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Beiträge zum Gespräch zwischen Christen und Muslimen 2 ... - cibedo

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<strong>Beiträge</strong> <strong>zum</strong> <strong>Gespräch</strong><br />

<strong>zwischen</strong> <strong>Christen</strong> <strong>und</strong> <strong>Muslimen</strong><br />

2/2006<br />

Inhalt:<br />

Die prophetische Mission<br />

Muhammads<br />

Samir Khalil Samir SJ<br />

Dialog in der Kritik<br />

Ralph Ghadban<br />

Die »Wiener Erklärung«<br />

der Konferenz der Imame<br />

<strong>und</strong> SeelsorgerInnen<br />

Johannes Kandel<br />

Christlich-muslimische<br />

Begegnung: Multiplikatorenschulung<br />

im virtuellen Seminar<br />

Barbara Huber-Rudolf


Editorial<br />

Sehr geehrte Leserinnen <strong>und</strong> Leser,<br />

im September 2006 tagte <strong>zum</strong> ersten Mal die von B<strong>und</strong>esinnenminister<br />

Schäuble initiierte Islam-Konferenz in Berlin.<br />

Damit hat nun auch die Politik ihren Dialog mit dem<br />

Islam begonnen; ein Prozess, der längst überfällig war. Die<br />

christlich-islamische Arbeitsgemeinschaft (ICA) dagegen konnte auf ihrer Jahrestagung<br />

am 13./14. November 2006 bereits auf dreissig Jahre christlich-islamischen<br />

Dialog zurückblicken. Entwicklung <strong>und</strong> Bilanz dieser dreißig Jahre wurden auf der<br />

Tagung von Prof. Dr. Christoph Elsass <strong>und</strong> Imam Mehdi Razvi vorgetragen. Der Beitrag<br />

erscheint demnächst in dieser Zeitschrift.<br />

Im Mittelpunkt dieser Ausgabe steht die Konferenz der europäischen Imame von<br />

April 2006. Im Dokumentationsteil veröffentlichen wir den Wortlaut der Schlusserklärung,<br />

wie er uns vom Islamischen Zentrum München übermittelt worden ist.<br />

Johannes Kandel setzt sich in seinem Beitrag kritisch mit den Analysen <strong>und</strong> Forderungen<br />

der Imame auseinander. Wir hoffen, hiermit vor allem die öffentliche Debatte<br />

zur Islam-Konferenz zu beleben <strong>und</strong> anzureichern. Hierzu ist der Beitrag von Ralph<br />

Ghadban bestens geeignet, in dem er sich kritisch mit einigen muslimischen Positionen<br />

im Dialog auseinandersetzt. Es handelt sich dabei um eine leicht überarbeitete<br />

Fassung eines Vortrags, den er auf einer Tagung der katholischen Akademie in Stuttgart-Hohenheim<br />

im Oktober 2004 gehalten hat.<br />

Wir bemühen uns, in jeder Ausgabe in mindestens einem Beitrag ein theologisches<br />

Thema aufzugreifen. Diesmal schreibt Samir Khalil Samir SJ aus christlicher Sicht<br />

zur Prophetie Muhammads. Während Jesus im Koran als Prophet anerkannt wird,<br />

gilt Muhammad aus christlicher Perspektive nicht als Prophet. In seinem sehr interessanten<br />

Beitrag geht Samir Khalil Samir SJ dieser Frage nach.<br />

Wie bisher veröffentlichen wir auch diesmal wieder eine Liste mit Neuanschaffungen<br />

unserer Bibliothek, die jedem interessierten Leser offen steht. Ab der nächsten<br />

Ausgabe werden wir den Literaturservice auch auf Zeitschriften ausdehnen. Sie<br />

können dann sehen, welche <strong>Beiträge</strong> <strong>und</strong> Artikel in den wichtigsten internationalen<br />

Periodika <strong>und</strong> Zeitschriften <strong>zum</strong> Dialog erschienen sind. Wir hoffen, damit einen<br />

weiteren Beitrag für einen f<strong>und</strong>ierten christlich-islamischen Dialog beizusteuern.<br />

Frankfurt, den 29. September 2006<br />

Impressum<br />

Herausgeber:<br />

CIBEDO e.V.<br />

Verantwortlich:<br />

Dr. Peter Hünseler<br />

Redaktion:<br />

Dr. Barbara Huber-Rudolf<br />

Redaktionsbeirat:<br />

Alexander Görlach, Dr. Barbara<br />

Huber-Rudolf, Dr. Peter Hünseler,<br />

Prof. Dr. Christian W. Troll SJ<br />

Die Publikation dient dem Austausch<br />

von Meinungen <strong>zum</strong> <strong>Gespräch</strong> <strong>zwischen</strong><br />

