br />
eine »Offenbarung« oder ist Muhammad<br />
lediglich ein Defraudant oder aber<br />
jemand, der glaubte, eine Offenbarung<br />
gehabt zu haben, sich selbst in die Falle<br />
ging <strong>und</strong> schließlich ernsthaft geglaubt<br />
hat, ein Gesandter Gottes zu sein? Welche<br />
Einordnung ist korrekt? Wäre es nicht<br />
möglich, dass er ein Oberhaupt, ein politischer<br />
Anführer war, dem es gelungen<br />
ist, die arabischen Stämme zu einen,<br />
ihnen eine gemeinsame Basis zu geben<br />
<strong>und</strong> ihnen somit eine umso größere<br />
Dynamik verlieh als er sie glauben ließ,<br />
dass seine Aussprüche <strong>und</strong> Taten unmittelbar<br />
von Gott bestimmt würden?<br />
Aber – so einige Theologen – angenommen,<br />
Muhammad wäre tatsächlich ein<br />
Defraudant, wie erklärt es sich, dass eine<br />
Religion, die nicht von Gott geschaffen<br />
wurde, eine solche Verbreitung erfahren<br />
durfte? Hilft der Islam darüber hinaus<br />
nicht Millionen Menschen, Gott zu<br />
erfahren? Und, schlussendlich, ist die<br />
gr<strong>und</strong>legende Frage doch der Ursprung<br />
des Islam. Dazu gibt es zahlreiche Antworten.<br />
Wir werden hier lediglich drei<br />
aufzeigen.<br />
1. Die griechischen oder lateinischen<br />
Theologen des Mittelalters sagten:<br />
»Der Islam ist ein Werk des Teufels«. Diese<br />
Annahme der diabolischen Herkunft<br />
des Islam findet sich allerdings<br />
fast nie bei den orientalischen Theologen<br />
des Mittelalters (Syrern, Kopten<br />
oder Arabern), die in alltäglichem<br />
Kontakt zu den <strong>Muslimen</strong> standen.<br />
Lediglich ‘Abd al-Masîh al-Kindî, dessen<br />
Schriften um das Jahr 825 entstanden,<br />
lässt unseres Wissens eine solche<br />
Meinung vermuten.<br />
2. Einige <strong>Christen</strong> bestätigen heute die<br />
muslimische Annahme, der Islam<br />
komme von Gott, <strong>und</strong> dass er von diesem<br />
gewollt sei. Und dies vorrangig aus<br />
zwei Gründen: Die Ausdehnung <strong>und</strong><br />
Dauer des islamischen Glaubens einerseits,<br />
seine Mystik andererseits. Ihre<br />
Überlegung ist folgende: Wenn diese<br />
Religion weder ein Werk Gottes noch<br />
des Teufels ist, sondern einfach das<br />
Werk eines Menschen, weshalb ist<br />
dann seine Ausbreitung so enorm, weshalb<br />
bewirkt er einen solch starken<br />
Glauben <strong>und</strong> weshalb hat er seine solche<br />
Mystik hervorgebracht?<br />
CIBEDO-<strong>Beiträge</strong> 2/2006<br />
Zweifellos sind die mystischen muslimischen<br />
Texte von einer großen<br />
Schönheit <strong>und</strong> spirituellen Erhabenheit.<br />
Sie können sich, trotz ihrer Esoterik,<br />
die zweifellos ihren Reiz für die<br />
westliche Welt erklärt, mit den schönsten<br />
mystischen christlichen Texten<br />
vergleichen. Freilich, wenn sie sich<br />
auch die Figur Christi als Beispiel nehmen<br />
<strong>und</strong> ihn zuweilen als »Siegel der<br />
Heiligen« ansehen, so ist es doch das<br />
»Licht Muhammads«, das sie leitet.<br />
Diese mystische Dimension erklärt<br />
den Reiz, den der Islam auf einige<br />
Abendländer ausübt, ob <strong>Christen</strong> oder<br />
Nicht-<strong>Christen</strong>, <strong>und</strong> sie treibt einige<br />
unter ihnen dazu, zu konvertieren. In<br />
Italien ist beispielsweise der Scheich<br />
‘Abd al-Wahid Pallavicini (abstammend<br />
einer noblen römischen Familie,<br />
die Jahrh<strong>und</strong>erte lang den Papst unterstützte)<br />
das Oberhaupt einer bekannten<br />
Sufi-Bewegung, die sich freilich ein<br />
wenig schwer getan hat, von den geborenen<br />
<strong>Muslimen</strong> anerkannt zu werden.<br />
3. Andere sehen im Islam hingegen eine<br />
vom Menschen erschaffene Religion,<br />
gegründet von einer außergewöhnlichen<br />
Persönlichkeit, dessen weltumfassendes<br />
Konzept der Gesellschaft,<br />
sowohl in spiritueller, kultureller, sozialer<br />
als auch politischer Hinsicht, sich<br />
im Laufe der Geschichte durchsetzen<br />
konnte <strong>und</strong> zu einer Einigung sehr verschiedenartiger<br />
Kulturkreise geführt<br />
hat. Diese Kultur schaffende Kraft des<br />
Islam <strong>und</strong> seine Fähigkeit, andere Kulturen<br />
zu assimilieren, faszinieren ebenso<br />
die westliche Welt wie auch die Afrikaner.<br />
Sie fühlen sich durch die Tatsache<br />
angezogen, dass der Islam, anders<br />
als das <strong>Christen</strong>tum, eine allumfassende<br />
(um nicht zu sagen totalitäre) Religion<br />
ist, die alle Bereiche des Lebens<br />
einschließt: Privat- <strong>und</strong> Familienleben,<br />
Gesellschaft, Politik <strong>und</strong>, nicht zu vergessen,<br />
das Militär.<br />
»Drei Dinge liebe ich auf der Welt:<br />
Gebet, Frauen <strong>und</strong> Parfüm«, lässt uns<br />
ein bekannter hadîth wissen <strong>und</strong> vereinigt<br />
diese so unterschiedlichen Aspekte<br />
auf eine dem Islam typische<br />
Weise: Er verbindet das Körperliche<br />
<strong>und</strong> das Geistige, das Gebet <strong>und</strong> die<br />
Politik – er ist dîn wa-dawlah wadunyâ.<br />
Aus der Ablehnung Muhammads als<br />
Propheten folgert der Muslim, dass seine<br />
Religion als wertlos angesehen wird,<br />
woraus sich wiederum erschließt, dass<br />
auch sein Leben wertlos ist, da er jede<br />
seiner Taten im Namen seiner Religion,<br />
dem Islam, ausführt. Diese<br />
Ablehnung wird als »Beleidigung einer<br />
Person« aufgefasst, »die der Muslim<br />
bereits in der Kindheit zu achten <strong>und</strong> lieben<br />
gelernt hat«. Für die Muslime ist<br />
Muhammad in der Tat das gute Vorbild,<br />
dem man folgen sollte, wie bereits<br />
zuvor Abraham. Man muss nur an die<br />
mystischen <strong>und</strong> poetischen Schriften<br />
denken, in denen der Gründer des<br />
Islam als Gipfel aller Tugenden dargestellt<br />
wird <strong>und</strong> die die frommen Muslime<br />
gerne auch singen <strong>und</strong> musikalisch<br />
darstellen. Mehr noch, eine solche<br />
Ablehnung beinhaltet letztlich,<br />
dass Muhammad ein Betrüger wäre,<br />
der nicht nur die Menschen <strong>zum</strong> Narren<br />
hielt, sondern sich auch über Gott<br />
lustig gemacht hätte.<br />
Samir, Die prophetische Mission Muhammads<br />
5
6<br />
2. Die muslimische<br />
Sichtweise<br />
2.1 Die islamische Auffassung des<br />
Prophetentums<br />
Die Muslime empfinden die Ablehnung<br />
Muhammads als Propheten seitens<br />
der <strong>Christen</strong> als Ungerechtigkeit, während<br />
sie selbst doch Jesus als Propheten<br />
anerkennen. Aus diesem Gr<strong>und</strong>e ist es<br />
wichtig, die muslimische Sichtweise des<br />
Prophetentums zu erklären.<br />
Der Koran nennt einige Propheten,<br />
insgesamt fünf<strong>und</strong>zwanzig. Es folgt eine<br />
mehr oder weniger chronologische Aufzählung,<br />
da der Koran sie nicht in ihrem<br />
historischen Kontext darstellt: Adam,<br />
Noah, Abraham, Lot, Isaak, Ismael,<br />
Jakob (oder Israel), Joseph, Moses,<br />
Aaron, David, Salomon, Hiob, Henoch,<br />
Elija <strong>und</strong> Elischa, Jona, Zacharias <strong>und</strong><br />
seinen Sohn Johannes den Täufer<br />
(Yahyâ), Maria <strong>und</strong> ihren Sohn Jesus<br />
(‘Isâ) <strong>und</strong> Muhammad. Die meisten dieser<br />
Propheten (rusul) entstammen der<br />
biblischen Tradition, einige der vorislamischen<br />
arabischen Tradition, z. B. Hud,<br />
Salih <strong>und</strong> Schu’aib. Sie entsprechen eher<br />
den wichtigen Personen des Alten (<strong>und</strong><br />
des Neuen) Testaments als den als solche<br />
bezeichneten Propheten. Außer Maria<br />
befindet sich keine Frau auf der Liste.<br />
Im Koran wird Jesus, einer der wichtigsten<br />
Mohammed vorangehenden Propheten,<br />
als eine außergewöhnliche Persönlichkeit<br />
dargestellt; von seiner Geburt<br />
bis zu seinem Tode ist jeder seiner<br />
Lebensabschnitte von ungewöhnlichen<br />
Ereignissen gekennzeichnet. Außergewöhnlich<br />
ist auch die über ihn verbreitete<br />
Doktrin – Jesus ist das Wort (Kalimat<br />
Allâh) <strong>und</strong> der Geist (Rûh Allâh) Gottes<br />
<strong>und</strong> den Engeln gleich gehört er <strong>zum</strong><br />
engsten Zirkel Gottes. Neben Maria ist er<br />
der Einzige (laut einem hadîth), der niemals<br />
von Satan berührt wurde. Und doch<br />
ist er lediglich ein Prophet – der größte,<br />
möglicherweise der heiligste, ein Gott<br />
ergebener Mann.<br />
2.2 Die Gleichberechtigung aller<br />
Propheten …<br />
Drei Suren bestätigen die Gleichberechtigung<br />
aller Propheten: 2, 135-140 ;<br />
3, 83; 2, 285 et 4, 150-152. Nur die Sure<br />
2, 253 macht einen Unterschied. Diese<br />
Texte stammen aus der Medina-Periode,<br />
einer Zeit, während der in Medina die<br />
Juden besonders zahlreich waren <strong>und</strong> es<br />
scheint, als ob Muhammad seine Position<br />
verteidigen musste. Er bestätigt, dass er<br />
alle Propheten ausnahmslos anerkennt,<br />
<strong>und</strong> dass sie alle gleichberechtigt sind,<br />
selbst wenn der eine oder andere (Moses<br />
oder Jesus) über besondere Fähigkeiten<br />
verfügten, insbesondere die, W<strong>und</strong>er zu<br />
vollbringen.<br />
In der Sure 2,253 wird im Koran auf<br />
eine gewisse Ungleichheit der Propheten<br />
hingewiesen, dieser Unterschied etabliert<br />
jedoch keine Hierarchie.<br />
»Unter diesen Botschaftern ziehen<br />
Wir manche den anderen vor. Es sind<br />
jene, zu denen Gott sprach; <strong>und</strong> Er hat<br />
weitere geschaffen. Für Jesus, Sohn von<br />
Maria, besitzen Wir Beweise <strong>und</strong> haben<br />
ihn durch den Heiligen Geist stärken<br />
lassen. Und wenn es der Wille Gottes<br />
gewesen wäre, hätten sich die Nachfolgenden<br />
nicht gegenseitig getötet, nachdem<br />
ihnen die Beweise zugekommen<br />
waren, aber sie haben sich entzweit, die<br />
einen hielten am Glauben fest, die anderen<br />
wurden abtrünnig« (2,253).<br />
2.3 Muhammad war jedoch das<br />
»Siegel der Propheten«<br />
»Mohammed ist der Vater keines Mannes<br />
unter euch, sondern er ist der Gesandte<br />
(rasûl) Gottes, das Siegel der Propheten.«<br />
(33,40). Die »prophetische Linie« hat also<br />
in Mohammed ihren Höhepunkt<br />
erreicht. Er ist der Gipfel, das Ziel der<br />
Linie der Propheten, anders ausgedrückt<br />
ist er es, der alles Vorangegangene assimiliert,<br />
vervollständigt <strong>und</strong> abschließt. Es<br />
kann also keinen Propheten nach<br />
Mohammed geben, welcher den langen<br />
Prozess der Offenbarung Gottes an die<br />
Menschheit abgeschlossen hat, der vor<br />
tausenden von Jahren begann. Er ist der<br />
letzte Gesandte Gottes an die Menschheit.<br />
Wenn also ein Muslim mindestens<br />
zehn Mal täglich wiederholt, dass Muhammad<br />
der Gesandte Gottes ist, versteht<br />
er darunter, dass er das »Siegel der<br />
Propheten« ist. In seiner Denkweise ist<br />
Muhammad eng mit seiner Funktion als<br />
letzter göttlicher Botschafter verb<strong>und</strong>en.<br />
Ebenso betrachtet er den Heiligen Koran<br />
als die letzte göttliche Botschaft, die dem<br />
Propheten des Islam offenbart wurde.<br />
Der Ausdruck »Siegel der Propheten«<br />
erscheint im Koran erst im Vers 40 der<br />
Sure 33. Er wird jedoch aufgenommen,<br />
wiederholt, ausgearbeitet, ausgeschmückt<br />
von der muslimischen Tradition, die daraus<br />
eine stützende Säule ihrer Theologie<br />
<strong>und</strong> den Angelpunkt ihrer »Theologie der<br />
Religionen« macht.<br />
Der Ausdruck »Siegel der Propheten«<br />
ist dem <strong>Christen</strong>tum entlehnt. So heißt es<br />
im Johannesevangelium 6, 27: »Schafft<br />
euch Speise, die nicht vergänglich ist, sondern<br />
die bleibt <strong>zum</strong> ewigen Leben. Die<br />
wird euch der Menschensohn geben; denn<br />
auf dem ist das Siegel Gottes des Vaters.«<br />
Der hier verwendete Ausdruck stammt<br />
von dem griechischen Verb sphragizo (das<br />
der heilige Hieronymus durch das lateinische<br />
signavit wiedergibt). Dieses Verb<br />
bedeutet: die Authentizität einer Person<br />
bestätigen <strong>und</strong> durch ein Zeugnis beweisen,<br />
dass eine Person tatsächlich die ist,<br />
die sie zu sein vorgibt. Als Nachfolger von<br />
Christus sind die <strong>Christen</strong> ebenfalls »vom<br />
Siegel Gottes gezeichnet«, wie Paulus<br />
(2 Kor 1, 21-22) bek<strong>und</strong>et: »Gott ist es<br />
aber, der uns fest macht samt euch in Christus<br />
<strong>und</strong> uns gesalbt <strong>und</strong> versiegelt <strong>und</strong> in<br />
unsre Herzen als Unterpfand den Geist<br />
gegeben hat.«<br />
2.4 Ist die Sichtweise des Korans<br />
bezüglich des Prophetentums<br />
ein Zeichen der Toleranz?<br />
Gerade die Anerkennung aller Propheten<br />
durch den Koran lässt die Muslime<br />
zu der Überzeugung gelangen, tolerant<br />
<strong>und</strong> gerecht zu sein, weit entfernt<br />
von jeglichem Fanatismus: Wir akzeptie-<br />
Samir, Die prophetische Mission Muhammads CIBEDO-<strong>Beiträge</strong> 2/2006
en alle Propheten früherer Religionen,<br />
sagen sie, insbesondere Moses <strong>und</strong> Jesus.<br />
Ihr, die <strong>Christen</strong>, seid intolerant, denn ihr<br />
erkennt Muhammad nicht an. In Wahrheit<br />
ist die Begründung für die »Religionskriege«<br />
in den Augen des Geschichtsanthropologen<br />
viel einfacher: In der Geschichte<br />
der Menschheit ist der religiöse<br />
Rahmen die mentale Kategorie, die die<br />
tiefe Identität des Menschen <strong>und</strong> der<br />
Gruppe gr<strong>und</strong>legend bestimmt.<br />
2.5 Das Gefühl der Muslime,<br />
angesichts der christlichen<br />
Nichtanerkennung<br />
Muhammads als Propheten<br />
ungerecht behandelt zu sein<br />
Anerkennung des prophetischen Charakters<br />
Jesus einerseits, Ablehnung des<br />
prophetischen Charakters Muhammads<br />
andererseits: Diese ungleiche Behandlung<br />
lässt bei den <strong>Muslimen</strong> ein Gefühl<br />
von Ungerechtigkeit aufkommen. Worauf<br />
die <strong>Christen</strong> antworten, die<br />
Besonderheit an Jesus (‘Isâ) sei nicht, dass<br />
er Prophet ist, sondern dass er der Sohn<br />
Gottes ist. Dies ist jedoch genau der<br />
Aspekt, den der Koran <strong>und</strong> die muslimische<br />
Theologie verneinen.<br />
Ein solcher Schlagabtausch gleicht<br />
mehr einem Handel als einem Dialog, bei<br />
dem jeder versucht, dem anderen offen<br />
gegenüber zu stehen <strong>und</strong> gleichzeitig seiner<br />
eigenen Tradition treu zu bleiben. Die<br />
Fragestellung ist falsch gestellt. Sie müsste<br />
von muslimischer Seite eher lauten:<br />
Wer ist Christus für Dich? Und von<br />
christlicher Seite: Wer ist Muhammad für<br />
Dich? Die wahre Frage ist ontologischer<br />
Natur, sie erfordert eine gemeinsame<br />
Suche nach der Wahrheit. Jeder sollte<br />
dem anderen ohne Vorbehalt die gr<strong>und</strong>legenden<br />
Züge seines Glaubens darlegen<br />
<strong>und</strong> dann sollte gemeinsam überlegt werden,<br />
bis zu welchem Punkt ein gemeinsamer<br />
Weg möglich ist.<br />
Begibt man sich auf das Gebiet der<br />
Konzessionen, Zugeständnisse, dann<br />
könnte man den <strong>Muslimen</strong> zu erklären<br />
versuchen, dass, wenn sie Christus als<br />
einen Propheten unter vielen anerkennen,<br />
sie das Mysterium Christus <strong>und</strong> sein<br />
CIBEDO-<strong>Beiträge</strong> 2/2006<br />
wahres Wesen im christlichen Verständnis<br />
nicht erfassen. Ebenso wenig wie jene<br />
<strong>Christen</strong>, die Muhammad als eine der<br />
großen Persönlichkeiten der Menschheit<br />
sehen, nicht mehr, <strong>und</strong> die damit dem<br />
wahren Wesen Muhammads nach muslimischer<br />
Auffassung natürlich nicht einmal<br />
nahe kommen.<br />
2.6 Der Islam ist<br />
die perfekte Religion<br />
Die Schlussfolgerung von der Aussage<br />
über Muhammad als »Siegel der Propheten«<br />
<strong>zum</strong> Islam als »Siegel der Religionen«<br />
findet sich bei allen <strong>Muslimen</strong>, vom einfachsten<br />
bis <strong>zum</strong> Gebildetsten, <strong>und</strong> wir<br />
haben diese Meinung in Ägypten, in<br />
Syrien, im Libanon, in Tunesien, in<br />
Marokko, in Europa (sogar bei den<br />
Maliern, den Nigerianern, den Pakistani<br />
...) zu hören bekommen. In groben Zügen<br />
ist ihre Argumentation die folgende:<br />
Für die Muslime gibt es nur drei Religionen:<br />
Das Judentum, das <strong>Christen</strong>tum<br />
<strong>und</strong> den Islam. Dieser nimmt seine beiden<br />
Vorgänger auf, vervollkommnet sie<br />
<strong>und</strong> schließt sie ab. Diese Argumentation<br />
lässt sich leicht nachvollziehen. Die Idee<br />
ist deutlich, einfach <strong>und</strong> gut formuliert.<br />
Die drei monotheistischen Religionen<br />
werden von den muslimischen Theologen<br />
»himmlische Religionen« genannt, die<br />
anderen religiösen Bewegungen verdienen<br />
den Titel Religion (dîn) nicht. Dieses<br />
Dogma, in Kombination mit den entsprechenden<br />
Aussagen des Koran, formen<br />
schon in der Kindheit den Geist eines<br />
jeden Muslim.<br />
Der Begriff der »himmlischen« oder<br />
»offenbarten Religion« ist in dieser Form<br />
nicht im Koran niedergeschrieben. Zwar<br />
findet sich dort 92 Mal das Wort dîn, sein<br />
Plural adyân jedoch taucht nicht ein einziges<br />
Mal auf. Zwar kommt der Begriff<br />
samâ (»Himmel«) <strong>und</strong> sein Plural samâwât<br />
nicht weniger als 310 Mal vor, aber<br />
das Adjektiv samâwî (himmlisch) wird<br />
man vergeblich suchen. Wie bereits<br />
erwähnt, wurde also der Begriff der<br />
»himmlischen Religionen« von muslimischen<br />
Theologen geprägt. Er spiegelt<br />
deutlich die islamische Auffassung von<br />
Religion wider; sie ist jedoch weder mit<br />
der der Soziologen noch mit der der<br />
<strong>Christen</strong> zu vereinen.<br />
Trotz der Eindeutigkeit <strong>und</strong> Offensichtlichkeit<br />
beruht die Idee, dass die letzte<br />
entstandene Religion automatisch die<br />
beste sei, da sie das Beste der Vorgänger<br />
übernimmt, auf einem Sophismus. Sie<br />
würde in ihrer Konsequenz den einzelnen<br />
auffordern, seine derzeitige Religion aufzugeben,<br />
um die jeweils neueste anzunehmen.<br />
Und mit einem Mal würde der<br />
Islam selbst sich in der Position befinden,<br />
überholt <strong>und</strong> überflüssig zu sein. So<br />
scheuen sich die Drusen <strong>und</strong> die Bahâ’îs<br />
nicht, um von zwei sehr bekannten religiösen<br />
Bewegungen zu sprechen, zu<br />
erklären, dass ihr Ziel nicht darin liegt,<br />
den Islam zu verbessern, sondern ihn zu<br />
vernichten, indem sie ihn überflügeln …<br />
Samir, Die prophetische Mission Muhammads<br />
7
8<br />
3. Die christliche<br />
Sichtweise<br />
3.1 Erinnerung an einige<br />
theologische Standpunkte<br />
Einige Theologen (z. B. Johannes von<br />
Damaskus, Anfang des 8. Jahrh<strong>und</strong>erts)<br />
sahen im Islam eine Häresie. Die christlichen<br />
syrischen <strong>und</strong> arabischen Theologen<br />
des Mittelalters anerkennen in ihren<br />
<strong>Gespräch</strong>en mit den <strong>Muslimen</strong> in Muhammad<br />
einen Mann, der kam, um die<br />
Versprechen Gottes an Ismael zu erfüllen,<br />
sie sehen in ihm ebenfalls einen großen<br />
Führer, der in der Gunst Gottes stand<br />
<strong>und</strong> die <strong>Christen</strong> aufgr<strong>und</strong> ihrer Sünden<br />
besiegen konnte. Jedoch hat keiner unter<br />
ihnen jemals Muhammad als Propheten<br />
anerkannt.<br />
Andere Autoren des Mittelalters,<br />
byzantinische <strong>und</strong> lateinische, sahen im<br />
Islam schlicht <strong>und</strong> einfach das Werk<br />
Satans, von Gott zugelassen, um die<br />
<strong>Christen</strong> für ihre Sünden büßen zu lassen.<br />
Muhammad wird hier wie einer der<br />
von Christus angekündigten falschen<br />
Propheten dargestellt.<br />
Seit recht kurzer Zeit haben andere<br />
Theologen versucht, im Islam eine Vorbereitung<br />
auf das Evangelium zu erkennen,<br />
indem sie die Ideen einiger Kirchenväter<br />
des 2. <strong>und</strong> 3. Jahrh<strong>und</strong>erts (Justin,<br />
Clemens von Alexandrien oder Irenäus)<br />
übernehmen, welche in der griechischen<br />
Philosophie eine praearatio evangelica<br />
sahen. In dieser Perspektive wäre der<br />
Islam, obzwar er chronologisch nach dem<br />
<strong>Christen</strong>tum kam, logisch gesehen vorislamisch.<br />
Andere wiederum gehen noch einen<br />
Schritt weiter: Der Koran sei ein »Wort<br />
Gottes«, das sich von der christlichen<br />
Niederschrift unterscheidet oder auch:<br />
eine partielle <strong>und</strong> unvollständige Offenbarung.<br />
Dieser Ansicht folgend muss der<br />
Text des Briefes an die Hebräer (1,1.2 ),<br />
der von der Rolle der Propheten <strong>und</strong> des<br />
Sohns handelt, in einem weiten Sinn verstanden<br />
werden: »Nachdem Gott vorzeiten<br />
vielfach <strong>und</strong> auf vielerlei Weise geredet hat<br />
zu den Vätern durch die Propheten, hat er<br />
in diesen letzten Tagen zu uns geredet durch<br />
den Sohn, den er eingesetzt hat <strong>zum</strong> Erben<br />
über alles.«<br />
3.2 Persönliche Anmerkungen zu<br />
Muhammad <strong>und</strong> dem Koran<br />
Muhammad ist überzeugt, der Überbringer<br />
einer Botschaft Gottes zu sein.<br />
Darüber hinaus ist er auch überzeugt das<br />
»Siegel der Propheten« zu sein, derjenige,<br />
mit der die Offenbarung Gottes an die<br />
Menschen zur Perfektion <strong>und</strong> zu ihrem<br />
Abschluss gelangt. Auch ist er sich sicher,<br />
dass Jesus ihn angekündigt <strong>und</strong> anerkannt<br />
hat. Wir hingegen sehen in ihm<br />
einen genialen Reformator <strong>und</strong> einen<br />
talentierten Politiker, einen ehrlichen<br />
<strong>und</strong> überzeugten gottesfürchtigen Mann,<br />
der alle Mittel einsetzt um das »Reich<br />
Gottes« auf Erden zu schaffen, welches der<br />
Islam ist. Unter vielen Aspekten ist er<br />
dem »Pfad der Propheten gefolgt«, wie es<br />
der Katholikos Timotheus I. gegenüber<br />
dem Kalifen al-Mahdî im Jahre 781 ausdrückte.<br />
Die Botschaft Muhammads greift die<br />
wichtigen Themen des Alten Testaments<br />
auf:<br />
● Die Anbetung eines einzigen Gottes,<br />
dem man sich aus freiem Willen <strong>und</strong><br />
vollständig unterwirft, ohne Kompromisse<br />
mit dem Heidentum einzugehen,<br />
das mit allen Mitteln, den Krieg eingeschlossen,<br />
bekämpft werden muss;<br />
● Eine auf dem offenbarten Gesetz (sharî’ah)<br />
beruhende, unterworfene (oft<br />
nur formelle) moralische Lebensführung<br />
<strong>und</strong> der Respekt der Familien<strong>und</strong><br />
Stammesstrukturen;<br />
● Ein gesellschaftliches Benehmen, das<br />
auf der strengen Rechtsprechung<br />
(Recht der Vergeltung), dem Mitgefühl<br />
gegenüber Schwachen <strong>und</strong> dem gegenseitigen<br />
Rückhalt innerhalb der umma<br />
– welche, wenn erforderlich, durch die<br />
Entfernung des Unruhestifters geschützt<br />
wird – <strong>und</strong> auf der Aversion<br />
gegen Aufwiegler beruht (fitnah). Die<br />
Gruppe hat immer einen höheren Stellenwert<br />
als das Individuum; wer sie verlassen<br />
will, wird geopfert, der Abtrünnige<br />
ist im Prinzip <strong>zum</strong> Tode verurteilt;<br />
● Muhammad behauptet, dass seine Botschaft<br />
sich in die Reihe der biblischen<br />
Propheten, von Abraham bis Jesus, einfügt.<br />
Diese Botschaft gibt nicht vor,<br />
etwas Neues zu offenbaren, sondern sie<br />
will lediglich als Erinnerung der Offenbarung<br />
Gottes an Adam zu Beginn der<br />
Schöpfung verstanden werden <strong>und</strong> fer-<br />
ner als die angeborene Religion des<br />
Menschen, sofern gilt: »die Religion ist<br />
bei Allah der Islam« (3, 19).<br />
Die Unterschiede <strong>zwischen</strong> dem Islam<br />
<strong>und</strong> den beiden biblischen Religionen<br />
sind jedoch beträchtlich. Die muslimische<br />
Tradition erklärt, dass Muhammad<br />
nicht nur Prophet (nabî) sondern auch<br />
Botschafter (rasûl) ist <strong>und</strong> zwar eines<br />
Gesetzes, das teilweise die ihm vorhergehenden<br />
außer Kraft setzt. Muhammad<br />
will die Bibel korrigieren <strong>und</strong> vervollständigen,<br />
er erkennt Jesus als den Messias,<br />
geboren von einer Jungfrau, an <strong>und</strong> gibt<br />
ihm bemerkenswerte Titel (Messias,<br />
Wort, Geist …), die jedoch nicht den<br />
gleichen Bedeutungsinhalt haben wie in<br />
den Evangelien. Schockiert durch die<br />
Aussagen der <strong>Christen</strong>, die ihm den biblischen<br />
Botschaften zu widersprechen<br />
scheinen (Dreifaltigkeit, Göttlichkeit<br />
<strong>und</strong> Kreuzigung Christi, etc.), wird der<br />
Koran sie »berichtigen« oder sie zurückweisen.<br />
3.3 Die Zweideutigkeiten im Islam<br />
Die Person Muhammads ist in mehr<br />
als nur einer Hinsicht widersprüchlich.<br />
Einerseits lassen sich noble Züge wie ein<br />
tiefreligiöses Gefühl feststellen, es lassen<br />
sich Haltungen <strong>und</strong> Lehren erkennen,<br />
die an die Propheten des Alten Testaments<br />
erinnern; andererseits gehen seine<br />
Haltungen <strong>und</strong> Ansichten keineswegs<br />
einfach konform mit denen der biblischen<br />
Propheten <strong>und</strong> noch weniger mit<br />
denen der Apostel Christi: So sein von<br />
Leidenschaft gezeichneter Umgang mit<br />
den Frauen (z. B. die Ehefrau des Zayd),<br />
sein Verhalten im Krieg <strong>und</strong> bei den Razzien<br />
oder etwa seine Heimtücke gegenüber<br />
manchen Gegnern.<br />
Der Koran selbst ist ebenfalls zweideutig:<br />
In der Tat befinden sich darin Passagen,<br />
die an die schönsten Bibeltexte erinnern,<br />
aber auch moralische <strong>und</strong> dogmatische<br />
Lehren, die im Missklang, wenn<br />
nicht sogar im Widerspruch zu jenen des<br />
Neuen Testaments stehen. Außerdem<br />
erleichtert die Glaubensauffassung vom<br />
Koran als »vom Himmel herabgekommen«<br />
<strong>und</strong> als göttlich selbst in jedem seiner<br />
Buchstaben nicht gerade den Dialog.<br />
Diese Zweideutigkeiten finden sich<br />
ebenfalls bei den <strong>Muslimen</strong>. Einerseits<br />
Samir, Die prophetische Mission Muhammads CIBEDO-<strong>Beiträge</strong> 2/2006
gelangen viele von ihnen zu einer echten<br />
Gotteserfahrung, zu einer Haltung kontinuierlicher<br />
Anbetung, völliger Unterwerfung<br />
unter <strong>und</strong> Hingabe an seinen<br />
Willen <strong>und</strong> ebenfalls zu einer Beziehung<br />
zu den Menschen, die von der Gerechtigkeit<br />
<strong>und</strong> der Barmherzigkeit gezeichnet<br />
sind. Wie ein hadîth es ausdrückt: »Sie<br />
wünschen ihren Brüdern, was sie für sich<br />
selbst wünschen«. Diese tugendhafte Praxis<br />
wird mit dem Willen zur Treue gegenüber<br />
dem Koran <strong>und</strong> der Sunna gelebt.<br />
Das tägliche fünfmalige rituelle Gebet<br />
(salât), die persönlichen Bittgebete, das<br />
Fasten (sawm) <strong>und</strong> die Spenden (zakât<br />
<strong>und</strong> sadaqah) öffnen das Herz der Muslime<br />
für Gott. Andere Muslime dagegen,<br />
inspiriert vom Studium des Koran, empfinden<br />
Gott als unerreichbar <strong>und</strong> nicht<br />
gewillt, sich selbst dem Menschen zu<br />
offenbaren; in solcher religiöser Gr<strong>und</strong>sicht<br />
erdrückt das Schicksal den Menschen<br />
gleichsam, macht ihn <strong>zum</strong> Sklaven.<br />
Die christliche Auffassung von der göttlichen<br />
Sohnschaft <strong>und</strong> von der Vergöttlichung<br />
des Menschen, die, christlich gesehen,<br />
den eigentlichen Sinn des Heiles<br />
ausmacht, ist für derart ausgerichtete<br />
Muslime skandalös. Die Gottesverehrung<br />
kann dann leicht einen formalistischen<br />
Charakter annehmen, <strong>und</strong> die Beziehung<br />
zu den Mitmenschen in Fanatismus <strong>und</strong><br />
Gewalt umschlagen, um »die Rechte Gottes«<br />
zu verteidigen. Schließlich gibt es<br />
dann jene, die sich auf die zahlreichen<br />
aussagekräftigen Verse aus dem Koran<br />
<strong>und</strong> der sunna stützen, um im Namen<br />
Gottes Krieg zu führen, ein Krieg, der oft<br />
als jihad bezeichnet wird.<br />
3.4 Theologische Überlegungen<br />
Das eigentliche Problem stellt diese<br />
Mischung aus widersprüchlichen Elementen<br />
dar, denn die Zweideutigkeit<br />
betrifft ja das, was als von Gott, dem<br />
Koran oder dem Propheten gesandt<br />
geglaubt wird.<br />
Das Problem wird noch durch folgende<br />
Punkte verstärkt <strong>und</strong> macht eine Einigung<br />
<strong>zwischen</strong> <strong>Christen</strong> <strong>und</strong> <strong>Muslimen</strong><br />
auf theologischer Ebene nahezu unmöglich:<br />
● Er proklamiert sich als das »Siegel der<br />
Propheten« <strong>und</strong> die Tradition stilisiert<br />
ihn <strong>zum</strong> rasûl par excellence;<br />
● Der Koran bezeichnet sich als die höch-<br />
CIBEDO-<strong>Beiträge</strong> 2/2006<br />
ste <strong>und</strong> vollkommenste Offenbarung<br />
seitens Gottes an die Menschen;<br />
● Die Muslime betrachten sich als die<br />
einzig wahren Gläubigen (mu’minîn).<br />
Nun aber macht der christliche Glaubensdiskurs<br />
zu genau diesen drei Punkten<br />
diametral verschiedene Aussagen: Johannes<br />
der Täufer ist der letzte Prophet,<br />
Christus ist die endgültige Offenbarung<br />
Gottes an die Menschen, die <strong>Christen</strong><br />
sind die einzigen authentischen Gläubigen.<br />
3.5 Könnte Muhammad im christlichen<br />
Sinne als Prophet gelten?<br />
Unseres Erachtens ist Muhammad ein<br />
aufrichtiger Mensch, kein Hochstapler<br />
oder Betrüger, <strong>und</strong> die Erfahrung, die er<br />
in der Einsamkeit am Berge Hira nahe<br />
Mekka mit Gott machte, kann nicht<br />
bestritten werden. Überzeugt von der<br />
Größe <strong>und</strong> Majestät des einzigen Gottes<br />
<strong>und</strong> von der Notwendigkeit mitzuteilen,<br />
was auf ihn »herabgestiegen« ist, lehrt er<br />
seine Treuen den Sinn der absoluten<br />
Transzendenz <strong>und</strong> der unendlichen<br />
Barmherzigkeit Gottes. Es ist auf diese<br />
Weise, sagt Timotheus I., dass »er den<br />
Pfad der Propheten beschritten hat«.<br />
Es gilt ferner festzustellen, dass bis<br />
622, während der ersten Etappe der Mission<br />
Muhammads, die Ausübung des<br />
muslimischen Glaubens nur die Überzeugung<br />
von der Einzigartigkeit Gottes<br />
beinhaltete: »Es gibt keinen Gott außer<br />
Gott«. Muhammad fühlte sich also nicht<br />
unmittelbar als ein Gesandter Gottes<br />
(rasûl Allah), oder er hatte <strong>zum</strong>indest<br />
nicht die Sicherheit, ein solcher zu sein;<br />
es ist nicht auszuschließen, das er sich<br />
nach <strong>und</strong> nach, unter dem Einfluss des<br />
christlichen Cousins seiner Frau Khadîjah,<br />
Waraqah ibn Nawfal, davon überzeugt<br />
hat. Erst in den jüngsten Suren findet<br />
sich der Befehl, dem Gesandten Gottes<br />
zu gehorchen.<br />
Lässt sich nun aus all dem schließen,<br />
dass Muhammad im Sinne der christlichen<br />
Theologie ein Prophet ist? Wir<br />
glauben es nicht, denn aus christlicher<br />
Sicht ist ein Prophet nicht allein dadurch<br />
definiert, dass er eine Botschaft Gottes<br />
an die Menschheit empfängt, sondern<br />
außerdem dadurch, dass er die Ankunft<br />
Christi vorbereitet. Denn im Großen <strong>und</strong><br />
Ganzen gesehen entfernen Muhammad<br />
<strong>und</strong> der Koran den Gläubigen von der<br />
Person Christi wie sie die authentischen<br />
Evangelien zeichnen <strong>und</strong> betrachten den<br />
Koran als den einzigen gültigen göttlichen<br />
Text. Den <strong>Muslimen</strong> erscheint die<br />
Darstellung Jesu als einfacher Mann Gottes,<br />
als Propheten, Thaumaturgen <strong>und</strong> als<br />
bedeutende Persönlichkeit der Menschheit<br />
nicht nur als das genaueste Bild Christi,<br />
sondern diese Darstellung bestätigt<br />
gleichzeitig die Wahrheit des Textes des<br />
Korans <strong>und</strong> seiner Aussagen.<br />
Kardinal Journet stützt sich auf einen<br />
Text des heiligen Thomas <strong>und</strong> erkennt<br />
an, dass Mohammed von einem »außergewöhnlichen<br />
prophetischen Licht« umgeben<br />
war, welches einige Wahrheiten<br />
besonders erhellte (wie den Monotheismus),<br />
jedoch andere Aspekte im<br />
Schatten beließ. Eine solche Ansicht ist<br />
nur schwerlich zu akzeptieren: Kann<br />
Gott einen »Halb-Propheten« entsenden,<br />
Träger eines Teils der Offenbarung <strong>und</strong><br />
Leugner eines anderen Teils?<br />
Wenn wir unter dem Begriff »Prophet«<br />
einen Menschen verstehen, dessen<br />
Lehren <strong>und</strong> Leben anderen Menschen<br />
helfen können, ein rechtschaffenes Leben<br />
zu führen <strong>und</strong> Gott einen zentralen Platz<br />
in ihrer Existenz zu geben, so wäre es<br />
durchaus möglich – lässt man die bereits<br />
genannten Vorbehalte außer Acht –<br />
Muhammad einen Propheten zu nennen.<br />
In diesem Sinne ist Muhammad sicherlich<br />
ein geistlicher Führer für viele Männer<br />
<strong>und</strong> Frauen (was jedoch die Muslime,<br />
für die er der Prophet par excellence ist,<br />
in keiner Weise befriedigen kann).<br />
Aber die eigentliche Frage ist doch<br />
letztlich diese: Wurde Muhammad von<br />
Gott auserwählt, um zu den Arabern zu<br />
sprechen <strong>und</strong> durch sie zur ganzen Welt?<br />
Dies ist kaum mit einem Ja zu beantworten;<br />
man könnte höchstens sagen, dass<br />
Gott seine Taten gebilligt hat. Ein Philosoph<br />
würde sagen, dass Muhammad eine<br />
»causa instrumentalis«, nicht jedoch die<br />
»causa finalis« gewesen sei, ihn einen<br />
»instrumentellen Gr<strong>und</strong>« nennen, jedoch<br />
nicht den »finalen Gr<strong>und</strong>«. Laut Louis<br />
Massignon »ist Muhammad in gewisser<br />
Weise in einigen Punkten erhellt gewesen,<br />
in anderen jedoch nicht«. Aus christlicher<br />
Sicht sollte sowohl der Begriff Prophet<br />
vermieden werden als auch die Aussage,<br />
Samir, Die prophetische Mission Muhammads<br />
9
10<br />
Gott habe ihm gestattet, etwas von der<br />
biblischen Offenbarung zu verkünden.<br />
3.6 Der Islam ist sowohl ein Weg<br />
als auch ein Hindernis<br />
Kurz gesagt, der Koran ist ein Weg, der<br />
die Menschen zu einem lückenhaften<br />
<strong>und</strong> unvollkommenen Wissen über Gott<br />
führt <strong>und</strong> gleichzeitig ein Hindernis<br />
sowohl für die Entdeckung Gottes als<br />
Vater, der sich in Jesus Christus geoffenbart<br />
hat, als auch für die Entdeckung von<br />
Jesus Christus <strong>und</strong> zwar genau deshalb,<br />
weil der Koran das letzte Wort zu Gott<br />
<strong>und</strong> Jesus zu sein vorgibt. Selbst der Titel<br />
»Barmherziger« (al-Rahmân) stimmt<br />
nicht mit dem Gott, der die Liebe ist, des<br />
christlichen Glaubens überein, sondern<br />
bezeichnet eher die herablassende Haltung<br />
einen Königs gegenüber seinen<br />
Untertanen.<br />
Da der Koran es nicht ermöglicht, das<br />
wahre Gesicht Christi zu entdecken, <strong>und</strong><br />
da er die gr<strong>und</strong>legenden Wahrheiten des<br />
christlichen Glaubens ablehnt (Dreifaltigkeit,<br />
Göttlichkeit Christi, Inkarnation,<br />
Erlösung, Tod <strong>und</strong> Auferstehung Jesu)<br />
kann er nicht als von Gott offenbart<br />
angesehen werden, auch wenn er einige<br />
sehr schöne Passagen über Christus <strong>und</strong><br />
die Jungfrau Maria beinhaltet. Was die<br />
vom Koran gelehrte Gesellschafts- <strong>und</strong><br />
Familienmoral angeht, so nähert sich diese<br />
der des Alten Testaments, steht jedoch<br />
im Gegensatz zu jener der Evangelien.<br />
In einigen Punkten ist der Koran eine<br />
einfache Rückkehr <strong>zum</strong> Judentum, mit<br />
dem einzigen – entscheidenden – Unterschied,<br />
dass dieser auf den erwarteten<br />
Messias, der das Gesetz zur Vollkommenheit<br />
bringen wird, ausgerichtet ist. Der<br />
Islam hingegen kehrt Christus <strong>und</strong> diesem<br />
neuen Gesetz den Rücken, das vor<br />
ihm kam, <strong>und</strong> das er als von ihm selbst<br />
überholt ansieht. Wie Timotheus I. diesbezüglich<br />
sagt: »Diese ist nicht Gottes<br />
Gewohnheit; er führt uns normalerweise<br />
von unten nach oben <strong>und</strong> nicht vom Vollkommeneren<br />
<strong>zum</strong> weniger Vollkommenen«.<br />
3.7 Der Muslim kann durch<br />
Christus gerettet werden<br />
Natürlich soll diese theologische Haltung<br />
nicht die Verneinung der Möglichkeit<br />
der Rettung eines jeden Muslim, der<br />
ehrlich nach seinem Glauben lebt, nach<br />
sich ziehen. Das würde der klaren Lehre<br />
des Zweiten Vatikanischen Konzils widersprechen.<br />
Jedoch geschieht die Erlösung<br />
aus christlicher Sicht nur in <strong>und</strong><br />
durch Christus. Der Willen des Vaters,<br />
die gesamte Menschheit <strong>und</strong> jede einzelne<br />
Person besonders zu erlösen, als auch<br />
die w<strong>und</strong>erbare Einwirkung des Geistes,<br />
der weht, wo immer er will, sind so geartet,<br />
dass nichts die Rettung der Muslime<br />
durch den erlösenden Tod des Sohnes<br />
<strong>und</strong> seiner Auferstehung aufhalten kann.<br />
Es erscheint demnach inkohärent zu<br />
behaupten, wie es einige Theologen tun,<br />
dass der Islam der Weg <strong>und</strong> das Mittel des<br />
Heils für die Muslime sei. Die Auffassung<br />
des Heils im Islam ist von der des <strong>Christen</strong>tums<br />
weit entfernt <strong>und</strong> basiert auf der<br />
genauen Befolgung der sharî’a. Dies muss<br />
dem Dialog <strong>und</strong> dem brüderlichen<br />
Zusammenleben keinen Abbruch tun.<br />
Im Gegenteil: Dialog <strong>und</strong> Koexistenz<br />
sind wahrhaftiger, wenn sie nicht auf<br />
Lügen basieren, sondern sich frei halten<br />
von jeglicher Zweideutigkeit <strong>und</strong> Selbstgefälligkeit.<br />
3.8 Ist die Nicht-Anerkennung des<br />
Prophetentums Mohammeds<br />
eine Ablehnung oder Abwertung<br />
des Islam?<br />
Für die <strong>Christen</strong> gilt: alle Religionen<br />
<strong>und</strong> alle Gläubigen verdienen Respekt.<br />
Mehr noch, jeder Mensch, einfach als solcher,<br />
verdient unendlichen Respekt, sei er<br />
gläubig oder Atheist. Denn er ist nach<br />
dem Abbild Gottes erschaffen, wie uns<br />
die Heilige Schrift lehrt (eine Aussage,<br />
die den <strong>Muslimen</strong> als Skandal erscheint).<br />
Somit ist die Aussage, der Koran sei nicht<br />
als von Gott gegeben anzuerkennen,<br />
nicht gleichzusetzen mit einem abwertenden<br />
Urteil über die Muslime.<br />
Kurz gesagt, wenn die <strong>Christen</strong><br />
Muhammad nicht als Propheten anerkennen,<br />
so ist dies der Treue zu ihrem<br />
Glauben <strong>und</strong> den Evangelien <strong>und</strong> Chris-<br />
tus, dem fleischgewordenen Wort Gottes,<br />
geschuldet. Ebenso, wie der Muslim, der<br />
die Göttlichkeit Christi negiert, dies<br />
nicht tut aufgr<strong>und</strong> von Feindseligkeit<br />
oder Animosität gegen die <strong>Christen</strong>, sondern<br />
aufgr<strong>und</strong> seiner Treue zu seinem<br />
Glauben <strong>und</strong> <strong>zum</strong> Koran. Natürlich ruft<br />
die spontane Reaktion eines Muslim oder<br />
eines <strong>Christen</strong> angesichts derartiger Aussagen<br />
eine gewisse Verärgerung hervor.<br />
Eine überlegtere Reaktion sollte jedoch in<br />
gegenseitiger Würdigung, Respekt <strong>und</strong><br />
Anerkennung der Verschiedenheit bestehen.<br />
3.9 Fordert der Koran die<br />
Anerkennung des Prophetentums<br />
Muhammads seitens<br />
der <strong>Christen</strong>?<br />
Zwei nahezu identische Koranverse,<br />
beide aus der Zeit von Medina, geben<br />
Antwort auf diese Frage. Der erste Text<br />
stammt aus der Sure Die Kuh (2, 62), welcher,<br />
laut den Gelehrten, der erste Text<br />
war, der Mohammed in Medina geoffenbart<br />
wurde <strong>und</strong> demnach aus dem Jahre<br />
622 stammt. Der zweite Text entstammt<br />
der Sure Der Tisch (5, 69), welcher den<br />
Experten zufolge der vorletzte der in<br />
Medina offenbarten Texte ist <strong>und</strong> aus den<br />
Jahren 631-632 stammt. Dieser Text lautet<br />
wie folgt:<br />
»Jene, die geglaubt haben, <strong>und</strong> die<br />
Juden <strong>und</strong> die Sabäer <strong>und</strong> die <strong>Christen</strong><br />
– wer an Allah glaubt <strong>und</strong> gute Werke<br />
tut –, keine Furcht soll über sie kommen,<br />
noch sollen sie traurig sein.« (5, 69)<br />
Diese beiden Texte bestehen aus drei<br />
Teilen. Der erste benennt vier religiöse<br />
Gruppierungen: Die Muslime, die Juden,<br />
die <strong>Christen</strong> <strong>und</strong> die Sabäer; der zweite<br />
definiert drei Formen der Erlösung: Der<br />
Glaube an Gott, der Glaube an das letzte<br />
Gericht <strong>und</strong> die Vollbringung guter<br />
Taten; der dritte zeigt die Folgen auf: Die<br />
Belohnung durch ihren Herrn, ohne<br />
Furcht (vor Strafe) noch Betrübnis,<br />
anders ausgedrückt, die Erlangung des<br />
Paradieses. Bemerkenswert ist, dass hier<br />
nicht verlangt wird, an Mohammed <strong>und</strong><br />
seine Eigenschaft als Prophet zu glauben.<br />
Diese klassische Interpretation dieser<br />
zwei Verse ist die einzig mögliche.<br />
Samir, Die prophetische Mission Muhammads CIBEDO-<strong>Beiträge</strong> 2/2006
4. Schlussfolgerung:<br />
Pastorale <strong>und</strong> spirituelle<br />
Überlegungen<br />
4.1 Pastorale Überlegung:<br />
Wie sollte mit einem Muslim<br />
gesprochen werden, ohne<br />
ihm mangelnden Respekt zu<br />
erweisen?<br />
Eine erste Regel des Dialogs besteht<br />
darin, diese Fragen nur anzugehen, wenn<br />
man selbst gefragt wird. Dann ist es gerechtfertigt,<br />
von Muhammad <strong>und</strong> dem<br />
Koran zu sprechen, indem zunächst alle<br />
in religiöser Hinsicht positiven Aspekte<br />
genannt werden. Diese Herangehensweise<br />
ist seit eh <strong>und</strong> je die der orientalischen<br />
<strong>Christen</strong>. Im Besonderen ist es die<br />
von Timotheus I. im Jahre 781. Er<br />
begann damit, die Punkte aufzuzählen,<br />
die ihm als Beweise dafür erschienen, dass<br />
Muhammad »den Pfad der Propheten<br />
beschritten hatte«. Es ist angemessen, mit<br />
Freude alles Schöne <strong>und</strong> Wahre im Koran<br />
hervorzuheben, wie überhaupt in jedem<br />
Buch <strong>und</strong> jeder Glaubensrichtung.<br />
Dann sollte der Christ mit dem Ziel,<br />
niemanden anzugreifen, mit Milde <strong>und</strong><br />
sogar mit Liebe darlegen, in welchen<br />
Punkten sein Glaube von dem des Muslim<br />
abweicht <strong>und</strong> ihm erklären, was es<br />
ihm unmöglich macht, Mohammed als<br />
den Gesandten Gottes <strong>und</strong> den Koran als<br />
Gottes ungeschaffenes Wort anzuerkennen.<br />
Es geht nicht darum, anzugreifen,<br />
vielmehr darum, dem eigenen Glauben<br />
treu zu bleiben. Ebenso der Muslim: in<br />
seiner eigenen Treue <strong>zum</strong> Glauben kann<br />
er nicht die Göttlichkeit Christi anerkennen,<br />
obwohl dies den <strong>Christen</strong> ebenso<br />
sehr verletzen kann. Und zwar aus drei<br />
Gründen:<br />
● Erstens ist es wichtig, den Muslim zu<br />
überzeugen, dass der Respekt <strong>und</strong> die<br />
Achtung, die man ihm entgegenbringt,<br />
unabhängig von der Tatsache sind, dass<br />
er gläubiger Muslim ist, vielmehr davon,<br />
dass er ein Mensch <strong>und</strong> somit ein<br />
Abbild Gottes ist.<br />
● Zweitens würde, ob man es will oder<br />
nicht, die Anerkennung des Propheten-<br />
CIBEDO-<strong>Beiträge</strong> 2/2006<br />
tums Muhammads, in welcher Form<br />
auch immer, dem Übertritt <strong>zum</strong> Islam<br />
gleichkommen. In der Tat besteht die<br />
shahâdah aus zwei Bezeugungen. Die<br />
erste, die die Einzigartigkeit Gottes<br />
betrifft, wird mit Chrsiten <strong>und</strong> Juden<br />
geteilt; die zweite (das Prophetentum<br />
Muhammads betreffend) ist jedoch<br />
genau das, was den Muslim charakterisiert.<br />
Es ist einfach der Kohärenz<br />
geschuldet, das man nicht zu ein <strong>und</strong><br />
derselben Zeit Christ <strong>und</strong> Muslim sein<br />
kann.<br />
● Schließlich sollte der Dialog auf der<br />
Wahrheit beruhen: Einem <strong>Christen</strong> ist<br />
es unmöglich, Muhammad als das »Siegel<br />
der Propheten« <strong>und</strong> gleichzeitig Christus<br />
als das höchste Wort Gottes an die<br />
Menschheit anzuerkennen. Kurz gesagt,<br />
der Christ kann seinen Glauben<br />
an Christus als den einzigen Retter des<br />
Menschen <strong>und</strong> als denjenigen, der den<br />
Vater in seiner Fülle offenbart, nicht in<br />
Klammern setzen. Ebenso kann der<br />
Muslim, der anerkennt, dass Christus<br />
das Wort Gottes ist, Christus nicht als<br />
das ungeschaffene <strong>und</strong> vor aller Zeit<br />
existierende Wort anerkennen …<br />
4.2. Spirituelle Überlegung:<br />
Eine dreifache Haltung von<br />
Wahrnehmung, Wahrheit<br />
<strong>und</strong> Liebe<br />
Die theologische Unterscheidung setzt<br />
voraus, dass man im Lichte Christi im<br />
Koran den Anteil des Lichts <strong>und</strong> den des<br />
Schattens ausmacht. Dies bewahrt davor,<br />
in anti-muslimischen Fanatismus oder<br />
pro-muslimische Naivität zu fallen. Ihr<br />
apostolischer Auftrag verpflichtet die<br />
<strong>Christen</strong> dazu, den <strong>Muslimen</strong> zu helfen<br />
(mit unendlicher Feinfühligkeit), ihren<br />
Glauben zu klären, um zu erkennen, was<br />
er an Anknüpfungspunkten bietet <strong>und</strong><br />
ihnen zu helfen, sich letztlich dem Evangelium<br />
öffnen zu können, dass sie bereits<br />
durch den Koran zu kennen glauben, das<br />
sie aber tatsächlich nicht kennen. Indem<br />
in ihnen der Wunsch nach einer<br />
anspruchsvolleren Spiritualität geweckt<br />
wird, eröffnet sich ihnen der Weg zu einer<br />
Begegnung mit dem Christus der Evangelien.<br />
Die Wahrheit besteht ferner in erster<br />
Linie darin, jegliche Zweideutigkeit zu<br />
vermeiden. Es gibt in der Tat einige dem<br />
Neuen Testament <strong>und</strong> dem Koran<br />
gemeinsame Ausdrücke (Wort, Geist,<br />
Messias, Diener, Prophet), die jedoch<br />
nicht die gleiche Bedeutung haben. Es ist<br />
wichtig, den tieferen Sinn dieser Ausdrücke<br />
innerhalb des islamischen Glaubens<br />
<strong>und</strong> Glaubensdenkens zu erfassen<br />
<strong>und</strong> die muslimische Mentalität zu verinnerlichen.<br />
Natürlich muss der gleiche<br />
Aufwand hinsichtlich des <strong>Christen</strong>tums<br />
betrieben werden. In anderen Worten:<br />
Der interreligiöse Dialog verpflichtet<br />
dazu, den Sinn seines eigenen Glaubens<br />
zu vertiefen <strong>und</strong> ein neues Verständnis<br />
von ihm zu gewinnen.<br />
Und schließlich die Liebe. Caritas<br />
Christi urget nos! Gottes Wille ist es, dass<br />
alle Menschen das Heil erlangen, <strong>und</strong><br />
dass jeder den Vater erkennt. Dies ist der<br />
Auftrag, den Christus seinen Jüngern mit<br />
auf den Weg gab. Der Einsatz besteht darin,<br />
ganz ohne Polemik, so weit wie nur<br />
möglich, mit den <strong>Muslimen</strong> auf dem<br />
Weg der Erkenntnis <strong>und</strong> der Suche nach<br />
Gott zu gehen. ■<br />
Samir, Die prophetische Mission Muhammads<br />
11
12<br />
Dialog in der Kritik<br />
von Ralph Ghadban<br />
Einleitung<br />
In den letzten Jahren ist der interreligiöse<br />
Dialog vermehrt in die Kritik geraten.<br />
Da ist die Rede von »multireligiöser<br />
Schummelei«, 1 »ritualisiertem Austausch<br />
von Harmlosigkeiten« 2 , »hektischem Aktionismus«<br />
3 . Auch von muslimischer Seite<br />
ist man über den Dialog mit den christlichen<br />
Kirchen tief enttäuscht. Abdulgani<br />
Karahan schreibt auf der Webseite von<br />
Milli Görüs: »Für uns als Muslime stellt<br />
sich aber auch an diesem Punkt noch einmal<br />
die Frage über den Sinn <strong>und</strong> Unsinn<br />
des expliziten Dialogs mit den Kirchen.« 4<br />
Man zweifelt an der Nützlichkeit des<br />
Dialogs <strong>und</strong> fragt nach seinem Sinn. Ob<br />
auf nationaler oder auf internationaler<br />
Ebene, seine Ergebnisse sind mehr als<br />
mager. Er hat es nicht geschafft, die Menschen<br />
näher zu bringen. Im Gegenteil, er<br />
hat die Kluft unter den Menschen vertieft.<br />
Der so genannte Dialog der Kulturen<br />
bildet die Rückseite der Medaille des<br />
Kampfes der Kulturen. Beide verzichten<br />
auf das gemeinsam Menschliche, markieren<br />
die Differenzen <strong>und</strong> bereiten auf neue<br />
Konflikte vor.<br />
Das erklärt auch, warum das so<br />
genannte »Weltethosprojekt« nicht an Bedeutung<br />
gewinnen kann. Das Projekt<br />
bewegt sich nämlich in demselben kulturalistischen<br />
Rahmen. Hans Küng<br />
schreibt: »Es wird keinen Frieden <strong>zwischen</strong><br />
den Zivilisationen geben ohne einen Frie-<br />
Ghadban, Dialog in der Kritik<br />
den unter den Religionen! Und es wird keinen<br />
Frieden unter den Religionen geben<br />
ohne einen Dialog <strong>zwischen</strong> den Religionen!«<br />
5 Die Absicht des Projektes, ein<br />
Weltethos über die Deklaration der Menschenrechte<br />
hinaus als Gr<strong>und</strong>lage einer<br />
Weltgesellschaft zu etablieren, ist fehlgeschlagen.<br />
Selbst der Religionswissenschaftler<br />
Friedrich Wilhelm Graf, ansonsten<br />
ein entschiedener Gegner von Huntingtons<br />
Antagonismus der Zivilisationen,<br />
empfiehlt, »von allzu harmonistischen<br />
Bildern der Weltgesellschaft Abschied zu<br />
nehmen«. Gegenüber den »Konstrukteuren<br />
eines Weltethos« habe Huntington<br />
Recht, wenn er die f<strong>und</strong>amentale Verschiedenheit<br />
der Kulturen betone, meint<br />
er. 6 Der Kulturbegriff ist zweischneidig, er<br />
kann Verständigung, aber genauso Antagonismen<br />
rechtfertigen. In allen Fällen<br />
unterstreicht er die Trennung.<br />
In Europa kann man die Situation des<br />
Dialogs stark verkürzt folgenderweise<br />
kennzeichnen:<br />
Auf muslimischer Seite besteht das<br />
dringende Bedürfnis, die eigene Religion<br />
bekannt zu machen, nicht zuletzt, weil in<br />
den letzten beiden Jahrzehnten immer<br />
mehr Muslime eine islamische Identität<br />
entwickelten. Man will auch die angeblich<br />
wachsende Islamophobie bekämpfen<br />
<strong>und</strong> die Vorurteile aufklären. Dafür<br />
bedient man sich nicht nur des Dialoges,<br />
sondern auch anderer Mitteln wie des<br />
Tages der offenen Moschee, Aufklärungs-<br />
projekten an den Schulen, der Fortbildung<br />
für Staatsdiener <strong>und</strong> Sozialarbeiter<br />
usw. Auf diese Weise wird der Dialog<br />
überlagert. Auf ihrem letzten Treffen in<br />
Graz am 15. Juni 2003, haben die Leiter<br />
islamischer Zentren <strong>und</strong> Imame in Europa<br />
gefordert, dass die Aufklärung über<br />
den Islam staatlich institutionalisiert<br />
wird. 7 Das würde dem Dialog sein Ende<br />
bereiten, es bliebe nur die Aufklärung<br />
über den Islam. Umgekehrt wird keine<br />
Aufklärung der Muslime über das <strong>Christen</strong>tum<br />
erwogen, so dass wir es schließlich<br />
mit einer islamischen Missionierung<br />
unter Mitwirkung des Staates zu tun<br />
haben werden. In der Grazer Erklärung<br />
heißt es: »Muslime sind hierbei aufgerufen<br />
ihre Dau’apflicht so zu verstehen, dass sie zu<br />
Information aufgerufen sind«.<br />
Auf christlicher Seite liefert der Theologe<br />
Hans-Christoph Goßman eine<br />
Zusammenfassung der christlichen Vorstellungen.<br />
8 Das Ziel des interreligiösen<br />
Dialogs ist das Zusammenleben im Alltag<br />
vor Ort miteinander <strong>und</strong> nicht nebeneinander.<br />
Das wird durch das gegenseitige<br />
Kennenlernen der Kulte, Riten <strong>und</strong><br />
Glaubensinhalte realisiert <strong>und</strong> führt zur<br />
Wahrnehmung sowohl der Gemeinsamkeiten,<br />
als auch der Unterschiede beider<br />
Religionen. Dieses Vorgehen hilft den<br />
Teilnehmern ihre eigene Religion besser<br />
zu verstehen <strong>und</strong> ihre eigene religiöse<br />
Identität weiterzuentwickeln. Dadurch<br />
entsteht ein gegenseitiges Vertrauen, das<br />
die Akzeptanz der Andersartigkeit er-<br />
1 Bölsche, Jochen, Der verlogene Dialog, Der Spiegel Nr. 51/17.12.2001<br />
2 Jakobs, Andreas, Dialogue en Vogue – Vom Sinn <strong>und</strong> Unsinn des Dialogs mit dem Islam. Hrsg. Konrad-Adenauer-Stiftung, Islam-Brief Nr. 3 (1/2003)<br />
3 Kandel, Johannes, »Lieber blauäugig als blind?« Anmerkungen <strong>zum</strong> »Dialog« mit dem Islam. Hrsg. Friedrich-Ebert-Stiftung, 2003<br />
4 Karahan, Abdulgani E., Wozu Dialog, wenn nur eine Seite spricht, die andere aber nicht zuhört – Muslime sind von christlichen Kirchen enttäuscht. www.igmg.de, 14.12.2003<br />
5 Küng, Hans, Weltethos für Weltpolitik <strong>und</strong> Weltwirtschaft, München 1998, S. 131<br />
6 Schwilk, Heimo, Nur ein religiöses Amerika kann dem Islam widerstehen. Bestsellerautor Samuel Huntington ruft seine Landsleute auf, die Identität der USA zu verteidigen. Die Welt am<br />
Sonntag, 5. September 2004<br />
7 Grazer Erklärung der Konferenz »Leiter islamischer Zentren <strong>und</strong> Imame in Europa« am 15. Juni 2003<br />
8 Goßmann, Hans-Christoph, Das Verständnis des christlich-islamischen Dialoges aus christlicher Sicht. In: Dunia. Die islamische Hochschulzeitschrift, Nr. 2, 1999, S. 53-54<br />
CIBEDO-<strong>Beiträge</strong> 2/2006
laubt, eine Gr<strong>und</strong>bedingung für das Miteinander<br />
anstatt Nebeneinander.<br />
Diese Skizze der Positionen der Dialogpartner<br />
reflektiert den Reichtum des<br />
Dialogs auf keinen Fall, deutet trotzdem<br />
auf schwere Mängel hin, von denen ich<br />
hier drei erwähnen möchte: Erstens die<br />
Glaubwürdigkeit <strong>und</strong> Zuverlässigkeit des<br />
Dialogs, zweitens die theologische Klärung<br />
der Beziehungen <strong>und</strong> drittens das<br />
Zusammenleben in einem Gemeinwesen.<br />
1. Glaubwürdigkeit <strong>und</strong><br />
Zuverlässigkeit<br />
Am 20. Februar 2002 veröffentlichte<br />
der Zentralrat der Muslime in Deutschland<br />
unter dem Titel »Islamische Charta«<br />
eine Gr<strong>und</strong>satzerklärung zur Beziehung<br />
der Muslime <strong>zum</strong> Staat <strong>und</strong> zur Gesellschaft.<br />
Sie sollte eine Antwort auf den 11.<br />
September sein <strong>und</strong> wurde im Allgemeinen<br />
eher positiv aufgenommen. Das war<br />
ein guter Anfang, dachte man <strong>und</strong> wartete<br />
mit Spannung auf die versprochene<br />
Begründung. Man wartet immer noch.<br />
Die Zweifler scheinen Recht zu behalten,<br />
es war offensichtlich ein Ablenkungsmanöver,<br />
um den Zorn der Menschen nach<br />
dem 11. September aufzufangen <strong>und</strong> es<br />
wird wahrscheinlich keine Begründung<br />
geben. Der Vorsitzende des Zentralrates<br />
mag in diesem Misstrauen ein Zeichen<br />
der Islamfeindlichkeit sehen, das ändert<br />
nichts daran, dass er verpflichtet ist, der<br />
Öffentlichkeit die Unstimmigkeiten der<br />
Charta zu erklären.<br />
Trotz massiver Öffentlichkeitsarbeit<br />
des Zentralrates während der letzten Jahre<br />
wurde in dieser Hinsicht keine Klarheit<br />
geschaffen. Im Gegenteil, das Misstrauen<br />
ist gewachsen. Nach wie vor möchte man<br />
z.B. wissen, warum klare Bestimmungen<br />
im Koran bezüglich Ehe- <strong>und</strong> Erbrecht<br />
aufgegeben werden <strong>und</strong> Forderungen, die<br />
nirgends in der Religion begründet sind,<br />
wie der »lautsprecherverstärkte Gebetsruf«<br />
auf dem Forderungsprogramm stehen.<br />
Warum sind Aufenthaltsgenehmigung<br />
<strong>und</strong> Einbürgerung Verträge? Was ist mit<br />
»klerikalem Gottesstaat«, mit »Kernbestand<br />
der Menschenrechtserklärung«, mit<br />
der »ges<strong>und</strong>en Lebensweise«, mit der<br />
Ablehnung der »Süchtigkeit«, mit der<br />
»islamischen Identität«, mit der »würdigen<br />
islamischen Lebensweise« usw. gemeint?<br />
Warum wird entgegen der Sunna das<br />
Recht auf Religionswechsel oder gar keine<br />
Religion zu haben akzeptiert?<br />
Die plakative Aufstellung von Positionen<br />
ohne ihre Begründung kann nicht<br />
überzeugen, insbesondere nicht, wenn<br />
man weiß, dass es für sie in einem demokratischen<br />
Rechtsstaat keine Alternative<br />
gibt. Sie ist unglaubwürdig. Daher die<br />
Forderung u.a. von Bischof Huber nach<br />
dem Massaker von Beslan nach einer klaren<br />
Distanzierung der Muslime in<br />
Deutschland vom Terror, wie es auf beeindruckende<br />
Weise in Frankreich geschehen<br />
ist. Dr. Nadeem Elyas, der damalige<br />
Vorsitzende des ZMD, hat beleidigt<br />
reagiert, weil die Muslime wieder das<br />
Opfer der Islamophobie wurden, wie er<br />
meint. 9 Nicht weniger verstimmt waren<br />
die Reaktionen des Generalsekretärs der<br />
IGMG, Oguz Ücüncü, <strong>und</strong> des Vorsitzenden<br />
des Islamrats, Ali Kizilkaya. 10 Alle<br />
greifen Bischof Huber an <strong>und</strong> überhören<br />
die anderen ähnlichen Stimmen, zu denen<br />
die des B<strong>und</strong>espräsidenten gehört. 11<br />
Dr. Elyas verkennt die Zeichen der<br />
Zeit: Er kann nicht mehr die Öffentlichkeit<br />
mit formellen Distanzierungen vom<br />
islamistischen Terror abspeisen. Er erhöht<br />
bestimmt nicht seine Glaubwürdigkeit,<br />
wenn er von »sogenannten islamistischen<br />
Terroristen« redet. 12 Er muss, wie übrigens<br />
alle Akteure im öffentlichen Leben, die<br />
Öffentlichkeit überzeugen. Dass das<br />
möglich ist, haben die französischen<br />
Muslime bewiesen.<br />
Beunruhigend für die Öffentlichkeit<br />
ist die Tatsache, dass die Imame, die auf<br />
die Muslime in Europa einen großen Einfluss<br />
ausüben, wie Qaradawi, der Vorsitzende<br />
des europäischen Fiqhrates <strong>und</strong><br />
sein Stellvertreter, Scheich Faisal Mawla-<br />
wi, unverhüllt für den Djihad, für die<br />
Selbstmordattentate, für die Tötung von<br />
israelischen <strong>und</strong> amerikanischen Zivilisten<br />
mit ihren Fatwas werben. 13 Die<br />
Unglaubwürdigkeit wird größer, wenn<br />
dieselbe Person widersprüchliche Fatwas<br />
erlässt: Qaradawi hat z.B. die Muslime<br />
<strong>zum</strong> Kampf auf der Seite der Taliban aufgerufen<br />
<strong>und</strong> den US-<strong>Muslimen</strong> den<br />
Kampf in der amerikanischen Armee verboten,<br />
später doch erlaubt. Das wurde als<br />
opportunistisch <strong>und</strong> verlogen betrachtet.<br />
Ein Maß an Opportunismus ist ohne<br />
Zweifeln vorhanden. Was uns aber nur<br />
opportunistisch erscheint, ist auch eine<br />
konsequente islamische Fiqh-Position,<br />
die nicht ernst genug genommen wird.<br />
In seinem Buch »Die Faktoren der Großzügigkeit<br />
<strong>und</strong> der Flexibilität in der islamischen<br />
Scharia« 14 erklärt Qaradawi, dass<br />
die Schariatexte ein weites Feld nicht<br />
regeln <strong>und</strong> den Religionsgelehrten überlassen,<br />
damit sie ausgehend von der<br />
Intention der Scharia, die der Zeit adäquaten<br />
Lösungen finden. Ausgehend<br />
vom Prinzip der Erleichterung des<br />
Lebens ( ) bedienen<br />
sich die Fatwas des Mittels des Qiyas, des<br />
Istihsan, <strong>und</strong> des Istislah um den herrschenden<br />
Gewohnheitsrecht, aber vor<br />
allem das Interesse, Maslaha, der Muslime<br />
zu berücksichtigen. Maslaha definiert<br />
al-Ghazali folgenderweise: »Mit Maslaha<br />
meinen wir die Bewahrung der Intention<br />
der Scharia. Die Intention der Scharia<br />
bezüglich des Menschen besteht aus fünf<br />
Prinzipien: Die Bewahrung ihrer Religion,<br />
ihr Leben, ihr Verstand, ihre Nachkommenschaft<br />
<strong>und</strong> ihr Eigentum. Alles, was<br />
diesen fünf Prinzipien dient, ist Maslaha<br />
<strong>und</strong> alles, was diesen Prinzipien widerspricht<br />
ist Verdorbenheit [Mafsada] <strong>und</strong><br />
seine Abwehr ist Maslaha.« 15 Daher ist es<br />
im Einzelnen möglich im Namen der<br />
Notwendigkeit, Darura, klare Schariavorschriften<br />
außer Kraft zu setzen, um<br />
die Maslaha, das Allgemeinwohl der<br />
muslimischen Gemeinde, zu bewahren:<br />
Die Notwendigkeiten setzen die Verbote<br />
außer Kraft ( ).<br />
Da die Absicht der Amerikaner, Krieg<br />
gegen die Taliban zu führen, klar wurde,<br />
9 Schäuble: Muslime sollten sich von Terror distanzieren, FAZ 8.09.2004. Mike Schier <strong>und</strong> Lennart Herberhold, Auch katholische Kirche kritisiert Muslime, Merkur Online, 9.09.2004<br />
10 www.igmg.de, 10.09.2004: Bischof Huber kritisiert muslimische Verbände<br />
11 Frankfurter R<strong>und</strong>schau 11.09.2004<br />
12 Lau, Jörg, Unverhüllte Patrioten. DIE ZEIT 09.09.2004 Nr.38<br />
13 Al-Fahd, Maschari, Die Haltung der religiösen Autoritäten <strong>zum</strong> dritten Golfkrieg, Asharq al-Awsat 19.04.2003. Siehe auch, Julia Gerlach, Globalisierung auf Islamisch. Scheich<br />
al-Qaradawi hält Selbstmordattentate für legitim. Die Zeit 37/2002<br />
14 Al-Qaradawi, Yusuf, ‘Awamel as-si’a wal-muruna fil-scharia al-islamiya. Kairo 1999, S. 9-34. Siehe auch für die erwähnten Begriffe die EI<br />
15 Al-Ghazali, Al-mustasfa min ‘ilm al-usul, Kapitel: Adillat al-ahkam. Für die verschiedenen Begriffe siehe die Enzyklopädie des Islam<br />
CIBEDO-<strong>Beiträge</strong> 2/2006<br />
Ghadban, Dialog in der Kritik<br />
13
14<br />
lag es nicht mehr im Interesse der amerikanischen<br />
Muslime, sich zu verweigern.<br />
Im Dialog muss gerade dieser Punkt<br />
der Maslaha in seiner rechtlichen <strong>und</strong><br />
theologischen Dimension diskutiert werden.<br />
Wie vereinbaren die Muslime die<br />
Vorrangigkeit der Interessen der islamischen<br />
Umma mit ihrer Zugehörigkeit zu<br />
einem deutschen Gemeinwesen? Die<br />
Schwierigkeit dabei besteht darin, dass<br />
die Muslime sich weigern, solche Diskussionen<br />
zu führen. Ausdrücklich warnt<br />
Qaradawi davor, theologische Fragen zu<br />
behandeln. Das bleibt allein Sache der<br />
Gelehrten. 16<br />
Eine weitere Schwierigkeit des Dialogs<br />
bildet die Zuverlässigkeit der Aussagen.<br />
Es gibt keine verbindliche Autorität in<br />
der Lehre, <strong>und</strong> die Salman Rushdie-Fatwa<br />
soll damals die Meinung Khomeinis<br />
reflektiert haben <strong>und</strong> nicht des Islam,<br />
wurde behauptet. Die Gefahr für Rushdie<br />
wurde dadurch nicht geringer. Das Fehlen<br />
dieser Autorität wirkt eher beunruhigend<br />
<strong>und</strong> nicht entschuldigend. Dass es<br />
keine Kirche im Islam gibt, verbietet<br />
nicht die Errichtung von zuverlässigen<br />
institutionalisierten Referenzen. Seit Jahren<br />
verlangt Scheich Hassan Fadlallah<br />
eine obere Autorität für die Muslime ähnlich<br />
dem Papst bei den Katholiken. Qaradawi<br />
hat zuletzt endlich seinen Traum<br />
realisiert <strong>und</strong> die »Union der islamischen<br />
Gelehrten« in Dublin gegründet. 17<br />
Auf christlicher Seite entstehen<br />
manchmal Unklarheiten, die auch unter<br />
der Rubrik Glaubwürdigkeit einzuordnen<br />
wären. Das geschieht, wenn christliche<br />
Dialogpartner angeben, dass sie an<br />
die Gottheit Christi nicht glauben, wie es<br />
der Geschäftsführer der »Stiftung Weltethos«<br />
in Berlin Martin Bauschke in seinem<br />
Buch »Jesus im Koran« tut. Er<br />
schreibt: »Mehrheiten oder Minderheiten<br />
sagen noch nichts aus über den Wahrheitsgehalt<br />
einer Glaubensüberzeugung. In<br />
jedem Fall ist es nicht so – <strong>und</strong> das sei auch<br />
den muslimischen Lesern <strong>und</strong> Leserinnen<br />
dieser Zeilen gesagt –, dass das <strong>Christen</strong>tum<br />
immer <strong>und</strong> überall eine Göttlichkeit Jesu<br />
vertreten hat.« 18 Manche Strömungen<br />
unter den Protestanten glauben nicht an<br />
die Gottheit Christi. Das ist aber nicht<br />
die herrschende Meinung in der evangelischen<br />
Kirche <strong>und</strong> überhaupt nicht die<br />
der Katholiken sowie des Restes der <strong>Christen</strong>heit<br />
in der Welt. Sie ist auch nicht die<br />
Meinung der Muslime. Der Gelehrte Ibn<br />
Qaim al-Jawzia, der das Standardwerk<br />
über das Recht der Schutzbefohlenen,<br />
d.h. <strong>Christen</strong> <strong>und</strong> Juden im Islam, verfasst<br />
hat, schreibt: »Alle <strong>Christen</strong>, vom<br />
Ersten bis <strong>zum</strong> Letzten, glauben an die<br />
Gottheit Christi.« 19 Das war im 14. Jh.<br />
<strong>und</strong> gilt noch in unserer Zeit. Mohammad<br />
Salim Abdullah schreibt 1995: »Viele<br />
Deutsche, die das Dogma der Trinität<br />
ablehnen, während sie an Monotheismus<br />
<strong>und</strong> christliche Ethik glauben, werden staunen,<br />
würden sie erfahren, wie klein der<br />
Abstand, der sie vom Islam trennt, ist.« 20<br />
Das sagt schon viel über diese Art von<br />
Dialog, der keiner ist, weil die angeblichen<br />
<strong>Christen</strong> im Gr<strong>und</strong>e genommen<br />
islamische Positionen vertreten.<br />
2. Theologische Klärung<br />
Trotz vierzehn Jahrh<strong>und</strong>erte islamischer<br />
Herrschaft haben die orientalischen<br />
<strong>Christen</strong> den Islam nicht anerkannt. In<br />
den modernen Zeiten haben der Kolonialismus<br />
<strong>und</strong> die christliche Mission, die<br />
eine Nichtanerkennung <strong>und</strong> oft eine<br />
Missachtung des Islam voraussetzten, der<br />
Sehnsucht der Muslime nach Anerkennung<br />
Aufschub gegeben. 21 Der Dialog<br />
erfüllt daher diese Sehnsucht. Die Theologin<br />
Jutta Sperber schreibt: »Das Dialogangebot<br />
der <strong>Christen</strong> wurde umgehend als<br />
theologische Anerkennung des Islam gewertet.<br />
Pendant dazu war die Bewertung der<br />
Mission als theologischer Angriff auf den<br />
Islam.« 22 Um den Dialog mit den <strong>Muslimen</strong><br />
zu ermöglichen, haben die <strong>Christen</strong><br />
eine lange feindliche Tradition überwinden<br />
müssen <strong>und</strong> vor allem eine gr<strong>und</strong>legende<br />
theologische Arbeit geleistet. Es<br />
gibt in<strong>zwischen</strong> eine etablierte »Theologie<br />
des Dialogs« <strong>und</strong> eine »pluralistische Religions-Theologie«.<br />
Einen Wendepunkt stellt Vatikan II<br />
dar: »Die katholische Kirche lehnt nichts<br />
von alledem ab, was in diesen Religionen<br />
wahr <strong>und</strong> heilig ist.« Deshalb hat das Konzil<br />
den Absolutheitsanspruch der katholischen<br />
Kirche insoweit relativiert, als es die<br />
Heilsmöglichkeit für Nichtchristen anerkennt,<br />
besonders für Muslime 23 <strong>und</strong> sogar<br />
für Atheisten, die auf nur Gott bekannten<br />
Wegen das Heil erlangen, wenn sie z.B.<br />
ihrem Gewissen folgen. 24 Die Muslime<br />
können als Individuen ihr Heil erlangen,<br />
die Funktion der islamischen Religion,<br />
das Heil zu vermitteln, ist unter katholischen<br />
Theologen aber umstritten. 25 Der<br />
Gr<strong>und</strong> ist, dass das Konzil sich diesbezüglich<br />
nicht eindeutig äußert. 26 Gemeinsam<br />
ist die Annahme, dass der Heilige Geist<br />
seit der Ankunft Jesu bei allen Menschen<br />
wirkt <strong>und</strong> daher der Heilsweg für alle<br />
Menschen offen ist. Umstritten ist die<br />
Annahme, ob die anderen Religionen<br />
einen selbständigen Heilsweg, der letztendlich<br />
zu Jesus führen kann, anbieten<br />
oder eine unvollkommene Lösung darstellen.<br />
In allen Fällen schreibt Vatikan II<br />
vor: »Unablässig aber verkündet sie [die<br />
katholische Kirche] <strong>und</strong> muss sie verkündigen<br />
Christus, der ist der Weg, die Wahrheit<br />
<strong>und</strong> das Leben, in dem die Menschen die<br />
16 Al-Qaradawi, Yusuf, Al-fatwa bayn al-indibat wat-tasaiyub. Beirut 1995, S. 113-115<br />
17 Al-Sharq al-Awsat, 2.07.2004<br />
18 Bauschke, Martin, Jesus im Koran, Köln 2001, S. 148<br />
19 Ibn Qaim al-Jusiya, Kitab hidayat al-hayara fil raddi ‘ala al-yahud wal-nasara, Kapitel 11<br />
20 Abdullah, M. salim, Muslims in Germany, in: Abedin, Syed Z. <strong>und</strong> Sardar, Ziauddin, Muslim Minorities in the West, London 1995, S. 77<br />
21 Für eine islamische Sicht des Dialogs siehe die <strong>Beiträge</strong> von Mohammad Hussein Fadlallah, Redwan al-Sayed, Fehmi Huweidi in: Die Christlich-Islamischen Beziehungen in Vergangenheit,<br />
Gegenwart <strong>und</strong> Zukunft, Hrsg. Talal Atrisi, Das Zentrum für strategische Forschung <strong>und</strong> Dokumentation, Beirut1994<br />
22 Sperber, Jutta, Dialog mit dem Islam. Göttingen 1999, S. 35<br />
23 »Der Heilswille Gottes umfasst auch die, welche den Schöpfer anerkennen, unter ihnen besonders die Muslime, die sich <strong>zum</strong> Glauben Abrahams bekennen <strong>und</strong> mit uns den Einen Gott<br />
anbeten, den Barmherzigen, der die Menschen am jüngsten Tag richten wird.« Vatkan II, zitiert in: Christian W. Troll SJ, Der Islam im Verständnis der Katholischen Theologie. Überblick<br />
<strong>und</strong> neuere Ansätze, CIBEDO 13, 1999 Nr. 3, S. 92-100<br />
24 Pressemitteilung der Deutschen Bischofskonferenz vom 27.09.2002, Das <strong>Christen</strong>tum – Eine Religion unter anderen? Zum interreligiösen Dialog aus katholischer Perspektive. S. 5<br />
25 Dazu Aoun, Muschir Baschir, Die theologischen Gr<strong>und</strong>lagen für einen christlich-islamischen Dialog. Das Institut für islamische <strong>und</strong> christliche Studien an der Universität St Joseph Beirut,<br />
Beirut 2003, insbesondere S. 159 ff<br />
26 »Das Konzil habe jedoch in Bezug auf den Islam eine theologisch entscheidende Frage offen gelassen: Können gläubige <strong>Christen</strong> Muhammad wirklich ein prophetisches Charisma<br />
zuerkennen?«, Christian W. Troll SJ, ibid.<br />
27 Pressemitteilung, ibid., S. 8<br />
Ghadban, Dialog in der Kritik CIBEDO-<strong>Beiträge</strong> 2/2006
Fülle des religiösen Lebens finden, in dem<br />
Gott alles mit sich versöhnt hat.« 27<br />
Damit stellt sich die Frage der Legitimität<br />
der Mission <strong>und</strong> ihrer Vereinbarkeit<br />
mit dem Dialog. 28 Von einem christlichen<br />
Standpunkt aus ist die Bezeugung<br />
der eigenen Religion eine legitime<br />
Pflicht. Das widerspricht nicht der Anerkennung<br />
eines Wahrheitsgehalts bei<br />
anderen Religionen, im Gegenteil, diese<br />
Anerkennung bildet die Voraussetzung<br />
für einen gelungenen Dialog. 29 Diese<br />
Voraussetzung fehlt bei den <strong>Muslimen</strong>,<br />
die von ihrem Absolutheitsanspruch keinen<br />
Millimeter abgewichen sind <strong>und</strong><br />
daher eine wirkliche Akzeptanz anderer<br />
Religionen bis heute nicht kennen. Zu<br />
dieser Problematik fällt ihnen nur das<br />
Thema der Schutzbefohlenen ein, <strong>und</strong><br />
wie diese vom Islam toleriert wurden. Ein<br />
deutscher Konvertit, Murad Hofmann,<br />
von dem man die Einhaltung der Regeln<br />
eines wissenschaftlichen Diskurses erwartet,<br />
denkt nicht anders als die Islamisten<br />
<strong>und</strong> erklärt in einem Interview: »Es ist<br />
daher essentiell, dass die hiesigen Muslime<br />
ihre Umwelt davon unterrichten, dass das<br />
islamische Minderheitenrecht das liberalste<br />
Statut für Andersgläubige ist, das die Welt<br />
bis heute gesehen oder normiert hat.« 30<br />
Hofmann liegt nicht nur hinter dem<br />
europäischen Standard, sondern auch<br />
hinter dem Standard aller Muslime, die<br />
ernsthaft versuchen, die Frage des Zusammenlebens<br />
anzugehen, <strong>und</strong> die dabei<br />
die Notwendigkeit der Behandlung<br />
gr<strong>und</strong>legender theologischer Fragen hinter<br />
der juristischen Fassade entdecken.<br />
Der Dialogbeauftragte der Schiiten im<br />
Libanon, Seoud al-Mawla, schreibt bezüglich<br />
der Rahmenbedingungen des<br />
Dialogs: »Zuerst gibt es eine muslimische<br />
Zurückhaltung, was einen Dialog über<br />
Theologie <strong>und</strong> ‘ilm al-kalam [islamische<br />
Theologie] betrifft. Dieser Dialog ist<br />
erwünscht <strong>und</strong> notwendig«. 31 Ähnliches<br />
stellen die Katholiken fest, wenn sie<br />
CIBEDO-<strong>Beiträge</strong> 2/2006<br />
schreiben: »Eine Bilanz der Kolloquien<br />
<strong>zwischen</strong> <strong>Christen</strong> <strong>und</strong> <strong>Muslimen</strong> während<br />
der vergangenen Jahrzehnte zeigt, dass der<br />
Dialog auf der Ebene der Theologie im<br />
engeren Sinn des Wortes äußerst schwierig<br />
bleibt.« 32<br />
Nach wie vor betrachten die Muslime<br />
<strong>Christen</strong> <strong>und</strong> Juden als Inhaber einer falschen<br />
Religion <strong>und</strong> nicht einer anderen<br />
Religion, weiter ignorieren sie alle nicht<br />
monotheistischen Religionen. Die Juden<br />
haben die Offenbarung verraten <strong>und</strong> die<br />
<strong>Christen</strong> haben sie falsch verstanden. Das<br />
wiederholen die Muslime bis heute, wenn<br />
sie beim Beten die Fatiha rezitieren, in der<br />
es heißt: »6 Führe uns den geraden Weg, 7<br />
den Weg derer, denen du Gnade erwiesen<br />
hast, nicht (den Weg) derer, die d(ein)em<br />
Zorn verfallen sind <strong>und</strong> irregehen!« (1:6-<br />
7) 33 Dem Zorn verfallen sind die Juden<br />
<strong>und</strong> irregegangen sind die <strong>Christen</strong>,<br />
erklären die muslimischen Korankommentatoren.<br />
34 Wer seinen Dialogpartner<br />
so betrachtet, kann dessen Religion nicht<br />
respektieren <strong>und</strong> ernst nehmen. Daher<br />
bildet die Information <strong>und</strong> Aufklärung<br />
über den Islam den Kern der islamischen<br />
Mission, Da’wa. Die <strong>Christen</strong> wollen die<br />
Universalität der Liebe Gottes, wie sie in<br />
Jesus Christus offenbar geworden ist,<br />
bezeugen. Sie ist allen Menschen zugewandt<br />
<strong>und</strong> bei allen Menschen wirksam.<br />
35 Tariq Ramadan hat auf den Begriff<br />
Da’wa verzichtet <strong>und</strong> redet auch in<strong>zwischen</strong><br />
von Bezeugung, shahada. Der<br />
Westen ist nicht mehr dar al-da’wa, sondern<br />
dar al-shahada. 36 Die Übernahme<br />
christlicher Terminologie soll aber nicht<br />
darüber täuschen, dass die islamischen<br />
Inhalte gleich geblieben sind. Nicht<br />
zuletzt wegen dieser Doppeldeutigkeit ist<br />
Ramadan so umstritten.<br />
Ein zweiter Punkt, der dringend<br />
geklärt werden muss, ist die widersprüchliche<br />
Einschätzung der <strong>Christen</strong> <strong>und</strong><br />
Juden im Koran. Einmal sind sie Fre<strong>und</strong>e,<br />
das andere Mal Feinde. So können<br />
sich sowohl die friedfertigen Muslime als<br />
auch die Terroristen auf den Koran beziehen.<br />
Der Koran bestätigt das <strong>Christen</strong>tum<br />
<strong>und</strong> das Judentum: »92 Und dies<br />
(d.h. die koranische Offenbarung) ist eine<br />
von uns hinabgesandte, gesegnete Schrift,<br />
die bestätigt, was (an Offenbarung) vor ihr<br />
da war.« (6:92). Dann geht er respektvoll<br />
auf Distanz zu ihnen: »46 Und streitet mit<br />
den Leuten der Schrift nie anders als auf<br />
eine möglichst gute Art – mit Ausnahme<br />
derer von ihnen, die Frevler sind! Und sagt:<br />
‘Wir glauben an das, was (als Offenbarung)<br />
zu uns, <strong>und</strong> was zu euch herabgesandt<br />
worden ist. Unser <strong>und</strong> euer Gott ist<br />
einer. Ihm sind wir ergeben.« (29:46). In<br />
Medina wird der Ton härter: »70 Ihr Leute<br />
der Schrift! Warum glaubt ihr nicht an<br />
die Zeichen Gottes, wo ihr doch (selber)<br />
Zeugen (der göttlichen Wahrheit) seid? 71<br />
Ihr Leute der Schrift! Warum verdunkelt<br />
ihr die Wahrheit mit Lug <strong>und</strong> Trug, <strong>und</strong><br />
verheimlicht sie, wo ihr doch (um sie)<br />
wißt?« (3:70-71). Sie sollen die Schrift<br />
verfälscht haben: »79 Aber wehe denen,<br />
die die Schrift mit ihrer Hand schreiben<br />
<strong>und</strong> dann sagen: ‘Das stammt von Gott’,<br />
um sie zu verschachern« (2:79) <strong>und</strong> haben<br />
den Koran abgelehnt, deshalb: »...Gottes<br />
Fluch komme über die Ungläubigen«<br />
(2:89). Sie werden im Feuer der Hölle<br />
sein <strong>und</strong> (ewig) darin weilen (98:6). Endlich<br />
wird in 9:30 mit Juden <strong>und</strong> <strong>Christen</strong><br />
abgerechnet; dort heißt es: »Gott bekämpfe<br />
sie«. Der gemeinsame Gott der mekkanischen<br />
Periode ist der Gott allein der<br />
Muslime geworden.<br />
Nicht nur diese Widersprüchlichkeiten,<br />
sondern viele andere müssen geklärt<br />
werden: Warum glaubt der Koran an<br />
Moses <strong>und</strong> Jesus, an Thora <strong>und</strong> Evangelium<br />
genau wie die Juden <strong>und</strong> <strong>Christen</strong>? 37<br />
Warum wird im Koran die judeo-christliche<br />
Kennzeichnung Nasara <strong>und</strong> nie der<br />
Begriff <strong>Christen</strong> verwendet, trotz der Tatsache,<br />
dass das <strong>Christen</strong>tum seit Jahrh<strong>und</strong>erten<br />
überall verbreitet war? Außerdem:<br />
Inwieweit ist der koranische Text zuver-<br />
28 Vgl. Christian W. Troll SJ, Christlich-islamischer Dialog. Zwischen Mission <strong>und</strong> Ökumene In: Zeitschrift für Missionswissenschaft <strong>und</strong> Religionswissenschaft. 87 (2003), S.218-226. Der<br />
Autor spricht von einem »Verhaltenskodex«: Kein Zwang in Glaubensfragen, Garantie des religiösen Pluralismus, Anerkennung der Menschenrechte <strong>und</strong> Hilfe für die Schwachen<br />
29 Vgl. Christian W. Troll SJ, »Prüfet alles!« Der Dienst der Unterscheidung als unabdingbares Element dialogischer Beziehungen von <strong>Christen</strong> <strong>und</strong> <strong>Muslimen</strong> in: H. Schmid/ A. Renz/<br />
J. Sperber (Hrsg.), Herausforderung Islam. Anfragen an das christliche Selbstverständnis. Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart, 2003, S. 69-82.<br />
30 Interview mit Murad Hofman, Islam.de, Montag, 30.08.2004<br />
31 Al-Mawla, Seoud, Der islamisch-christlichen Dialog. Das notwendige Abenteuer, Beirut 1996, S. 41<br />
32 Sekretariat der deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), <strong>Christen</strong> <strong>und</strong> Muslime in Deutschland. Arbeitshilfen 172, Bonn 2003, S. 159<br />
33 Übersetzung von Rudi Paret<br />
34 U.a. at-Tabari, Jami’ al-bayan fi ta’wil al-quran, Teil I Sure al-fatiha Nr. 163-181<br />
35 Arbeitshilfe 172, S. 110<br />
36 Ramadan, Tariq, Western Muslims and the Future of Islam. Oxford 2004, S. 63-77<br />
37 In seinem neuen Buch »Der Islam. Geschichte, Gegenwart, Zukunft«, München 2004, spricht Hans Küng das Thema an, dazu Südtirol Online: Aufbruch im Islam? Küng sieht Herrschaft<br />
der Mullahs wanken, 13.09.2004<br />
Ghadban, Dialog in der Kritik<br />
15
16<br />
lässig? Die Muslime glauben, dass der<br />
Koran, den sie lesen, mit dem Koran von<br />
Osman identisch ist. Von dem letzten<br />
aber existiert keine Spur. Die Offenbarungszeit<br />
war sehr lange, nämlich 23 Jahre.<br />
Die muslimischen Gelehrten selber<br />
haben verschiedene Wissenschaften entwickelt,<br />
nicht zuletzt, die von asbab annuzul<br />
(die Umstände der Offenbarung),<br />
um den Text in seinem historischen Kontext<br />
zu verstehen. Noch im 13. Jh. war die<br />
Aufteilung <strong>zwischen</strong> mekkanischen <strong>und</strong><br />
medinesischen Suren nicht endgültig<br />
festgelegt. Im goldenen Koran der Großmoschee<br />
von Sanaa wird die Sure »Die<br />
Kuh« als mekkanisch eingetragen.<br />
Eine historisch-kritische Untersuchung<br />
des Koran ist unerlässlich für eine<br />
theologische Arbeit, weil der Koran von<br />
den <strong>Muslimen</strong> beinah vergöttlicht wird.<br />
Annemarie Schimmel spricht deswegen<br />
von Inlibration, das entspricht der Inkarnation<br />
bei den <strong>Christen</strong>. 38 Die Koranforschung<br />
der letzten zwanzig Jahre hat riesige<br />
Fortschritte gemacht. 39 Der neue<br />
Ansatz von Christoph Luxenberg, der<br />
<strong>zum</strong> ersten Mal den koranischen Text<br />
philologisch untersuchte, brachte erstaunliche<br />
Ergebnisse. 40 Die Gemeinsamkeiten<br />
der drei monotheistischen Religionen<br />
scheinen noch größer als vermutet zu<br />
sein.<br />
3. Das Zusammenleben<br />
Die Demokratie im Westen basiert auf<br />
den Menschenrechten. Dieser gemeinsame<br />
Nenner macht die pluralistische Entfaltung<br />
der Menschen erst möglich. Die<br />
Idee eines Minderheitenrechtes, wie sie<br />
Murad Hofmann vertritt, ist der Demokratie<br />
fremd, daher w<strong>und</strong>ert es, dass Hofmann<br />
in demselben Interview die Demo-<br />
kratie preist <strong>und</strong>: »nicht nur mit dem<br />
Islam kompatibel, sondern jeder anderen<br />
Regierungsform überlegen;« sieht. Des Rätsels<br />
Lösung steht im Beginn des zitierten<br />
Satzes, in dem es heißt: »Als eine Ideologie<br />
können wir uns mit Demokratie nicht<br />
anfre<strong>und</strong>en, aber als ein Mechanismus zur<br />
Verhinderung von Machtmissbrauch«. 41<br />
Wie das zu verstehen ist, wird erklärt: Die<br />
Parlamente können nicht willkürlich entscheiden,<br />
sie sind: »an unabänderliche<br />
Verfassungsvorgaben geb<strong>und</strong>en (sind). Bei<br />
<strong>Muslimen</strong> spielt halt die göttliche Scharia<br />
diese begrenzende Verfassungsrolle.« Das ist<br />
eine islamistische Auffassung genau wie<br />
die der Islamisten in Frankreich, die die<br />
Gesetze im Sinne des Islam ändern wollen<br />
<strong>und</strong> irgendwann die laizistische in<br />
eine islamische Republik umwandeln<br />
wollen. 42 Die Muslimbruderschaft in<br />
Ägypten ist auch für die Demokratie als<br />
Mechanismus, genau wie der »Front islamique«<br />
in Algerien usw.<br />
Hofmann fordert in seinem Interview<br />
die Muslime auf, in die demokratischen<br />
Parteien zwecks Beeinflussung der Parteiprogramme<br />
einzutreten, damit sie, wie er<br />
sagt, »islamkonformer« werden. Im Namen<br />
der Demokratie wird ihre Abschaffung<br />
angestrebt. Ähnliches geschieht im<br />
Dialog. Tariq Ramadan stellt vier Regel<br />
für den Dialogprozess auf, die erste lautet:<br />
»Die Legitimität der Überzeugungen der<br />
Teilnehmer anerkennen <strong>und</strong> respektieren.«<br />
43 Das bedeutet u.a. die Anerkennung<br />
der Scharia <strong>und</strong> konsequenterweise<br />
müssen sich die Dialogpartner im Namen<br />
der Religionsfreiheit dafür einsetzen.<br />
Anstatt von Scharia wird in einer verschlüsselten<br />
Sprache von einer islamischen<br />
Lebensweise gesprochen, die in<br />
einer postmodernen multikulturellen<br />
Gesellschaft ihren Platz in der Form eines<br />
kommunitaristischen Segments beansprucht.<br />
In der islamischen Charta heißt<br />
es ausdrücklich: »Auch im heutigen Übergang<br />
von der Moderne zur Postmoderne<br />
wollen Muslime einen entscheidenden Beitrag<br />
zur Bewältigung von Krisen leisten.«<br />
Diese Absicht wird bezweifelt. Lord Bhikhu<br />
Parekh, ein Verfechter des Multikulturalismus,<br />
schreibt: »Das Hauptproblem<br />
für Moslems ist nicht die Demokratie, sondern<br />
die Einfügung in eine multikulturelle<br />
Gesellschaft. Moslems sind von der absoluten<br />
Überlegenheit des Islam überzeugt, ...<br />
Die Haltung der Moslems gegenüber<br />
der kulturellen Vielfalt ist also einseitig. Sie<br />
begrüßen sie, weil sie ihnen die Freiheit<br />
gibt, ihre religiöse Identität zu behalten<br />
<strong>und</strong> andere mit ihrem Glauben vertraut zu<br />
machen. Aber sie ärgern sich über sie, weil<br />
sie ihnen ihre Überlegenheit abspricht <strong>und</strong><br />
sie <strong>und</strong> ihre Kinder anderen Religionen<br />
<strong>und</strong> weltlichen Kulturen aussetzt.« 44<br />
Postmodernismus, Multikulturalismus<br />
<strong>und</strong> Kommunitarismus haben zur Desintegration<br />
der Muslime in Europa viel beigetragen.<br />
45 Es folgt nun eine Rückbesinnung<br />
auf die demokratischen Gr<strong>und</strong>werte.<br />
Die Kultur wird in ihre Schranken<br />
gewiesen. Die Beziehung der Religion<br />
<strong>zum</strong> Staat wird erneut überprüft. Eine<br />
Hauptaufgabe der <strong>Christen</strong> im Dialog<br />
mit den <strong>Muslimen</strong> wäre die Vermittlung<br />
ihrer eigenen Erfahrungen mit dem säkularen<br />
Staat. Die Katholiken stellen sich<br />
selber diese Frage: »Können <strong>Christen</strong> aufgr<strong>und</strong><br />
ihrer <strong>zum</strong> Teil leidvollen, wegen der<br />
Befreiung der Kirche von politischen Aufgaben<br />
aber in<strong>zwischen</strong> bejahten Erfahrung<br />
mit dem Säkularisierungsprozess <strong>Muslimen</strong><br />
helfen, im säkularen Staat den geeigneten<br />
Rahmen für das Zusammenleben in Verschiedenheit<br />
zu erkennen?«. 46<br />
Gerade in dieser wichtigen Frage sorgen<br />
manche <strong>Christen</strong> für Verwirrung.<br />
Ausgehend von dem Gottesbezug in der<br />
Präambel des Gr<strong>und</strong>gesetzes – »Im<br />
38 Schimmel, Annemarie, Der Sufismus, in: Der Islam. Eine Einführung durch Experten Mainz 1998, S. 68<br />
39 Einen fachlichen Überblick lieferte das internationale Symposium in Berlin im Januar 2004: Historische Sondierungen <strong>und</strong> methodische Reflexionen zur Koranexegese – Wege zur<br />
Rekonstruktion des vorkoranischen Koran. Und der internationale Workshop in Beirut: Modernity and Islam. New Approaches in Koranic Studies, vom Juni 2003<br />
40 Luxenberg, Christoph, Die syro-aramäische Lesart des Koran. Ein Beitrag zur Entschlüsselung der Koransprache. Berlin 2000. Siehe auch seine Analyse von Leilat al-qadr in seinem<br />
Beitrag: »Weihnachten im Koran«, in: Imprimatur, Heft 1/2003 oder auch »Der Koran <strong>zum</strong> ‘islamischen Kopftuch’. Zu Sure 24:31«, in: Imprimatur Heft 2/2004<br />
41 Hofmann, Interview, ibid.<br />
42 Nürnberger Zeitung 23.04.2003. Auf ihrer Jahresversammlung hat die UOIF (Union des organsiations islamiques de France) <strong>und</strong> in Anwesenheit des Innenministers Sarkosy ihre Absicht<br />
bekräftigt die Gesetze im Sinne des Islam zu ändern. Wegen der ungleichen demographischen Entwicklung werden sie irgendwann auf demokratischen Wege die islamische Republik<br />
ausrufen.<br />
43 Ramadan, ibid., S. 210<br />
44 Parekh, Bhikhu, Ist der Islam eine Bedrohung für die Demokratie? Copyright: Project Syndicate/Institut für die Wissenschaften vom Menschen, Juli 2003. Aus dem Englischen von Eva<br />
Breust. Bhikhu Parekh chaired the Commission on the Future of Multi-Ethnic Britain which was set up in January 1998 by the Runnymede Trust. The Commission’s remit was to analyse the<br />
current state of multi-ethnic Britain and to propose ways of countering racial discrimination and disadvantage and ways of making Britain a confident and vibrant multicultural society at<br />
ease with its rich diversity. The Commission published its report after two years, this is known as the Parekh Report<br />
45 Dazu Wikan, Unni, Generous Betrayal. Politics of Culture in the New Europe. London 2002<br />
46 Arbeitshilfe 172, S. 166. Zur Entwicklung der Haltung der Katholischen Kirche siehe: Christian W. Troll SJ, Religiöser Wahrheitsanspruch <strong>und</strong> gesellschaftspolitischer Pluralismus, in<br />
Andreas Bsteh (Hrsg.), Eine Welt für alle. Gr<strong>und</strong>lagen eines gesellschaftspolitischen <strong>und</strong> kulturellen Pluralismus in christlicher <strong>und</strong> islamischer Perspektive, Mödling 1999, S. 61-99<br />
Ghadban, Dialog in der Kritik CIBEDO-<strong>Beiträge</strong> 2/2006
Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott<br />
<strong>und</strong> den Menschen ...« – versuchen sie die<br />
Religion bzw. das <strong>Christen</strong>tum als zentrale,<br />
wenn nicht alleinige Rechtfertigung<br />
der Menschenwürde des Artikels 1 GG<br />
darzustellen. Der Exverfassungsrichter<br />
Paul Kirchhof schreibt: »Die Herleitung<br />
ist religiös, die Gewährleistung staatlich.« 47<br />
Dagegen schreibt Dieter Hesselberger in<br />
seinem Kommentar des Gr<strong>und</strong>gesetzes<br />
für die politische Bildung: »Die Menschenwürde<br />
ist aber tatbestandlich nicht<br />
umschrieben, weil sie in erster Linie ein<br />
naturrechtlicher Begriff ist, der seine geistesgeschichtliche<br />
Wurzel nicht in der Rechtswissenschaft,<br />
sondern in Philosophie <strong>und</strong><br />
Theologie hat.« 48 Diejenigen, die die Rolle<br />
der Religion überbewerten, sprechen<br />
von einer »balancierten Trennung« <strong>zwischen</strong><br />
Staat <strong>und</strong> Religion, verkörpert in<br />
einer »Kooperation«. Der Trierer Bischof<br />
Reinhard Marx schreibt: »Weder der Staat<br />
als natürliche Größe noch die Kirche sind<br />
ohne den jeweiligen Bezugspartner allein<br />
für sich verstehbar.« 49<br />
Die Überbewertung der Religion findet<br />
auch im Bezug auf die offene Neutralität<br />
des Staates statt, 50 das Verbot religiöser<br />
Symbole an der Schule wird als »Schritt in<br />
die Laicité«, als Verdrängung der Religion<br />
aus der Öffentlichkeit beklagt. 51 Unter<br />
Religion verstehen manche nur das <strong>Christen</strong>tum<br />
<strong>und</strong> wollen das Kopftuch verbannen<br />
aber nicht die Nonnentracht. Das ist<br />
bestimmt nicht die beste Art, den <strong>Muslimen</strong><br />
die Trennung <strong>zwischen</strong> Staat <strong>und</strong><br />
Religion zu vermitteln.<br />
Der Islam ist auch in der Lage, die<br />
Menschenwürde theologisch zu begründen.<br />
Die Rolle, die die Ebenbildlichkeit<br />
mit Gott im <strong>Christen</strong>tum diesbezüglich<br />
spielt, erfüllen im Islam die Eigenschaften<br />
47 Zitiert in: Marx, Weihbischof Reinhard, Braucht der moderne Staat Religion? Die religiösen <strong>und</strong> wertmäßigen Gr<strong>und</strong>lagen des Verfassungsrechts, in: Johannes Beckermann (Hrsg.), Das<br />
Verhältnis von Staat <strong>und</strong> Kirche, Frankfurt a. M. 2002, S. 149<br />
48 Hesselberger, Dieter, Das Gr<strong>und</strong>gesetz. Kommentar für die politische Bildung, Berlin 1999, S. 69<br />
49 Marx, ibid., S. 143<br />
50 Zu den Begriffen offene <strong>und</strong> distanzierende Neutralität: Ernst-Wolfgang Böckenförde, Mit dem Unvertrauten vertraut werden. Die plurale Gesellschaft ist keine laizistische Zone. FAZ<br />
17. Juli 2004<br />
51 »Ich fürchte nämlich, dass ein Kopftuchverbot der erste Schritt auf dem Weg in einen laizistischen Staat ist, der religiöse Zeichen <strong>und</strong> Symbole aus dem öffentlichen Leben verbannt.«<br />
Rede von Ex-B<strong>und</strong>espräsident Johannes Rau am 22. Januar 2004 in Wolfenbüttel: Religionsfreiheit heute – <strong>zum</strong> Verhältnis von Staat <strong>und</strong> Religion in Deutschland.<br />
52 Johansen, Baber, Die Sündige, Ges<strong>und</strong>e Amme. Moral <strong>und</strong> gesetzliche Bestimmungen (Hukm) im islamischen Recht, in, Contingency in Sacred Law, S. 187<br />
53 Am Beispiel der Homosexualität kann man den Unterschied erklären. Juristenrecht bedeutet, dass die Juristen die Wahl <strong>zwischen</strong> verschiedenen Meinungen <strong>und</strong> Interpretationen hatten.<br />
Mit dem positiven Recht werden Straftat <strong>und</strong> Strafmaß festgelegt. Eine Interpretation wird privilegiert, was den Entscheidungsspielraum für den Richter einengt: Homosexuelle werden hingerichtet.<br />
Das Ergebnis ist, dass z.B. im Iran über 4.000 Menschen seit der islamischen Revolution von 1979 wegen Homosexualität getötet wurden, wahrscheinlich mehr als in der gesamten<br />
1400 jährigen islamischen Geschichte. Dazu Ralph Ghadban, Historie, Gegenwart <strong>und</strong> Zukunft der Einstellung zur Homosexualität <strong>und</strong> Pädophilie in islamischen Ländern, in: Muslime<br />
unter dem Regenbogen. Homosexualität, Migration <strong>und</strong> Islam. Berlin 2004, S. 39-63<br />
54 Zum Beispiel der sudanesische Islamreformer Mahmud Mohammad Taha. Er betrachtet die Scharia als die erste Botschaft des Islam, als eine Botschaft, die ganz <strong>und</strong> gar ins Gewand<br />
der Vorstellungen <strong>und</strong> Kategorien des 7. Jahrh<strong>und</strong>erts auf der Arabischen Halbinsel gekleidet ist. Sie kann deshalb keine allgemeine Gültigkeit beanspruchen. Dank des zivilisatorischen<br />
Fortschrittes besitzen wir heute die Möglichkeit, durch Vernunft, Wissen <strong>und</strong> Frömmigkeit den gr<strong>und</strong>legenden Text der mekkanischen Periode zu verstehen. Man müsse die zweite<br />
Botschaft des Islam, die für die gesamte Menschheit gültig ist, verkünden. Die zweite Botschaft des Islam hat dann eine ethisch-religiöse Dimension, die nicht im Widerpruch mit den<br />
Menschenrechten <strong>und</strong> der Demokratie stehen kann.<br />
55 Coulson, N. J., A History of Islamic Law, Edinburgh 1964, S. 12<br />
CIBEDO-<strong>Beiträge</strong> 2/2006<br />
des Menschen als bestes Geschöpf <strong>und</strong> als<br />
Vertreter Gottes auf Erden. Die daraus<br />
abgeleiteten Menschenrechte werden<br />
allerdings im Rahmen der Scharia anerkannt,<br />
was die Wahrnehmung dieser Rolle<br />
verhindert. Wie ist das Hindernis zu<br />
überwinden?<br />
Ausgehend davon, dass im islamischen<br />
Recht moralische <strong>und</strong> rechtliche Normen<br />
nicht immer zusammenfallen, unterscheidet<br />
Baber Johansen zwei semantische<br />
Felder, die zusammen den Bedeutungsinhalt<br />
des islamischen Rechtes konstituieren:<br />
Das Feld der anzuwendenden<br />
Rechtsbestimmungen, der Ahkam, verkörpert<br />
in der Person des Qadi <strong>und</strong> das<br />
Feld von Moral <strong>und</strong> Religion, diyana,<br />
verkörpert in der Person des Mufti. Zu<br />
ihrer Beziehung schreibt er: Ȇber tausend<br />
Jahre ist die Spannung <strong>zwischen</strong> hukm<br />
<strong>und</strong> diyana als ein Verhältnis gegenseitiger<br />
Komplementarität betrachtet worden, das<br />
den scholastischen Kompromiß <strong>zwischen</strong><br />
Recht <strong>und</strong> Moral, Vernunft <strong>und</strong> Religion<br />
repräsentierte.« 52 Das Spannungsverhältnis<br />
erlaubte eine praktische Säkularisierung<br />
weiter Teile der gerichtsverbindlichen<br />
Normen, die in der Moderne<br />
wegen ihrer Abweichung von der religiösen<br />
<strong>und</strong> moralischen Lebensführung<br />
abgelehnt wird. Man will Recht mit Religion<br />
<strong>und</strong> Moral eindeutig identifizieren<br />
<strong>und</strong> begründet damit eine Tradition des<br />
Anti-Rationalismus.<br />
Die Versuche über die Anpassung des<br />
Fiqh, den Anschluss an die Moderne zu<br />
finden, sind <strong>zum</strong> Scheitern verurteilt.<br />
Entweder wird der Fiqh, der ursprünglich<br />
ein Juristenrecht ist, in ein positives Recht<br />
verwandelt wie im Iran, Saudiarabien<br />
<strong>und</strong> andere Schariastaaten, mit dem<br />
Ergebnis, dass die traditionelle islamische<br />
Toleranz, die aus der erwähnten Bipolarität<br />
entstammte, verschw<strong>und</strong>en ist. 53<br />
Oder man versucht wie im Westen, ein<br />
Fiqh der Minderheiten, in diesem Fall der<br />
Muslime, zu basteln, der weder die Muslime<br />
noch die Westler überzeugt, weil er<br />
im Korsett der Scharia gefangen bleibt.<br />
Das Zusammenfallen von Religion <strong>und</strong><br />
Recht lässt keinen Raum für die Säkularisierung.<br />
Beide Felder sollen wieder<br />
getrennt <strong>und</strong> weiter entwickelt werden.<br />
Die Weiterentwicklung der Rechtsnormen<br />
wird einfacher, wenn im Feld der<br />
Religion eine Ethik im Sinne eines ethischen<br />
Systems <strong>und</strong> nicht einer allgemeinen<br />
Moral, ausgehend von Koran <strong>und</strong><br />
Sunna, entwickelt wird, die dem Handeln<br />
der Menschen eine zuverlässige<br />
Orientierung liefert. 54 Das moralische<br />
Handeln wird im Islam begründet durch<br />
die Beziehung zu Gott <strong>und</strong> das Gewissen<br />
der handelnden Personen. Von den 6236<br />
Versen des Koran haben circa 600 Verse<br />
einen normativen Charakter <strong>und</strong> beziehen<br />
sich hauptsächlich auf kultische Vorschriften<br />
wie Gebet, Fasten, Pilgern usw.<br />
Circa 80 Verse behandeln rechtliche Fragen<br />
wie Straf- <strong>und</strong> Erbrecht. 55 Die übrigen<br />
tausende Verse handeln von Religion<br />
<strong>und</strong> Moral. Der moderne Fiqh fokussiert<br />
auf die normativen Verse. Es ist höchste<br />
Zeit, dass man sich dem Rest vermehrt<br />
zuwendet.■<br />
Ghadban, Dialog in der Kritik<br />
17
18<br />
Die »Wiener Erklärung« der Konferenz<br />
der Imame <strong>und</strong> SeelsorgerInnen<br />
vom 8. April 2006<br />
von Johannes Kandel<br />
1. Ziele <strong>und</strong> Intentionen<br />
2003 fand auf Initiative der Islamischen<br />
Glaubensgemeinschaft in Österreich<br />
(IGGIÖ) die erste europäische<br />
Imam-Konferenz statt (»Konferenz Leiter<br />
Islamischer Zentren <strong>und</strong> Imame in Europa«).<br />
Sie veröffentlichte ein viel beachtetes<br />
Gr<strong>und</strong>satzdokument, die »Grazer<br />
Erklärung«. 2005 folgte die Österreichische<br />
Imam-Konferenz, die für den Islam<br />
in Österreich eine gr<strong>und</strong>legende Standortbestimmung<br />
versuchte. Und schließlich<br />
trafen sich am 8. <strong>und</strong> 9. April 2006<br />
erneut Imame <strong>und</strong> SeelsorgerInnen aus<br />
mehr als 40 Ländern (auch die Türkei,<br />
Libyen <strong>und</strong> der Libanon waren vertreten)<br />
in Wien <strong>und</strong> verabschiedeten die »Wiener<br />
Erklärung« (WE).<br />
Es ist kein Zufall, dass die Initiatoren<br />
der Konferenzen aus Österreich kommen,<br />
hat sich doch hier ein Islam entwickelt,<br />
der selbstbewusst auftritt. In<br />
Österreich leben 340.000 Muslime, das<br />
sind 4.2 % der österreichischen Gesamtbevölkerung.<br />
Der Islam ist seit 1912,<br />
noch zu Zeiten der k.u.k.-Vielvölker-<br />
Monarchie, als Religionsgemeinschaft<br />
offiziell anerkannt. Die IGGIÖ besitzt<br />
seit 1979 den Status einer Körperschaft<br />
des Öffentlichen Rechts <strong>und</strong> müht sich<br />
neben der resoluten Vertretung eigener<br />
Interessen auch um eine stärkere Vernetzung<br />
von <strong>Muslimen</strong> in Europa. Sie<br />
möchte gerne eine Vorreiterrolle in dieser<br />
Angelegenheit spielen. Das gelegentliche<br />
Lob für das »österreichische Modell« ultra<br />
montes tut gut <strong>und</strong> befördert die Aktivitäten.<br />
Doch sollte man nicht den voreiligen<br />
Schluss ziehen, dass »Austria« auch<br />
im Blick auf seine Muslime stets nur<br />
»felix« sei. Ein Ländervergleich von »Integrationserfolgen«,<br />
bzw. Defiziten von<br />
<strong>Muslimen</strong> ist immer schwierig, weil die<br />
muslimischen Populationen im Blick auf<br />
ethnische Herkunft, religiöse <strong>und</strong> kulturelle<br />
Orientierungen sehr unterschiedlich<br />
sind <strong>und</strong> die politischen <strong>und</strong> rechtlichen<br />
Rahmenbedingungen auch sehr verschiedene<br />
Integrationspolitiken hervorbringen.<br />
Auch ist der Islam nicht mehr ausschließlich<br />
als »Migrantenreligion« zu<br />
betrachten. In Österreich gibt es durchaus<br />
ähnliche Probleme <strong>und</strong> kritische<br />
Diskurse im Blick auf die religiösen <strong>und</strong><br />
politischen Orientierungen von <strong>Muslimen</strong>,<br />
wie in anderen europäischen Staaten.<br />
1 Mit der rechtlichen »Anerkennung«<br />
des Islam als Religionsgemeinschaft, verschwinden<br />
ja nicht automatisch alle jene<br />
Probleme, die im Verhältnis von nichtmuslimischer<br />
»Mehrheitsgesellschaft«<br />
<strong>und</strong> <strong>Muslimen</strong> seit Jahren diskutiert werden:<br />
Das Verhältnis von <strong>Muslimen</strong> <strong>zum</strong><br />
säkularen Staat, d.h. Trennung von Staat<br />
<strong>und</strong> Religion, die Institutionalisierungs-<br />
Kandel, Die »Wiener Erklärung« der Konferenz der Imame <strong>und</strong> SeelsorgerInnen<br />
prozesse <strong>und</strong> die Frage der Repräsentativität<br />
islamischer Organisationen, die Frage<br />
nach Menschenrechten (Religionsfreiheit,<br />
Frauen), Demokratie <strong>und</strong> Pluralismus<br />
bei gleichzeitigem Festhalten an<br />
dem Ideal einer muslimischen Identität<br />
<strong>und</strong> Lebensweise gemäß der Scharia.<br />
Insofern ist das »österreichische Modell«<br />
nur bedingt, wie B<strong>und</strong>eskanzler Schüssel<br />
meinte, ein »Exportartikel«. Gleichwohl<br />
ist es sicherlich hilfreich, von der Unaufgeregtheit<br />
mancher Debatten <strong>und</strong> der<br />
tendenziell größeren Gelassenheit beim<br />
Konfliktmanagement zu lernen.<br />
Die prominent besetzten Treffen von<br />
Imamen wurden in zunehmendem Maße<br />
auch von der Politik geschätzt, dokumentiert<br />
durch die Anwesenheit <strong>und</strong> Beteiligung<br />
politischer Prominenz. So gaben<br />
sich B<strong>und</strong>eskanzler Schüssel, Außenministerin<br />
Plassnik <strong>und</strong> EU-Kommissarin<br />
Ferrero-Waldner die Ehre, die 120 Teilnehmer<br />
zu begrüßen. Der Weltislam war<br />
mit Prof. Dr. Ekmeleddin Ihsanoglu,<br />
Generalsekretär der »Organisation der<br />
Islamischen Konferenz« <strong>und</strong> Amar Hariba<br />
von der »World Islamic Call Society« (eine<br />
globale »Da’wa«-Organisation) vertreten.<br />
Hariba fiel durch maßlose Kritik an der<br />
Veröffentlichung der Mohammed-Karikaturen<br />
von der dänischen Zeitschrift<br />
»Jyllands-Posten« auf. Während das Thema<br />
in der Konferenz keine herausgehobe-<br />
1 Das wird in der kontrovers diskutierten Studie des Österreichischen Innenministeriums deutlich: Perspektiven <strong>und</strong> Herausforderungen in der Integration muslimischer Mitbürgerinnen in<br />
Österreich. Herausgegeben vom BM.I <strong>und</strong> .SIAK Österreich. Wien 2006. Autor der Studie war der in an der Universität Erlangen-Nürnberg lehrende bekannte Rechts- <strong>und</strong> Islamwissenschaftler<br />
Mathias Rohe. Die z.T. heftige Kritik an der Studie bezog sich auf die Methode. Es wurden 504 Türken <strong>und</strong> Bosnier via Telefon vor allem im Raum Wien befragt, dazu kamen 100<br />
qualitative Leitfadeninterviews. Die Kritik an der Studie ist m.E. weit überzogen. Obwohl Repräsentativität für die Telefonumfrage nicht behauptet werden kann, bietet die Studie eine Reihe<br />
von nützlichen <strong>und</strong> z.T. bestürzenden Einsichten in das Innenleben muslimischer Gemeinschaften in Österreich. So manchem Kritiker <strong>und</strong> Vertretern muslimischer Organisationen haben die<br />
benannten Integrationsprobleme gleichwohl nicht gefallen.<br />
CIBEDO-<strong>Beiträge</strong> 2/2006
ne Rolle spielte, <strong>und</strong> die Teilnehmer<br />
sichtlich bemüht waren, es nicht in den<br />
Vordergr<strong>und</strong> treten zu lassen, goss Hariba<br />
Öl ins Feuer. Er bezeichnete die Veröffentlichung<br />
als »Verbrechen« <strong>und</strong> forderte<br />
ein EU-weites Gesetz, um derartige<br />
»Beleidigungen« künftig zu unterbinden.<br />
Die Konferenzen wurden bislang vom<br />
österreichischen Außenministerium <strong>und</strong><br />
den Städten, in denen sie stattfanden,<br />
finanziert. Die IGGIÖ hätte sich einen<br />
solchen Aufwand nicht leisten können.<br />
Noch 2003 war die ISESCO (»Islamische<br />
Organisation für Erziehung, Wissenschaft<br />
<strong>und</strong> Kultur«, eine Unterorganisation der<br />
von Saudi-Arabien maßgeblich beeinflussten<br />
<strong>und</strong> finanzierten Islamischen Weltliga)<br />
mit von der Partie <strong>und</strong> hatte sich mit<br />
einem Beitrag an der Finanzierung beteiligt.<br />
Die Abhängigkeit von bestimmten<br />
Geldgebern aus der arabisch-islamischen<br />
Welt scheint von den österreichischen<br />
Imamen <strong>zum</strong>indest als Problem gesehen<br />
zu werden, denn in der Erklärung vom<br />
2005 wurde die Bedeutung der finanziellen<br />
Unabhängigkeit der Muslime in<br />
Österreich ausdrücklich hervorgehoben.<br />
Muslime in Europa 2 haben sich über<br />
eine Reihe von Organisationen (Moscheevereine,<br />
Verbände, Lobbygruppen,<br />
Dachorganisationen) in den letzten Jahren<br />
verstärkt öffentlich positioniert. Die<br />
Verlautbarungen (zuletzt in der »Topkapi«-Declaration<br />
vom 4. Juli) 3 sind auch<br />
Reaktionen auf einen wachsenden<br />
»Rechtfertigungsdruck« seitens der<br />
»Mehrheitsgesellschaften« vor dem Hintergr<strong>und</strong><br />
kontroverser Diskurse zur Vereinbarkeit<br />
von »Islam« <strong>und</strong> »Demokratie«<br />
sowie der Bedrohung durch einen islamisch<br />
begründeten internationalen Terrorismus.<br />
Sie sind gleichzeitig Ausdruck<br />
des Ringens um eine Standortbestim-<br />
CIBEDO-<strong>Beiträge</strong> 2/2006<br />
mung von <strong>Muslimen</strong> in nicht-muslimischer<br />
Umgebung. Es gibt somit immer<br />
zwei Adressaten solcher Erklärungen: die<br />
europäischen »Mehrheitsgesellschaften«<br />
<strong>und</strong> die eigene Klientel. Beide Seiten<br />
zufrieden zu stellen, ist häufig ein schwieriges<br />
Unterfangen, denn was die »Mehrheitsgesellschaft«<br />
erwartet, entspricht<br />
durchaus nicht immer dem Bewusstseinsstand<br />
<strong>und</strong> den Intentionen der muslimischen<br />
Klientel. Das liegt auf der Hand,<br />
wenn wir uns die unterschiedliche ethnische<br />
Herkunft <strong>und</strong> die sehr verschiedenen<br />
kulturellen, religiösen <strong>und</strong> politischen<br />
Orientierungen von <strong>Muslimen</strong> in<br />
Europa vergegenwärtigen. Diese doppelte<br />
Adressatenschaft ist ein Gr<strong>und</strong>, warum<br />
öffentliche Erklärungen wiederholte Bekenntnisse<br />
zu allgemeinen verfassungspolitischen<br />
Selbstverständlichkeiten (contra<br />
Terror, pro Verfassungs- <strong>und</strong> Rechtstreue)<br />
bieten <strong>und</strong> zugleich selbstbewusste Forderungskataloge<br />
für die Entfaltung <strong>und</strong><br />
Institutionalisierung muslimischen Lebens<br />
enthalten. Die »Mehrheitsgesellschaft«<br />
soll beruhigt <strong>und</strong> zugleich die<br />
eigene Anhängerschaft befriedigt werden.<br />
Die dabei häufig auftretenden Unklarheiten<br />
<strong>und</strong> Formelkompromisse erregen<br />
gleichwohl das Misstrauen der »Mehrheitsgesellschaft«<br />
<strong>und</strong> ziehen harsche Kritik<br />
auf sich. 4<br />
Auch die vorliegende Erklärung versucht<br />
eine Gratwanderung. Der informierte<br />
Leser hat nach der Lektüre ein<br />
déja-vue-Erlebnis. Irgendwo, irgendwie<br />
<strong>und</strong> irgendwann ist das alles schon mal<br />
fre<strong>und</strong>lich gesagt <strong>und</strong> mit Bedacht aufgeschrieben<br />
worden. Kritiker sprachen gar<br />
von einer »Schmusest<strong>und</strong>e« <strong>zwischen</strong><br />
österreichischem Staat <strong>und</strong> IGGIÖ, bzw.<br />
den europäischen Imamen. Das war die<br />
Konferenz eher nicht, obwohl sich Kritik<br />
in Grenzen hielt. So blieb der Hinweis<br />
von Parlamentspräsident Prof. Dr.<br />
Andreas Kohl auf mangelnde Deutschkenntnisse<br />
von einigen Islamlehrern <strong>und</strong><br />
die vereinzelte Verwendung von Unterrichtsmitteln<br />
mit islamistischen Inhalten<br />
doch sehr moderat. Gewiss lag der<br />
Hauptnutzen der Konferenz für viele<br />
Teilnehmer im Meinungs- <strong>und</strong> Gedankenaustausch<br />
<strong>und</strong> der Gelegenheit, sich<br />
besser zu vernetzen.<br />
2. Zur Lage der Muslime:<br />
der unvermeidliche<br />
»Opferdiskurs«<br />
Die WE beginnt mit einer allgemeinen<br />
Einschätzung zur Lage der Muslime<br />
in Europa, formuliert gr<strong>und</strong>legende Herausforderungen<br />
<strong>und</strong> Aufgaben muslimischer<br />
Gemeinschaften <strong>und</strong> präsentiert<br />
dann ausführlich die Ergebnisse der<br />
Diskussionen in Arbeitsgruppen zu nachstehenden<br />
Themen:<br />
● Integrationssoziologie<br />
● Bildung<br />
● Politik<br />
● Wirtschaft<br />
● Frauen<br />
● Jugend<br />
● Umwelt<br />
● Ökologie<br />
Die Themenauswahl zeigt, dass es den<br />
Teilnehmern der Konferenz um eine<br />
möglichst umfassende, problemorientierte,<br />
zugleich analytische <strong>und</strong> normative,<br />
Positionierung von <strong>Muslimen</strong> in Europa<br />
ging.<br />
Das Ziel der Imamkonferenz wird klar<br />
formuliert: es geht aus Sicht der Imame<br />
<strong>und</strong> »Seelsorger« um den Nachweis der<br />
2 Leider gibt es immer noch keine befriedigende, vergleichende Gesamtdarstellung <strong>zum</strong> Islam in Europa, obwohl die quantitativen <strong>und</strong> qualitativen Studien in den letzten 10 Jahren deutlich<br />
zugenommen haben. Vgl. den auch schon 4 Jahre alten Forschungsbericht von FRANK J. BUIJS/JAN RATH, Muslims in Europe. The State of Research. Amsterdam 2002, der aber immer<br />
noch wichtig bleibt. Aktuelle Analysen bieten JOCELYNE CÉSARI, When Islam and Democracy Meet. Muslims in Europe and in the United States. New York/Basingstole 2004. JYTTE KLAU-<br />
SEN, Europas muslimische Eliten. Wer sie sind <strong>und</strong> was sie wollen. Frankfurt/Main 2006. Standardwerk bleibt JORGEN NIELSEN; Muslims in Western Europe. Edinburgh 2004; NEZAR<br />
AL-SAYYAD/MANUEL CASTELLS (Eds.), Muslim-Europe or Euro-Islam. Politics, Culture and Citizenship in the Age of Globalization. London/Boulder/New York/Oxford 2002; ROBERT J.<br />
PAULY, JR., Islam in Europe. Integration or Marginalization? Aldershot 2004; JAN RATH et al., Western Europe and it’s Islam. Leiden/Boston/Köln 2001. Vgl. auch Friedrich-Ebert-Stiftung<br />
(Hrsg.), Muslime in Europa – ein Ländervergleich. Berlin 2001. HOLM SUNDHAUSSEN/ERNST PULSFORT/JOHANNES KANDEL (Hrsg.) Religionen <strong>und</strong> Kulturen in Südosteuropa. Nebeneinander<br />
<strong>und</strong> Miteinander von <strong>Muslimen</strong> <strong>und</strong> <strong>Christen</strong>. Berlin 2002.<br />
3 Die Erklärung wurde von der »Muslims of Europe Conference« erarbeitet, die auf Einladung des britischen Außenministeriums Spitzenvertreter des Weltislam <strong>und</strong> Vertreter des Islam aus<br />
Europa zusammenführte, darunter z.B. Tariq Ramadan, Amr Khaled, Hamza Yussuf, Mustafa Ceric <strong>und</strong> den Islamisten Yussuf al-Qaradawi. Dazu kamen Vertreter aus Saudi-Arabien.<br />
www.muslimsofeurope.com.<br />
4 Als ein Beispiel sei hier die Islamische Charta des Zentralrats der Muslime in Deutschland genannt. Vgl. dazu JOHANNES KANDEL, Die Islamische Charta. Fragen <strong>und</strong> Anmerkungen.<br />
Hrsg. von der Frierich-Ebert-Stiftung, Berlin 2002. THOMAS LEMMEN, Die Islamische Charta des Zentralrats der Muslime in Deutschland e.V. (ZMD). In: HANS WALDENFELS/HEINRICH<br />
OBERREUTER (Hrsg.), Der Islam – Religion <strong>und</strong> Politik. Paderborn 2004, S. 107 ff. TILMAN NAGEL; Zum schariatischen Hintergr<strong>und</strong> der Charta des Zentralrats der Muslime in Deutschland,<br />
in: HARTMUT LEHMANN (Hrsg.), Koexistenz <strong>und</strong> Konflikt von Religionen im vereinten Europa, Göttingen 2004, S. 114 ff. RAINER BRUNNER, Die »Islamische Charta« des Zentralrats<br />
der Muslime in Deutschland. http://www.gazette.de/Archiv/Gazette-September2002/Brunner04.html Derselbe, Zwischen Laizismus <strong>und</strong> Scharia. Muslime in Europa. Aus Politik <strong>und</strong><br />
Zeitgeschichte (APUZ), H.20, 2005.<br />
Kandel, Die »Wiener Erklärung« der Konferenz der Imame <strong>und</strong> SeelsorgerInnen<br />
19
20<br />
Kompatibilität von Islam <strong>und</strong> den »Prinzipien<br />
der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit,<br />
des Pluralismus <strong>und</strong> der Menschenrechte.«<br />
Die Teilnehmer sorgen sich um<br />
die »Akzeptanz der Muslime in der Mehrheitsgesellschaft«,<br />
die als längst nicht<br />
erreicht betrachtet wird. Im Gegenteil:<br />
eher seien in verschiedenen europäischen<br />
Ländern im Gefolge sozialer <strong>und</strong> wirtschaftlicher<br />
Spannungen Tendenzen zu<br />
beobachten, Muslime zu Sündenböcken<br />
zu stempeln: »Muslime werden pauschalierend<br />
benutzt, um ein Bild des ‚Fremden’<br />
entstehen zu lassen, das in Zeiten der Unsicherheit<br />
Halt in einer negativen Abgrenzung<br />
bietet. Es scheint, als solle damit ein<br />
‚Wir’-Gefühl erzeugt werden, das Gesellschaften,<br />
die massiv unter einem Verlust des<br />
sozialen Zusammenhanges leiden, zunehmend<br />
abhanden kommt.«<br />
Es ist bedauerlich, dass die »Wiener<br />
Erklärung« (WE) mit dieser einseitigen<br />
<strong>und</strong> pauschalen Schuldzuweisung beginnt.<br />
Sie lässt wenig Raum für nüchterne<br />
Analyse. Ohne Zweifel lassen sich<br />
islamfeindliche Einstellungen <strong>und</strong> Tendenzen<br />
in den verschiedenen EU-Staaten<br />
feststellen, aber es ist vermessen, zu<br />
behaupten, dass es eine intentionale Strategie<br />
der »Mehrheitsgesellschaften« geben<br />
soll, Muslime unter den – inflationär behaupteten,<br />
aber nie belegten – »Generalverdacht«<br />
zu stellen. Es ist nicht zu bestreiten,<br />
dass es in Teilen der muslimischen<br />
communities einen »gefühlten«<br />
Generalverdacht gibt, empirisch lässt<br />
sich, jedenfalls für die meisten europäischen<br />
Staaten, ein solcher Vorwurf nicht<br />
halten. Das Bild des Islam hat sich aber<br />
seit dem 11. September 2001 in Österreich<br />
<strong>und</strong> Deutschland – vor dem Hintergr<strong>und</strong><br />
fortschreitender islamistischterroristischer<br />
Bedrohung <strong>und</strong> oft emotionalisierender,<br />
suggestiver Medienberichterstattung<br />
– verdüstert. 5 Doch weder<br />
die seit Anfang der neunziger Jahre oft<br />
vorgebrachte These von einem nachhaltigen<br />
»Feindbild Islam« noch die Behaup-<br />
tung von einer signifikant verbreiteten<br />
»Islamophobie«, lassen sich ernsthaft<br />
empirisch stützen, wie z.B. Wilhelm<br />
Heitmeyers Studien (»Deutsche Zustände«)<br />
belegen. 6 Das gilt auch cum grano<br />
salis für Österreich. 7 Gleichwohl stehen<br />
die Zeichen eher auf eine Verschärfung<br />
im Verhältnis von Nicht-<strong>Muslimen</strong> <strong>und</strong><br />
<strong>Muslimen</strong>. Sicherlich sind wachsendes<br />
Misstrauen, Distanz <strong>und</strong> auch feindselige<br />
Ablehnung von <strong>Muslimen</strong> ernstzunehmende<br />
<strong>und</strong> beklagenswerte Erscheinungen,<br />
deren Ursachen genau zu analysieren<br />
sind. Leider signalisiert die WE eine fatale<br />
Tendenz, die im »Dialog« mit muslimischen<br />
Organisationen leider häufig zu<br />
beobachten ist: die geringe Fähigkeit zur<br />
Selbstdistanz, geschweige denn Selbstkritik.<br />
Schuld an der »Misere« der Muslime<br />
sind in der Regel immer »die anderen«. Es<br />
sind die Politiker der EU mit ihrer vermeintlich<br />
verfehlten Migrations- <strong>und</strong><br />
Integrationspolitik, es sind die »Mehrheitsgesellschaften«,<br />
die Muslime pauschal<br />
ablehnen <strong>und</strong> unter »Generalverdacht«<br />
stellen. Es ist die mangelnde zivilgesellschaftliche<br />
Unterstützung der Muslime<br />
durch die nationalen Regierungen,<br />
es sind die mannigfachen tatsächlichen<br />
oder nur wahrgenommenen Kränkungen,<br />
Demütigungen <strong>und</strong> Diskriminierungen.<br />
Schließlich soll auch die Außenpolitik<br />
mancher europäischer Staaten<br />
(insbesondere Großbritanniens) im Blick<br />
auf den Nahostkonflikt, den Afghanistan-Konflikt<br />
<strong>und</strong> den Krieg im Irak am<br />
Elend der Muslime in Europa schuld<br />
sein.<br />
Es ist gar nicht zu bezweifeln, dass, wie<br />
es in der WE wenig später heißt, »Muslime<br />
einem starken Rechtfertigungsdruck<br />
ausgesetzt« sind. In der Tat hat sich ein<br />
»Rechtfertigungsdruck« in dem Maße<br />
aufgebaut, wie Nicht-Muslime in Europa<br />
einen islamisch begründeten F<strong>und</strong>amentalismus<br />
mit Gewaltneigung <strong>und</strong> einen<br />
islamistisch gesteuerten Terrorismus erleben<br />
müssen. Ein neuerliches Blutbad ist<br />
im Sommer 2006 von den britischen<br />
Sicherheitskräften in letzter Minute verhindert<br />
worden <strong>und</strong> in Deutschland kam<br />
es nur aufgr<strong>und</strong> technischen Versagens<br />
nicht zur Explosion von zwei in Regionalzügen<br />
deponierten Kofferbomben. Die<br />
Reaktionen muslimischer Verbände in<br />
Großbritannien <strong>und</strong> einzelner Vertreter<br />
muslimischer Organisationen in<br />
Deutschland auf diese unmittelbaren<br />
tödlichen Bedrohungen dämpfen Hoffnungen,<br />
es könne im »Dialog« zu einer<br />
wirklich tiefgehenden Aufarbeitung des<br />
Zusammenhanges von bestimmten<br />
Islaminterpretationen <strong>und</strong> terroristischer<br />
Gewalt kommen. Die immer wiederkehrenden<br />
Behauptungen aus muslimischen<br />
Kreisen, diese Erscheinungen hätten<br />
wenig, bzw. gar nichts mit »dem Islam« zu<br />
tun, griffen zu kurz, weil die derzeit von<br />
maßgeblichen Islam-Interpretatoren der<br />
islamischen Welt angebotenen konservativen<br />
<strong>und</strong> islamistischen Islam-Auslegungen<br />
(z.B. im Blick auf die Kategorie des<br />
»Djihad«) eine Fülle von Anknüpfungspunkten<br />
bieten <strong>und</strong> sich in aktuellen<br />
Interpretationen <strong>und</strong> Rechtfertigungen<br />
islamistischer Terroristen finden. 8 Hier<br />
hätte die kritische inner-muslimische<br />
Diskussion einsetzen müssen <strong>und</strong> hier<br />
wäre der Dialog mit Nicht-<strong>Muslimen</strong><br />
von besonderer Wichtigkeit gewesen.<br />
Dass es hier Versäumnisse seitens der<br />
Muslime gibt, wird von der WE immerhin<br />
gesehen. Islamische Gelehrte dürften<br />
der Kritik, »die anhand einzelner Missstände<br />
eine Unverträglichkeit ‚islamischer’<br />
mit ‚westlichen’ Werten zu konstruieren<br />
suche« nicht einfach mit dem Verweis entgegentreten,<br />
»dass solcherlei negative<br />
Erscheinungsformen im Gegensatz zur islamischen<br />
Lehre in überkommenen Traditionen<br />
wurzelten«. Dagegen lägen »in der<br />
theologischen Argumentation ... große <strong>und</strong><br />
erprobte Möglichkeiten, nachhaltige<br />
Bewusstseinsveränderungen herbeizuführen.<br />
Diese sollten als Teil der Lösung aber<br />
auch erkannt, respektiert <strong>und</strong> im öffentlichen<br />
Diskurs gefördert werden«. Das ist<br />
5 In der Allensbach Umfrage vom 17. Mai 2006 assoziieren 91% der Befragten den Islam mit »Benachteiligung von Frauen« (im Vergleich zur Befragung von 2004 = 85%), 83% (2004 =<br />
75%) halten den Islam für »fanatisch«, 62% (2004 = 49%) für »rückwärtsgewandt«, 71% (2004 = 66%) für »intolerant« <strong>und</strong> 60% (2004 = 52%) für »<strong>und</strong>emokratisch«. FAZ vom 17. Mai<br />
2006.<br />
6 Hier sei nur ein typisches, krasses Beispiel einer verzeichnenden Darstellung zitiert: JOCHEN HIPPLER / ANDREA LUEG, Feindbild Islam oder Dialog der Kulturen. Hamburg, 2002. Zum<br />
»Feindbild Diskurs« siehe v.a. SIEGFRIED KOHLHAMMER, Die Feinde <strong>und</strong> die Fre<strong>und</strong>e des Islam. Göttingen, 1996. WILHELM HEITMEYER, Deutsche Zustände. Bde. 1-4. Frankfurt/Main,<br />
2002-2006. Heitmeyers Fragen zur Ermittlung von »Islamphobie« sind zu problematisieren, weil sie in der Tendenz geeignet sind, auch legitime kritische Einstellungen <strong>zum</strong> Islam als<br />
»Islamophobie« zu denunzieren.<br />
7 Siehe Anmerkung 1<br />
8 Siehe dazu die Textzusammenstellung von GILLES KEPEL <strong>und</strong> JEAN -PIERRE MILELLI, Al-Qaida. Texte des Terrors. München/Zürich, 2006. Unübertroffene aktuelle Aufbereitung von<br />
Geschichte, Theorien <strong>und</strong> Interpretationen des Djihad bei DAVID COOK, Understanding Jihad. University of California Press: Berkeley, Los Angeles, London, 2005. Ferner: PATRICK<br />
SOOKHDEO, Understanding Islamic Terrorism. Pewsey, Wiltshire, 2004. MARK A. GABRIEL, Islam <strong>und</strong> Terrorismus. Was der Koran wirklich über <strong>Christen</strong>tum, Gewalt <strong>und</strong> Ziele des<br />
Djihad lehrt. Gräfelfing, 2005. 3 Siehe dagegen die apologetische, ganz auf Verharmlosung der dominant militanten Interpretationen von Djihad gerichtete Schrift: ERGÜN CAPAN,<br />
Aus islamischer Perspektive Terror <strong>und</strong> Selbstmordattentate. Mörfelden-Walldorf, 2005. bes. der Beitrag von Ali Bulac.<br />
Kandel, Die »Wiener Erklärung« der Konferenz der Imame <strong>und</strong> SeelsorgerInnen CIBEDO-<strong>Beiträge</strong> 2/2006
sehr zu begrüßen, wenn die »theologische<br />
Argumentation« tatsächlich der Frage<br />
nach dem Verhältnis von Religion <strong>und</strong><br />
Kultur, bzw. Tradition nachginge <strong>und</strong> kritisch<br />
bilanzierte, welche dominant theologischen<br />
Denkfiguren geeignet sind,<br />
eine »Unverträglichkeit« westlicher mit<br />
islamischen Werten zu behaupten. Die<br />
Problemfelder <strong>und</strong> unerledigten Themen<br />
liegen offen zu Tage: z.B. Menschenrechte,<br />
Religionsfreiheit (Religionswechsel!),<br />
Frauen, Djihad.<br />
Im Blick auf religiös begründete politische<br />
Gewalt muss den Imamen zugute<br />
gehalten werden, dass sie das Problem im<br />
Gr<strong>und</strong>satz wohl sehen. Noch ein Jahr<br />
zuvor, in der Erklärung der Imam-Konferenz<br />
von 24. April 2005, wurde z.B. eine<br />
aktive Auseinandersetzung mit islamistischem<br />
Extremismus <strong>und</strong> Terrorismus<br />
gefordert. Man dürfe, so hieß es seinerzeit,<br />
»extreme Ansichten <strong>und</strong> Haltungen«,<br />
die sich außerhalb des Konsenses der<br />
Muslime in Österreich befänden, nicht<br />
einfach als »marginale Erscheinungen«<br />
abtun, sondern bekämpfen. So sollte ein<br />
Gremium aus »Intellektuellen <strong>und</strong> MeinungsbildnerInnen«<br />
geschaffen werden,<br />
dass sich »ernsthaft <strong>und</strong> wissenschaftlich<br />
mit der Erscheinung des Terrorismus« auseinandersetze.<br />
Indirekt wurden »fetwas«<br />
<strong>zum</strong> Thema in Aussicht gestellt. Diese<br />
Absichtserklärung war, vergleicht man sie<br />
mit öffentlichen Bek<strong>und</strong>ungen muslimischer<br />
Organisationen in anderen europäischen<br />
Ländern, durchaus ungewöhnlich<br />
<strong>und</strong> erfreulich. In Deutschland ist von<br />
Seiten des organisierten Islam eine derartige<br />
Intention nie formuliert worden.<br />
Gleichwohl ist es bedauerlich, dass den<br />
starken Worten keine Taten gefolgt sind.<br />
Ein solches Gremium ist bedauerlicherweise<br />
nicht eingerichtet worden. Die WE<br />
2006 greift das Thema leider nicht mehr<br />
auf, es ist aber davon auszugehen, dass<br />
keine Neigung besteht, hinter die Erklärung<br />
von 2005 zurückzufallen.<br />
Die WE nimmt Bezug auf die »gewaltigen<br />
Herausforderungen« der Moderne<br />
<strong>und</strong> bezeichnet treffend die Schlüsselprobleme:<br />
Frieden <strong>und</strong> Sicherheit, soziale<br />
CIBEDO-<strong>Beiträge</strong> 2/2006<br />
Gerechtigkeit <strong>und</strong> Erhalt der Umwelt.<br />
Die versammelten Theologen <strong>und</strong> Seelsorger<br />
bieten einen »lösungsbezogenen<br />
Ansatz« an: der Islam, der »Vielfalt als<br />
gottgewollt nicht in Frage« stelle, soll es<br />
richten. Es ist in diesem Zusammenhang<br />
nicht klar, was unter »Vielfalt« verstanden<br />
werden soll: die religiöse »Vielfalt« der<br />
monotheistischen Religionen, die religiöse<br />
Vielfalt innerhalb des Islam oder der<br />
politische Pluralismus? »Vielfalt« klingt<br />
immer gut, sie suggeriert Offenheit <strong>und</strong><br />
Toleranz. Doch ohne inhaltliche Füllung<br />
wird sie zur Leer- <strong>und</strong> Beruhigungsformel.<br />
Das gleich nachfolgende Zitat der<br />
Sure 6,82 soll sicher deutlich machen,<br />
dass es in erster Linie die gläubigen Menschen<br />
sind, <strong>und</strong> die Muslime im Besonderen,<br />
die aus der Sicherheit ihres Glaubens<br />
heraus befähigt sind, durch gute<br />
Werke an der gerechten Gestaltung der<br />
Welt zu arbeiten.<br />
3. Integration, »islamische<br />
Identität in Europa« <strong>und</strong><br />
»Euro-Islam«<br />
Muslime betrachten sich nicht mehr<br />
als »Gastarbeiter«, sondern als »lebendigen<br />
Teil Europas«. Sie wollen aus religiöser<br />
Motivation heraus, »Verantwortung<br />
für das Allgemeinwohl« übernehmen. Das<br />
ist sehr zu begrüßen <strong>und</strong> es müssen politisch<br />
<strong>und</strong> gesellschaftlich Wege geebnet<br />
werden, um <strong>Muslimen</strong> ihren gleichberechtigten<br />
Platz in der EU-Bürgerschaft<br />
zu gewährleisten. Da das Verhältnis von<br />
Staat <strong>und</strong> Religion in den einzelnen EU-<br />
Staaten sehr verschieden ist, wird es auch<br />
unterschiedliche Wege zur Anerkennung<br />
muslimischer Religionsgemeinschaften<br />
geben. Dabei können, wie z.B. der<br />
»Kopftuchstreit« in Deutschland <strong>und</strong><br />
Frankreich gezeigt hat, zweifellos Spannungen<br />
<strong>zwischen</strong> Wahrung religiöser<br />
Identitäten <strong>und</strong> Akzeptanz f<strong>und</strong>amentaler<br />
Verfassungsprinzipien demokratischer<br />
Staaten auftreten.<br />
Warum der im Dialog mit <strong>Muslimen</strong><br />
als die europäische Variante des Islam<br />
diskutierte »Euro-Islam« von den Imamen<br />
schon in der »Grazer Erklärung« von<br />
2003 zurückgewiesen wurde, ist <strong>zum</strong>indest<br />
einer Erklärung bedürftig. Dort hieß<br />
es, dass es »so wenig wie es einen afrikanischen,<br />
arabischen oder sonst wie ethnischen<br />
Islam gibt, auch nicht von einem ‚europäischen<br />
Islam’ gesprochen werden kann.« Es<br />
gäbe nur einen »Islam in Europa«. »Euro-<br />
Islam« wird als etwas den <strong>Muslimen</strong> von<br />
außen Aufgezwungenes verstanden, als<br />
eine islamfremde Erscheinung. Das verw<strong>und</strong>ert,<br />
denn auch die Imame werden<br />
nicht bestreiten können, dass, blicken wir<br />
auf die Entwicklungsgeschichte des<br />
Islam, dieser in starkem Maße von den<br />
Ethnien <strong>und</strong> Kulturen geprägt wurde, in<br />
denen er Wurzeln schlug. Die islamische<br />
Geschichte bietet dafür eine Fülle von<br />
Beispielen. 9 Der afrikanische Islam ist<br />
anders als der arabische oder asiatische<br />
<strong>und</strong> insofern sollte es auch einen »europäischen<br />
Islam« geben können. Ein »europäischer<br />
Islam« wäre einer, der mit den<br />
Gr<strong>und</strong>werten der europäischen Verfassung<br />
vereinbar ist. Darauf verweist der<br />
»Erfinder« des Begriffes, »Euro-Islam«,<br />
der Göttinger Politikwissenschaftler Bassam<br />
Tibi. Er versteht unter »Euro-Islam«,<br />
»eine Interpretation des Islam, die offen ist<br />
<strong>und</strong> im Zeichen der hoch-islamischen Aufklärung<br />
sowie des islamischen Rationalismus<br />
steht. Ein Euro-Islam ist vereinbar<br />
mit drei europäischen Verfassungsnormen:<br />
1) Laizismus (Trennung <strong>zwischen</strong> Religion<br />
<strong>und</strong> Politik), 2) säkulare Toleranz (Freiheit<br />
Andersdenkender <strong>und</strong> des Glaubens) <strong>und</strong><br />
schließlich 3) Pluralismus«. 10 Es mag sein,<br />
dass die Imame <strong>und</strong> andere einflussreiche<br />
muslimische islamische Rechtsgelehrte<br />
<strong>und</strong> Intellektuelle sowohl mit der »hochislamischen<br />
Aufklärung« (Tibi meint<br />
wahrscheinlich die Philosophie der<br />
Mutazila) als auch mit »aufklärerischen«,<br />
»progressiven« Interpretationsansätzen<br />
im Gegenwartsislam 11 Schwierigkeiten<br />
haben. Aber sie müssten doch für einen<br />
Islam in Europa die von Tibi in den<br />
Punkten eins bis drei genannten Gr<strong>und</strong>prinzipien<br />
europäischer Leitkultur akzeptieren<br />
<strong>und</strong> sie gemeinsam mit Nicht-<br />
<strong>Muslimen</strong> politisch leben können. Die<br />
Trennung von Religion <strong>und</strong> Staat kann ja<br />
9 Der Islam in der Gegenwart. Hrsgg. Von WERNER ENDE/UDO STEINBACH. München, 2005 5 , bes. S. 777 ff. Wie stark regionale <strong>und</strong> lokale Traditionen den Islam prägen, zeigt<br />
besonders drastisch der Umgang mit der verabscheuungswürdigen Praktik der weiblichen Genitalverstümmelung.<br />
10 BASSAM TIBI, Europa ohne Identität? Die Krise der multikulturellen Gesellschaft. München, 2000, S. 257. Die Stiftung Zentrum für Türkeistudien definiert Euro-Islam normativ:<br />
»Er müsste auf fünf Säulen fußen: der Ablehnung der Scharia, dem Prinzip des Laizismus, der Kompatibilität islamischer Lebensweisen mit den Normen der Industriegesellschaft, Treue zur<br />
verfassungsmäßigen Ordnung der Aufnahmeländer <strong>und</strong> Zustimmung zu Demokratie <strong>und</strong> Pluralität.« Vgl. »Euro-Islam«. Zum empirischen Gehalt eines neuen Islamverständnisses in der<br />
Migration. Essen, 2002, S. 18. (= ZfT-aktuell, Nr. 89).<br />
11 Vgl. dazu CHRISTIAN W. TROLL, Progressives Denken im zeitgenössischen Islam. Hrsgg. von der Friedrich-Ebert-Stiftung, Berlin, 2006. (= Islam <strong>und</strong> Gesellschaft, Nr. 4)<br />
Kandel, Die »Wiener Erklärung« der Konferenz der Imame <strong>und</strong> SeelsorgerInnen<br />
21
22<br />
auch verschiedene Formen annehmen,<br />
wie wir in Europa sehen. Entscheidend ist<br />
die Akzeptanz des religions- <strong>und</strong> weltanschaulich<br />
neutralen Rechtsstaates, der<br />
Gleichberechtigung der Religionen <strong>und</strong><br />
Religionsfrieden garantiert. Diese gleiche<br />
Rechte sichernde <strong>und</strong> friedensstiftende<br />
Funktion des Staates wird auch als »Säkularität«<br />
bezeichnet, hat aber nichts mit<br />
der von <strong>Muslimen</strong> gefürchteten Ideologie<br />
des »Säkularismus« zu tun, die Religionen<br />
in den Raum des Privaten abdrängen <strong>und</strong><br />
nicht als öffentliche Angelegenheit gelten<br />
lassen will. Die Akzeptanz von »Säkularität«<br />
des Staates sollte die Geschäftsgr<strong>und</strong>lage<br />
von allen Ethnien, Kulturen<br />
<strong>und</strong> Religionen in Europa sein.<br />
»Der Islam«, so heißt es in der WE, sei<br />
»auch aus der Leistung seines großen wissenschaftlichen<br />
<strong>und</strong> kulturellen Erbes direkter<br />
Bestandteil der europäischen Identität«.<br />
Wir finden solche <strong>und</strong> ähnliche Thesen<br />
immer wieder in apologetischen Abhandlungen<br />
<strong>und</strong> sie werden im »Dialog« stets<br />
vorgetragen, um die Legitimität muslimischer<br />
Existenz in Europa zu unterstreichen.<br />
Der historische Rückgriff soll<br />
Nicht-<strong>Muslimen</strong> signalisieren: Wir Muslime<br />
haben in Europa nicht nur ein<br />
Lebensrecht als Zugewanderte oder hier<br />
Geborene, sondern wir gehören <strong>zum</strong><br />
Erbe <strong>und</strong> den großen geistig-politischen<br />
Traditionen Europas, ja die europäische<br />
Kultur hätte sich ohne den Islam gar<br />
nicht so entwickeln können, wie sie sich<br />
heute darstellt. Es ist keine Frage, dass es<br />
nicht nur konfrontative Austauschprozesse<br />
<strong>zwischen</strong> Abendland <strong>und</strong> Morgenland<br />
gegeben hat, sondern eben auch langjährige<br />
gegenseitige Befruchtung <strong>und</strong> friedliche<br />
Koexistenz <strong>zwischen</strong> <strong>Muslimen</strong> <strong>und</strong><br />
Nicht-<strong>Muslimen</strong>, wie unter Verweis auf<br />
eine kurze Phase muslimischer Herrschaft<br />
in Spanien unter Abdurrahman III.<br />
(912-961) <strong>und</strong> Al-Hakam (961-976)<br />
gezeigt werden kann. Doch muss hier ein<br />
auch ein »Caveat« formuliert werden.<br />
»Al-Andalus« (das muslimische Spanien)<br />
taugt keinesfalls, wie Detailstudien zeigen,<br />
zur Glorifizierung eines vermeintlichen<br />
goldenen Zeitalters des christlich-<br />
muslimischen Dialogs, der gegenseitigen<br />
Toleranz <strong>und</strong> »convivencia«. Hier ist seit<br />
der Aufklärung eine Mythenbildung im<br />
Gange. 12 Es ist deutlich überzogen, wie es<br />
gelegentlich geschieht, »den« Islam <strong>zum</strong><br />
eigentlichen Bewahrer »der« griechischrömischen<br />
Traditionen zu stilisieren. Der<br />
Islam verfuhr bei der Rezeption dieser<br />
Traditionen, anders als die lateinische<br />
<strong>Christen</strong>heit, erheblich selektiver. Damit<br />
sollen keineswegs die Übersetzungsleistungen<br />
der Werke großer griechischer<br />
Philosophen z.B. ins Arabische (»Haus<br />
der Weisheit« in Bagdad) geschmälert oder<br />
gar die herausragenden Werke muslimischer<br />
Wissenschaftler in Philologie,<br />
Philosophie, Naturwissenschaften, Medizin,<br />
Astronomie, Architektur, Kunst <strong>und</strong><br />
Literatur gering geschätzt werden. 13 Für<br />
den zeitgenössischen Islam in Europa<br />
bleibt es aber eine Herausforderung, tatsächlich<br />
substantielle <strong>Beiträge</strong> zur Erarbeitung<br />
einer modernen »europäischen<br />
Identität« zu leisten, die wir ja nicht<br />
umstandslos »haben«, sondern die –<br />
historisch wandelbar – stets neu errungen<br />
werden muss. Insofern ist die »europäische<br />
Identität« ein »offenes Projekt«,<br />
allerdings eines, das unverzichtbare Impulse<br />
seiner griechisch-römischen <strong>und</strong><br />
jüdisch-christlichen Traditionen verdankt,<br />
<strong>und</strong> das die Akzeptanz universaler<br />
Menschenrechte, rechtsstaatlicher Demokratie<br />
<strong>und</strong> einer politische Kultur des<br />
Pluralismus voraussetzt. 14 Der Lackmus-<br />
Test für einen islamischen Beitrag zur<br />
»europäischen Identität« ist der geplante<br />
Beitritt der Türkei zur EU.<br />
4. Integration, Assimilation<br />
<strong>und</strong> Parallelgesellschaften<br />
Immer wieder wird zur Beschreibung<br />
unversöhnlicher Alternativen das Begriffspaar<br />
»Integration« <strong>und</strong> »Assimilation«<br />
verwendet. »Integration« wird bejaht,<br />
»Assimilation« emphatisch verworfen.<br />
Selten werden beide Begriffe klar definiert<br />
<strong>und</strong> bleiben somit in einer Grauzone,<br />
die je nach Interessenlage für die poli-<br />
tische Auseinandersetzung genutzt werden.<br />
Offensichtlich verstehen die Imame<br />
»Assimilation« als die Aufforderung an<br />
die Muslime, »bedingungslos Religion,<br />
Kultur <strong>und</strong> sprachliche Vielfalt aufgeben<br />
zu sollen.« Nicht nur im Blick auf den<br />
vorliegenden Text fragt man sich, wer<br />
denn in Europa (abgesehen von ultrakonservativen.<br />
rechtspopulistischen <strong>und</strong><br />
rechtsextremistischen Kräften) ein solches<br />
Ansinnen ernsthaft an Muslime<br />
richtet. Das Gegenteil dürfte der Fall sein.<br />
In allen EU-Staaten müht sich die Politik<br />
um Integration <strong>und</strong> Anerkennung des<br />
Islam, sicherlich teilweise zögerlich <strong>und</strong><br />
mit bescheidenem Erfolg. In der Tat ist,<br />
wie die Imame zu Protokoll geben, »Integration<br />
… keine Einbahnstraße, sondern<br />
… ein beidseitiger Prozess.« Genau hier<br />
liegen aber Differenzen <strong>und</strong> Spannungen,<br />
wenn es darum geht, beidseitige<br />
Integrationsleistungen konkret zu benennen.<br />
Die Forderung der WE, dass sich die<br />
»Mehrheitsgesellschaft« zur »Diversität«<br />
bekennen <strong>und</strong> gegen Rassismus <strong>und</strong> Diskriminierung<br />
Front machen soll, ist mit<br />
der umstrittenen Anti-Diskriminierungsrichtlinie<br />
der EU <strong>und</strong> ihrer Umsetzung in<br />
nationales Recht im Prinzip erfüllt. Jetzt<br />
kommt es darauf an, die Bestimmungen<br />
im Alltag tatsächlich praktisch umzusetzen.<br />
Die in der WE vorgeschlagenen<br />
praktischen »Anreize <strong>und</strong> Möglichkeiten<br />
verbesserter Partizipation« sind teilweise<br />
schon erreicht, teilweise wird darüber<br />
heftig gestritten: erleichterte Einbürgerung,<br />
Familienzusammenführung, Zugang<br />
<strong>zum</strong> Arbeitsmarkt, diversity management,<br />
positive Diskriminierung <strong>und</strong><br />
Quoten, Nostrifzierung (d.h. rechtliche<br />
Anerkennung) ausländischer Bildungsgänge<br />
<strong>und</strong> kommunales Wahlrecht. Vor<br />
allem über die Forderung »positiver Diskriminierung«<br />
<strong>und</strong> Quotenregelung<br />
(wobei nicht klar ist, wie diese aussehen<br />
soll) wird es mit Sicherheit Auseinandersetzungen<br />
geben, weil hier ein Gr<strong>und</strong>problem<br />
einer »Politik der Anerkennung«<br />
(Charles Taylor) in der Spannung <strong>zwischen</strong><br />
staatsbürgerlicher Gleichheit des<br />
Einzelnen <strong>und</strong> Anerkennung kollektiver<br />
(ethnischer, religiöser, kultureller) Iden-<br />
12 EUGEN SORG, Das Land, wo Blut <strong>und</strong> Honig floss. http://www.weltwoche.ch/artikel/?AssetID=11897&CategoryID=73; FRANSCISCO GARCIA FITZ, Auf dem Weg <strong>zum</strong> Djihad.<br />
Die Toleranz im islamischen Spanien ist nur ein multikultureller Mythos. DIE WELT, 1. Juni 2006. SIEGFRIED KOHLHAMMER, Ein angenehmes Märchen. In: Merkur, H.651, Juli 2003,<br />
S.595 ff. Zur Geschichte von Al-Andalus: MARIA ROSA MENOCAL, Die Palme im Westen. Muslime, Juden <strong>und</strong> <strong>Christen</strong> im alten Andalusien. Berlin, 2003. RICHARD FLETCHER, Moorish<br />
Spain. Berkeley, 1992.<br />
13 CHRISTIAN MEIER, Die griechisch-römische Tradition. In: HANS JOAS/KLAUS WIEGANDT (Hrsg.) Die kulturellen Werte Europas. Frankfurt/Main, 2005. S. 95 f. Zur wissenschaftlichen<br />
Leistung des Islam im Mittelalter vgl. MONTGOMERY WATT, WOLF-GÜNTER LERCH, Philosophen<br />
14 Vgl. ebda. <strong>und</strong> WOLFGANG HUBER, Die jüdisch-christliche Tradition. In: JOAS, Kulturelle Werte, S. 69 ff.; Vgl. ferner zur Konstruktion europäischer Identität THOMAS MEYER, Die<br />
Identität Europas. Frankfurt/Main, 2004.<br />
Kandel, Die »Wiener Erklärung« der Konferenz der Imame <strong>und</strong> SeelsorgerInnen CIBEDO-<strong>Beiträge</strong> 2/2006
titäten berührt wird. Es kann gewiss kein<br />
EU-weites Patentrezept geben. Politiken<br />
des Multikulturalismus stehen gegenwärtig<br />
nicht zu Unrecht in der Kritik, weil<br />
die Gefahr besteht, dass die »positive Diskriminierung«<br />
partikularer Minoritäten<br />
den Gr<strong>und</strong>satz staatsbürgerlicher Gleichheit<br />
<strong>und</strong> staatlicher Neutralität gegenüber<br />
Religionen, Kulturen <strong>und</strong> Weltanschauungen<br />
aushebeln kann. 15 Die Entwicklung<br />
in Großbritannien sollte uns<br />
hierzulande ein warnendes Beispiel sein. 16<br />
Zu Recht mahnen die Imame an, dass<br />
bei der »Definition <strong>und</strong> Verwendung des<br />
Begriffs ‚Parallelgesellschaft’ … mehr Sorgfalt<br />
gehegt« werde. In der Tat ist der<br />
Begriff »Parallelgesellschaft« im politischen<br />
Diskurs streckenweise zu einem<br />
Kampfbegriff verkommen. Gelegentlich<br />
gewinnt man den Eindruck, dass bereits<br />
eine gewisse sozialräumliche Konzentration<br />
von <strong>Muslimen</strong> <strong>und</strong> die häufig damit<br />
einhergehende Ausbildung einer eigenen<br />
Infrastruktur im Blick auf wirtschaftliche<br />
<strong>und</strong> soziale Dienstleistungen, Medienkonsum,<br />
Kultur- <strong>und</strong> Freizeiteinrichtungen<br />
zu einer demokratiegefährdenden<br />
Segregation hochstilisiert wird, ohne dass<br />
<strong>zwischen</strong> ethnischen Kolonien, »Ghettos«<br />
<strong>und</strong> Parallelgesellschaften unterschieden<br />
wird. Die Imame merken an:<br />
»Die berechtigte Pflege von Kultur <strong>und</strong><br />
Religion innerhalb eines geschützten Raumes<br />
soll nicht bereits unter den Generalverdacht<br />
von bewusster Abkapselung gestellt<br />
werden. Die Querverbindungen, Vernetzungen<br />
<strong>und</strong> der Dialog nach draußen zeigen,<br />
dass es hier nicht um eigene Abschottung,<br />
sondern um ‚community’-Bildung<br />
geht, deren Ziele etwa in der Wahrnehmung<br />
sozialer Aufgaben der Gesellschaft<br />
zugute kommen können.« Sicherlich ist die<br />
»berechtigte Pflege von Kultur <strong>und</strong> Reli-<br />
CIBEDO-<strong>Beiträge</strong> 2/2006<br />
gion« ein demokratisches Recht von Individuen<br />
<strong>und</strong> Kollektiven <strong>und</strong> hat durch<br />
die Bestrebungen der UNESCO, das<br />
Recht auf »kulturelle Vielfalt« als Menschenrecht<br />
zu definieren, besondere Förderung<br />
erfahren. 17 Das Problem liegt darin,<br />
was unter »kultureller Vielfalt« verstanden<br />
<strong>und</strong> in welchem Umfang sie<br />
geschützt werden soll. Wie soll ferner der<br />
geforderte »geschützte Raum« aussehen?<br />
Der Kopftuchstreit in Deutschland hat<br />
z.B. sehr deutlich gemacht, dass die<br />
Gefahr besteht, unter Verweis auf den<br />
Schutz »kultureller Vielfalt« nur eine<br />
bestimmte Interpretation islamischer<br />
Bekleidungsvorschriften zu schützen.<br />
Der Staat hat hier faktisch einen »Orthodoxieschutz«<br />
übernommen, grenzt die<br />
Vertreter anderer Interpretationen aus<br />
<strong>und</strong> ermutigt jene, die ihre ultrakonservative<br />
Lesart des Koran zur allein Wahren<br />
erheben <strong>und</strong> in Anspruch nehmen für<br />
alle Muslime zu sprechen. 18<br />
Ferner sollte geklärt werden, was unter<br />
»Parallelgesellschaften« tatsächlich verstanden<br />
werden soll. Es gibt zunächst eine<br />
große Diskrepanz <strong>zwischen</strong> einer »gefühlten«<br />
Parallelgesellschaft (»die schotten sich<br />
ab«, »die Mehrheitsgesellschaft will uns<br />
nicht«) <strong>und</strong> den tatsächlichen objektiven<br />
Bef<strong>und</strong>en. Über »Parallelgesellschaften«<br />
wird intensiver seit Ende der neunziger<br />
Jahre im Diskurs über die »multikulturelle<br />
Gesellschaft« diskutiert. Der globale<br />
Terrorismus, vor allem aber der Mord an<br />
Theo van Gogh (November 2004) <strong>und</strong><br />
die Terroranschläge in London (7. Juli<br />
2005), die von jungen <strong>Muslimen</strong> der<br />
zweiten, bzw. dritten Generation von<br />
Einwanderern begangen wurden, die in<br />
den Niederlanden, bzw. Großbritannien<br />
aufwuchsen, haben die Diskussion über<br />
die Entwicklung kulturell abgeschotteter<br />
Gegenwelten <strong>und</strong> »Parallelgesellschaften«<br />
überall in Europa kräftig angeheizt. Doch<br />
was sind eigentlich »Parallelgesellschaften»?<br />
»Parallelgesellschaften« sind soziale<br />
Räume, in denen die Kommunikation<br />
<strong>zwischen</strong> »Mehrheitsgesellschaft« <strong>und</strong><br />
relativ homogenen sozialen Kollektiven<br />
(ethnisch, kulturell <strong>und</strong> oder religiös definiert)<br />
gestört oder gar schon abgebrochen<br />
ist. In »Parallelgesellschaften« werden<br />
gezielt Gegeninstitutionen in Wirtschaft,<br />
Arbeitsmarkt, Bildung <strong>und</strong> Freizeit aufgebaut.<br />
Soziale Kontrolle, ausgeübt von<br />
dominanten Führungspersönlichkeiten<br />
innerhalb der ethnischen, religiösen <strong>und</strong><br />
kulturellen Gruppen, verdichtet sich zu<br />
psychischem <strong>und</strong> physischem Zwang<br />
gegenüber einzelnen »Abweichlern« <strong>und</strong><br />
Gruppen. In Parallelgesellschaften gelten<br />
die individuellen Menschenrechte praktisch<br />
nicht mehr, weil die dominanten<br />
Gruppen <strong>und</strong> ihre Eliten verhindern, dass<br />
die Menschen sie in Anspruch nehmen.<br />
Vollständige Parallelgesellschaften sind<br />
dann erreicht, wenn sie auch noch eine<br />
eigene Rechtsordnung ausbilden. Insofern<br />
widersprechen »Parallelgesellschaften«<br />
gr<strong>und</strong>sätzlich dem Leitbild einer<br />
demokratischen Zivilgesellschaft <strong>und</strong><br />
bedrohen die individuellen Menschenrechte,<br />
den gesellschaftlichen Zusammenhalt<br />
sowie die Integration. Nach dieser<br />
Definition sehe ich für Deutschland<br />
<strong>und</strong> Österreich zwar noch keine voll ausgebildeten<br />
Parallelgesellschaften, aber<br />
Ansätze in einzelnen urbanen Regionen.<br />
19<br />
Die Imame fordern die weitere »Institutionalisierung«<br />
des Islam, d.h. die Schaffung<br />
eigener Einrichtungen, <strong>und</strong> sie warnen<br />
davor, solche als »antiintegratives<br />
Gegenmodell« mit einer »Vorverurteilung«<br />
zu belegen. Die Warnung ist sicher<br />
15 Es gibt im wissenschaftlich-politischen Diskurs erhebliche Meinungsverschiedenheiten darüber, was Minderheitenrechte sind <strong>und</strong> welche gesellschaftlichen Folgen es hat, wenn der Staat<br />
ethnische, kulturelle <strong>und</strong> religiöse Rechte von Minoritäten anerkennt. JAKOB T. LEVY, The Multiculturalism of Fear. Oxford, 2000. S. 127 ff. entwickelt ein nützliches Kategorienschema<br />
kultureller Rechte (»cultural rights-claims«). Ferner: CLAUS OFFE. »Homogenität« im demokratischen Verfassungsstaat – Sind politische Gruppenrechte eine adäquate Antwort auf Identitätskonflikte?<br />
In: Peripherie – Demokratie <strong>und</strong> Minderheitenrechte, Nr. 64, 1996. UNNI WIKAN, Generous Betrayal. Politics of Culture in the New Europe. Chicago/London, 2002. Siehe auch<br />
die Debatte zu »affirmative action« in den USA. Profiliertester Kritiker einer Politik des Multikulturalismus ist der britische Philosoph BRIAN BARRY, Culture and Equality. Cambridge, 2002.<br />
16 Siehe zu Großbritannien v.a. MELANIE PHILLIPS, Londonistan. How Britain Is Creating A Terror State Within. London, 2006.<br />
17 Universal Declaration on Cultural Diversity vom 2. November 2001. Die Erklärung sieht aber sehr klar die Spannung <strong>zwischen</strong> der Berufung auf das Recht auf »kulturelle Differenz« <strong>und</strong><br />
konkurrierende individuelle Menschenrechte: »No one may invoke cultural diversity to infringe upon human rights guaranteed by international law, nor limit their scope.« (Article 4).<br />
18 Monika Wohlrab-Sahr, in der wissenschaftlichen community durch eine Arbeit über Konvertiten bekannt geworden, kommentiert genau diese Problematik sehr korrekt <strong>und</strong> beschreibt die<br />
gesellschaftlichen Wirkungen von Gerichtsurteilen: »Eine problematische Folge der Gerichtsurteile <strong>zum</strong> Islam – sei es <strong>zum</strong> Kopftuch oder <strong>zum</strong> Schächten ohne Betäubung – allerdings ist,<br />
dass sie – auch im öffentlichen Bewusstsein – zwangsläufig eine traditionalistische Form des Islam festschreiben, die aus dem Koran oder der muslimischen Tradition eine bestimmte, historisch<br />
invariante Konsequenz literalistisch ableitet. Der Verfassungsrechtler Dieter Grimm hat in diesem Zusammenhang von der Gefahr des Orthodoxieschutzes gesprochen. In Ermangelung<br />
objektiver Kriterien dafür, was zu einer Religion gehört <strong>und</strong> was nicht, sind die Richter auf die überzeugenden Selbstbeschreibungen derjenigen verwiesen, die ihr Verhalten mit dem<br />
Anspruch rechtfertigen, es sei von ihrer Religion zwingend vorgeschrieben.« MONIKA WOHLRAB-SAHR, So sichtbar unsichtbar. In: Freitag, 24. Oktober 2003. Monika Wohlrab-Sahr ist<br />
Professorin für Religionssoziologie an der Universität Leipzig. Sie veröffentlichte u.a. das Buch: Konversion <strong>zum</strong> Islam in Deutschland <strong>und</strong> den USA, Frankfurt a. M., Campus, 1999.<br />
19 Eine wirklich substantielle Definition von »Parallelgesellschaften« versucht THOMAS NEYER, Identitätspolitik. Vom Missbrauch kultureller Unterschiede. Frankfurt/Main, 2002, S. 208ff.<br />
Siehe das Themenheft der B<strong>und</strong>eszentrale für Politische Bildung: Aus Politik <strong>und</strong> Zeitgeschichte, 1-2/2006, 2. Januar 2006 zu »Parallelgesellschaften«. Ansätze für Parallelgesellschaften<br />
werden in zwei Berliner Regionalstudien festgestellt, der so genannten »Mitte« <strong>und</strong> »Kreuzberg-Friedrichshain« Studie des Zentrums für Demokratische Kultur. Zentrum Demokratische Kultur<br />
(Hrsg.), Aspekte der Demokratiegefährdung im Berliner Bezirk Mitte <strong>und</strong> Möglichkeiten der demokratischen Intervention, Berlin, 2004.<br />
Kandel, Die »Wiener Erklärung« der Konferenz der Imame <strong>und</strong> SeelsorgerInnen<br />
23
24<br />
berechtigt, denn fortschreitende Institutionalisierung<br />
sollte nicht von vornherein<br />
als Versuch der Schaffung parallelgesellschaftlicher<br />
Strukturen verdächtigt werden.<br />
Sie kann einen integrativen Effekt<br />
haben. Gleichwohl ist auch die kritische<br />
Nachfrae am Platze, wie offen <strong>und</strong> kommunikativ<br />
denn die bestehenden Einrichtungen<br />
tatsächlich sind, <strong>und</strong> ob sie nicht<br />
Ausgangsbasen für Abschottung <strong>und</strong><br />
Schaffung parallelgesellschaftlicher<br />
Strukturen werden können. Hier gibt es<br />
durchaus Gr<strong>und</strong> zur Sorge. Es muss Imamen<br />
zu denken geben, wenn das Misstrauen<br />
der »Mehrheitsgesellschaft« sich<br />
immer wieder auf Moscheeaktivitäten<br />
(z.B. Koranschulen) richtet. Nicht-Muslime<br />
wollen wissen, welcher Islam dort<br />
gelehrt <strong>und</strong> nach welchen pädagogischen<br />
Standards unterrichtet wird. Es ist zu fragen,<br />
wie offen <strong>und</strong> dialogfähig Moscheevereine<br />
sind, welche vertrauensbildenden<br />
Aktivitäten sie entfalten, um ihre nichtmuslimische<br />
Umgebung an ihrem Leben<br />
teilhaben zu lassen. Moscheen sind ja<br />
nicht nur Orte des Gebets, sondern haben<br />
soziale Funktionen, sie sind Orte der<br />
Kommunikation, Beratung, Bildung <strong>und</strong><br />
auch des Geschäfts. Hier finden wir muslimisches<br />
Alltagsleben. Ein »Tag der Offenen<br />
Moschee« reicht nicht, um Misstrauen<br />
zu zerstreuen, <strong>zum</strong>al wenn, wie in<br />
Deutschland, jedes Jahr neu, auf Büchertischen<br />
<strong>und</strong> in Bibliotheken von bestimmten<br />
Moscheen anti-demokratisches,<br />
islamistisches <strong>und</strong> anti-semitisches<br />
Schrifttum sowie anti-semitische audiovisuelle<br />
Medien auftauchen. Jüngstes <strong>und</strong><br />
krasses Beispiel ist die in Deutschland<br />
vom türkischen Okusan-Verlag auf DVD<br />
verkaufte antisemitische TV-Hetzserie<br />
»Zehras Augen«. 20<br />
Die Imame sehen das Problem wohl,<br />
sie fordern eine »offene Haltung« von<br />
Moscheen »nach draußen«. Es wird sich<br />
zeigen, mit welchen konkreten Aktionen<br />
eine solche Offenheit erreicht werden<br />
soll. Dass in diesem Zusammenhang nun<br />
ausgerechnet als leuchtendes Beispiel das<br />
englische Bradford genannt wird, ist<br />
befremdlich. Gerade Bradford ist überaus<br />
umstritten, denn hier sind, trotz der vielen<br />
gut gemeinten Bildungs- <strong>und</strong> Sozial-<br />
Projekte, ethnische Segregation <strong>und</strong> die<br />
Ausbildung islamischer Gegenwelten<br />
weit fortgeschritten. Es zeigt sich also das<br />
genaue Gegenteil einer offenen Haltung.<br />
Hier wurde in den frühen achtziger Jahren<br />
ein Schulleiter mit dem Vorwurf,<br />
»Rassist« zu sein, aus dem Amt gejagt,<br />
weil er es gewagt hatte, auf der Integration<br />
von Kindern asiatischer Herkunft zu<br />
bestehen <strong>und</strong> Englisch als erste Sprache<br />
in seiner Schule lehren wollte, hier brannten<br />
1989, angefeuert vom »Bradford Muslim<br />
Council« die »Satanischen Verse« Salman<br />
Rushdies, hier entzündeten sich<br />
(zuletzt 2001) heftige gewalttätige Auseinandersetzungen<br />
<strong>zwischen</strong> Einheimischen<br />
<strong>und</strong> Jugendlichen mit Migrationshintergr<strong>und</strong>.<br />
Und hier finden islamistische<br />
Gruppen Zulauf <strong>und</strong> festigen ihren<br />
Einfluss in der muslimischen community.<br />
Gerade für Bradford gilt, was der<br />
»Community Cohesion Report« des britischen<br />
Innenministeriums als bedenkliche<br />
Entwicklung von Parallelgesellschaften<br />
beklagte: »Separate educational arrangements,<br />
community and voluntary bodies,<br />
employment, places of worship, language,<br />
social and cultural networks, means that<br />
many communities operate on the basis of a<br />
series of parallel lives. These lives often do<br />
not seem to touch at any point, let alone<br />
overlap and promote meaningful interchanges.«<br />
21<br />
5 Presse- <strong>und</strong> Meinungsfreiheit<br />
versus Religionsfreiheit?<br />
Ganz offenk<strong>und</strong>ig bemühte sich die<br />
Imam-Konferenz, den im Frühsommer<br />
2006 langsam abebbenden sogenannten<br />
»Karikaturenstreit« nicht <strong>zum</strong> Zankapfel<br />
<strong>und</strong> Streitpunkt der Konferenz werden zu<br />
lassen. Versöhnliche Töne sind angesagt:<br />
Presse- <strong>und</strong> Meinungsfreiheit werden als<br />
»unverzichtbares <strong>und</strong> allgemeines Gut«<br />
bezeichnet. Sie stehe nicht im Widerspruch<br />
zur Religionsfreiheit. Es habe sich<br />
in Europa »ein gewisser gesellschaftlicher<br />
Konsens gebildet, wo Bereiche liegen, die<br />
eines besonderen Feingefühls bedürfen.« Es<br />
wird dankbar registriert, dass es Gesetze<br />
gebe, welche die religiösen Gefühle der<br />
Gläubigen schützten, gleichzeitig wird<br />
kritisch angemerkt, dass »sich im Umgang<br />
mit dem Islam ein solcher Konsens erst noch<br />
bilden muss.« Im Klartext heißt das: der<br />
20 Hessischer R<strong>und</strong>funk Fernsehen, Sendung Defacto 7. Mai 2006.<br />
21 Community Cohesion. A Report of the Independent Review Team. Chaired by Ted Cantle. London, 2001. S. 9.<br />
Schutz der »religiösen Gefühle« geht in<br />
Europa noch nicht weit genug! Hier wäre<br />
es interessant gewesen zu erfahren, welche<br />
zusätzlichen Schutzmaßnahmen die Imame<br />
von den europäischen Staaten erwarten.<br />
Dies ist eine hochbrisante Angelegenheit,<br />
weil die Gefahr besteht, dass unter<br />
dem Rubrum »Verletzung religiöser Gefühle«<br />
immer stärker legitime Kritik an islamischer<br />
Theologie <strong>und</strong> Religionspraxis in<br />
die Verbotszone gedrängt werden soll. Die<br />
Diskussion <strong>zum</strong> Thema »Islamophobie«wie<br />
sie in<strong>zwischen</strong> auf internationaler<br />
Ebene geführt wird, lässt immer<br />
gefährlichere Tendenzen von Selbstzensur<br />
als Folge z.T. bewusst inszenierter muslimischer<br />
»Empörung« nach vermeintlichen<br />
»Beleidigungen des Islam« (siehe<br />
Papstrede in Regensburg vom 12. September)<br />
erkennen.<br />
6. Bildung<br />
Die Ausführungen der Konferenz über<br />
Bildung sind überaus erfreulich. Die Forderungen<br />
von »lebenslänglichem Lernen«,<br />
Zugang zu Bildung unabhängig von der<br />
sozialen Schicht, größere Durchlässigkeit<br />
des Bildungswesen, Chancengleichheit,<br />
frühen Spracherwerb der jeweiligen Landessprache,<br />
Lernbegleitung <strong>und</strong> Lernberatung<br />
sind sicherlich in weiten Teilen<br />
von Politik <strong>und</strong> »Mehrheitsgesellschaften«<br />
Europas Konsens. Auch die positive<br />
integrative Rolle des Kindergartens, des<br />
Religionsunterrichts (im Rahmen des<br />
Regelunterrichts) <strong>und</strong> die vielfältigen Angebote<br />
der Erwachsenenbildung sind<br />
weitgehend unstrittig. Über die Konstruktion<br />
des Religionsunterrichts, der in<br />
Europa höchst differenziert organisiert<br />
ist, wird sicherlich weiter verhandelt werden<br />
müssen. Das »österreichische Modell«<br />
taugt auch hier nicht als schlicht zu<br />
übertragende Konzeption, sondern es<br />
sind die nationalen Traditionen <strong>und</strong> die<br />
sehr verschiedenen Zusammensetzungen<br />
der muslimischen Populationen zu<br />
berücksichtigen. In Deutschland geht die<br />
Debatte darüber nach dem Auftakt in der<br />
»Deutschen Islamkonferenz« in eine neue<br />
<strong>Gespräch</strong>sr<strong>und</strong>e, allerdings ist die Funktion<br />
des B<strong>und</strong>es auf die Rolle des Moderators<br />
<strong>und</strong> ggf. Ideenlieferanten beschränkt,<br />
denn über den Unterricht wird<br />
Kandel, Die »Wiener Erklärung« der Konferenz der Imame <strong>und</strong> SeelsorgerInnen CIBEDO-<strong>Beiträge</strong> 2/2006
in den B<strong>und</strong>esländern entschieden. Zur<br />
Zeit gibt es in keinem B<strong>und</strong>esland ordentlichen<br />
»bekenntnisgeb<strong>und</strong>enen« islamischen<br />
Religionsunterricht nach Art. 7,<br />
Absatz 3 GG, sondern nur »Platzhalter«-<br />
Modelle in NRW, Niedersachsen, Baden-<br />
Württemberg <strong>und</strong> Bayern. 22<br />
Sehr zu unterstützen ist die Forderung<br />
der Imame, dass sich die »Qualität« des<br />
Religionsunterrichts auch in der »Entwicklung<br />
der Koranschulen in den Gemeinden<br />
mit ihrem zusätzlichen Angebot vor<br />
allem auf dem Gebiet der Koranrezitation<br />
<strong>und</strong> der Pflege der Muttersprache positiv<br />
niederschlagen« solle, vor allem im Blick<br />
auf didaktisch geeignete Lehrmaterialien,<br />
Liedtexte, Bücher etc. Es ist sehr zu wünschen,<br />
dass die in Europa im Religionsunterricht<br />
erreichten religionspädagogischen<br />
Standards tatsächlich Eingang in<br />
die Koranschulen-Unterweisung finden.<br />
23 Noch ist davon wenig zu merken.<br />
7. Politik- <strong>und</strong> Staatsverständnis<br />
Ausführlich widmen sich die Imame<br />
dem islamischen Staats- <strong>und</strong> Politikverständnis,<br />
weil sie in dem Vorwurf an die<br />
Muslime, diese hätten »den Gedanken der<br />
Trennung von Macht- <strong>und</strong> Aufgabenbereichen<br />
<strong>zwischen</strong> politischer <strong>und</strong> geistlicher<br />
Führung nicht vollzogen« eine »Wurzel von<br />
großen Missverständnissen« erblicken. Das<br />
Thema anzusprechen, ist sehr löblich,<br />
denn in der Tat fokussiert sich die nichtmuslimische<br />
Kritik immer wieder auf das<br />
Verhältnis von säkularem Staat <strong>und</strong> Religion,<br />
das in allen europäischen Demokratien<br />
im verfassungsrechtlich verankerten<br />
Gr<strong>und</strong>satz der Trennung von Staat <strong>und</strong><br />
Kirche Ausdruck gef<strong>und</strong>en hat, gleichgültig<br />
wie dies im einzelnen geregelt ist.<br />
Nach Auffassung der Imame sollte die<br />
nicht-muslimische Seite im Blick auf das<br />
Verhältnis von Staat <strong>und</strong> Religion die<br />
»Entwicklung der islamischen Länder«<br />
berücksichtigen, weil dies die »von vielen<br />
CIBEDO-<strong>Beiträge</strong> 2/2006<br />
<strong>Muslimen</strong> vielfach als überheblich empf<strong>und</strong>ene<br />
eigenzentrierte Sichtweisen positiv<br />
erweitern <strong>und</strong> die prinzipielle Vergleichbarkeit<br />
historischer Abläufe hinterfragen,<br />
die jetzt unter dem Stichwort ‚mangelnde<br />
Aufklärung’ im europäischen Diskurs <strong>zum</strong><br />
Allgemeinplatz wurde.« Denn »de facto<br />
war die politische Führung über weiteste<br />
Strecken der islamischen Geschichte autonom<br />
<strong>und</strong> gestaltete sich nicht in Personalunion<br />
mit den religiösen Würdenträgern.«<br />
Umgekehrt sollte den <strong>Muslimen</strong> ein »besseres<br />
Verständnis der europäischen<br />
Geschichte … gewisse Befindlichkeiten« seitens<br />
der Nicht-Muslime verklären <strong>und</strong><br />
»das gegenseitige Verständnis vertiefen«.<br />
Aus diesen gew<strong>und</strong>enen <strong>und</strong> blumig formulierten<br />
Sätzen gewinnt der Beobachter<br />
folgende Erkenntnisse:<br />
● Erstens: Das westliche Politik- <strong>und</strong><br />
Staatsverständnis wird von <strong>Muslimen</strong><br />
vielfach als überheblich empf<strong>und</strong>en.<br />
● Zweitens: Historische Abläufe im Westen<br />
<strong>und</strong> im Orient sind bezüglich ihrer<br />
Vergleichbarkeit zu hinterfragen.<br />
● Drittens: Die Kritik an »mangelnder<br />
Aufklärung« im Islam wird als degoutant<br />
empf<strong>und</strong>en.<br />
● Viertens: Das europäische Staatsverständnis,<br />
wie es sich in der Geschichte<br />
entwickelt hat, wird in erster Linie auf<br />
der Ebene von »Befindlichkeiten« betrachtet,<br />
nach der Melodie: »So sind sie<br />
nun mal die Europäer mit ihrer Aufklärungsgeschichte«.<br />
● Fünftens: Die Trennung von Staat <strong>und</strong><br />
Religion ist in der islamischen Geschichte<br />
weitestgehend »de facto« umgesetzt<br />
worden.<br />
Das Ganze ist im Geist der Distanz<br />
<strong>und</strong> einer milde apologetischen Argumentation<br />
gehalten, ohne dass – bis auf<br />
die bloße Behauptung, »de facto« seien<br />
Staat <strong>und</strong> Religion ȟber weiteste Strecken<br />
der islamischen Geschichte autonom« gewesen<br />
– der Versuch gemacht wird, für den<br />
europäischen Kontext eine islamische<br />
Begründung für die behauptete Vereinbarkeit<br />
von Islam <strong>und</strong> rechtsstaatlicher<br />
Demokratie zu geben. Damit hier kein<br />
Missverständnis aufkommt: Der demokratische<br />
Rechtsstaat kann von Religionen<br />
nur die unbedingte Einhaltung der<br />
Rechtsordnung (»Rechtstreue«) verlangen,<br />
aber keine theologische Begründung<br />
<strong>und</strong> Legitimation von Demokratie. Das<br />
stellt sich im zivilgesellschaftlichen Diskurs<br />
f<strong>und</strong>amental anders dar. Gerade im<br />
Dialog sollte an dieser Stelle nachgefragt<br />
werden. Es müssen Begründungen erwartet,<br />
ja gefordert werden. Denn es ist nicht<br />
gerade vertrauensbildend, wenn die muslimische<br />
Seite gelegentlich den Eindruck<br />
erweckt, dass sie eigentlich einem islamischen<br />
Staatsideal à la Medina bei Vollgeltung<br />
der Scharia folgt <strong>und</strong> die rechtsstaatliche<br />
Demokratie nur als gerade noch zu<br />
ertragenes (weil Religionsfreiheit gewährendes!)<br />
Provisorium gelten lässt. Die<br />
eigentlich substantielle staatstheoretische<br />
Debatte steht noch aus. Es gibt bis heute<br />
keine konsistente »islamische Staatstheorie«<br />
mit der Präferenz für eine bestimmte<br />
Regierungsform. Staat <strong>und</strong> Religion wurden<br />
»de facto« über weite Strecken in islamischen<br />
Gemeinwesen unterschieden, sie<br />
waren aber wohl kaum »autonom«, wie es<br />
in der WE heißt. 24 Es wäre näher zu<br />
bestimmen, wie sich das Spannungsfeld<br />
von religiöser Autorität (die Rolle der<br />
»ulema«) <strong>und</strong> weltlicher Herrschaft (Kalifat)<br />
in der islamischen Geschichte entwickelte<br />
<strong>und</strong> welche Erkenntnisse sich<br />
daraus ggf. für eine moderne islamische<br />
Begründung von rechtsstaatlicher Demokratie<br />
gewinnen lassen. 25<br />
Die eigentümliche Heftigkeit, mit der<br />
die Imame die »wiederholt laut gewordene<br />
Forderung« nach »Abschaffung der Scharia«<br />
zurückweisen (»Vorurteile, Scheinwissen,<br />
unqualifizierte Äußerungen«) <strong>und</strong> als<br />
Versuch interpretieren, die »Abschaffung<br />
des Islam« zu betreiben, zeigt, dass hier ein<br />
empfindlicher Nerv berührt wird. Es liegt<br />
an den <strong>Muslimen</strong> selbst deutlich zu<br />
sagen, was sie unter Scharia verstehen<br />
<strong>und</strong> welche Bedeutung die Scharia auch<br />
für das Leben von <strong>Muslimen</strong> in nichtmuslimischer<br />
Umgebung haben soll.<br />
Weil dieser Punkt so heikel <strong>und</strong> gewiss<br />
auch mit Vorurteilen <strong>und</strong> Scheinwissen<br />
22 Vgl. <strong>zum</strong> aktuellen Stand des Islamunterrichts: STEFAN REICHMUTH/MARK BODENSTEIN/MICHAEL KIEFER/BIRGIT VÄTH (Hg.), Staatlicher Islamunterricht in Deutschland. Berlin, 2006.<br />
23 Vgl. IRKA-CHRISTIN MOHR, Islamischer Religionsunterricht in Europa. Bielefeld, 2005.<br />
24 Siehe vor allem PATRICIA CRONE, God’s rule. Government and Islam. New York, 2004. TILMAN NAGEL, Staat <strong>und</strong> Glaubensgemeinschaft im Islam. Geschichte der politischen Ordnungsvorstellungen<br />
der Muslime. 2 Bde. Zürich/München, 1981. Ausgezeichnete knappe Problematisierung bei GUDRUN KRÄMER, »Der Islam ist Religion <strong>und</strong> Staat«: Zum Verhältnis<br />
von Religion, Recht <strong>und</strong> Politik im Islam. In: F<strong>und</strong>amentalismus, Terrorismus, Krieg. Hrsgg. von WOLFGANG SCHLUCHTER. Weilerswist, 2003, S. 52 ff. Vgl. auch GUDRUN KRÄMER,<br />
Gottes Staat als Republik, Reflexionen zeitgenössischer Muslime zu Islam, Menschenrechten <strong>und</strong> Demokratie. Baden-Baden, 1999, S. 49 ff. BASSAM TIBI, Der wahre Imam. Der Islam von<br />
Mohammed bis zur Gegenwart. München, 1998.<br />
25 Sehr anregend ANGELIKA HARTMANN; Kalifat <strong>und</strong> Herrschaft im Islam. In: Geschichte <strong>und</strong> Erinnerung im Islam. Hrsgg. Von ANGELIKA HARTMANN. Göttingen, 2004. S. 223 ff.<br />
Kandel, Die »Wiener Erklärung« der Konferenz der Imame <strong>und</strong> SeelsorgerInnen<br />
25
26<br />
behaftet ist, muss unbedingt Klarheit<br />
geschaffen werden. Leider bleibt die WE<br />
hier sehr ungenau <strong>und</strong> ausweichend, um<br />
es vorsichtig zu sagen. Wieso ist der<br />
Begriff Scharia als Strafrecht »völlig falsch<br />
interpretiert«? Und keineswegs regelt die<br />
Scharia, wie uns die WE Glauben<br />
machen will, nur »die Glaubenspraxis auf<br />
Gr<strong>und</strong>lage der Quellen«!<br />
Scharia ist in einem weiten Sinn ein<br />
System von Normen <strong>und</strong> Regeln sowie<br />
ein Verfahren zur Gewinnung von Normen,<br />
das sich von Koran <strong>und</strong> Sunna ableitet,<br />
wobei religiöse <strong>und</strong> rechtliche Vorschriften<br />
zusammen die Scharia bilden. 26<br />
Gemeinhin wird <strong>zwischen</strong> zwei Dimensionen<br />
von Scharia unterschieden: »ibadat«,<br />
das sind Regeln <strong>zum</strong> religiösen<br />
Ritus, Pflichtgebet etc. (also das, was die<br />
WE unter »Glaubenspraxis« versteht) <strong>und</strong><br />
»mu’amalat«, das erfasst Materien<br />
<strong>zwischen</strong>menschlicher Beziehungen, z.B.<br />
Erb-, Ehe-, Familienrecht <strong>und</strong> eben auch<br />
das Strafrecht mit den menschenrechtlich<br />
völlig inakzeptablen »hadd«-Strafen<br />
(Grenzvergehen) für Ehebruch <strong>und</strong> Unzucht,<br />
Verleumdung wegen Unzucht,<br />
Diebstahl, Straßen- <strong>und</strong> Raubmord<br />
sowie Alkoholgenuss. 27<br />
Warum lässt die WE in dieser Frage<br />
die um Aufklärung ringenden Nicht-<br />
Muslime <strong>und</strong> Muslime erneut im Dunkeln?<br />
Solange die Scharia-Frage nicht<br />
offen diskutiert <strong>und</strong> geklärt wird, helfen<br />
hehre offizielle muslimische Erklärungen<br />
über die »Vereinbarkeit einer demokratischen<br />
Ordnung mit dem Islam« wenig, um<br />
Misstrauen abzubauen <strong>und</strong> dem Verdacht<br />
vorzubeugen, es gäbe muslimische<br />
Kräfte, die die Einführung »der« Scharia<br />
im Vollsinne auch im demokratischen<br />
Europa befürworteten.<br />
Interessant ist auch der nach der<br />
Behauptung der Vereinbarkeit von Islam<br />
<strong>und</strong> Demokratie folgende Satz: »Die<br />
Identifikation mit dem Staat ist dann<br />
naturgemäß besonders hoch, wenn eine<br />
größtmögliche Deckungsgleichheit mit persönlichen<br />
Wertvorstellungen damit einhergeht.«<br />
Das ist eine durchaus legitime Forderung<br />
<strong>und</strong> man kann sie als Angebot<br />
gegenüber dem Staat lesen, wachsende<br />
Loyalität gegen immer stärkere Berücksichtigung<br />
der »persönlichen Wertvorstellungen«<br />
in Aussicht zu stellen. Was<br />
geschieht aber, wenn sich diese Hoffnungen<br />
nicht erfüllen <strong>und</strong> die »Wertvorstellungen«<br />
von Staat <strong>und</strong> religiöser Minderheit<br />
auseinander gehen? In weltanschaulich<br />
neutralen Staaten wie Österreich <strong>und</strong><br />
Deutschland ist die Berücksichtigung<br />
muslimischer Interessen, z.B. im Blick<br />
auf manche umstrittenen Formen der<br />
Religionspraxis (z.B. das Kopftuch), nur<br />
in einem schwierigen Aushandlungsprozess<br />
divergierender Interessen zu erreichen.<br />
Ein in der WE befürworteter <strong>und</strong><br />
in Österreich praktizierter »institutionalisierter<br />
Dialog« ist hierbei natürlich sehr<br />
hilfreich. Das wünschte man sich für<br />
Deutschland auch. Die »Deutsche Islamkonferenz«,<br />
die am 27. September ihre<br />
Arbeit aufnahm, ist ein wichtiger Schritt<br />
in diese Richtung.<br />
Positiv ist der Aufruf der Imame zu<br />
größerer politischer Partizipation über<br />
die Wahrnehmung des Wahlrechts hinaus<br />
in Elternvertretungen von Schulen,<br />
ArbeitnehmerInnenvertretung <strong>und</strong> der<br />
Parteienlandschaft. Zugleich mahnen die<br />
Imame die Politik, »ihren Part im beidseitigen<br />
Prozess der Integration ernst zu nehmen«<br />
<strong>und</strong> stellen »mit Besorgnis … diskriminierende<br />
Haltungen« fest, die Eingang<br />
in die Politik finden. Erneut ist vom<br />
»Generalverdacht« <strong>und</strong> der »Islamfeindlichkeit«<br />
die Rede. »Sondergesetze« gegen<br />
Muslime dürfe es nicht geben. Worauf<br />
sich diese Warnung konkret bezieht,<br />
bleibt nebulös. Dass »Rassismus Unrecht«<br />
ist <strong>und</strong> »jede Herrschaft, die darauf gründet<br />
illegitim« ist, das ist internationaler<br />
Standard <strong>und</strong> müsste nicht eigens hervorgehoben<br />
werden. Das wird von keinem<br />
Demokraten bestritten. Allerdings<br />
wäre es schon wichtig zu wissen, was die<br />
Imame unter Rassismus verstehen, denn<br />
es gibt durchaus Meinungsverschiedenheiten<br />
darüber. Oft dient der Rassismusverdacht<br />
vordergründiger Abwehr von<br />
legitimer Kritik an bestimmten kulturellen<br />
<strong>und</strong> religiösen Praktiken. Weiter heißt<br />
es: »Antisemitismus <strong>und</strong> Islamfeindlichkeit<br />
sind aufarbeitungsbedürftig.« Das ist eine<br />
merkwürdig zurückhaltende Formulierung<br />
<strong>und</strong> natürlich nicht zu bestreiten.<br />
Wenn damit aber angedeutet werden soll,<br />
dass »Antisemitismus« <strong>und</strong> »Islamfeindlichkeit«<br />
lediglich Spielarten von Rassismus<br />
sind <strong>und</strong> sie sich gleichen, dann<br />
muss widersprochen werden. Es gibt bislang<br />
keinen wissenschaftlichen <strong>und</strong> politischen<br />
Konsens über den Antisemitismusbegriff,<br />
wohl aber eine in Politik <strong>und</strong><br />
Wissenschaft weithin akzeptierte »Working<br />
Definition« von Antisemitismus. 28<br />
Dagegen bleibt »Islamfeindlichkeit« völlig<br />
diffus, wie auch der seit Ende der<br />
neunziger Jahre in den öffentlichen<br />
Diskurs eingeführte Begriff der »Islamophobie«.<br />
29 Hier müsste in der Tat noch<br />
viel »aufgearbeitet« werden. Antisemitismus<br />
als jahrh<strong>und</strong>ertealter Judenhaß,<br />
der sich im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert bis zur fast<br />
vollständigen physischen Vernichtung<br />
des europäischen Judentums steigerte,<br />
kann unmöglich auf die gleiche Bewertungsebene<br />
gehoben werden wie »Islamophobie«.<br />
Nirgendwo, <strong>und</strong> schon gar<br />
nicht in Europa, werden Muslime pauschal<br />
mit physischen Vernichtungsdrohungen<br />
überzogen.<br />
8. Wirtschaft<br />
»Wohlstand soll nicht auf Kosten anderer<br />
erworben werden, sondern mit Verantwortung<br />
verb<strong>und</strong>en sein«, formulieren die<br />
Imame. Eine Wirtschaft ohne ethische<br />
Richtlinien ist für sie nicht vorstellbar.<br />
Die Wirtschaftsordnung soll von den<br />
Gr<strong>und</strong>prinzipien: soziale Gerechtigkeit<br />
<strong>und</strong> nachhaltiges, ökologisches Wirtschaften<br />
bestimmt werden. Das sind sehr<br />
26 MATHIAS ROHE, Islamismus <strong>und</strong> Scharia. In: Integration <strong>und</strong> Islam. Hrsgg. vom B<strong>und</strong>esamt für Migration <strong>und</strong> Flüchtlinge. Nürnberg, 2005. S. 123. Dort weitere aktuelle Literatur.<br />
27 In einigen Rechtsschulen wird auch der Abfall vom Islam (»Apostasie«) zu den »hadd«- Vergehen gezählt. Einige islamische Staaten verfolgen Vergewaltigung <strong>und</strong> Homosexualität als<br />
»hadd«- Vergehen. Treffende Erläuterung des Komplexes bei CHRISTINE SCHIRRMACHER/URSULA SPULER-STEGEMANN, Frauen <strong>und</strong> die Scharia. Die Menschenrechte im Islam.<br />
München, 2004, S. 37 ff.<br />
28 Vgl. die »Working Definition« wie sie der deutsche Diplomat Ulrich Sahm vorgeschlagen hat: »Anti-Semitism is a certain perception of Jews, which may be expressed as hatred toward<br />
Jews.« http://usahm.de/Dokumente/ANTISEMITISM17050.htm<br />
29 Die Diskussion über Islamophobie ist stark von den Kriterien bestimmt worden, die der Runnymede Trust 1997 in seiner Schrift »Islamophobia – A Challenge for all of us« formulierte. Die<br />
Kritik hat m.E. mit Recht deutlich gemacht, dass Islamophobie ein vager, diffuser Begriff ist, der völlig disparate Phänomene vermeintlicher »Islamfeindlichkeit« erfasst <strong>und</strong> allzu häufig als<br />
bloßer Kampfbegriff zur Verhinderung legitimer Kritik an Theologie <strong>und</strong> religiöser Praxis des Islam verwendet wurde. Zur Kritik vgl. v.a. KENAN MALIK, The Islamophobia Myth (February<br />
2005). www.kenanmalik.com/essays/islamophobia_prospect.html<br />
Kandel, Die »Wiener Erklärung« der Konferenz der Imame <strong>und</strong> SeelsorgerInnen CIBEDO-<strong>Beiträge</strong> 2/2006
egrüßenswerte Gr<strong>und</strong>sätze, die auch<br />
von weiten Teilen des politischen Spektrums<br />
<strong>und</strong> der christlichen Religionsgemeinschaften<br />
in Österreich <strong>und</strong> Deutschland<br />
vertreten werden. Die ökonomische<br />
Kritik an einer vermachteten Wirtschaft,<br />
die mitunter ihren Hauptzweck aus den<br />
Augen verliert, nämlich die Menschen<br />
mit Gütern <strong>und</strong> Dienstleistungen zu versorgen,<br />
<strong>und</strong> ausschließlich dem Fetisch<br />
des Renditenzuwachses huldigt, wird<br />
sicher von vielen <strong>Muslimen</strong> <strong>und</strong> Nicht-<br />
<strong>Muslimen</strong> geteilt. Wie das traditionelle<br />
islamische Zinsverbot (»riba«) für Gelddarlehen<br />
in eine globalisierte kapitalistische<br />
Wirtschaft passt, <strong>und</strong> ob die Alternative,<br />
die Erfolgsbeteiligungsfinanzierung,<br />
ähnliche wirtschaftliche Funktionen<br />
übernehmen kann, ist aber höchst strittig.<br />
Das islamische Banking-System wird<br />
auch längst nicht in allen islamischen<br />
Staaten praktiziert <strong>und</strong> selbst in den Staaten,<br />
die eine »islamische Finanzwirtschaft«<br />
praktizieren, gibt es Mischsysteme. Dennoch<br />
sollte die islamische Kritik am Zins,<br />
die auch von den christlichen Kirchen<br />
Jahrh<strong>und</strong>erte lang geübt wurde, <strong>und</strong> die<br />
angebotenen flexiblen Alternativen zu<br />
weiteren Diskussionen über die Rolle der<br />
Geldwirtschaft im Kapitalismus Anlass<br />
sein. 30<br />
9. Frauen<br />
Die »Frauenfrage« gibt immer wieder<br />
Anlass zu heftigen <strong>und</strong> kontroversen<br />
Debatten, nicht nur <strong>zwischen</strong> <strong>Muslimen</strong><br />
<strong>und</strong> Nicht-<strong>Muslimen</strong>, sondern auch<br />
innerhalb der muslimischen communities.<br />
Seit Frauenrechte zu den internationalen<br />
Menschrechtsstandards gehören<br />
<strong>und</strong> in alle Verfassungen moderner demokratischer<br />
Staaten inkorporiert worden<br />
sind, hat sich der Druck auf jene islamischen<br />
Staaten massiv erhöht, in denen mit<br />
Hilfe ultrakonservativer <strong>und</strong> islamistischer<br />
Koran- <strong>und</strong> Traditionsauslegungen<br />
patriarchalisch-tribale Diskriminierungen<br />
CIBEDO-<strong>Beiträge</strong> 2/2006<br />
<strong>und</strong> Unterdrückung von Frauen gestützt<br />
wird. Es ist beklemmend, dass die Dominanz<br />
solcher Interpretationen nur von<br />
wenigen einzelnen progressiven muslimischen<br />
Intellektuellen <strong>und</strong> kleinen mutigen<br />
Frauengruppen bekämpft wird. 31<br />
Haben diese in islamischen Staaten einen<br />
schweren Stand, so ist es umso unverständlicher,<br />
warum Muslime »in der Diaspora«<br />
nicht viel kritischer <strong>und</strong> unverkrampfter<br />
mit diesen Traditionen umgehen,<br />
bietet doch die rechtsstaatliche <strong>und</strong><br />
pluralistische Demokratie glänzende<br />
Gelegenheiten zu offener <strong>und</strong> kritischer<br />
Diskussion, ohne dass die Beteiligten mit<br />
staatlichen Repressionen rechnen müssen.<br />
Die Ausführungen der Imame zur<br />
Frauenfrage schließen sich an die eingangs<br />
genannten, der WE vorangegangenen,<br />
öffentlichen Bek<strong>und</strong>ungen an.<br />
»Mann <strong>und</strong> Frau sind im Islam gleichwertige<br />
Partner« heißt es, »die gegenseitige Verantwortung<br />
tragen <strong>und</strong> gleich an Menschenwürde<br />
sind.« Als »Frauenrechte« werden<br />
bezeichnet: das »Recht auf Lernen<br />
<strong>und</strong> Lehre, das Recht auf Arbeit, finanzielle<br />
Unabhängigkeit, aktives <strong>und</strong> passives<br />
Wahlrecht, Teilhabe im gesellschaftlichen<br />
Diskurs«. Jede »Form von Verletzung von<br />
Frauenrechten« soll »kritisiert <strong>und</strong> bekämpft<br />
werden«. Weiterhin soll den Frauen<br />
»Chancengleichheit <strong>und</strong> mündige <strong>und</strong><br />
freie Orientierung … ermöglicht werden«.<br />
Diese Formulierungen klingen mutig, ja<br />
sogar kämpferisch. Gleichwohl sind einige<br />
äußerst ambivalent <strong>und</strong> verbergen<br />
geschickt eine konservative <strong>und</strong> patriarchalische<br />
Gr<strong>und</strong>haltung: Die Rede von<br />
der »Gleichwertigkeit« <strong>und</strong> gleichen<br />
Menschenwürde bezieht sich ausschließlich<br />
auf das Verhältnis von Mann <strong>und</strong><br />
Frau vor Gott. Von gesellschaftlicher<br />
Gleichberechtigung ist nicht die Rede, deshalb<br />
schließt die WE auch nicht an die in<br />
den internationalen Menschenrechtserklärungen<br />
<strong>und</strong> der österreichischen B<strong>und</strong>esverfassung<br />
(Art. 7) gewählten Formulierungen<br />
an 32 , was der einfachste Weg<br />
gewesen wäre, um allen Missverständnis-<br />
sen vorzubeugen, sondern gesteht den<br />
Frauen nur einige ausgewählte Rechte zu.<br />
Vom Recht auf individuelle Selbstbestimmung<br />
ist z.B. nicht die Rede, etwa vom<br />
Recht der Frau, sich auch einen nichtmuslimischen<br />
Ehepartner auszuwählen<br />
(Art. 16 der Allgemeinen Erklärung der<br />
Menschenrechte).<br />
Die Imame legen großen Wert auf die<br />
Unterscheidung von »Religion an sich«<br />
<strong>und</strong> kulturellen Traditionen. So wichtig<br />
Differenzierungen hier sind <strong>und</strong> so sehr<br />
jede »Verengung auf eine einzige religiöse<br />
Perspektive unzulässig« wäre, so problematisch<br />
ist es auch, wenn mit einer solchen<br />
Argumentation der religiöse Legitimationsanteil<br />
für frauenfeindliche Einstellungen<br />
<strong>und</strong> Diskriminierungen heruntergespielt<br />
werden soll. Islam in der Gegenwart<br />
ist nur zu verstehen, wenn der religiöse<br />
Kern im Kontext von Kulturen <strong>und</strong><br />
Zivilisationen gesehen wird. Es ist korrekt<br />
zu sagen, dass »frauenfeindliche Strukturen<br />
… verschiedene Ausformungen« haben <strong>und</strong><br />
deshalb »religions- <strong>und</strong> kulturübergreifendes<br />
Denken« sich »gemeinsam gegen familiäre<br />
Gewalt <strong>und</strong> strukturelle Benachteiligungen<br />
von Frauen« wenden sollte. Die<br />
Frage, nach den spezifisch religiösen Legitimationen<br />
von Frauenfeindlichkeit,<br />
gleichviel von welcher Religion sie ausgehen,<br />
bleibt aber relevant <strong>und</strong> muss im<br />
»Dialog« diskutiert werden. Die Imame<br />
sehen ja offensichtlich aufklärende »theologische<br />
Argumentationsschienen« <strong>und</strong><br />
möchten diese einbringen. Das könnte<br />
bei der geforderten Analyse des »Ehrbegriffes«<br />
praktisch fruchtbar werden, wenn<br />
tatsächlich einmal gefragt würde, welchen<br />
Anteil koranische <strong>und</strong> in der Tradition<br />
vorfindliche Denkfiguren neben<br />
»lokalen« <strong>und</strong> »kulturbedingten Vorstellungen«<br />
dabei haben.<br />
Die Imame wünschen eine »verstärkte<br />
Partizipation muslimischer Frauen«, um<br />
»Ausgrenzungstendenzen <strong>und</strong> Diskriminierungen«<br />
entgegen zu treten. Das dürfte<br />
Konsens in allen rechtsstaatlichen Demo-<br />
30 Vgl. JOHANNES REISSNER, Die innerislamische Diskussion zur modernen Wirtschafts- <strong>und</strong> Sozialordnung. In: ENDE/STEINBACH, Der Islam in der Gegenwart, S.152 ff.<br />
31 AMINA WADUD, Inside The Gender Djihad. Women’s Reform in Islam. Oxford, 2006. AMINA WADUD/AMINA WADID-MUHSIN, Qur’an and Woman: Rereading the Sacred Text<br />
from a Woman’s Perspective. Oxford, 1999. AZIZAH Y. AL-HIBRI, Qu’ranic Fo<strong>und</strong>ations of the Rights of Muslim Women In The Twenty-First Century. In: Women in Indonesian Society:<br />
Access, Empowerment, Opportunity 3. Edited by ATHO MUDZHAR et al., Sunan Kalijaga Press, 2001. S. 21. Dieselbe, Deconstructing Patriarchal Jurisprudence in Islamic Law. A Faithful<br />
Approach. In: A.K. WING/A. KATHERINE (Hg.) Feminism. An International Reader. New York/London, 2000. S. 3221 ff. RIFFAT HASSAN, Gender Equality and Justice in Islam.<br />
www.crescentlife.com/thisthat/members_one_of_another.htm<br />
32 In Artikel 7 der österreichischen B<strong>und</strong>esverfassung heißt es: (1) Alle B<strong>und</strong>esbürger sind vor dem Gesetz gleich. Vorrechte der Geburt, des Geschlechtes, des Standes, der Klasse <strong>und</strong> des<br />
Bekenntnisses sind ausgeschlossen (...) (2) B<strong>und</strong>, Länder <strong>und</strong> Gemeinden bekennen sich zur tatsächlichen Gleichstellung von Mann <strong>und</strong> Frau. Maßnahmen zur Förderung der faktischen<br />
Gleichstellung von Frauen <strong>und</strong> Männern insbesondere durch Beseitigung tatsächlich bestehender Ungleichheiten sind zulässig. In Artikel 3, Absatz 2 GG steht: »Männer <strong>und</strong> Frauen sind<br />
gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen <strong>und</strong> Männern <strong>und</strong> wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.« Satz 2<br />
formuliert ein Staatsziel!<br />
Kandel, Die »Wiener Erklärung« der Konferenz der Imame <strong>und</strong> SeelsorgerInnen<br />
27
28<br />
kratien Europas sein. Wie soll das geschehen?<br />
Gefordert werden »Maßnahmen zur<br />
Mädchen- <strong>und</strong> Frauenförderung«, allerdings<br />
nur solche, die »eine religiös sensible<br />
Gr<strong>und</strong>haltung« anerkennen. Es bleibt<br />
vage, wie niedrigschwellige Angebote<br />
staatlich geförderter »kultur- <strong>und</strong> religionssensible<br />
Beratungs- <strong>und</strong> Hilfseinrichtungen«<br />
aussehen sollen. Welche Hilfen<br />
sollen gegeben werden? Wer entscheidet<br />
über die religiöse <strong>und</strong> kulturelle »Sensibilität«?<br />
Die Imame? Örtliche Moscheevereine?<br />
Islamische Verbände? Vor dem<br />
Hintergr<strong>und</strong> eines, vorsichtig ausgedrückt,<br />
dominant konservativen Frauenbildes<br />
im europäischen Islam, wäre es<br />
höchst problematisch, wenn Mädchen<strong>und</strong><br />
Frauenförderung allein diesen Wertvorstellungen<br />
folgen sollte. Wenn »Selbstermächtigung«,<br />
wie es ambitiös heißt, das<br />
Ziel sein soll, so wäre es hilfreich, das<br />
näher zu erläutern. Es ist auch Konsens,<br />
dass – bei allen Schwierigkeiten in der<br />
Praxis – Frauen der Weg in den Arbeitsmarkt<br />
geebnet werden muss. Doch<br />
sicherlich geht es bei »Selbstermächtigung«<br />
nicht nur darum, sondern die menschenrechtlichen<br />
Gr<strong>und</strong>standards müssen<br />
der unverzichtbare Ausgangspunkt<br />
jeder Frauenpolitik sein.<br />
»Kopftuchverbote sind kontraproduktiv,<br />
da sie Frauen von wesentlichen Bereichen<br />
des Lebens ausschließen. Im Widerspruch<br />
<strong>zum</strong> Recht auf freie Religionsausübung<br />
grenzen sie islamisch gekleidete Frauen aus<br />
<strong>und</strong> bewirken damit in vielen Fällen genau<br />
jenen Rückzug, den sie zu bekämpfen vorgeben.«<br />
Die Position ist klar: »Islamisch<br />
gekleidete Frauen« sind Kopftuchträgerinnen,<br />
andere – auch islamisch zu begründende<br />
– Meinungen werden als unislamisch<br />
abgewehrt. Diskussionen über die<br />
Stimmigkeit <strong>und</strong> Plausibilität der in<br />
Koran, Sunna <strong>und</strong> Traditionen gegebenen<br />
Begründungen für das Kopftuch <strong>und</strong><br />
die Frage, ob diese Bekleidungsvorschriften<br />
in Europa genauso gelten müssen wie<br />
z.B. in Saudi-Arabien, werden offensichtlich<br />
als illegitime Versuche, »Glaubenspraxis<br />
von außen« zu interpretieren,<br />
zurückgewiesen. Das ist erstaunlich,<br />
denn die Imame fordern gleichzeitig,<br />
»dass auch im Bereich von Ehe <strong>und</strong> Familie<br />
auf Herausforderungen der Moderne auf<br />
dem Boden der Theologie neue islamische<br />
Antworten gef<strong>und</strong>en werden sollen.« Das<br />
gilt offenbar nicht für das Kopftuch. Die<br />
angedachten »neue(n) islamische(n) Antworten«<br />
sehen die Imame in erster Linie<br />
im Blick auf den islamischen Ehevertrag.<br />
Eine Konkretion dieser interessanten<br />
These bleibt aber leider aus.<br />
Über die Kontraproduktivität von<br />
Kopftuchverboten ist hinlänglich gestritten<br />
worden, <strong>und</strong> das Thema ist noch<br />
nicht erledigt, wie die Debatte in<br />
Deutschland zeigt. 33 Bedauerlich ist, dass<br />
nicht gesagt wird, auf welche gesellschaftlichen<br />
Bereiche sich »Kopftuchverbote«<br />
beziehen sollen. Nirgendwo in Europa<br />
sind islamische Kopftücher im gesellschaftlichen<br />
Leben generell verboten.<br />
Verbote beziehen sich bekanntlich nur<br />
auf den Bildungs- <strong>und</strong> Ausbildungsbereich<br />
sowie Teile der Arbeitswelt <strong>und</strong><br />
zudem auf verschiedene Personengruppen,<br />
z.B. Schüler <strong>und</strong>/oder Lehrer. Um<br />
Differenzierung geht es den Imamen leider<br />
nicht. Die verfassungsrechtlichen<br />
Abwägungsfragen, die sich in einem religiös-<br />
<strong>und</strong> weltanschaulich neutralen Staat<br />
im Blick auf religiöse Symbole in säkularen<br />
Einrichtungen, wie der staatlichen<br />
Schule, stellen, interessieren sie auch<br />
nicht, <strong>und</strong> so bleiben sie einer Attitüde<br />
der Anklage verhaftet (»Bevorm<strong>und</strong>ung«).<br />
Es ist ja keineswegs zwingend, dass im<br />
Abwägungsprozess <strong>zwischen</strong> individueller<br />
Religionsfreiheit, Gr<strong>und</strong>rechten Dritter<br />
<strong>und</strong> Gütern von Verfassungsrang (so<br />
im deutschen Verfassungsrecht) die individuelle<br />
Religionsfreiheit stets Vorrang<br />
behalten muss. Die Rechtspraxis zeigt<br />
auch andere Regelungen. Es gibt auch<br />
Grenzen der Religionsfreiheit.<br />
Die Imame bleiben eine Antwort auf<br />
die spannende Frage schuldig, wie das<br />
von ihnen befürwortete »Selbstbestimmungsrecht«<br />
der Frau mit der als offenbar<br />
unbedingt verpflichtend empf<strong>und</strong>enen<br />
Verhüllungsgebot in Einklang gebracht<br />
werden soll. »Selbstbestimmt« wäre ja auch<br />
die Entscheidung einer Muslimin, das<br />
Kopftuch nicht zu tragen. Oder soll<br />
»Selbstbestimmung« nur in den Grenzen<br />
scharia-rechtlicher Bestimmungen möglich<br />
sein?<br />
10. Jugend<br />
In diesem Abschnitt finden sich viele<br />
Positionierungen, die ein hohes Maß an<br />
Gemeinsamkeiten mit der nicht-muslimischen<br />
»Mehrheitsgesellschaft« signalisieren.<br />
Wer wollte nicht zustimmen, junge<br />
Muslime als »Brückenbauer <strong>und</strong> Bindeglieder<br />
<strong>zwischen</strong> den Kulturen« anzuerkennen<br />
<strong>und</strong> ihr kulturelles Kapital, dass sich<br />
z.B. in »Mehrsprachigkeit« <strong>und</strong> »rascher<br />
Anpassungsfähigkeit im interkulturellen<br />
Bereich« ausdrückt, zu fördern? Auch ist<br />
unstrittig, dass in erheblichem Maße in<br />
Bildung investiert werden muss, um<br />
»Abschottung« <strong>und</strong> »Isolation« zu verhindern.<br />
Besondere Unterstützung sollte der<br />
Vorschlag finden, die Vernetzung jugendlicher<br />
Selbstorganisation von <strong>Muslimen</strong><br />
mit anderen Jugendorganisationen sowie<br />
die wissenschaftliche Forschung zu jungen<br />
<strong>Muslimen</strong> zu fördern. Hier gibt es in<br />
der Tat schmerzhafte Lücken <strong>und</strong> Forschungsdesiderate.<br />
11. Ökologie<br />
Wenn die Imame unter Verweis auf<br />
koranische Aussagen, die besondere Verantwortung<br />
<strong>und</strong> Statthalterschaft des<br />
Menschen <strong>zum</strong> Schutz von Gottes<br />
Schöpfung betonen, so ist hier ein weites<br />
Feld von Gemeinsamkeiten <strong>und</strong> Übereinstimmungen<br />
<strong>zwischen</strong> christlicher<br />
Schöpfungslehre <strong>und</strong> Islam angesprochen.<br />
Der vom »Islam empfohlene ‚Weg<br />
der Mitte’ … <strong>zwischen</strong> Genuss <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heitsbewusstsein,<br />
<strong>zwischen</strong> Konsum<br />
<strong>und</strong> Bewusstheit für größere wirtschaftliche<br />
Zusammenhänge, die nicht <strong>zum</strong> Schaden<br />
der Umwelt, seien es Mitmenschen <strong>und</strong><br />
Natur gereichen dürfen«, ist uneingeschränkt<br />
zu bejahen. In der Praxis ergeben<br />
sich viele Möglichkeiten zur Kooperation<br />
von <strong>Muslimen</strong> <strong>und</strong> Nichtmuslimen.<br />
■<br />
33 Siehe dazu JOHANNES KANDEL, Auf dem Kopf <strong>und</strong> in dem Kopf. Der »Kopftuchstreit« <strong>und</strong> die Muslime. Berlin, 2004. Hrsgg. von der Friedrich-Ebert-Stiftung (= Islam <strong>und</strong> Gesellschaft,<br />
Nr. 3).<br />
Kandel, Die »Wiener Erklärung« der Konferenz der Imame <strong>und</strong> SeelsorgerInnen CIBEDO-<strong>Beiträge</strong> 2/2006
Dokumentation<br />
Konferenz Europäischer Imame<br />
<strong>und</strong> Seelsorgerinnen Wien 2006<br />
Veranstaltet von der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich in<br />
Zusammenarbeit mit dem österreichischen Außenministerium, der Stadt<br />
Wien <strong>und</strong> der Europäischen Islamischen Konferenz<br />
Schlusserklärung der Konferenz<br />
Den Islam in Europa theologisch als<br />
kompatibel mit den Prinzipien der<br />
Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit,<br />
des Pluralismus <strong>und</strong> der Menschenrechte<br />
zu verorten, ist der Standortbestimmung<br />
der »Konferenz Leiter islamischer<br />
Zentren <strong>und</strong> Imame in Europa«<br />
im Jahre 2003 in der damaligen<br />
europäischen Kulturhauptstadt Graz<br />
gelungen. Gleichzeitig wurden jegliche<br />
Form von Fanatismus, Extremismus<br />
<strong>und</strong> Fatalismus klar verurteilt. Damit<br />
wurde nicht nur innermuslimisch ein<br />
wichtiges Zeichen der Orientierung<br />
gesetzt, sondern es sollte auch der Integrations-<br />
<strong>und</strong> Identifikationsprozess<br />
der Muslime, die in der Vielfalt ihrer<br />
ursprünglichen Herkunft ca. 50 Millionen<br />
Personen in Gesamteuropa umfassen,<br />
durch die Betonung des Partizipationsgedankens<br />
befördert werden.<br />
Als Zeugnis muslimischen Selbstverständnisses<br />
sollte aber auch nach außen<br />
ein wichtiges aufklärendes Signal getätigt<br />
werden, das Ängsten <strong>und</strong> Vorbehalten<br />
entgegenwirken könnte, um das<br />
friedliche <strong>und</strong> von gegenseitigem Verständnis<br />
<strong>und</strong> Respekt getragene Miteinander<br />
zu bestärken.<br />
CIBEDO-<strong>Beiträge</strong> 2/2006<br />
2006 muss von den Konferenzteilnehmern<br />
nüchtern festgestellt werden, dass es<br />
noch großer Anstrengungen auf allen Seiten<br />
bedürfen wird, um die Akzeptanz der<br />
Muslime in der Mehrheitsgesellschaft zu<br />
erreichen. In verschiedenen europäischen<br />
Ländern sind soziale <strong>und</strong> wirtschaftliche<br />
Spannungen gleichzeitig in Zusammenhang<br />
mit einer oft aggressiv <strong>und</strong> emotional<br />
geführten »Ausländerdebatte« zu<br />
bringen. Muslime werden pauschalierend<br />
benutzt, um ein Bild des »Fremden« entstehen<br />
zu lassen, das in Zeiten der Unsicherheit<br />
Halt in einer negativen Abgrenzung<br />
bietet. Es scheint, als solle damit ein<br />
»Wir«-Gefühl erzeugt werden, das Gesellschaften,<br />
die massiv unter einem Verlust<br />
des sozialen Zusammenhangs leiden,<br />
zunehmend abhanden kommt.<br />
Gleichzeitig sehen sich Muslime<br />
einem starken Rechtfertigungsdruck ausgesetzt,<br />
da nach dem Prinzip »bad news is<br />
good news« in der öffentlichen Wahrnehmung<br />
die Krisenberichterstattung Bilder<br />
von Aggression <strong>und</strong> Gewalt, oft an außereuropäischen<br />
Schauplätzen, in den Vordergr<strong>und</strong><br />
rückt. In der Diskussion tauchen<br />
immer wieder Kritikpunkte auf, die<br />
anhand einzelner Missstände eine Unver-<br />
träglichkeit »islamischer« mit »westlichen«<br />
Werten zu konstruieren suchen.<br />
Hier wird es von Seiten muslimischer<br />
Gelehrter nicht genügen, sich mit dem<br />
Verweis, dass solcherlei negative Erscheinungsformen<br />
im Gegensatz zur islamischen<br />
Lehre in überkommenen<br />
Traditionen wurzelten, als nicht weiter<br />
zuständig zu erklären. In der theologischen<br />
Argumentation liegen schließlich<br />
große <strong>und</strong> erprobte Möglichkeiten,<br />
nachhaltige Bewusstseinsveränderungen<br />
herbeizuführen. Diese sollen<br />
als Teil der Lösung aber auch erkannt,<br />
respektiert <strong>und</strong> im öffentlichen Diskurs<br />
gefördert werden.<br />
Die Moderne rückt die persönliche<br />
Verantwortung jedes einzelnen mündigen<br />
Bürgers stärker als je in den Mittelpunkt.<br />
Wir stehen vor gewaltigen Herausforderungen,<br />
was die Bewahrung<br />
von Frieden <strong>und</strong> Sicherheit, die Frage<br />
sozialer Gerechtigkeit <strong>und</strong> den Erhalt<br />
der Umwelt betrifft. Die Religionen<br />
leisten mit ihrem Appell zu verantwortlichem<br />
Handeln, das vom Gedanken<br />
an das Wohl anderer getragen sein soll,<br />
einen entscheidenden Beitrag. Sie können<br />
einen positiven Ausgleich zu auf<br />
Schlusserklärung der Konferenz Europäischer Imame in Wien 2006<br />
29
30<br />
Konsum ausgerichteten, an der individuellen<br />
Spaßoptimierung abgestellten<br />
Lebenseinstellungen schaffen.<br />
Der Islam trägt einen lösungsbezogenen<br />
Ansatz in sich, indem Vielfalt als<br />
gottgewollt nicht in Frage gestellt werden<br />
soll, sondern gelassen in mehr<br />
Kenntnis mündend nutzbar zu machen<br />
ist. »Gute Werke« bilden eine Maxime<br />
des Handelns. Wie eng Friede <strong>und</strong> Gerechtigkeit<br />
zusammen liegen, zeigt der<br />
Anspruch diskriminierungsfreien, gerechten<br />
Umgangs miteinander auf, unabhängig<br />
von Herkunft, Religion,<br />
gesellschaftlichem Ansehen oder Alter:<br />
»Diejenigen, die glauben <strong>und</strong><br />
ihren Glauben nicht mit Unrecht vermischen,<br />
sie sind es die Sicherheit<br />
haben <strong>und</strong> sie sind es, die rechtgeleitet<br />
sind.« (Sure 6, Vers 82)<br />
Die Konferenz beschäftigte sich in<br />
Arbeitsgruppen detailliert mit einzelnen<br />
Aspekten:<br />
Daraus gingen folgende Überlegungen<br />
hervor:<br />
Integrationssoziologie<br />
Der religiöse Anspruch persönliche<br />
Bereitschaft zu zeigen, Verantwortung für<br />
das Allgemeinwohl zu übernehmen, bildet<br />
die Gr<strong>und</strong>lage eines integrativen<br />
Zugangs, der den jeweiligen Lebensmittelpunkt<br />
<strong>zum</strong> vordringlichen Radius<br />
macht. So ist es natürlich, dass Muslime<br />
das Gastarbeiterimage zu überwinden<br />
suchen. Sie betrachten sich nicht als<br />
»Fremdkörper«, sondern als lebendigen<br />
Teil Europas. Große historisch gewachsene<br />
muslimische Populationen sind eine<br />
Tatsache. Der Islam ist auch aus der Leistung<br />
seines großen wissenschaftlichen<br />
<strong>und</strong> kulturellen Erbes direkter Bestandteil<br />
der europäischen Identität.<br />
Integration <strong>und</strong> Assimilation dürfen<br />
als Begrifflichkeiten nicht vermischt werden,<br />
wie dies bisher oft der Fall ist. Die<br />
Interaktion mit der Mehrheitsgesellschaft<br />
darf nicht zur Voraussetzung haben,<br />
bedingungslos Religion, Kultur <strong>und</strong><br />
sprachliche Vielfalt aufgeben zu sollen.<br />
Die mit Assimilationsforderungen implizierte<br />
Annahme der Minderwertigkeit<br />
des »anderen« führt zu Abkapselung <strong>und</strong><br />
Ghettoisierung.<br />
Integration ist keine Einbahnstraße,<br />
sondern als beidseitiger Prozess zu verstehen.<br />
Als aktiver <strong>und</strong> sichtbarer Teil<br />
suchen sich Muslime auf allen Gebieten<br />
bereichernd <strong>und</strong> ergänzend zu beteiligen:<br />
wirtschaftlich, kulturell, wissenschaftlich,<br />
politisch, sozial. Voraussetzung hierzu ist<br />
die Beherrschung der Landessprache als<br />
Instrument der Kommunikation. Von<br />
der Mehrheitsgesellschaft erwarten wir<br />
ein Bekenntnis zu Diversität, eine Haltung<br />
gegen Tendenzen von Rassismus<br />
<strong>und</strong> Diskriminierung. Anreize <strong>und</strong> Möglichkeiten<br />
der verbesserten Partizipation<br />
liegen in der erleichterten Einbürgerung<br />
bei gelungener Integration, bei der Familienzusammenführung,<br />
beim Zugang<br />
<strong>zum</strong> Arbeitsmarkt, diversitiy management,<br />
positiver Diskriminierung <strong>und</strong><br />
Quoten, der Nostrifizierung ausländischer<br />
Bildungsgänge, der demokratischen<br />
Teilhabe (z.B. kommunales Wahlrecht).<br />
Bei der Definition <strong>und</strong> der Verwendung<br />
des Begriffs »Parallelgesellschaft« soll<br />
mehr Sorgfalt gehegt werden. Die berechtigte<br />
Pflege von Kultur <strong>und</strong> Religion<br />
innerhalb eines geschützten Raumes<br />
soll nicht bereits unter den Generalverdacht<br />
von bewusster Abkapselung<br />
gestellt werden. Die Querverbindungen,<br />
Vernetzungen <strong>und</strong> der Dialog<br />
nach draußen zeigen, dass es hier nicht<br />
um eigene Abschottung, sondern um<br />
»community«-Bildung geht, deren Ziele,<br />
etwa in der Aufgabe sozialer Aufgaben,<br />
der Gesellschaft zugute kommen<br />
können. In einer Zeit wachsenden Pluralismus<br />
wäre es von Vorteil, wenn sich<br />
eine Einstellung durchsetzen könnte,<br />
die es als selbstverständliche Gegebenheit<br />
betrachtet, dass die Bevölkerung<br />
verschiedenste Interessens- <strong>und</strong> Neigungsgruppen<br />
umfasst, die möglichst<br />
in Ergänzung <strong>und</strong> Bereicherung vielfältige<br />
Überlappungen <strong>und</strong> Schnittstellen<br />
bilden.<br />
Unter diesem Aspekt sind auch Anstrengungen<br />
von muslimischer Seite zu<br />
betrachten, die Institutionalisierung<br />
eigener Einrichtungen anzustreben.<br />
Kindergärten, Schulen oder auch die<br />
Moscheeaktivitäten dürfen nicht als<br />
»antiintegratives Gegenmodell« mit<br />
einer Vorverurteilung belegt werden.<br />
Denn erste Erfahrungen beweisen, dass<br />
kluge <strong>und</strong> pädagogisch ausgereifte<br />
Konzepte, die auch Elemente der<br />
Kooperation <strong>und</strong> Vernetzung mit<br />
anderen Einrichtungen aufweisen, das<br />
Empowerment der jungen Generation<br />
stärken können, aber auch Brückenbaufunktionen<br />
übernehmen können.<br />
Moscheen stellen einen wesentlichen<br />
Aspekt im muslimischen Gemeindeleben<br />
dar. Ihre Unabhängigkeit,<br />
auf geistig-moralischer Ebene wie<br />
finanziell, ist ein Schlüssel für die authentische<br />
Entwicklung der Identität<br />
eines »Islam in Europa«. Imame <strong>und</strong><br />
andere Funktionsträger, Männer <strong>und</strong><br />
Frauen, innerhalb der muslimischen<br />
Community sind wichtige Multiplikatoren<br />
<strong>und</strong> haben Vorbildfunktion. Die<br />
Beteiligung von Frauen ist zu fördern.<br />
Um die Lebenswirklichkeit der Gemeinde<br />
in der Arbeit aufgreifen zu<br />
können, ist nicht nur sprachliche Kompetenz<br />
(Erwerb der Landessprache)<br />
eine Voraussetzung, sondern auch Wissen<br />
um gesellschaftliche Strukturen<br />
<strong>und</strong> Entwicklungen. Denn im Islam<br />
Schlusserklärung der Konferenz Europäischer Imame in Wien 2006 CIBEDO-<strong>Beiträge</strong> 2/2006
sind gesellschaftliche Rahmenbedingungen<br />
unbedingt bei der Beantwortung<br />
religiöser Fragen auf Basis der<br />
Quellen zu berücksichtigen. In der<br />
Aus- <strong>und</strong> Fortbildung der Imame<br />
steckt in Europa noch ein großes Entwicklungspotenzial.<br />
Sie sollen aus der<br />
Rolle der Respektperson heraustreten<br />
<strong>und</strong> zur Vertrauensperson werden,<br />
wozu es vermehrter sozialer Kompetenz<br />
bedürfen wird. Gebraucht werden<br />
eigene Bildungsinstitutionen, aber<br />
auch gezielte Weiterbildungsprogramme,<br />
die an den lokalen Bedürfnissen<br />
orientiert sind. Die Moschee soll auch<br />
in ihrer traditionellen Rolle als sozialer<br />
Knotenpunkt ins allgemeine Bewusstsein<br />
treten, indem entsprechende Aktivitäten<br />
von einer offenen Haltung nach<br />
draußen begleitet werden. Viel versprechend<br />
erscheinen hier die Ansätze von<br />
Bradford/England, wo eine Einbindung<br />
der lokalen Moschee-Gemeinden<br />
<strong>und</strong> Imame in Fortbildungsprojekte<br />
erfolgt.<br />
Presse- <strong>und</strong> Meinungsfreiheit sind<br />
ein unverzichtbares <strong>und</strong> allgemeines<br />
Gut. Es besteht kein Widerspruch zur<br />
Religionsfreiheit, da beide eng miteinander<br />
verknüpft sind. Meinungsfreiheit<br />
soll in Verantwortung ausgeübt<br />
werden <strong>und</strong> in Beachtung gegenseitigen<br />
Respekts. In Europa hat sich – von<br />
Land zu Land teilweise auch mit<br />
Unterschieden – doch ein gewisser gesellschaftlicher<br />
Konsens gebildet, wo<br />
Bereiche liegen, die eines besonderen<br />
Feingefühls bedürfen. Auch Gesetze<br />
kennen – wieder in unterschiedlicher<br />
Form – Paragraphen mit Schutzbestimmungen.<br />
Wir sehen, dass sich im<br />
Umgang mit dem Islam ein solcher<br />
Konsens erst noch bilden muss. Da wir<br />
uns <strong>zum</strong> Dialog als beste Lösung im<br />
Konfliktfall bekennen, sehen wir hier<br />
auch die beste Möglichkeit, mehr<br />
gegenseitiges Verständnis zu erreichen.<br />
CIBEDO-<strong>Beiträge</strong> 2/2006<br />
Bildung<br />
Bildung ist im Islam geradezu eine<br />
Lebenseinstellung, da lebenslängliches<br />
Lernen vorausgesetzt wird. Die Zugänglichkeit<br />
ist unabhängig von der sozialen<br />
Schicht zu gewährleisten. Viele Probleme<br />
ließen sich über Bildungsmaßnahmen<br />
konstruktiv angehen, indem damit<br />
eine Stärkung der Persönlichkeit, die<br />
Fähigkeit zu Selbstreflexion <strong>und</strong> Eigenkritik<br />
einhergeht.<br />
Horizonte zu erweitern wird aber auch<br />
gezielter Förderung der Mehrheitsgesellschaft<br />
bedürfen. Die soziale Durchlässigkeit<br />
des Bildungssystems ist in vielen<br />
europäischen Staaten problematisch,<br />
wovon Kinder <strong>und</strong> Jugendliche mit<br />
Migrationshintergr<strong>und</strong> besonders betroffen<br />
sind. Die Problematik von »Ghettoschulen«<br />
oder die hohe Zahl von Migrantenkindern<br />
in Sonderschulen soll vor<br />
dem sozialen Hintergr<strong>und</strong> gesehen werden<br />
<strong>und</strong> nicht als kulturell oder religiös<br />
bedingtes Phänomen.<br />
Chancengleichheit muss aktiv gefördert<br />
werden. Dazu gehören Investitionen<br />
in frühzeitigen Spracherwerb, Lernbegleitung<br />
<strong>und</strong> Lernberatung <strong>und</strong> beidseitige<br />
interkulturelle Kompetenz. Moscheen<br />
<strong>und</strong> muslimische Vereine können<br />
hier aktiv eingeb<strong>und</strong>en sein. Gleichzeitig<br />
geht es um den Abbau von Rassismus<br />
<strong>und</strong> Islamfeindlichkeit. Schulbildung<br />
prägt fürs Leben, weshalb Stereotypen,<br />
die über den Islam auf diesem Wege verbreitet<br />
wurden, besonders schwer zu<br />
überwinden sind, wie eine Schulbuchstudie<br />
von Frau Prof. Susanne Heine für<br />
Deutschland <strong>und</strong> Österreich nachwies.<br />
Heute bemüht man sich stärker <strong>und</strong> der<br />
Problematik bewusster um einen einfühlsamen<br />
<strong>und</strong> aufklärerischen Ansatz bei der<br />
Behandlung des Islam in Schulbüchern.<br />
Diese Tendenz ist noch zu verstärken <strong>und</strong><br />
unterstützen.<br />
Unbestritten ist die positive Rolle des<br />
Kindergartens auf die Entwicklung des<br />
Kindes. Die Vorteile für sprachliche <strong>und</strong><br />
soziale Entwicklung sind so groß, dass<br />
hier der Keim für ein späteres positives<br />
Fortkommen liegt. Die Empfehlung für<br />
den Kindergartenbesuch ist verb<strong>und</strong>en<br />
mit dem Hinweis, dass die Attraktivität<br />
für muslimische Eltern wesentlich zu<br />
steigern wäre, könnte auf ihre speziellen<br />
Bedürfnisse unter den Stichworten<br />
Interkulturalität <strong>und</strong> Beachtung religiöser<br />
Praxis (halal-Speiseangebot) besser<br />
eingegangen werden. Muslimische<br />
Kindergärten, die hier ein maßgeschneidertes<br />
Angebot haben, können<br />
oft gerade Kinder erreichen, deren<br />
Eltern sonst von einem Besuch Abstand<br />
genommen hätten. Als Programm<br />
zur späteren besseren Integration<br />
in die Regelschule sollen sie mehr<br />
Förderung erfahren.<br />
Religionsunterricht im Islam im<br />
Rahmen des Regelunterrichts an<br />
öffentlichen Schulen soll endlich als<br />
wirksames Instrument der Integration<br />
wahrgenommen werden. Die sichtbare<br />
Gleichstellung mit anderen Religionsgemeinschaften<br />
wirkt sich günstig auf<br />
das Zugehörigkeitsgefühl aus. Der in<br />
seiner Bedeutung unbestrittene Dialog<br />
der Religionen wird sich nur an die<br />
Basis tragen, wenn auch seine Mitglieder<br />
religiöse Wurzeln <strong>und</strong> Werte kennen.<br />
Darüber hinaus trägt Religionsunterricht<br />
zur Identitätsbildung aktiv<br />
bei, indem Unterschiede <strong>zwischen</strong> religiöser<br />
Lehre <strong>und</strong> kulturell bedingten<br />
Traditionen aufgezeigt werden <strong>und</strong> das<br />
Bewusstsein als Teil der europäischen<br />
Gemeinschaft gestärkt wird. Realitätsbezogener<br />
Unterricht in der jeweiligen<br />
Landessprache soll extremistische Meinungen<br />
als solche bloßstellen <strong>und</strong> einer<br />
Selbstethnisierung durch sprachliche<br />
oder vom Ursprungsland herrührende<br />
Ghettoisierung vorbeugen. Diese Qualität<br />
des Unterrichts soll sich auch auf<br />
die Entwicklung der Koranschulen in<br />
den Gemeinden mit ihrem zusätzlichen<br />
Angebot vor allem auf dem<br />
Gebiet der Koranrezitation <strong>und</strong> der<br />
Pflege der Muttersprache positiv<br />
niederschlagen. Dabei ist besonderes<br />
Augenmerk auf die Entwicklung didaktisch<br />
geeigneter Lehrmaterialien zu<br />
legen. Liedtexte, Kopiervorlagen <strong>und</strong><br />
Bücher sollen im Einklang mit dem<br />
offiziellen approbierten Lehrplan <strong>und</strong><br />
seiner Zielrichtung stehen. Die Lehrpläne<br />
<strong>und</strong> Lehrbücher werden ständig<br />
reformiert <strong>und</strong> an die neuen Gegebenheiten<br />
angepasst.<br />
Schlusserklärung der Konferenz Europäischer Imame in Wien 2006<br />
31
32<br />
Erwachsenenbildung ist mehr als<br />
einzig Sprachunterricht. Hier sollen<br />
gezielte Programme sinnvolle Freizeitgestaltung<br />
fördern.<br />
Politik<br />
Eine Wurzel von großen Missverständnissen<br />
liegt in dem Vorwurf an<br />
die Muslime, ein gespaltenes Verhältnis<br />
<strong>zum</strong> Staat zu haben, indem sie den<br />
Gedanken der Trennung von Macht<strong>und</strong><br />
Aufgabenbereichen <strong>zwischen</strong> politischer<br />
<strong>und</strong> geistlicher Führung nicht<br />
vollzogen hätten. Hier wäre ein historisch<br />
genaueres Bewusstsein sehr hilfreich,<br />
das auch die Entwicklung der<br />
islamischen Länder berücksichtigt, was<br />
in den schulischen Lehrplänen fast völlig<br />
vernachlässigt wird. Dieses Wissen<br />
könnte die von <strong>Muslimen</strong> vielfach als<br />
überheblich empf<strong>und</strong>ene eigenzentrierte<br />
Sichtweise positiv erweitern <strong>und</strong><br />
die prinzipielle Vergleichbarkeit historischer<br />
Abläufe hinterfragen, die jetzt<br />
unter dem Stichwort »mangelnde Aufklärung«<br />
im europäischen Diskurs <strong>zum</strong><br />
Allgemeinplatz wurde. Die Aufgeschlossenheit<br />
gegenüber den Wissenschaften<br />
wurde ein wesentlicher Faktor<br />
für die Entwickeltheit islamischer<br />
Gesellschaften, von der auch Europa<br />
gerade als Impulse für die Aufklärung<br />
profitierte. De facto war die politische<br />
Führung über weiteste Strecken der<br />
islamischen Geschichte autonom <strong>und</strong><br />
gestaltete sich nicht in Personalunion<br />
mit den religiösen Würdenträgern.<br />
Umgekehrt kann besseres historisches<br />
Verständnis der europäischen<br />
Geschichte <strong>Muslimen</strong> gewisse Befindlichkeiten<br />
erklären <strong>und</strong> das gegenseitige<br />
Verständnis vertiefen.<br />
Auch der Begriff »Scharia« wird<br />
immer wieder völlig falsch interpretiert<br />
(etwa als »Strafrecht«) <strong>und</strong> angewendet,<br />
woraus große Ängste <strong>und</strong> Abwehrhaltungen<br />
resultieren. Auch hier appellieren<br />
wir an die gebotene Sachlichkeit<br />
<strong>und</strong> korrekte Definition, die in der<br />
Betonung des dynamischen Charakters<br />
bei der Auslegung der Quellen gerade<br />
geeignet ist, Vorurteile zu entkräften.<br />
Wie kontraproduktiv Scheinwissen ist,<br />
zeigt die wiederholt laut gewordene Forderung<br />
nach »Abschaffung der Scharia«,<br />
die völlig absurd ist, da die Scharia die<br />
Glaubenspraxis auf Gr<strong>und</strong>lage der Quellen<br />
regelt, also etwa Fragen nach der<br />
Gebetswaschung, der Höhe der sozialreligiösen<br />
Pflichtabgabe für Bedürftige<br />
usw. Solche unqualifizierten Äußerungen<br />
können dem nötigen vertrauensbildenden<br />
Prozess nur abträglich sein, da er von<br />
<strong>Muslimen</strong> als Ruf nach Abschaffung des<br />
Islam verstanden werden muss. Die Vereinbarkeit<br />
einer demokratischen Ordnung<br />
mit dem Islam wurde wiederholt<br />
durch offizielle muslimische Erklärungen<br />
unterstrichen. Die Identifikation mit<br />
dem Staat ist dann naturgemäß besonders<br />
hoch, wenn eine größtmögliche Dekkungsgleichheit<br />
mit persönlichen Wertvorstellungen<br />
damit einhergeht. Somit ist<br />
das Modell des Anerkennungsstatus für<br />
den Islam, wie es in Österreich besteht,<br />
tatsächlich besonders geeignet, da es über<br />
die emotionale Ebene der Zugehörigkeit<br />
einen institutionalisierten Dialog mit sich<br />
bringt. Damit wird mit <strong>und</strong> nicht über<br />
Muslime geredet, <strong>und</strong> es können Sachfragen<br />
im Lande geklärt werden, ohne dass<br />
man auf ausländische Gutachten zurückgreifen<br />
müsste, die immer die Problematik<br />
in sich bergen, weder der konkreten<br />
Situation völlig angemessen zu sein, noch<br />
eigenständig aus der lokalen muslimischen<br />
Community erwachsen zu sein, die<br />
sich statt mit dergeforderten Eigenständigkeit<br />
oft »von außen« bestimmt sehen<br />
würde. Die Teilhabe von Menschen mit<br />
muslimischem Hintergr<strong>und</strong> an demokratischen<br />
Entscheidungsfindungsprozessen<br />
soll gesteigert werden. Die Imame weisen<br />
nicht nur darauf hin, passiv persönlich<br />
vom Wahlrecht Gebrauch zu machen,<br />
sondern auch aktive Möglichkeiten der<br />
Partizipation z.B. in Elternvertretungen<br />
von Schulen oder bei ArbeitnehmerInnenvertretungen<br />
aktiv zu unterstützen,<br />
aber auch innerhalb der Parteienlandschaft.<br />
Die Politik ist gefordert ihren Part<br />
im beidseitigen Prozess der Integration<br />
ernst zu nehmen. Hand in Hand mit<br />
integrationspolitischen Maßnahmen sollten<br />
solche <strong>zum</strong> Abbau von Fremdenfeindlichkeiten<br />
in all ihren Erscheinungsformen,<br />
auch jener der Islamfeindlichkeit,<br />
greifen. Mit Besorgnis sind Tendenzen<br />
festzustellen, wo diskriminierende<br />
Haltungen gegen Muslime in die Politik<br />
Eingang finden. Hier soll es keine<br />
Sondergesetze geben, denn Muslime<br />
dürfen nicht mit einer Art Generalverdacht<br />
belegt werden. Die Beweislastumkehr<br />
ist ein Verstoß gegen die<br />
Rechtsstaatlichkeit.<br />
Rassismus ist Unrecht <strong>und</strong> jede<br />
Herrschaft, die darauf gründet, ist illegitim.<br />
Antisemitismus <strong>und</strong> Islamfeindlichkeit<br />
sind aufarbeitungsbedürftig.<br />
Auch Muslime sind nicht vor Rassismus<br />
gefeit. Die Imamekonferenz<br />
spricht sich gegen jede Form von Rassismus<br />
<strong>und</strong> von ethnischer Diskriminierung<br />
innerhalb der muslimischen<br />
Gemeinden Europas aus.<br />
Wirtschaft<br />
Wohlstand soll im Islam nicht auf<br />
Kosten anderer erworben werden, sondern<br />
mit Verantwortung verb<strong>und</strong>en<br />
sein – Gesellschaftlich unter dem<br />
Aspekt sozialer Gerechtigkeit <strong>und</strong> ökologisch<br />
unter dem Gesichtspunkt<br />
nachhaltigen Wirtschaftens, das sorgsam<br />
mit den Ressourcen umgeht <strong>und</strong><br />
die Schöpfung zu pflegen <strong>und</strong> zu<br />
bewahren sucht.<br />
Menschenwürdiges Leben in Gegenwart<br />
<strong>und</strong> Zukunft zu sichern ist aus<br />
islamischer ökonomischer Sicht mit<br />
einer Reihe ethischer Richtlinien verb<strong>und</strong>en.<br />
Dazu gehören ein Zinsverbot,<br />
ein Monopolverbot, das Verbot von<br />
Spekulationen <strong>und</strong> die Pflicht zu einem<br />
verantwortungsvollen Umgang<br />
mit Konsum <strong>und</strong> Rohstoffen.<br />
Islamische Wirtschaftsgebote setzen<br />
darauf, dass Geld im Fluss bleiben soll.<br />
Parallel dazu ist auch die dritte Säule<br />
des Islam zu sehen, die als sozial-religiöse<br />
Pflichtabgabe einen Anteil von<br />
2,5 % des stehenden Vermögens als zu<br />
leistende »Reinigung« an Bedürftige<br />
abzugeben befiehlt. Hier geht es um<br />
Umverteilung im Sinne der Sicherung<br />
der Gr<strong>und</strong>bedürfnisse jedes einzelnen<br />
Mitglieds der Gemeinschaft.<br />
Schlusserklärung der Konferenz Europäischer Imame in Wien 2006 CIBEDO-<strong>Beiträge</strong> 2/2006
Zinsgeschäfte bringen durch den<br />
damit verb<strong>und</strong>enen Mechanismus des<br />
Kapitalhortens durch Banken mit sich,<br />
dass Geld im Umlauf fehlt. Die Reduzierung<br />
des Investitionsvolumens kann<br />
Arbeitslosigkeit verursachen, den<br />
Wettbewerb verfälschen, gesellschaftliche<br />
Spannungen verursachen. Staatverschuldung<br />
ist ein gewaltiges Problem<br />
nicht nur der dritten Welt. Ruin <strong>und</strong><br />
Verelendung betreffen ganze Bevölkerungsgruppen.<br />
Alternativen <strong>zum</strong> Zinsgeschäft<br />
wären durch Muslime weiterzuentwickeln<br />
<strong>und</strong> zu fördern. Die<br />
Nachfrage zeitigte bereits jetzt, dass<br />
westliche Banken islamische Geschäftszweige<br />
anbieten <strong>und</strong> dabei muslimische<br />
Experten beschäftigen.<br />
Muslime in Europa werden als Konsumenten<br />
ein immer stärkerer Faktor.<br />
Der Markt reagiert zunehmend, etwa<br />
auf dem Lebensmittelsektor, wo Halalzertifizierung<br />
Bedürfnisse dieser Käuferschicht<br />
decken soll. Das islamische<br />
Reinheitsgütesiegel wäre europaweit in<br />
standardisierter Form zu verwenden<br />
<strong>und</strong> sollte nach einheitlichen Kriterien<br />
vergeben werden, um hier muslimischen<br />
Konsumenten Sicherheit zu<br />
gewähren.<br />
CIBEDO-<strong>Beiträge</strong> 2/2006<br />
Frauen<br />
Mann <strong>und</strong> Frau sind im Islam gleichwertige<br />
Partner, die gegenseitige Verantwortung<br />
tragen <strong>und</strong> gleich an Menschenwürde<br />
sind. Das Recht auf Lernen <strong>und</strong><br />
Lehre, das Recht auf Arbeit, finanzielle<br />
Unabhängigkeit, aktives <strong>und</strong> passives<br />
Wahlrecht, Teilhabe im gesellschaftlichen<br />
Diskurs sind Pfeiler, die den Status absichern<br />
sollen. Chancengleichheit <strong>und</strong><br />
mündige <strong>und</strong> freie Orientierung soll<br />
Frauen ermöglicht werden. Diese gr<strong>und</strong>sätzlichen<br />
Aussagen der vorausgegangenen<br />
Konferenzen sollen im Folgenden<br />
weiter vertieft werden. Denn Frauenanliegen<br />
sind von gesamtgesellschaftlichem<br />
Interesse. Daher soll jede Form von Verletzung<br />
von Frauenrechten kritisiert <strong>und</strong><br />
bekämpft werden. Zwangsehe, FGM,<br />
Ehrenmorde <strong>und</strong> familiäre Gewalt haben<br />
keine Gr<strong>und</strong>lage im Islam.<br />
In der Außensicht manifestiert sich am<br />
Bild der Frau im Islam häufig die Einstellung<br />
gegenüber der Religion an sich.<br />
Begründet wird damit oft eine Position<br />
der Überlegenheit seitens der Mehrheitsgesellschaft.<br />
Mangelndes Wissen erschwert<br />
eine sachliche Auseinandersetzung.<br />
Werden Musliminnen vor allem als<br />
»Opfer« wahrgenommen, so drängt sie<br />
dies in ein Rollenklischee. Sich daraus zu<br />
lösen gelingt paradoxerweise schwer,<br />
solange die Mehrheitsgesellschaft an der<br />
Vorstellung der »religiös gefesselten« passiven<br />
muslimischen Frau festhält <strong>und</strong> Barrieren<br />
bereithält, will sie als sichtbar den<br />
Glauben praktizierende aktive Muslimin<br />
das Klischee brechen. Hier sollen wir zu<br />
einer solidarischen Denkens- <strong>und</strong> Handlungsweise<br />
finden. Frauenfeindliche<br />
Strukturen haben verschiedene Ausformungen.<br />
Religions- <strong>und</strong> kulturübergreifendes<br />
Denken wendet sich gemeinsam<br />
gegen familiäre Gewalt <strong>und</strong> strukturelle<br />
Benachteiligungen von Frauen. Die Reflexion<br />
über traditionelle Rollenzuschreibungen<br />
<strong>und</strong> Stereotype kann diese überwinden<br />
<strong>und</strong> Vernetzung <strong>und</strong> Zusammenarbeit<br />
fördern.<br />
Eine stärkere Differenzierung <strong>zwischen</strong><br />
Religion <strong>und</strong> Tradition, die häufig<br />
Frauen benachteiligt <strong>und</strong> dem Islam<br />
zuwiderläuft, ist unabdingbar. Ansonsten<br />
besteht die Gefahr, dass die Religion pau-<br />
schal verantwortlich für Missstände<br />
gemacht wird, <strong>und</strong> man übersieht, welche<br />
theologischen Argumentationsschienen<br />
gerade aufklärend <strong>und</strong> derartige<br />
Traditionen überwindend angezeigt<br />
sind. Gleichzeitig wäre eine Verengung<br />
auf eine einzig religiöse<br />
Perspektive unzulässig. Denn die Lebenswirklichkeit<br />
von muslimischen<br />
Frauen in Europa ist geprägt von diversen<br />
Faktoren, die als solche analysiert<br />
werden müssen. Der Ehrbegriff soll<br />
von Imamen analysiert <strong>und</strong> aus der<br />
Religion, im Gegensatz zu lokalen traditionellen<br />
<strong>und</strong> kulturbedingten Vorstellungen,<br />
begreiflich gemacht werden.<br />
Die verstärkte Partizipation muslimischer<br />
Frauen bedarf durchdachter<br />
politischer Konzepte, die Ausgrenzungstendenzen<br />
<strong>und</strong> Diskriminierungen<br />
entgegen treten. Maßnahmen zur<br />
Mädchen- <strong>und</strong> Frauenförderung, die<br />
eine religiöse Gr<strong>und</strong>haltung anerkennen,<br />
wären ein solcher Schritt. Staatlich<br />
geförderte kultur- <strong>und</strong> religionssensible<br />
Beratungs- <strong>und</strong> Hilfseinrichtungen<br />
von <strong>und</strong> für muslimische<br />
Frauen bieten ein besonders niederschwelliges<br />
Angebot <strong>und</strong> setzen Impulse<br />
der Selbstermächtigung. Frauen sollen<br />
frei von Abhängigkeitsverhältnissen<br />
sein. Der ungehinderte Zugang <strong>zum</strong><br />
Arbeitsmarkt ist dabei vordringlich.<br />
Unabhängigkeit ist stark an finanzielle<br />
Ungeb<strong>und</strong>enheit <strong>und</strong> damit Beschäftigung<br />
geb<strong>und</strong>en, wobei die Politik ausgleichende<br />
<strong>und</strong> gerechte Vorkehrungen<br />
treffen kann, damit Väter <strong>und</strong> Ehemänner<br />
nicht vordringlich als Versorger<br />
betrachtet werden müssen.<br />
Kopftuchverbote sind kontraproduktiv,<br />
da sie Frauen von wesentlichen<br />
Bereichen des Lebens ausschließen. Im<br />
Widerspruch <strong>zum</strong> Recht auf freie Religionsausübung<br />
grenzen sie islamisch<br />
gekleidete Frauen aus <strong>und</strong> bewirken<br />
damit in vielen Fällen genau jenen<br />
Rückzug, den sie zu bekämpfen vorgeben.<br />
Zusätzlich laden Verbote die<br />
Diskussion emotional weiter auf <strong>und</strong><br />
festigen Klischees, indem sie ihre<br />
Begründung just aus der Argumentation<br />
beziehen, die »Kopftuchträgerinnen«<br />
mit ihrem sichtbaren Teilhaben<br />
an der Gesellschaft überwinden: Das<br />
Schlusserklärung der Konferenz Europäischer Imame in Wien 2006<br />
33
34<br />
Kopftuch sei ein Symbol der Unterdrückung<br />
<strong>und</strong> des Zwangs, ein politisches<br />
Zeichen für eine extremistische<br />
Haltung <strong>und</strong> nicht konform mit europäischen<br />
Vorstellungen des Geschlechterverhältnisses.<br />
Die Bevorm<strong>und</strong>ung<br />
muslimischer Frauen, indem<br />
ein Teil der Glaubenspraxis von<br />
außen interpretiert <strong>und</strong> verurteilt wird,<br />
spricht ihnen ihre Mündigkeit ab <strong>und</strong><br />
kann damit Polarisierungstendenzen<br />
verschärfen. Das Selbstbestimmungsrecht<br />
der Frau soll aber außer Frage stehen<br />
– nach innen wie nach außen.<br />
Auch innerhalb der muslimischen<br />
Gemeinschaft besteht vermehrter<br />
Handlungsbedarf. Bewusstseinsbildung<br />
gegen jeden Missbrauch von Religion<br />
soll gefördert werden. Gleichzeitig<br />
bekennt sich die Konferenz dazu,<br />
dass auch im Bereich Ehe <strong>und</strong> Familie<br />
auf Herausforderungen der Moderne<br />
auf dem Boden der Theologie neue<br />
islamische Antworten gef<strong>und</strong>en werden<br />
sollen. Diese können auch in<br />
einem Wiederentdecken <strong>und</strong> neu<br />
nutzbar gemachtem Element wie dem<br />
islamischen Ehevertrag liegen. Dieser<br />
bietet dem Brautpaar die Möglichkeit,<br />
die Zukunft gemeinsam zu überdenken<br />
<strong>und</strong> Vereinbarungen festzuhalten.<br />
Jugend<br />
Jugendliche verkörpern als Zukunftsträger<br />
in besonderem Maße die<br />
Vision muslimischer Europäer – europäischer<br />
Muslime, die durch ihre als<br />
selbstverständlich wahrgenommene<br />
Identitätszugehörigkeit in beide Richtungen<br />
Brückenbauer <strong>und</strong> Bindeglieder<br />
<strong>zwischen</strong> den Kulturen sein können.<br />
Die muslimische Jugend soll sich<br />
ihrer speziellen Verantwortung in dieser<br />
Richtung bewusst sein. Dazu muss<br />
ein entsprechendes, ihre besonderen<br />
Kompetenzen schätzendes Klima vorhanden<br />
sein, das Mehrsprachigkeit,<br />
rasche Anpassungsfähigkeit im interkulturellen<br />
Bereich <strong>und</strong> eine aufgeschlossene<br />
Gr<strong>und</strong>haltung als persönliche<br />
Werte erkennt <strong>und</strong> fördert. Die<br />
Aufgabe, eine solche Wertschätzung zu<br />
vermitteln <strong>und</strong> daran angeknüpft Programme<br />
zur gezielten Förderung dieser<br />
Talente zu schaffen, liegt sowohl bei den<br />
muslimischen Familien <strong>und</strong> Gemeinschaften,<br />
als bei der Mehrheitsgesellschaft.<br />
Das Potential der muslimischen<br />
Jugendlichen soll anerkannt werden. Ihr<br />
Selbstbewusstsein ist zu stärken.<br />
Vorurteile <strong>und</strong> latente Fremdenfeindlichkeit<br />
können zu Abschottung <strong>und</strong> Isolation<br />
führen, durch die wiederum eine<br />
ablehnende Einstellung gegenüber »den<br />
anderen« gezüchtet werden kann.<br />
Dadurch können sich Polarisierungen<br />
aufbauen, die gesellschaftspolitischen<br />
Sprengstoff bieten. Diese präventiv anzugehen,<br />
bedarf es der im Bereich »Bildung«<br />
angesprochenen Maßnahmen. Muslimische<br />
Jugendliche sollen gleiche Möglichkeiten<br />
nutzen können wie Jugendliche<br />
der Mehrheitsgesellschaft (Beispiel: Europäische<br />
Austauschprogramme in Schul<strong>und</strong><br />
Berufs/Studienbildung, unabhängig<br />
von Staatsbürgerschaft). Jugendliche<br />
brauchen eine Perspektive. Sie sollen die<br />
gleichen Chancen vorfinden, im Berufsleben<br />
Fuß zu fassen oder eine Wohnung<br />
zu finden.<br />
Jugendliche Selbstorganisation von<br />
<strong>Muslimen</strong> <strong>und</strong> ihre Vernetzung mit anderen<br />
Jugendorganisationen soll darüber<br />
hinaus gefördert werden. Vereine jugendlicher<br />
Muslime weisen jene Merkmale<br />
auf, die bei jenen der ersten Generation<br />
noch nicht zu finden sind: die Landessprache<br />
als Kommunikationssprache, keine<br />
Einengung der Mitglieder auf ein<br />
bestimmtes Herkunftsland, ein auf die<br />
Lebenswirklichkeit im Lande verstärkt<br />
zugeschnittenes Angebot von Aktivitäten.<br />
Hier eine sinnvolle Freizeitgestaltung,<br />
emotionale Zugehörigkeit <strong>und</strong> Verantwortungsgefühl<br />
für ein funktionierendes<br />
Miteinander zu erfahren, gibt Halt.<br />
Damit werden indirekt auch Jugendkriminalität,<br />
Drogenkonsum <strong>und</strong> die Verbreitung<br />
von Extremismus wirksam<br />
bekämpft.<br />
Die meinungsbildende Rolle der<br />
Medien ist besonders bei dem Bereich der<br />
Jugend anzusprechen. Die Wissenschaft<br />
soll sich verstärkt besonderen Phänomen,<br />
die die muslimische Jugend betreffen,<br />
widmen <strong>und</strong> mit seriösen Ergebnissen<br />
helfen, die Diskussion zu versachlichen.<br />
Ökologie<br />
Der Mensch trägt in seiner Funktion<br />
als Sachwalter der Schöpfung<br />
hohe Verantwortung für deren Pflege<br />
<strong>und</strong> Erhalt. Natürliche Ressourcen<br />
dürfen daher nur unter dem Gesichtspunkt<br />
der Nachhaltigkeit sorgsam<br />
genutzt werden.<br />
Der Koran warnt den Menschen vor<br />
Überheblichkeit in Ausübung seiner<br />
Statthalterschaft: »Siehe, Wir boten die<br />
Verantwortung (»amana« – die Ausübung<br />
von freiem Willen <strong>und</strong> Verstand)<br />
den Himmeln <strong>und</strong> der Erde <strong>und</strong> den<br />
Bergen an, doch weigerten sie sich, sie zu<br />
tragen <strong>und</strong> schreckten davor zurück. Der<br />
Mensch lud sie sich jedoch auf; denn er<br />
überschätzt sich <strong>und</strong> ist eingebildet.«<br />
(33.72) Das natürliche Gleichgewicht<br />
der Natur soll geschützt <strong>und</strong> bewahrt<br />
werden. Denn so wie sich Wasser, Luft,<br />
Erde, belebte <strong>und</strong> unbelebte Natur,<br />
Tier- <strong>und</strong> Pflanzenreich aufeinander<br />
beziehen, wird im Koran ein Kreislauf<br />
des Lebens wiedergegeben, bei dem<br />
Eingriffe negative Auswirkungen für<br />
das gesamte System zur Folge haben<br />
könnten. Respekt vor dem W<strong>und</strong>er der<br />
Schöpfung Gottes ist geboten, aus dem<br />
Respekt im Umgang mit dieser resultieren<br />
soll. Zur Tierwelt heißt es etwa:<br />
»Es gibt kein Getier auf Erden <strong>und</strong> keinen<br />
Vogel, der auf seinen zwei Schwingen<br />
dahinfliegt, die nicht Gemeinschaften<br />
wären so wie ihr.« (6:38)<br />
Die Balance <strong>zwischen</strong> Nutzbarmachung<br />
der Natur <strong>und</strong> ihrem Schutz<br />
schlägt sich häufig zu deren Ungunsten<br />
nieder. Umweltzerstörung als Konsequenz<br />
menschlicher Gier nach maximaler<br />
Ausbeutung wird in 20:41 angesprochen:<br />
»In Erscheinung getreten ist<br />
Unheil zu Land <strong>und</strong> Meer als Folge dessen,<br />
was die Menschen anrichteten,<br />
damit Er sie einiges von ihrem (Fehl)verhalten<br />
spüren ließe, auf dass sie umkehren.«<br />
Muslime sind angehalten sich<br />
Schlusserklärung der Konferenz Europäischer Imame in Wien 2006 CIBEDO-<strong>Beiträge</strong> 2/2006
hier durch ihr persönliches Verhalten<br />
problembewusst zu zeigen <strong>und</strong> aktive<br />
<strong>Beiträge</strong> <strong>zum</strong> Umweltschutz zu leisten.<br />
Um das Wasser kreisen besonders<br />
zahlreiche Aussagen. Sparsamkeit im<br />
Umgang wird empfohlen. Etwa ist es<br />
verpönt, bei der Gebetswaschung<br />
unnötig Wasser rinnen zu lassen. Es<br />
bestehen Regelungen <strong>zum</strong> Gewässerschutz.<br />
Wasser wird als ein so wichtiges<br />
Gut betrachtet, dass ein Gr<strong>und</strong>recht<br />
des Menschen darauf besteht. Trinkwasser<br />
soll darum allgemein zugänglich<br />
sein, kann nicht zu einem Privateigentum<br />
mutieren. Im Bereich der frommen<br />
Stiftungen, die testamentarisch<br />
von Gläubigen verfügt werden, ist besonders<br />
das Schlagen eines Brunnens<br />
empfohlen, um für die Nachwelt eine<br />
andauernde gute Tat zu setzen.<br />
Das Gebot des »Maßhaltens« konkretisiert<br />
sich r<strong>und</strong> um das Thema der<br />
Nahrung. Verwirklicht werden soll der<br />
im Islam empfohlene »Weg der Mitte«,<br />
hier <strong>zwischen</strong> Genuss <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heitsbewusstsein,<br />
<strong>zwischen</strong> Konsum<br />
<strong>und</strong> Bewusstheit für größere wirtschaftliche<br />
Zusammenhänge, die nicht<br />
<strong>zum</strong> Schaden der Umwelt, seien es<br />
Mitmenschen oder Natur, gereichen<br />
dürfen. Diese Haltung lässt sich direkt<br />
beziehen auf die moderne Forderung<br />
nach mündigen Konsumenten, die mit<br />
ihren bewussten Kaufentscheidungen<br />
nach ethischen Standards (»fair trade«)<br />
handeln.<br />
Muslime sollen sich verstärkt des<br />
Themas »Umweltschutz« annehmen<br />
<strong>und</strong> aktiv Vernetzungen mit Umweltexperten<br />
<strong>und</strong> zuständigen Abteilungen<br />
der Stadtverwaltung für spezifische<br />
Projekte eingehen.<br />
Zu beleben sind islamische Traditionen<br />
wie die Stiftung für Fütterung<br />
<strong>und</strong> Aufnahme für obdachlose Tiere<br />
<strong>und</strong> die Tradition des Bäume Pflanzens<br />
als nachhaltige gute Tat.<br />
Islamische Gebetsstätten sollen das<br />
ökologische Bewusstsein der Muslime<br />
widerspiegeln <strong>und</strong> mit ökologisch verträglichem<br />
Baumaterial gebaut zu Aus-<br />
CIBEDO-<strong>Beiträge</strong> 2/2006<br />
hängeschildern dieser Einstellung werden.<br />
Dezidiert zu betonen ist, dass Muslime<br />
die negativen Auswirkungen der<br />
Kriege <strong>und</strong> eingesetzter chemischer Waffen<br />
auf die gesamte Natur besorgt verfolgen<br />
<strong>und</strong> eine Dokumentation verlangen.<br />
Die Kriegsbetreiber sind zur Wiedergutmachung<br />
auch dieser Zerstörungen <strong>und</strong><br />
ihrer Wirkungen auf den Menschen zu<br />
fordern.<br />
Wien, am 8. April 2006<br />
Initiative muslimischer ÖsterreicherInnen<br />
E-Mail: dieinitiative@gmx.at<br />
Schlusserklärung der Konferenz Europäischer Imame in Wien 2006<br />
35
36<br />
Buchbesprechungen<br />
BAZARGAN, Mehdi: Und Jesus ist der<br />
Prophet. Der Koran <strong>und</strong> die <strong>Christen</strong>, aus<br />
dem Persischen von Markus Gerhold.<br />
Herausgegeben <strong>und</strong> mit einer Einleitung<br />
von Navid Kermani. München 2006, 108<br />
Seiten.<br />
Mehdi Bazargans Koranexegese <strong>und</strong><br />
der interreligiöse Dialog.<br />
Eine christliche Stellungnahme<br />
von Christian W. Troll SJ<br />
Navid Kermani, der im deutschen<br />
Sprachraum nicht unbekannte Schriftsteller<br />
<strong>und</strong> Islamk<strong>und</strong>ler, stellt als Herausgeber<br />
des vorliegenden kleinen Buches<br />
den Autor Mehdi Bazargan (1907-1995)<br />
als einen »große[n] Korangelehrte[n] <strong>und</strong><br />
liberale[n] iranische[n] Politiker« sowie<br />
»eine der wichtigsten <strong>und</strong> prominentesten<br />
Stimmen des Islam im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert«<br />
vor <strong>und</strong> qualifiziert das Buch als »für die<br />
heutige Debatte über das Verhältnis von<br />
<strong>Christen</strong> <strong>und</strong> <strong>Muslimen</strong> unverzichtbar«.<br />
Dies lässt jeden Muslim <strong>und</strong> <strong>Christen</strong><br />
aufhorchen, denen das Verstehen der Fragen<br />
der christlich-islamischen Begegnung<br />
am Herzen liegt. Die einleitenden Ausführungen<br />
Kermanis über die politische<br />
<strong>und</strong> religiöse Bedeutung Mehdi Bazargans<br />
sind dabei hilfreich, das abschließend<br />
angefügte Zeitungsinterview aus<br />
dem Jahre 1994 (91-101) dagegen<br />
erscheint – weil mit dem Thema des Bandes<br />
kaum verb<strong>und</strong>en –überflüssig.<br />
Die Aussagen des Koran über Jesus,<br />
Maria, seine Mutter, über den dreieinigen<br />
Gott, die <strong>Christen</strong> <strong>und</strong> schließlich über<br />
das rechte Denken <strong>und</strong> Verhalten der<br />
Muslime diesen gegenüber sind den – leider<br />
immer noch nicht genügend zahlreichen<br />
– islamk<strong>und</strong>igen christlichen Gläubigen<br />
nicht unbekannt. Es gibt zu diesem<br />
Thema eine ganze Reihe seriöser Darstellungen<br />
von muslimischen <strong>und</strong> nichtmus-<br />
limischen Autoren, z.B. arabische (Haddad,<br />
Hayek) 1 , englische (G. Parrinder, K.<br />
Cragg, H. Räisannen) 2 , französische (H.<br />
Michaud, J.-M. Gaudeul) 3 <strong>und</strong> deutsche<br />
(O. H. Schumann, G. Risse, J.-D.<br />
Thyen) 4 , die die chronologische Folge der<br />
relevanten Aussagen des Korans durchaus<br />
berücksichtigen. Damit soll Bazargans<br />
Verdienst, in dem Teilstück des 7. Bandes<br />
seines mehrbändigen Werkes B - azgasht be<br />
Qur’ - an (Rückkehr <strong>zum</strong> Koran), das er mit<br />
»Der Koran <strong>und</strong> die <strong>Christen</strong>« überschreibt,<br />
diese koranischen Aussagen in<br />
chronologischer Abfolge <strong>und</strong> in ihrem<br />
jeweiligen Kontext zusammengestellt<br />
<strong>und</strong> interpretiert zu haben, nicht geleugnet<br />
werden. Allerdings hätte es der Leser<br />
durchaus verdient, wenigstens anhand<br />
von Erklärungen in Fußnoten jeweils die<br />
Gründe zu erfahren, warum <strong>und</strong> wo die<br />
von Bazargan vertretene Chronologie der<br />
Herabkunft der jeweiligen koranischen<br />
Aussagen von der Chronologie anderer,<br />
gewichtiger muslimischer Korangelehrter<br />
abweicht. Nicht wenige sunnitische<br />
Autoren halten z. B. Sure 9 <strong>und</strong> nicht<br />
Sure 66,12 <strong>und</strong> Sure 5,14-19 <strong>und</strong> 5,47f.<br />
<strong>und</strong> Sure 5,5, für die chronologisch letzten,<br />
<strong>und</strong> damit die Reihe der koranischen<br />
Aussagen abschließenden Texte des<br />
Koran. 5<br />
Ferner erfährt der Leser nicht, wo<br />
genau die deutsche Übertragung des<br />
koranischen Textes, wie sie im vorliegenden<br />
Büchlein vorliegt, vom Text der<br />
Übertragung von Max Henning vom Jahre<br />
1901 abweicht, wo genau es sich um<br />
Hennings Erklärungen, <strong>und</strong> wo um<br />
Überarbeitungen von Markus Gerold<br />
handelt. Somit sind Zweifel an Kermanis<br />
Einschätzung nicht abwegig, der hier vorgelegte<br />
Text liefere »eine solide Gr<strong>und</strong>lage«<br />
»für die Debatte über das Verhältnis von<br />
<strong>Christen</strong> <strong>und</strong> <strong>Muslimen</strong>« (S. 19).<br />
Doch kommen wir direkt zu Bazargans<br />
Kommentar. Den Text des Korans<br />
selbst kritisch zu hinterfragen ist für den<br />
<strong>Christen</strong> im unmittelbaren Kontext des<br />
Dialogs aus einsichtigen Gründen unangemessen.<br />
Korankommentare von <strong>Muslimen</strong><br />
<strong>und</strong> ihre Autoren sind dagegen in<br />
diesem Dialog von gr<strong>und</strong>legender Bedeutung.<br />
Muslimische Korankommentare<br />
<strong>und</strong> Erklärungen von einzelnen Passagen<br />
des Koran unterliegen wie jeder andere<br />
juristisch-theologische muslimische Text<br />
der Kritik von <strong>Muslimen</strong> sowie Nichtmuslimen.<br />
Der christliche Gläubige ist<br />
vital daran interessiert, wie anerkannte, in<br />
den Koranwissenschaften ausgewiesene<br />
Muslime den Koran interpretiert haben<br />
<strong>und</strong> vor allem, wie sie ihn in unseren<br />
Tagen im Hinblick auf den christlichen<br />
Glauben <strong>und</strong> die christlich-islamischen<br />
Beziehungen auslegen.<br />
Es ist Bazargans erklärte Absicht, »die<br />
verehrten <strong>Christen</strong> <strong>und</strong> Christinnen« mit<br />
der »Sicht des Islams auf die christliche<br />
Religion <strong>und</strong> die christliche Gemeinschaft«<br />
bekannt zu machen, allein »durch den<br />
Koran, der eine authentische <strong>und</strong> bedeutende<br />
Quelle darstellt <strong>und</strong> sie als ‘Nazarener’<br />
oder ‘Angehörige des Buches’ (Ahl al-Kit - ab)<br />
bezeichnet« (23). Nun behauptet er<br />
jedoch nur wenige Zeilen weiter, »dass die<br />
Verehrung <strong>und</strong> Würdigung Christi <strong>und</strong><br />
Marias im Koran <strong>und</strong> die Rolle, die einer<br />
solchen Mutter bei der Erziehung eines solchen<br />
Sohnes für die Menschheit zuteil wird,<br />
über die Aussagen der vier Evangelien hinausgehen«<br />
(26). Wie soll der Christ diese<br />
Behauptung verstehen? Man darf annehmen,<br />
dass Bazargan als angeblich bedeutender<br />
muslimischer Religionswissenschaftler<br />
<strong>und</strong> Förderer des gegenseitigen<br />
Verstehens von <strong>Christen</strong> <strong>und</strong> <strong>Muslimen</strong><br />
die vier Evangelien des Neuen Testamentes<br />
eingehend – <strong>und</strong> somit unter anderem<br />
auch aus der christlichen Perspektive –<br />
studiert hat. Dabei wird ihm kaum entgangen<br />
sein, dass jedes von ihnen aus dem<br />
Glauben an Jesus als den Messias, als den<br />
»Sohn Gottes«, verfasst <strong>und</strong> tradiert wor-<br />
1 Yusuf D. al-Haddad, Dur _ us qur’ _ aniyyah, Bd. 1: Al-Indsch- ıl fi’l Qur’ _ an (Al-Maktabah al B _ ulusiyyah, Lubn _ an, 1982); Michel Hayek, Christ de l’Islam (Paris, 1959).<br />
2 G. Parrinder, Jesus in the Qur’an (London, 1965); K. Cragg, Jesus and the Muslims. An exploration (London, 1985); H. Räisannen, Das Koranische Jesusbild (Helsinki,1971); Encyclopedia<br />
of the Qur’an (Leiden, 2001 ff.) vol. 1, art. Christians and Christianity (by S. H. Griffith); vol. 3, art. Jesus (by Neal Robinson).<br />
3 H. Michaud, Jésus selon le Coran (Neuchâtel, 1960); J.-M- Gaudeul, Encounters and Clashes. Islam and Christianity in History (Rome, 2000), vol. I, S. 9-19; vol. II, S. 17-19.<br />
4 O. H. Schumann, Der Christus der Muslime. (Gütersloh, 1975); G. Risse, Gott ist Christus, der Sohn der Maria: Eine Studie <strong>zum</strong> Christusbild im Koran (Bonn, 1989); J.-D. Thyen, Bibel <strong>und</strong><br />
Koran. Eine Synopse gemeinsamer Überlieferungen. (Köln/Wien, 1989), S. 179-204.<br />
5 Vgl. dazu Der Koran. Arabisch-Deutsch. Übersetzung <strong>und</strong> wissenschaftlicher Kommentar von Adel Theodor Khoury, Bd. 6 (Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 1995), S. 25-26; ebd. Bd. 7<br />
(Gütersloh: Gütersloher Berlagshaus, 1996), S. 275-276.<br />
Buchbesprechungen CIBEDO-<strong>Beiträge</strong> 2/2006
den ist <strong>und</strong> somit <strong>zum</strong> Ziel hat, auf Seiten<br />
der gläubigen Leser die Haltung der<br />
Anbetung <strong>und</strong> totalen Hingabe an Gott<br />
in der Person des gekreuzigten <strong>und</strong> auferstandenen<br />
Jesus von Nazareth zu vertiefen.<br />
Wie kann er übersehen, dass Maria in<br />
diesen Evangelien als die Mutter Jesu, des<br />
Messias <strong>und</strong> Sohnes Gottes, als die »Mutter<br />
des Herrn« dargestellt wird? Es sei <strong>zum</strong><br />
Beispiel nur an die Kindheitsgeschichte<br />
Jesu im ersten <strong>und</strong> zweiten Kapitel des<br />
Evangeliums nach Lukas erinnert <strong>und</strong><br />
darin u. a. etwa an die Darstellung der<br />
Begegnung der beiden schwangeren<br />
Frauen Elisabeth <strong>und</strong> Maria <strong>und</strong> an Elisabeths<br />
Ausruf an die Adresse Marias, der<br />
Mutter Jesu: »Gebenedeit bist du unter den<br />
Frauen, <strong>und</strong> gebenedeit ist die Frucht deines<br />
Leibes! Woher geschieht mir dies, dass<br />
die Mutter meines Herrn zu mir kommt?«<br />
(Lukas 1,42-43.) Die Mutter Jesu ist nach<br />
dem Glauben der Evangelien »Mutter des<br />
Herrn«.<br />
Bazargan erklärt dann, es sei »nicht die<br />
Absicht des Koran, das Evangelium für<br />
ungültig zu erklären oder die christliche<br />
Religion als ‚überholt’ zu betrachten«.<br />
»Insgesamt« manifestiere sich in den<br />
relevanten Aussagen des Koran »eher der<br />
Aufruf zur Erneuerung als offene Feindseligkeit.<br />
Die meisten Verse des Koran,<br />
die sich mit dem <strong>Christen</strong>tum beschäftigen,<br />
beziehen sich auf Glaubensüberzeugungen<br />
<strong>und</strong> gr<strong>und</strong>legende Kritikpunkte,<br />
während ein geringerer Teil der<br />
Verse aus dem 7. <strong>und</strong> 8. Jahr nach der<br />
Hidschra von der hinterhältigen Kooperation<br />
mancher Buchbesitzer mit den<br />
Götzendienern Arabiens in Kriegen<br />
gegen den Propheten handelt oder sich<br />
mit Spott <strong>und</strong> Polemik gegen die neue<br />
Religion auseinandersetzt. Im Falle der<br />
zweiten Gruppe von Versen klingen Vorsicht,<br />
Zurückhaltung <strong>und</strong> teilweise sogar<br />
Protest oder Tadel mit« (27-28).<br />
Dieses Zitat soll uns als Beispiel dienen,<br />
auf den unseres Erachtens verschwommen<br />
zweideutigen, dem Dialog<br />
wenig dienlichen Charakter des Kommentars<br />
Bazargans hinzuweisen.<br />
a. Was genau meint Bazargan hier mit<br />
»Evangelium« (vgl. unter anderem<br />
auch die verwandten Ausführungen<br />
auf S. 88)? Der Zusammenhang lässt<br />
vermuten, dass er das Evangelium im<br />
christlichen Sinne meint <strong>und</strong> nicht das<br />
CIBEDO-<strong>Beiträge</strong> 2/2006<br />
»Evangelium« (buschrà = Frohe Botschaft),<br />
das nach koranischem Glauben<br />
auf jeden der genuinen Propheten bzw.<br />
Gesandten (rusul), einschließlich Muhammad,<br />
also auch Jesus, von Gott<br />
herabgesandt wurde. Meint er also das<br />
Evangelium im Sinne des christlichen<br />
Glaubens (<strong>und</strong> nicht nur eines der vier<br />
Evangelien des Neuen Testaments, von<br />
denen er unzweideuting kurz zuvor<br />
sprach), dann ist hier die christliche<br />
Frohbotschaft, die Kernbotschaft des<br />
christlichen Glaubens gemeint, die<br />
–wie jedem informierten Religionsk<strong>und</strong>ler<br />
bekannt sein dürfte – lautet:<br />
»Jesus Christus, der Gekreuzigte <strong>und</strong><br />
Auferstandene, ist der Herr, der ‚Sohn<br />
Gottes’. In ihm ist allen Menschen angeboten,<br />
Söhne <strong>und</strong> Töchter Gottes zu werden<br />
<strong>und</strong> so das Heil zu finden«. Somit<br />
würde Bazargans oben zitierte Aussage<br />
(27) bedeuten, dass der Koran diese<br />
Kernbotschaft des Evangeliums <strong>und</strong><br />
damit des christlichen Glaubens<br />
weiterhin als gültig anerkennt, d.h.<br />
nicht für »überholt« hält.<br />
b. Dieser christliche Glaube benötigt<br />
nach Bazargan »Erneuerung« (27).<br />
»Erneuerung« in welch genauerem<br />
Sinn? Im Kontext des islamischen<br />
Denkens besteht Erneuerung (tadschd<br />
- ıd ) in einer gründlichen Neuinterpretation<br />
der islamischen Lehren <strong>und</strong><br />
Vorschriften von den autoritativen<br />
Quellen der islamischen Religion<br />
(Koran, Had - ıth, S - ıra) her. Diese werden<br />
in ihrer Ganzheit als weiterhin gültig<br />
vorausgesetzt, wobei die Frage der<br />
Zuverlässigkeit einzelner Had - ıthe<br />
durchaus debattierbar bleibt. Sollte<br />
Bazargan diesen islamischen Begriff<br />
der Erneuerung im vorliegenden Text<br />
auf den christlichen Glauben anwenden,<br />
dann würde er sagen wollen: Der<br />
Koran erkennt den Anspruch der<br />
christlichen Glaubensbotschaft <strong>und</strong><br />
die für den christlichen Glauben<br />
gr<strong>und</strong>legenden <strong>und</strong> autoritativen<br />
Texte an. Er würde dann die <strong>Christen</strong><br />
dazu aufrufen, diese Texte – vor allem<br />
den Text des Neuen Testaments – einer<br />
gründlichen Neuinterpretation zu unterziehen.<br />
Ein solcher Aufruf würde<br />
den meisten <strong>Christen</strong> einleuchten <strong>und</strong><br />
wäre, wenn genügend konkret <strong>und</strong><br />
präzis gemacht, dem christlich-islamischen<br />
Dialog auf theologischer Ebene<br />
durchaus dienlich. Weist doch der<br />
christliche Glaube, wie er sich in den<br />
großen Kirchen versteht, selbst immer<br />
wieder auf die Notwendigkeit ständiger<br />
Selbstkritik <strong>und</strong> Erneuerung in<br />
diesem Sinn hin. Er wird sich gerne<br />
auch von kompetenten, nichtchristlichen<br />
Fachleuten <strong>und</strong> Kritikern dabei<br />
helfen lassen.<br />
Allerdings stellt sich im vorliegenden<br />
Text bald heraus, dass Bazargan<br />
»Erneuerung« in einem anderen Sinn<br />
versteht, denn er wirft den <strong>Christen</strong><br />
<strong>zum</strong> einen vor, den Text ihrer Schrift<br />
»verändert« zu haben, <strong>und</strong> <strong>zum</strong> anderen,<br />
in ihrem Glauben an Jesus als den<br />
Messias <strong>und</strong> Sohn Gottes <strong>und</strong> im<br />
Glauben an Gott als den Dreieinen<br />
sich frevelhafter Übertreibung schuldig<br />
zu machen. An keiner Stelle entwickelt<br />
Bazargan vom Koran her eine<br />
Sicht, die das Selbstverständnis des<br />
jüdischen <strong>und</strong> des christlichen Glaubens<br />
ernst nimmt <strong>und</strong> mit ihm – im<br />
heutigen Kontext weltweiter Koexistenz<br />
– mit der damit einhergehenden<br />
Verpflichtung, gerade der Gottgläubigen,<br />
zur Konvivenz, d.h. einen Modus<br />
friedlichen Zusammenlebens entwickeln<br />
würde. Dies würde von Bazargan<br />
natürlich in keiner Weise verlangen,<br />
die totale Ablehnung der spezifisch<br />
christlichen Glaubensaussagen<br />
aufzugeben.<br />
c. Bazargan hält den alten muslimischen<br />
Vorwurf des tahr - ıf – im Sinne von bewusster<br />
Manipulation des Textes der<br />
Bibel durch Juden <strong>und</strong> <strong>Christen</strong> – aufrecht.<br />
Seine Argumentation ist bemerkenswert:<br />
Da der Koran eindeutig lehre,<br />
dass Jesus die Prophetie Muhammads<br />
vorhergesagt habe, diese jetzt<br />
aber weder in der Tora noch in den<br />
Evangelien zu finden sei, »muss eine<br />
solche Ankündigung ... damals in der<br />
Tora <strong>und</strong> den Evangelien noch vorhanden<br />
gewesen <strong>und</strong> erst später entfernt worden<br />
sein. Es scheint abwegig, dass der<br />
Koran von etwas spricht, dass nirgends<br />
existierte, ohne von den Feinden widerlegt<br />
zu werden« (63). Allerdings stellt<br />
Bazargan an anderer Stelle des Textes,<br />
wieder in unklar verschwommener<br />
Redeweise, fest: »... der Koran ... lehnt<br />
die Tora <strong>und</strong> die Evangelien nicht ab<br />
<strong>und</strong> sagt nicht, dass sie vernichtet werden<br />
müssen, weil sie alt <strong>und</strong> unvollständig<br />
seien, sondern bezeichnet sich selbst als<br />
Beschützer <strong>und</strong> Bewahrer der Schrift«<br />
(29). Die Tora <strong>und</strong> die Evangelien in<br />
Buchbesprechungen<br />
37
38<br />
den Händen von Juden <strong>und</strong> <strong>Christen</strong><br />
entgehen also der Verbrennung. Der<br />
Koran bewahrt <strong>und</strong> beschützt sie. Freilich<br />
weist Bazargan die jüdischen <strong>und</strong><br />
christlichen Gläubigen gleichzeitig<br />
daraufhin, dass diese Schriften textlich<br />
manipuliert worden sind <strong>und</strong> in ihnen<br />
wesentliche, geoffenbarte Wahrheiten<br />
entweder fehlen oder aber, frei erf<strong>und</strong>en,<br />
ihnen hinzugefügt worden sind.<br />
Muss die Evidenz des koranischen Textes,<br />
fragt der christliche Gläubige seinen<br />
muslimischen Dialogpartner, auch<br />
heute noch im Sinne einer textuellen<br />
Manipulation der Heiligen Schriften<br />
durch Juden <strong>und</strong> <strong>Christen</strong> aufrecht<br />
erhalten werden? Wird diese Anschuldigung<br />
aber aufrechterhalten, muss<br />
dann nicht ein seriöser Religionswissenschaftler<br />
wenigstens den Versuch<br />
machen, die Anschuldigungen auch<br />
mit wissenschaftlichen Argumenten zu<br />
untermauern?<br />
d. Bazargan konzediert, dass einige Aussagen<br />
des Koran über das <strong>Christen</strong>tum<br />
»offen« feindselig sind. Er unterscheidet<br />
dabei zwei Kategorien von Aussagen.<br />
Die erste Kategorie, die aus den<br />
»meisten« dieser feindseligen Aussagen<br />
besteht, »bezieht sich auf Glaubensüberzeugungen<br />
<strong>und</strong> gr<strong>und</strong>legende Kritikpunkte«.<br />
Dazu zählen für ihn: »das<br />
Verlassen des Pfades des absoluten Monotheismus<br />
(tawh - ıd )«, »die Anbetung<br />
Christi <strong>und</strong> die Behauptung, Jesus sei<br />
Gottes Sohn« (29); die »Abweichung<br />
vom reinen Monotheismus« <strong>und</strong> der<br />
»Vorwurf, dass sie [die <strong>Christen</strong>] sich in<br />
ihrem Handeln nicht nach ihrem eigenen<br />
Buch richten« (33). Hier ist nicht<br />
klar, was in diesem, auf Sure 42,15 folgenden,<br />
Kommentar mit »ihrem eigenen<br />
Buch« gemeint ist, die Heilige<br />
Schrift der <strong>Christen</strong> oder aber der von<br />
Gott auf Muhammad herabgesandte<br />
Koran, der in seinem wesentlichen<br />
Inhalt als identisch mit dem wesentlichen<br />
Inhalt des »eigenen Buch(es)«<br />
der <strong>Christen</strong> behauptet wird. In Kommentierung<br />
von Sure 29,47 unterscheidet<br />
Bazargan <strong>zwischen</strong> zwei<br />
Gruppen von »Buchbesitzern« (gemeint<br />
sind hier vor allem Juden <strong>und</strong><br />
<strong>Christen</strong>), je nachdem ob sie an das auf<br />
Muhammad herabgesandte Buch glauben,<br />
d.h. den Koran (44). »Die erste<br />
Gruppe besteht aus denjenigen, die das<br />
Buch tatsächlich annehmen <strong>und</strong> dessen<br />
Botschaft befolgen«. Damit kann Bazargan<br />
eigentlich nur die Juden <strong>und</strong><br />
<strong>Christen</strong> meinen, die <strong>zum</strong> Islam konvertieren.<br />
»Die andere Gruppe sind jene,<br />
die sich für die Ablehnung des Buches<br />
entschieden haben«. Diese, also die<br />
Juden <strong>und</strong> <strong>Christen</strong>, die nicht <strong>zum</strong><br />
Islam konvertieren, obwohl ihnen der<br />
Koran bekannt gemacht worden ist,<br />
»haben keinen wahrhaften Glauben an<br />
Gott <strong>und</strong> seine Religion« (44). Hier<br />
spricht Bazargan den Juden <strong>und</strong> <strong>Christen</strong>,<br />
die bewusst nicht <strong>zum</strong> Islam<br />
übergetreten sind, nicht nur den Glauben<br />
an Gottes Religion ab – der auf<br />
dem Koran basierende Islam wird hier<br />
wohlgemerkt als die einzige wirkliche<br />
Religion Gottes, eben »seine Religion«<br />
qualifiziert –nein, es wird ihnen auch<br />
jeglicher »wahrhafte Glauben« abgesprochen.<br />
Juden <strong>und</strong> <strong>Christen</strong> sind mit<br />
anderen Worten Ungläubige (k - afir -<br />
un). Dieselbe exklusive <strong>und</strong> verurteilende<br />
Interpretation des Koran formuliert<br />
Bazargan in Kommentierung von<br />
Sure 3,113 folgendermaßen: »Die<br />
Religionen sollten als Einheit betrachtet<br />
werden, <strong>und</strong> alle sollten sich als ‘Muslime’,<br />
also als ‘Gottergebene’, bezeichnen.<br />
Genau diese universale, über einzelne<br />
Konfessionen hinausgehende Religion<br />
<strong>und</strong> Botschaft ist es, die ‘Islam’ genannt<br />
<strong>und</strong> von Gott angenommen wird. Wer<br />
einem Weg oder einer Religion folgt, die<br />
außerhalb dieses allgemeinen ‘Islam’ (im<br />
Sinne der Hinwendung zu Gott <strong>und</strong><br />
dem Glauben an seine Propheten) liegt,<br />
wird im Jenseits bestraft« (59-60). Der<br />
Koran, seine spezifische Version des<br />
Monotheismus <strong>und</strong> Lehre über die<br />
Propheten, ist für Bazargan der Maßstab<br />
für alle wahre Religion. Wer<br />
immer einer Religion folgt, die diesem<br />
Maßstab nicht genau entspricht, ist ein<br />
Sünder, den Gottes Strafe im Jenseits<br />
erwartet.<br />
So weit zur ersten Gruppe der Koranverse,<br />
die sich »auf Glaubensüberzeugungen<br />
<strong>und</strong> gr<strong>und</strong>legende Kritikpunkte«<br />
beziehen, die der Koran bei den <strong>Christen</strong><br />
beanstandet. Verfehlungen der<br />
<strong>Christen</strong> in Bezug auf diese koranischen<br />
Lehren werden nach Bazargans<br />
Koranverständnis nur von Gott bestraft,<br />
im Jenseits oder auch schon hienieden.<br />
Zur Erklärung von Sure 3,56<br />
macht Bazargan klar, dass Gott die<br />
Aufgabe der Bestrafung der Ungläubigen<br />
in jedem Fall sich selbst vorbehält.<br />
Der Koran wendet sich damit nach<br />
Bazargan unausgesprochen »gegen die<br />
Ansicht, sie [d.h. ‘Laien oder Geistliche’]<br />
hätten über Himmel <strong>und</strong> Hölle der<br />
Menschen zu entscheiden. Er unterbindet<br />
auf diese Weise von vorneherein jede<br />
Art von Inquisition« (54).<br />
e. Die zweite Gruppe von Koranversen<br />
besteht aus einer geringeren Anzahl<br />
von Koranversen, die alle dem 7. oder<br />
8. Jahr der Hidschra zuzurechnen sind.<br />
Sie handeln »von der hinterhältigen<br />
Kooperation mancher Buchbesitzer mit<br />
den Götzendienern Arabiens in Kriegen<br />
gegen den Propheten« oder positionieren<br />
sich »mit Spott <strong>und</strong> Polemik gegen<br />
die neue Religion.« In diesen Versen, so<br />
Bazargan, »klingen Vorsicht, Zurückhaltung<br />
<strong>und</strong> teilweise sogar Protest <strong>und</strong><br />
Tadel mit« (28). Zunächst ist der<br />
christliche Leser wieder mit der ungenauen,<br />
vieldeutigen Formulierung<br />
Bazargans konfrontiert. Wen genau<br />
meint er mit den Worten »mancher<br />
Buchbesitzer«? In Sure 5,51 fordert der<br />
Koran die muslimischen Gläubigen<br />
auf, nicht die Juden <strong>und</strong> <strong>Christen</strong> zu<br />
Fre<strong>und</strong>en zu nehmen. »Sie sind untereinander<br />
Fre<strong>und</strong>e, <strong>und</strong> wer von euch sie<br />
zu Fre<strong>und</strong>en nimmt, siehe, der ist von<br />
ihnen. Siehe, Gott leitet nicht ungerechte<br />
Leute« (72). Bazargan schreibt im<br />
Kommentar zu diesem Vers: »Trotz des<br />
Wunsches des Propheten <strong>und</strong> der Muslime,<br />
mit den <strong>Christen</strong> <strong>und</strong> Juden in<br />
Medina friedlich <strong>und</strong> ohne Störungen<br />
zusammenzuleben, war es im Jahre 6<br />
nach der Hidschra zu Auseinandersetzungen<br />
gekommen, nachdem sich verschiedene<br />
Fronten gegen die Muslime<br />
gebildet hatten. Es war nun notwendig<br />
geworden, vorsichtig vorzugehen <strong>und</strong><br />
sich vor Listen <strong>und</strong> Intrigen zu hüten.<br />
Den <strong>Muslimen</strong> wird nicht empfohlen,<br />
mit den Andersgläubigen zu kämpfen<br />
oder sie zu unterdrücken, damit sie dem<br />
Islam folgen. Es wird den <strong>Muslimen</strong><br />
lediglich befohlen, mit denen keinen<br />
B<strong>und</strong> einzugehen, die sich ihnen gegenüber<br />
intrigant verhalten, keine Aufrichtigkeit<br />
<strong>und</strong> Fre<strong>und</strong>lichkeit zeigen <strong>und</strong><br />
sich gegen sie [d.h. gegen die Muslime?]<br />
zur Wehr setzen« (73).<br />
Nun ist es wohlbekannt, dass der Prophet<br />
die Juden Medinas der hinterhältigen<br />
Kooperation mit den Mekkanern<br />
beschuldigte. Sein Vorgehen gegen die<br />
drei jüdischen Stämme Medinas<br />
Buchbesprechungen CIBEDO-<strong>Beiträge</strong> 2/2006
aucht hier nicht im Einzelnen erneut<br />
dargestellt werden. 6 Allerdings beließ<br />
es Muhammad bekanntlich nicht beim<br />
Verbot, die Juden zu Fre<strong>und</strong>en zu nehmen.<br />
Durch Vertreibung <strong>und</strong> Tötung<br />
wurden sie aus dem Leben Medinas<br />
entfernt. Bazargan betritt im vorliegenden<br />
Kommentar insofern Neuland,<br />
als er andeutet, auch die <strong>Christen</strong> hätten<br />
im Jahre 6 nach der Hidschra an<br />
»Auseinandersetzungen« mit den <strong>Muslimen</strong><br />
teilgenommen, »nachdem sich<br />
verschiedene Fronten gegen die Muslime<br />
gebildet hatten« (73). Im Kommentar<br />
zu den Versen 78, 80 <strong>und</strong> 81 derselben<br />
5. Sure bezeichnet Bazargan sowohl<br />
Juden als auch <strong>Christen</strong> als »die Frevelnden<br />
unter den Buchbesitzern«. Diese<br />
werden, sagt er, »erstmals offen angegriffen<br />
<strong>und</strong> zur Bekehrung aufgerufen.<br />
Dem Propheten werden die nötigen<br />
Mittel dafür vorgeschlagen.« Es bleibt<br />
offen, an welche Mittel Bazargan hier<br />
denkt. Der folgende Vers 82 derselben<br />
Sure 5, in dem der Koran dem Propheten<br />
versichert: »Wahrlich, du wirst finden,<br />
dass unter allen Menschen die Juden<br />
<strong>und</strong> die, welche Gott Götter zur Seite<br />
stellen, den Gläubigen am meisten Feind<br />
sind, <strong>und</strong> wirst finden, dass den Gläubigen<br />
diejenigen, welche sprechen: ‘Wir<br />
sind Nazarener’, am fre<strong>und</strong>lichsten<br />
gegenüberstehen.«, »deutet«, so Bazargan,<br />
»auf eine religionsgeschichtliche<br />
Evolution hin. Jedenfalls wird <strong>zwischen</strong><br />
trotzigen <strong>und</strong> engstirnigen Kindern<br />
Israels <strong>und</strong> aufrichtigen <strong>und</strong> demütigen<br />
Gefolgsleuten Christi unterschieden«<br />
(77). Hier öffnet Bazargans Neigung<br />
zu vagen <strong>und</strong> verschwommenen Formulierungen<br />
der Vorstellungskraft des<br />
Lesers Tür <strong>und</strong> Tor wahrlich weit!<br />
Sure 9 »Die Reue« datiert Bazargan in<br />
das 8. Jahr nach der Hidschra. Zu den<br />
zur Genüge bekannten Versen 29 <strong>und</strong><br />
30 dieser Sure, in denen der Koran<br />
befiehlt: »Kämpfet wider jene von<br />
denen, welchen die Schrift gegeben ward,<br />
die nicht glauben an Gott <strong>und</strong> an den<br />
Jüngsten Tag <strong>und</strong> nicht verwehren, was<br />
Gott <strong>und</strong> sein Gesandter verwehrt<br />
haben, <strong>und</strong> nicht bekennen das<br />
Bekenntnis der Wahrheit, bis sie den Tribut<br />
aus der Hand gedemütigt entrichten«<br />
schreibt Bazargan erklärend, es<br />
CIBEDO-<strong>Beiträge</strong> 2/2006<br />
werde in diesem <strong>und</strong> dem darauf folgenden<br />
Vers »von Kämpfen gesprochen,<br />
die die Ruhe wiederherstellen sollen, also<br />
nicht von Kämpfen gegen jeden Buchbesitzer<br />
... Dies bezieht sich alles nur auf<br />
diejenigen, die dem Namen nach Buchbesitzer<br />
sind, aber Gott andere Mächte<br />
zur Seite stellen, seine Propheten zu Söhnen<br />
Gottes machen, ihre Führer als Herren<br />
an die Stelle Gottes setzen, das Licht<br />
Gottes mit ihren Verleumdungen <strong>und</strong><br />
ihrer Propaganda auslöschen möchten<br />
<strong>und</strong> mit den Götzendienern kooperieren,<br />
um die Muslime <strong>und</strong> den Islam zu<br />
vernichten« (79). Unser Korankommentator<br />
liefert einen weiteren Beweis<br />
für seine eigenartige, nicht unbedingt<br />
stringent erscheinende Logik in seiner<br />
Erklärung von Vers 33 derselben Sure:<br />
»Er ist’s, der entsandt hat Seinen<br />
Gesandten mit der Leitung <strong>und</strong> der Religion<br />
der Wahrheit, um sie sichtbar zu<br />
machen über jede andere Religion, auch<br />
wenn es den Ungläubigen zuwider ist«:<br />
»Der Koran geht davon aus, dass Unterschiede,<br />
Vielfalt, ja sogar Auseinandersetzungen<br />
<strong>und</strong> verschiedene Gesetze zur<br />
Ordnung der Schöpfung gehören <strong>und</strong><br />
nicht außerhalb dieser Ordnung liegen«<br />
(80). Es scheint, dass für Bazargan<br />
auch in unseren Tagen gegebenenfalls<br />
der Kampf mit der Waffe ein legitimes,<br />
der Ordnung der Schöpfung zugehörendes<br />
<strong>und</strong> von Gottes Wort gefordertes<br />
Mittel ist, die »Religion der Wahrheit<br />
sichtbar zu machen über jede andere<br />
Religion, auch wenn es den Ungläubigen<br />
zuwider ist« (Sure 9,33).<br />
Aber vielleicht irrt sich der Schreiber<br />
dieser Zeilen, denn Bazargan spricht<br />
an anderen Stellen seines Kommentars<br />
eine ganz andere Sprache. Etwa: »Jetzt,<br />
da wir an einem Punkt der Geschichte<br />
angelangt sind, wo wir eine Gemeinde<br />
der Anbeter Gottes aufbauen <strong>und</strong> das<br />
rettende Seil Gottes fest umklammern<br />
sollten, verbietet sich jeder Alleingang<br />
<strong>und</strong> jeder Zwiespalt. Sollten wir in dieser<br />
Welt zu Mitteln der Gewalt greifen,<br />
um das Diesseits <strong>und</strong> das Jenseits der<br />
Menschen in Ordnung zu bringen oder<br />
sollten wir es eher mit Argumenten <strong>und</strong><br />
Disputen versuchen?« (31).<br />
In diesem Beitrag haben wir versucht,<br />
genau in diesem Sinne zu argumentie-<br />
ren. Wir nehmen Bazargans Aussage,<br />
dass der Koran »die Entscheidung <strong>und</strong><br />
das Urteil über die Meinungsverschiedenheiten<br />
der Menschen sowie über ihre<br />
Behauptungen <strong>und</strong> ihren Wahrheitsanspruch<br />
allein Gott im Jenseits« überlässt,<br />
zustimmend zur Kenntnis <strong>und</strong> stimmen<br />
seiner Aufforderung zu, dass »in<br />
dieser Welt ... alle Menschen in guten<br />
Werken <strong>und</strong> im Dienst am Nächsten<br />
wetteifern« sollen, »um ihren Wahrheitsanspruch<br />
zu beweisen.« Allerdings sollte<br />
bei einem Gelehrten, der nach<br />
Navid Kermani »eine der wichtigsten<br />
<strong>und</strong> prominentesten Stimmen des Islam<br />
im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert« ist, diesen lobenswerten<br />
Wünschen eine glaubwürdige,<br />
konsistente, dem Wissensstand unserer<br />
Tage angemessene <strong>und</strong> die Nichtmuslime<br />
in ihrer Würde <strong>und</strong> Identität<br />
wirklich respektierende Koranauslegung<br />
entsprechen. Der vorliegende<br />
Text stellt letztlich für informierte<br />
gläubige <strong>Christen</strong> eine Zumutung dar.<br />
Zudem verrät er gewissermaßen die<br />
beachtlichen exegetischen Bemühungen<br />
gläubiger, kritisch denkender islamischer<br />
Religionsgelehrten in unseren<br />
Tagen. ■<br />
6 Siehe dazu zusammenfassend den »Exkurs: Der Koran <strong>und</strong> die Juden« in Der Koran. Arabisch-Deutsch. Übersetzung <strong>und</strong> wissenschaftlicher Kommentar von Adel Theodor Khoury, Bd. 6,<br />
Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 1995, S. 142-150.<br />
Buchbesprechungen<br />
39
40<br />
ASLAN, Reza: Kein Gott außer Gott. Der<br />
Glaube der Muslime von Muhammad bis<br />
zur Gegenwart. München: Beck 2006<br />
von Alexander Görlach<br />
Reza Aslans Einführung in die<br />
Geschichte des Islam liefert genau das,<br />
was wir heute im Diskurs über das Verhältnis<br />
von Islam <strong>und</strong> aufgeklärter freiheitlicher<br />
Moderne gerne von <strong>Muslimen</strong><br />
einfordern: Authentischen Kritizismus.<br />
Aslans Buch ist auf der einen Seite an<br />
wissenschaftlichen Erkenntnissen orientiert.<br />
Aslan geht zudem exegetisch mit<br />
den Quellen der islamischen Geschichtsschreibung<br />
um, <strong>und</strong> spart bei dieser Herangehensweise<br />
sogar partiell den Koran<br />
nicht aus – also ein kritisches Buch.<br />
Auf der anderen Seite ist »Kein Gott<br />
außer Gott« unverkennbar von einem<br />
Muslim geschrieben, der die islamische<br />
Tradition <strong>und</strong> Gegenwart als Glaubender<br />
durchdringt <strong>und</strong> in ihr lebt. »Im Namen<br />
Gottes, des Erbarmers, des Barmherzigen«<br />
steht wie selbstverständlich am Anfang<br />
des Werkes – also ein authentisches Buch.<br />
Nebenbei ist es auch noch lesbar<br />
geschrieben – Allah sei Dank! Azlan versteht<br />
es, in einem lockeren, fast journalistischen<br />
Stil, pointiert die Stationen der<br />
islamischen Geschichte zu erzählen.<br />
Am Ende greifen Vergangenheit <strong>und</strong><br />
Gegenwart ineinander: Aslan fasst die<br />
gegenwärtigen Diskussionen über Säkularismus,<br />
Aufklärung <strong>und</strong> den Stellenwert<br />
der Religion zusammen. Sein Diskurs<br />
hebt in der islamischen Kulturwelt an,<br />
besonders die Türkei ist dabei im Blickfeld;<br />
er scheut aber den Vergleich mit<br />
Ländern der christlich geprägten Welt<br />
wie den Vereinigten Staaten nicht.<br />
Für Aslan ist bei seinem Diskurs klar,<br />
dass Islam <strong>und</strong> Demokratie zusammen<br />
gehen können. Er verweist auf die innerislamische<br />
Entwicklung, beispielsweise<br />
auf Muhammad Abduh in Ägypten, der<br />
in der ersten Hälfte des 19. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />
damit begonnen hat, den Islam mit der<br />
Moderne, die mit Napoleon in seine Heimat<br />
am Nil gelangte, zusammen zu denken<br />
<strong>und</strong> in ein neues Ausbildungssystem<br />
Buchbesprechungen<br />
zu integrieren, das nicht mehr nur an der<br />
islamisch-theologischen Wissenschaft<br />
orientiert war.<br />
Eine Absage erteilt Aslan auch der<br />
westlichen Vorstellung der Trennung von<br />
weltlicher <strong>und</strong> geistlicher Sphäre. Der<br />
Islam ist mehr als eine Religion, schreibt<br />
er. Der Islam »ist die dynamische Überzeugung,<br />
dass religiöse <strong>und</strong> weltliche Verantwortung<br />
eines Menschen nicht voneinander<br />
zu trennen sind, <strong>und</strong> die Verpflichtung des<br />
einzelnen gegenüber Gott zusammenfällt«.<br />
Säkulare Konzepte, die aus Sicht Aslans<br />
religiöse Aufgaben <strong>und</strong> Zuständigkeiten<br />
auf weltliche Organisationen <strong>und</strong> Personen<br />
übertragen, sind mit dem Islam nicht<br />
vereinbar, wohl aber ein gewisser Pluralismus,<br />
der sich als Topos aus der Gründungszeit<br />
des Islam bis auf den heutigen<br />
Tage erhalten habe. Muhammads Staats<strong>und</strong><br />
Gesellschaftskonzept sei immer<br />
davon ausgegangen, dass in ihm auch<br />
nicht-muslimische Minderheiten leben.<br />
Diese Pluralität habe auch heute noch<br />
Grenzen, wenn »muslimische Gr<strong>und</strong>werte«<br />
verletzt werden. »Pluralismus bedeutet<br />
religiöse Toleranz, nicht schrankenlose religiöse<br />
Freiheit«, meint Aslan. Diesem Satz<br />
kann durchaus widersprochen werden, er<br />
zeigt zur gleichen Zeit aber exemplarisch,<br />
wie nahe der historisch konzipierte Abriss<br />
der islamischen Geschichte der aktuellen<br />
Debatte ist. ■<br />
CIBEDO-<strong>Beiträge</strong> 2/2006
Projektbericht<br />
Christlich-muslimische Begegnung:<br />
Multiplikatorenschulung im virtuellen<br />
Seminar<br />
von Barbara Huber-Rudolf<br />
Schon im dritten Durchgang bietet<br />
die Hochschule St. Georgen in Kooperation<br />
mit CIBEDO ein Studienprogramm<br />
zu Islam <strong>und</strong> christlich-muslimischer<br />
Begegnung an. Es ist als Möglichkeit zur<br />
zusätzlichen Qualifizierung künftiger<br />
Mitarbeiter <strong>und</strong> Mitarbeiterinnen in der<br />
Pastoral konzipiert worden. Aus den<br />
Erfahrungen mit diesem Angebot, das die<br />
Präsenz des Lehrenden <strong>und</strong> der Lernenden<br />
voraussetzt, wurde die Idee zu einer<br />
Multiplikatorenschulung im virtuellen<br />
Seminar entwickelt.<br />
1. Der Handlungsbedarf<br />
Wozu brauchen Mitarbeiter <strong>und</strong> Mitarbeiterinnen<br />
im kirchlichen Dienst Weiterbildung<br />
im Islam? Die Frage scheint<br />
mir nicht nur deshalb berechtigt zu sein,<br />
weil die Kollegen in der Praxis durchaus<br />
ausgelastet sind, sondern weil auch die<br />
Auseinandersetzung mit anderen Religionen,<br />
insbesondere den monotheistischen,<br />
schon zur f<strong>und</strong>amentaltheologischen<br />
Gr<strong>und</strong>ausbildung im Laufe des Studiums<br />
gehört.<br />
Der Pfarrer, die Gemeindereferentin,<br />
der Religionslehrer, die -lehrerin <strong>und</strong> die<br />
CIBEDO-<strong>Beiträge</strong> 2/2006<br />
Erzieherin stehen in den Diskursen unserer<br />
Gesellschaft als meinungsbildende<br />
Bezugspersonen ihres Adressatenkreises.<br />
Sie fragen sich <strong>und</strong> werden von anderen<br />
über die Schlagzeilen, die »Islam« in den<br />
Medien hinterlässt, angefragt. Kaum ein<br />
Thema, das Muslime in den vergangenen<br />
Jahren in Europa aufgeworfen haben, hat<br />
nicht auch zu innerkirchlichen Debatten<br />
<strong>und</strong> teils zu wertvollen Klärungen geführt.<br />
Moscheenbau in Europa, z.B.,<br />
wurde immer auch mit der Religionsfreiheit<br />
der <strong>Christen</strong> in der sog. islamischen<br />
Welt in Verbindung gebracht. Die Klärung<br />
in Bezug auf die Gewährung der<br />
Religionsfreiheit für alle Religionen (<strong>und</strong><br />
nicht nur für die etablierten Kirchen) als<br />
einem gr<strong>und</strong>gesetzlich verankerten <strong>und</strong><br />
auch von den Kirchen gestützten Wert ist<br />
in weite Kreise der Bevölkerung im Kontext<br />
des Moscheebaus getragen worden.<br />
Als vorschnell die Diskussion um das<br />
Kopftuch der muslimischen Lehrerin auf<br />
die Tracht der Ordensfrauen übertragen<br />
wurde, ist klar geworden, in welcher<br />
Weise Freiheit bzw. Abhängigkeit von<br />
äußeren Zeichen in Islam <strong>und</strong> <strong>Christen</strong>tum<br />
besteht. Und als wenig plausibel<br />
konnte die Beurteilung der christlichen<br />
Ordenstracht als einem überkonfessionell-neutralen<br />
Kulturwert Wirkung entfalten.<br />
Aus den Prozessen um die Ehren-<br />
morde haben wir gelernt, wie stark<br />
kulturgeb<strong>und</strong>en auch der Ausdruck von<br />
islamischem Glaubensvollzug der Zuwanderer<br />
aus sog. islamischen Ländern<br />
beurteilt werden muss. Der Glaubenswechsel<br />
des pakistanischen Muslims <strong>zum</strong><br />
<strong>Christen</strong>tum setzte ein Fragezeichen hinter<br />
die Behauptung von der Allgemeinheit<br />
der Menschenrechte. Nach dem<br />
Karikaturenstreit hat sich auch die offizielle<br />
Kirche darauf besonnen, dass sie<br />
mit Popetown in ihren religiösen Empfindungen<br />
verletzt werden kann.<br />
In ihren Arbeitsfeldern trifft die Zielgruppe<br />
der hier vorzustellenden Multiplikatorenschulung<br />
auf Muslime im Kindergarten,<br />
in der Jugendarbeit, in der Ehevorbereitung,<br />
in der Sterbebegleitung <strong>und</strong> in<br />
vielen Bereichen der Caritas. In drohenden<br />
Moscheebaukonflikten haben sich<br />
Pfarrgemeinden bereits als Mediatoren<br />
erfolgreich erwiesen. Kooperationen sind<br />
nötig <strong>und</strong> längst möglich in allen Dimensionen<br />
von der interkulturellen Woche bis<br />
zur Fußballweltmeisterschaft. Weltbewegende<br />
Dramen, aber auch das ritualisierte<br />
Engagement für den Frieden führen die<br />
Pfarr- <strong>und</strong> Moscheegemeinden zu multireligiösen<br />
Gebeten zusammen.<br />
Huber-Rudolf, Christlich-muslimische Begegnung: Multipliatorenschulung im virtuellen Seminar<br />
41
42<br />
Das Multiplikatorenseminar im virtuellen<br />
Raum dient der Verbesserung der<br />
gesellschaftlichen Diskursfähigkeit der<br />
Mitarbeiter/innen im kirchlichen<br />
Dienst als Meinungsbildner <strong>und</strong> zur<br />
Kompetenzerweiterung in den pastoralprofessionellen<br />
Kontakten.<br />
Bewerbung <strong>und</strong> Kontaktaufnahme<br />
Um den bisherigen Referenten für<br />
Weltanschauungsfragen zu entlasten<br />
(<strong>und</strong> damit den Islam aus dem sog. Sektenreferat<br />
zu nehmen) wurde im Bistum<br />
Würzburg eine Referentin für Islamfragen<br />
beauftragt, die mit 50 % Zeitkontingent<br />
der katholischen Akademie Domschule<br />
zugeordnet ist. Diese Konstellation<br />
hat sich für die Einführung des virtuellen<br />
Seminars als günstig erwiesen. Die Domschule<br />
fungierte als Veranstalter. CIBE-<br />
DO ist nicht als Akademie ausgestattet<br />
<strong>und</strong> bedarf der Infrastruktur, z.B. eines<br />
Tagungssekretariates <strong>und</strong> eines Verteilers,<br />
einer entsprechenden Einrichtung. Die<br />
Referentin, Frau Dr. Lautenschläger<br />
(Kontakt für Nachfragen über Bischöfliches<br />
Ordinariat Würzburg), bewarb die<br />
Veranstaltung in ihrer Funktion durch<br />
persönliche Bezüge. Dabei schien die<br />
Motivation der Dekane, die künftige<br />
Ansprechpartner/innen in ihren Dekanaten<br />
benennen wollen, ausdrücklich hilfreich.<br />
So konnten die benannten Teilnehmer<br />
mit einer gewissen Sicherheit damit<br />
rechnen, auch künftig für das Anliegen<br />
Unterstützung <strong>und</strong> Arbeitszeit zu finden.<br />
2. Die Ausschreibung<br />
»Begegnungen <strong>und</strong> <strong>Gespräch</strong>e mit<br />
<strong>Muslimen</strong> ...<br />
... haben deutsche <strong>Christen</strong> oft nur auf<br />
dem Wochenmarkt beim türkischen<br />
Gemüsehändler oder auf den Elternabenden<br />
im Kindergarten <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>schulen.<br />
Stumm sitzt man sich in der Straßenbahn<br />
gegenüber, stumm geht jeder an seine<br />
Arbeit. Ohne einander zu begegnen<br />
feiern <strong>Christen</strong> <strong>und</strong> Muslime ihre Gottesdienste<br />
<strong>und</strong> Feste. Misstrauen wecken die<br />
Meldungen aus der islamischen Welt,<br />
Sorgen bereiten die Nachrichten aus der<br />
Weltkirche, Verunsicherungen lösen die<br />
Berichte des Verfassungsschutzes aus.<br />
Als <strong>Christen</strong> wissen wir um die<br />
Bedeutung des Wortes <strong>und</strong> um den Wert<br />
persönlicher Begegnungen. Das Zweite<br />
Vatikanische Konzil verlangt, bei aller<br />
Anerkennung der Verschiedenheit,<br />
gegenseitige Hochachtung, Ehrfurcht<br />
<strong>und</strong> Eintracht zu pflegen. Der offene<br />
Dialog soll dazu beitragen, die Anregungen<br />
des Geistes treulich aufzunehmen<br />
<strong>und</strong> <strong>zum</strong> Aufbau einer friedlichen Welt<br />
zusammen zu arbeiten. (GS 92)<br />
In Klugheit <strong>und</strong> Liebe, so fordert das<br />
Konzil die Söhne <strong>und</strong> Töchter in der Kirche<br />
auf, sollen sie die geistlichen Güter<br />
<strong>und</strong> die sittlichen Werte der Bekenner<br />
anderer Religionen anerkennen, wahren<br />
<strong>und</strong> fördern. (NA 2)<br />
Unter diesem Leitmotiv will der Kurs<br />
informieren <strong>und</strong> jeden <strong>und</strong> jede an seinem<br />
<strong>und</strong> ihrem Arbeitsplatz oder in jedweder<br />
Lebenssituation unterstützen, die<br />
Chancen wahrzunehmen, die in den Dialog<br />
mit den mehr als drei Millionen <strong>Muslimen</strong><br />
<strong>und</strong> Musliminnen in unserem<br />
Land liegen.<br />
Sie möchten<br />
● sich <strong>und</strong> andere über den Islam informieren<br />
● den gesellschaftlichen Diskurs über den<br />
Islam verstehen<br />
● Begegnungen von <strong>Christen</strong> <strong>und</strong> <strong>Muslimen</strong><br />
ermöglichen <strong>und</strong> begleiten<br />
● mit <strong>Muslimen</strong> für ein zukunftsfähiges<br />
Europa kooperieren<br />
● Verantwortung übernehmen für den<br />
interreligiösen Dialog<br />
● die religionspädagogische Herausforderung<br />
»Islam« annehmen<br />
● einen christlich-islamischen <strong>Gespräch</strong>skreis<br />
gründen<br />
Sie suchen<br />
● fachk<strong>und</strong>iges Wissen über den Islam<br />
● Einblick in die Geschichte der interreligiösen<br />
Begegnung<br />
● Erfahrungen in interreligiöser Dialogpraxis<br />
● pastorale Kompetenz bei der Beratung<br />
von <strong>Muslimen</strong> <strong>und</strong> Angehörigen<br />
● Orientierung hinsichtlich der kirchlichen<br />
Haltung zu <strong>Muslimen</strong><br />
● geistliche Impulse für den interreligiösen<br />
Dialog<br />
Huber-Rudolf, Christlich-muslimische Begegnung: Multipliatorenschulung im virtuellen Seminar<br />
Zielgruppe:<br />
Haupt- <strong>und</strong> Ehrenamtliche<br />
● in der Pastoral <strong>und</strong> Sonderseelsorge<br />
● bei Caritas <strong>und</strong> Diakonie<br />
● im Kindergarten <strong>und</strong> Schuldienst<br />
● in der Jugendarbeit<br />
● in der Erwachsenenbildung<br />
Mit uns werden Sie:<br />
● islamwissenschaftliche Informationen<br />
über theologische <strong>und</strong> gesellschaftliche<br />
Themen erarbeiten<br />
● kirchliche <strong>und</strong> theologische Positionen<br />
<strong>zum</strong> Dialog kennen lernen<br />
● Dialogeinrichtungen besuchen<br />
● Kontakte zu muslimischen <strong>Gespräch</strong>spartnern<br />
knüpfen <strong>und</strong><br />
● ihre Dialogkompetenz stärken<br />
Projektmethoden<br />
● Lehrbrief per Mail (oder auf dem Postweg)<br />
● Wochenaufgaben per Mail (oder Post)<br />
● Gegenseitige Debatte der Aufgaben<br />
● Teilnehmerchat <strong>und</strong> Treffen <strong>zum</strong> Erfahrungslernen<br />
<strong>und</strong> zur inhaltlichen<br />
Diskussion<br />
● Expertenchat<br />
● Teilnehmerbesuche <strong>und</strong> Vermittlung<br />
von persönlichen Kontakten<br />
Zeitaufwand:<br />
● der jetzige Kurs dauert von Oktober<br />
2005 bis April 2006<br />
● r<strong>und</strong> drei Wochenarbeitsst<strong>und</strong>en<br />
Themen <strong>und</strong> Termine:<br />
5. Oktober 2005: Auftaktveranstaltung<br />
1. Block: Die Beteiligten am interreligiösen<br />
Dialog<br />
7.10.2005: Die katholische Kirche <strong>und</strong><br />
der interreligiöse Dialog<br />
21.10.2005: Eine kleine Typologie der<br />
Dialogisierenden<br />
4.11.2005: Das <strong>Christen</strong>tum in der Sicht<br />
der Muslime<br />
18.11.2005: Die muslimischen <strong>Gespräch</strong>spartner:<br />
Richtungen <strong>und</strong> Organisationen<br />
CIBEDO-<strong>Beiträge</strong> 2/2006
2. Block: Systematische Gr<strong>und</strong>informationen<br />
2.12.2005: Als Christ den Koran befragen:<br />
Offenbarungsproblematik<br />
16.12.2005: Das Vorbild Muhammads<br />
im Alltag der Muslime: Religiöse Vielfalt<br />
<strong>und</strong> interkulturelle Konflikte<br />
13.1.2006: Der Dialog in der islamischen<br />
Geschichte: Toledos Toleranz, die Kreuzzüge,<br />
Türken vor Wien/in Berlin<br />
27.1.2006: Das Scharia-Denken – ein<br />
Fremdkörper in der Demokratie? Einführung<br />
in die Schariakratie<br />
10.2.2006: Gemeinsame Wertvorstellungen<br />
auf dem Prüfstand. Islamische Ethik<br />
<strong>und</strong> Moderne<br />
3. Block: Pastoral-professionelle Kontakte<br />
24.2.2006: Religionspädagogik mit <strong>Muslimen</strong><br />
in Schule <strong>und</strong> Kindergarten: Interreligiöses<br />
Lernen <strong>und</strong> Islamischer Religionsunterricht<br />
(Interrel. Schulfeiern <strong>und</strong><br />
Jugendarbeit)<br />
10.3.2006: Pastorale Begleitung von Paaren,<br />
Trauernden <strong>und</strong> Kranken: Religionsverschiedene<br />
Ehen <strong>und</strong> Kategorialseelsorge<br />
(Notfallseelsorge)<br />
24.3.2006: Spiritualitäten im interreligiösen<br />
Dialog – Spiritualität des interreligiösen<br />
Dialogs<br />
6. April 2006: Schlussveranstaltung«<br />
3. Die Auftaktveranstaltung<br />
Das erste Treffen verfolgte mehrere<br />
Ziele. Erstens sollten sich die Teilnehmer<br />
untereinander kennen lernen <strong>und</strong> die<br />
Arbeitsgruppen bilden. Zweitens sollte<br />
Verständigung darüber erzielt werden,<br />
was die Konzeption anbieten kann, welche<br />
Erwartungen der Teilnehmer noch<br />
eingearbeitet werden konnten. Drittens<br />
musste nachgefragt werden, in welcher<br />
Weise sich die Teilnehmer auf die technischen<br />
Bedingungen einzulassen bereit<br />
<strong>und</strong> fähig waren. Und schließlich sollten<br />
die Teilnehmer erkennen, wie die Person<br />
der Verfasserin der E-Mail-Lektionen in<br />
der persönlichen Begegnung im Vergleich<br />
zu den schriftlichen Äußerungen wirkt<br />
<strong>und</strong> diese dadurch im guten Sinne relativiert.<br />
Aus diesem Gr<strong>und</strong> hat die Verfasserin<br />
die erste E-Mail-Lektion als Vortrag mit<br />
CIBEDO-<strong>Beiträge</strong> 2/2006<br />
anschließender Diskussion in die Gruppe<br />
eingegeben, die zweite E-Mail-Lektion<br />
liegt als Rollenspiel von Lehramtsstudierenden<br />
der TU Darmstadt gestaltet vor.<br />
Mit diesen beiden didaktisch abwechslungsreichen<br />
Lernformen haben die Teilnehmer<br />
die Gelegenheit einander kennen<br />
zu lernen <strong>und</strong> die Inhalte zu prüfen.<br />
Die Auftaktveranstaltung stellt ein<br />
Wir-Gefühl für die gesamte Projektgruppe<br />
her <strong>und</strong> gibt Raum für persönliche<br />
Präferenzen der Kooperation in den<br />
Kleingruppen.<br />
Der Aufbau der E-Mail-Lektionen<br />
Um den Teilnehmern mit Erhalt einer<br />
jeden E-Mail-Lektion zu verdeutlichen,<br />
dass sich die Mühe <strong>und</strong> die Zeit in Themen<br />
von hoher Aktualität investiert wird,<br />
leiten Meldungen aus der Tagespresse in<br />
das jeweils zu behandelnde Thema ein.<br />
Gerade der Bezug <strong>zum</strong> Tagesgeschehen<br />
wurde besonders geschätzt <strong>und</strong> in der<br />
Auswertung von den Teilnehmern ausdrücklich<br />
hervorgehoben. Diese Leistung<br />
ist für jeden neu zu beginnenden Kurs<br />
erneut zu bringen, der Aufwand aber<br />
befördert die Motivation der Teilnehmenden.<br />
Ähnlich verhält es sich mit der Betreuung<br />
der Antworten auf die im Anschluss<br />
an die Lektionen gestellten Fragen. Die<br />
Teilnehmer wünschen sich auch eine<br />
Lösung, die es nicht immer geben kann,<br />
die aber in einer mit der Erfahrung der<br />
Verfasserin formulierten Einschätzung<br />
bestehen <strong>und</strong> mit ihrem Kommentar<br />
<strong>zum</strong> Lernprozess in der Arbeitsgruppe<br />
identisch sein darf.<br />
Als drittes Element gehören zu den E-<br />
Mail-Lektionen Literaturlisten, die im<br />
ersten Projektdurchlauf aus den Beständen<br />
der Dokumentation <strong>und</strong> Bibliothek<br />
von CIBEDO gespeist wurden. Die Fülle<br />
des Materials wirkte allerdings eher<br />
entmutigend <strong>und</strong> überforderte die Lernkapazitäten<br />
mancher Teilnehmer. Andererseits<br />
fühlen sich einige Teilnehmer<br />
nach Abschluss des Kurses auch so sicher,<br />
dass sie zu den Lektionen ähnlichen Fragestellungen<br />
selbst Inputs in ihre<br />
Gemeinden geben könnten. Ausführliche<br />
Literaturlisten sind gut geeignet, die Thematik<br />
in mehrere Richtungen zu ent-<br />
wickeln <strong>und</strong> gerade für diese Adressaten<br />
hilfreich. Es bedarf deshalb einer Zweiteilung<br />
dieses Angebots. Ein Teil der Literatur<br />
sollte als Basistexte gekennzeichnet<br />
<strong>und</strong> mit einem Kommentar versehen<br />
werden. Der Rest kann für Eigeninteresse<br />
unkommentiert angereiht <strong>und</strong> immer<br />
wieder aktualisiert werden.<br />
Der Aufbau der E-Mail-Lektionen<br />
<strong>und</strong> die zugr<strong>und</strong>eliegende Projektmethode<br />
erfordern eine individuelle persönliche<br />
Begleitung jeder Multiplikatorengruppe,<br />
die sich für das virtuelle<br />
Seminar entscheidet.<br />
Die Expertenbefragung<br />
Die Teilnehmer hatten die Gelegenheit<br />
mit zwei Experten zu sprechen. Prof.<br />
Dr. Christian W. Troll SJ, der Verantwortliche<br />
des Studienprogrammes in St.<br />
Georgen <strong>und</strong> Dr. Kurt von DITIB in<br />
Frankfurt. Die Fragen an den christlichen<br />
Experten kreisten um den Komplex der<br />
Durchführung von päpstlichen <strong>und</strong><br />
bischöflichen Direktiven auf der Gemeindeebene.<br />
Auch die Frage, ob man<br />
denn für einen fruchtbaren Dialog mit<br />
<strong>Muslimen</strong> nicht viel mehr eigene missionarische<br />
Interessen haben müsste, wurde<br />
gestellt. Der muslimische Experte wurde<br />
auf den innerislamischen Dialog angesprochen<br />
<strong>und</strong> danach befragt, ob es wohl<br />
genügend Vertrauen auf muslimischer<br />
Seite gebe, mit <strong>Christen</strong> ins <strong>Gespräch</strong><br />
kommen zu wollen, auch danach, wie viel<br />
Vertrauen <strong>Christen</strong> noch als Vorschussleistung<br />
aufbringen müssten, bis Muslime<br />
mit Ehrlichkeit darauf reagierten.<br />
In der Expertenbefragung wurde deutlich,<br />
wie schwierig es ist, die <strong>Gespräch</strong>sebene,<br />
die die Projektleiterin mit den von<br />
ihr angefragten Experten erreicht hatte,<br />
auf die von außen dazu stoßenden Teilnehmer<br />
des Seminars zu übertragen. Es<br />
darf nicht übersehen werden, dass die<br />
Gastgeber ihre Gäste untereinander möglichen<br />
Themen <strong>und</strong> damit auch Verletzungen<br />
aussetzen, die auf den Gastgeber<br />
zurückfallen. Das distanzierende Forum<br />
eines Chats im virtuellen Raum hilft, die<br />
Situation zu entschärfen.<br />
Huber-Rudolf, Christlich-muslimische Begegnung: Multipliatorenschulung im virtuellen Seminar<br />
43
44<br />
4. Die Abschlussveranstaltung<br />
In der Auswertung der Abschlussveranstaltung<br />
wurde mehrfach auf die Bedeutung<br />
von Differenzierungen im Spektrum<br />
der Möglichkeiten, Muslim zu sein,<br />
hingewiesen. Gerade weil die Teilnehmer<br />
schon Erfahrungen mit vielen verschiedenen<br />
<strong>Muslimen</strong> haben, brauchen sie elaborierte<br />
Kategorien <strong>zum</strong> Verständnis von<br />
<strong>Muslimen</strong>. Dabei werden allerdings keine<br />
fertigen Lösungen erwartet. Die Teilnehmer<br />
reagierten mit Dankbarkeit auf<br />
Denkanstöße <strong>und</strong> anregende Fragen. Sie<br />
scheuten sich nicht, sich mit Vorurteilen<br />
auseinanderzusetzen <strong>und</strong> Engführungen<br />
der eigenen Perspektive aufzubrechen.<br />
Was die pastoralen Fragen der Teilnehmer<br />
betrifft, schätzen sie die Berücksichtigung<br />
verschiedenster Lebenssituationen<br />
<strong>und</strong> dafür überschaubare praktische,<br />
erprobte Impulse.<br />
Die Lesbarkeit der Lektionen sollte<br />
durch Tabellen <strong>und</strong> Schemata verbessert<br />
werden.<br />
Die Teilnehmer verstehen sich nach<br />
einem halben Jahr der intensiven Arbeit<br />
als Netzwerk von Multiplikatoren in der<br />
Diözese, zur Unterstützung der Referentin<br />
für Islamfragen. Sowohl die Referentin<br />
als auch die Domschule wollen in zwei<br />
Jahren einen weiteren Zyklus anbieten,<br />
um dieses Netzwerk weiter zu knüpfen.<br />
Warum virtuell <strong>und</strong> nicht per Post?<br />
Die Frage, warum man nicht auch an<br />
diesem Multiplikatorenseminar teilnehmen<br />
könne, wenn man keine E-Mail-<br />
Anschrift besitzt, wurde mir oft gestellt.<br />
Mit ihr einher geht die Vorstellung von<br />
Lehrbriefen, die für andere Bereiche auch<br />
verschickt, bearbeitet <strong>und</strong> beantwortet<br />
werden.<br />
Dem ist entgegenzuhalten, dass der<br />
Kosten- <strong>und</strong> Zeitaufwand ungleich geringer<br />
ist, wenn das Seminar im virtuellen<br />
Raum stattfindet. Warum?<br />
1. Der Anbieter spart alle Papier-,<br />
Druck- <strong>und</strong> Versandkosten. Die Teilnehmer<br />
entscheiden selbst, ob sie am<br />
Bildschirm oder an der Druckversion<br />
der Lektion arbeiten wollen <strong>und</strong> tragen<br />
die entsprechenden Kosten.<br />
2. Die Kommunikation erfolgt unmittelbar.<br />
Sowohl die Teilnehmer<br />
untereinander als auch die Gruppensprecher<br />
mit der Projektleitung konnten<br />
per E-Mail oder über das Telefon<br />
des virtuellen Seminars direkt <strong>und</strong><br />
teilweise ohne Zeitverzögerung miteinander<br />
kommunizieren.<br />
3. Ein Chat im virtuellen Seminar erfordert<br />
keine Reisezeiten <strong>und</strong> -kosten.<br />
4. Das moderne Medium bietet Möglichkeiten<br />
der Visualisierung <strong>und</strong> der<br />
Beweglichkeit in anderen Informationswelten<br />
(Musik, Bilder, Führungen<br />
durch Internet-Seiten), die ein<br />
Brief nicht eröffnen kann.<br />
Auch das virtuelle Seminar will nicht<br />
ohne die persönliche Begegnung auskommen.<br />
Im Gegenteil kommt den Treffen<br />
große Bedeutung für die Motivation <strong>und</strong><br />
den Lernfortschritt der Teilnehmer zu.<br />
Das Angebot richtet sich an alle Veranstalter<br />
im kirchlichen Bereich, die eine<br />
Multiplikatorengruppe für den christlich-islamischen<br />
Dialog im Sinne des<br />
Zweiten Vatikanischen Konzils schulen<br />
wollen. ■<br />
Huber-Rudolf, Christlich-muslimische Begegnung: Multipliatorenschulung im virtuellen Seminar<br />
CIBEDO-<strong>Beiträge</strong> 2/2006
Neuanschaffungen der CIBEDO-Bibliothek<br />
AKYÜN, Hatice: Einmal Hans mit scharfer Soße. Leben in<br />
zwei Welten. München 2005, 4. Auflage, 190 Seiten.<br />
ISBN 3-442-31094-6<br />
ALAVI, Nasrin: Wir sind der Iran. Aufstand gegen die Mullahs<br />
– die junge persische Weblog-Szene. Köln 2005, 386 Seiten.<br />
ISBN 3-462-03651-3<br />
AZM, Sadiq Galal al-: Islam <strong>und</strong> säkularer Humanismus.<br />
Tübingen 2005, 118 Seiten. ISBN 3-16-148527-0<br />
BAR-ON, Dan: Die »Anderen« in uns. Dialog als Modell der<br />
interkulturellen Konfliktbewältigung. Hamburg 2006, 260 Seiten.<br />
ISBN 3-89684-061-4<br />
BAUER, Thomas <strong>und</strong> SCHNEIDERS, Thorsten Gerald<br />
(Hrsg.): »Kinder Abrahams«: Religiöser Austausch im lebendigen<br />
Kontext. Reihe: Veröffentlichungen des Centrums für Religiöse<br />
Studien Münster Bd. 2, Münster 2005, 287 Seiten.<br />
ISBN 3-8258-8023-0<br />
BAUMANN, Andreas <strong>und</strong> TROEGER, Eberhard u.a.<br />
(Hrsg.): Christliches Zeugnis <strong>und</strong> islamische Da’wa. <strong>Beiträge</strong><br />
<strong>zum</strong> Forschungsbedarf. Reihe: Evangelium <strong>und</strong> Islam Bd.1,<br />
Nürnberg 2005, 117 Seiten. ISBN 3-937965-37-8<br />
BEAUMONT, Mark: Christology in Dialogue with Muslims.<br />
A critical Analysis of Christian Presentations of Christ for Muslims<br />
from the Ninth and Twentieth Centuries. Oxford 2005,<br />
227 Seiten. ISBN 1-84227-123-7<br />
BERTSCH, Ludwig <strong>und</strong> EVERS, Martin u.a. (Hrsg.): Viele<br />
Wege – ein Ziel. Herausforderungen im Dialog der Religionen<br />
<strong>und</strong> Kulturen. Freiburg 2006, 412 Seiten.<br />
ISBN 3-451-28943-1<br />
BUTTERWEGGE, Christoph <strong>und</strong> HENTGES, Gudrun<br />
(Hrsg.): Massenmedien, Migration <strong>und</strong> Integration. Wiesbaden<br />
2006, 260 Seiten.<br />
ISBN 3-531-15047-2<br />
EICH, Thomas: Abu l-Huda as-Sayyadi. Eine Studie zur<br />
Instrumentalisierung sufischer Netzwerke <strong>und</strong> genealogischer<br />
Kontroversen im spätosmanischen Reich. Berlin 2003, 301 Seiten.<br />
ISBN 3-87997-305-9<br />
ELSDÖRFER, Ulrike: Frauen in <strong>Christen</strong>tum <strong>und</strong> Islam. Dialoge<br />
– Traditionen – Spiritualitäten. Königstein/Ts. 2006, 239<br />
Seiten. ISBN 3-89741-198-9<br />
ENDE, Werner <strong>und</strong> STEINBACH, Udo (Hrsg.): Der Islam<br />
in der Gegenwart. Entwicklung <strong>und</strong> Ausbreitung – Kultur <strong>und</strong><br />
Religion – Staat, Politik <strong>und</strong> Recht, 5. neubearbeitete Auflage,<br />
München 2005, 1064 Seiten. ISBN 3-406-53447-3<br />
CIBEDO-<strong>Beiträge</strong> 2/2006<br />
ENZENSBERGER, Hans Magnus: Schreckens Männer. Versuch<br />
über den radikalen Verlierer. Frankfurt 2006, 53 Seiten.<br />
ISBN 3-518-06820-2.<br />
GINAIDI, Christa <strong>und</strong> GINAIDI, Ahmed: Die Situation der<br />
Frau im Islam <strong>und</strong> im <strong>Christen</strong>tum. Psychologisch-ethnologische<br />
<strong>und</strong> historisch-theologische Hintergründe. Stuttgart 2005,<br />
187 Seiten. ISBN 3-89821-485-0<br />
GOLDBERG, Andreas <strong>und</strong> HALM, Dirk <strong>und</strong> SEN, Faruk:<br />
Die deutschen Türken. Münster 2004, 162 Seiten.<br />
ISBN 3-8258-8232-2<br />
GRAF, Friedrich Wilhelm: Moses Vermächtnis. Über göttliche<br />
<strong>und</strong> menschliche Gesetze. München 2006, 99 Seiten.<br />
ISBN 3-406-54221-3<br />
GRYPEOU, Emmanouela <strong>und</strong> SWANSON, Mark N. <strong>und</strong><br />
THOMAS, David (Hrsg.): The encounter of eastern Christianity<br />
with early Islam. Reihe: The History of Christian-Muslim<br />
Relations Bd. 5, Leiden 2006, 338 Seiten.<br />
ISBN 90-04-14938-4<br />
HEINRICH, Rolf: Leben in Religionen – Religionen im<br />
Leben. Interreligiöse Spuren. Reihe: Interreligiöse Begegnungen<br />
– Studien <strong>und</strong> Projekte Bd. 1, Münster 2005, 222 Seiten.<br />
ISBN 3-8258-8037-0<br />
KAATSCH, Hans-Jürgen <strong>und</strong> ROSENAU, Hartmut u.a.<br />
(Hrsg.): Kultur <strong>und</strong> Religion. <strong>Beiträge</strong> zu einer Ethik des Dialogs.<br />
Reihe: Ethik interdisziplinär Bd. 9, Münster 2005, 88 Seiten.<br />
ISBN 3-8258-8394-9<br />
KELEK, Necla: Die verlorenen Söhne. Plädoyer für die Befreiung<br />
des türkisch-muslimischen Mannes. Köln 2006, 218 Seiten.<br />
ISBN 3-462-03686-2<br />
KIEFER, Michael: Islamk<strong>und</strong>e in deutscher Sprache in Nordrhein-Westfalen.<br />
Kontext, Geschichte, Verlauf <strong>und</strong> Akzeptanz<br />
eines Schulversuchs. Reihe: Islam in der Lebenswelt Europa Bd.<br />
2, Münster 2005, 250 Seiten. ISBN 3-8258-8881-9<br />
KLAUSEN, Jytte: Europas muslimische Eliten. Wer sie sind<br />
<strong>und</strong> was sie wollen. Frankfurt M. 2006, 306 Seiten.<br />
ISBN 3-593-38017-9<br />
KLÖCKER, Michael <strong>und</strong> TWORUSCHKA, Udo (Hrsg.):<br />
Ethik der Weltreligionen. Ein Handbuch. Darmstadt 2005,<br />
310 Seiten. ISBN 3-534-17253-1<br />
MAK, Geert: Der Mord an Theo van Gogh. Geschichte einer<br />
moralischen Panik. Frankfurt M. 2005, 105 Seiten.<br />
ISBN 3-518-12463-3<br />
Neuanschaffungen der CIBEDO-Bibliothek<br />
45
46<br />
METZGER, Albrecht: Islamismus. Hamburg 2005, 95 Seiten.<br />
ISBN 3-434-46238-4<br />
OBERMANN, Andreas: Religion unterrichten <strong>zwischen</strong><br />
Kirchturm <strong>und</strong> Minarett. Perspektiven für einen dialogischkonfessorischen<br />
Unterricht der abrahamischen Religionsgemeinschaften<br />
an berufsbildenden Schulen. Reihe: <strong>Christen</strong>tum<br />
<strong>und</strong> Islam im Dialog Bd. 8. Münster 2006, 411 Seiten.<br />
ISBN 3-8258-9149-6<br />
PONGRATZ-LIPPITT, Christa (Hrsg.): Franz Kardinal<br />
König. Offen für Gott – offen für die Welt. Kirche im Dialog.<br />
Freiburg 2006, 176 Seiten. ISBN 3-451-28891-5<br />
POYA, Abbas: Anerkennung des Igtihad – Legitimiation der<br />
Toleranz. Möglichkeiten innerer <strong>und</strong> äußerer Toleranz im Islam<br />
am Beispiel der Igtihad-Diskussion. Berlin 2003, 178 Seiten.<br />
ISBN 3-87997-306-7<br />
REICHMUTH, Stefan <strong>und</strong> BODENSTEIN, Mark u.a.<br />
(Hrsg.): Staatlicher Islamunterricht in Deutschland. Die<br />
Modelle in NRW <strong>und</strong> Niedersachsen im Vergleich. Berlin<br />
2006, 143 Seiten. ISBN 3-8258-8830-4<br />
SCHNEIDERS, Thorsten Gerald <strong>und</strong> KADDOR, Lamya<br />
(Hrsg.): Muslime im Rechtsstaat. Reihe: Veröffentlichungen<br />
des Centrums für Religiöse Studien Münster Bd. 3, Münster<br />
2005, 168 Seiten. ISBN 3-8258-8024-9<br />
SELIM, Nahed: Nehmt den Männern den Koran! Eine weibliche<br />
Interpretation des Islam. München 2006, 332 Seiten.<br />
ISBN 3-492-04893-5<br />
SEZGIN, Hilal: Typisch Türkin? Porträt einer neuen Generation.<br />
Freiburg 2006, 191 Seiten. ISBN 3-451-28875-3<br />
WADUD, Amina: Qur’an and woman. Rereading the sacred<br />
text from a woman’s persepctive. 2. Auflage, New York 1999,<br />
118 Seiten. ISBN 0-19-512836-2<br />
WROGEMANN, Henning: Missionarischer Islam <strong>und</strong> gesellschaftlicher<br />
Dialog. Eine Studie zu Begründung <strong>und</strong> Praxis des<br />
Aufrufes <strong>zum</strong> Islam (da’wa) im internationalen sunnitischen<br />
Diskurs. Frankfurt M. 2006, 510 Seiten.<br />
ISBN 3-87476-489-3<br />
Die Autoren der <strong>Beiträge</strong><br />
Ghadban, Dr. Ralph, Wissenschaftler, Berlin<br />
Görlach, Dr. Alexander, Theologe, Berlin<br />
Huber-Rudolf, Dr. Barabara, wissenschaftliche Mitarbeiterin,<br />
CIBEDO, Frankfurt a. M.<br />
Kandel, Dr. Johannes, Historiker <strong>und</strong> Politikwissenschaftler,<br />
Berlin<br />
Samir Khalil Samir SJ, Professor an der Universität Saint<br />
Joseph, Beirut<br />
Troll, Prof. Dr. Christian W. SJ, Honorarprofessor, Philosophisch-Theologische<br />
Hochschule Sankt Georgen, Frankfurt<br />
a. M.<br />
Neuanschaffungen der CIBEDO-Bibliothek/Die Autoren der <strong>Beiträge</strong> CIBEDO-<strong>Beiträge</strong> 2/2006
Christlich-islamische Begegnungs- <strong>und</strong> Dokumentationsstelle<br />
– Arbeitsstelle der Deutschen Bischofskonferenz –<br />
Balduinstraße 62 . 60599 Frankfurt am Main<br />
Telefon: 069/72 64 91 . Fax: 069/72 30 52<br />
www.<strong>cibedo</strong>.de ISSN 1863-2238