<strong>Christen</strong> <strong>und</strong> <strong>Muslimen</strong>. Nachdruck,<br />

photomechanische oder elektronische<br />

Wiedergabe einzelner <strong>Beiträge</strong><br />

nur mit besonderer Erlaubnis.<br />

CIBEDO – <strong>Beiträge</strong> <strong>zum</strong> <strong>Gespräch</strong><br />

<strong>zwischen</strong> <strong>Christen</strong> <strong>und</strong> <strong>Muslimen</strong><br />

erscheint jährlich in vier Heften.<br />

Preise:<br />

Einzelheft: 8,00 EUR<br />

Jahresabonnement:<br />

28,00 EUR (4 Hefte)<br />

Bankkonten:<br />

CIBEDO, Postbank Frankfurt<br />

am Main, Konto-Nr. 6426-609,<br />

BLZ 500 100 60<br />

CIBEDO, Pax-Bank eG,<br />

Konto-Nr. 4004 747 017,<br />

BLZ 370 601 93<br />

Gestaltung: bleydesign, Köln<br />

Druck: Warlich Druck Köln GmbH<br />

ISSN: 0932-3945<br />

Editorial CIBEDO-<strong>Beiträge</strong> 2/2006


Inhaltsverzeichnis<br />

Editorial 2<br />

Die prophetische Mission Muhammads<br />

von Samir Khalil Samir SJ 4<br />

Dialog in der Kritik<br />

von Ralph Ghadban 12<br />

Die »Wiener Erklärung« der Konferenz der Imame <strong>und</strong> SeelsorgerInnen<br />

vom 8. April 2006<br />

von Johannes Kandel 18<br />

Dokumentation<br />

Schlusserklärung der Konferenz Europäischer Imame in Wien 2006 29<br />

Buchbesprechungen<br />

Mehdi Bazargan: Und Jesus ist sein Prophet. Der Koran <strong>und</strong> die <strong>Christen</strong><br />

Eine christliche Stellungnahme<br />

von Christian W. Troll SJ 36<br />

Reza Aslan: Kein Gott außer Gott. Der Glaube der Muslime von Muhammad bis zur Gegenwart<br />

von Alexander Görlach 40<br />

Projektbericht<br />

Christlich-muslimische Begegnung: Multiplikatorenschulung im virtuellen Seminar<br />

von Barbara Huber-Rudolf 41<br />

Neuanschaffungen der CIBEDO-Bibliothek 45<br />

Die Autoren der <strong>Beiträge</strong> 46<br />

CIBEDO-<strong>Beiträge</strong> 2/2006<br />

Inhaltsverzeichnis<br />

3


4<br />

Die prophetische Mission<br />

Muhammads<br />

von Samir Khalil Samir SJ<br />

Die Karikaturen-Affäre, welche nach<br />

dem Abdruck der Bilder in einer dänischen<br />

Zeitschrift im September 2005<br />

innerhalb weniger Monate die muslimische<br />

Welt von Pakistan bis Nigeria<br />

entflammt hat, hat der Öffentlichkeit<br />

den Stellenwert verdeutlicht, den der<br />

Gründer, der »Prophet« Muhammad,<br />

im Islam innehat, auf gleichem Niveau<br />

wie das Dogma des einzigen Gottes.<br />

Um die Fragen unserer Leser zu beantworten,<br />

nehmen wir, mit fre<strong>und</strong>licher<br />

Erlaubnis der Editions Desclée in<br />

Brouwer, die Gedanken des Jesuitenpaters<br />

Samir Khalil auf, die in Enquêtes<br />

sur l’Islam (Betrachtungen des Islam)<br />

von Anne-Marie Delcambre <strong>und</strong><br />

Joseph Bosshard erschienen sind, mit<br />

Unterstützung von R. Arnaldez, M.<br />

Borrmans , G. Troupeau, D. <strong>und</strong> M.-<br />

T. Urvoy, etc.<br />

1. Die Auswirkungen der<br />

Anzweiflung des Prophetentums<br />

Muhammads<br />

Der prophetische Charakter Muhammads<br />

ist für die Muslime ein gr<strong>und</strong>legendes<br />

Element ihres Glaubens. Die Auswirkungen<br />

des Glaubens an Muhammad als<br />

Propheten sind nicht ohne Gewicht für<br />

das globale Bild des Islam <strong>und</strong> den islamisch-christlichen<br />

Dialog. Dieser Glaube<br />

an Muhammad als den Propheten Gottes<br />

ist gr<strong>und</strong>legend, da er die Hälfte des muslimischen<br />

Glaubens (die shahâda) ausmacht.<br />

Dieses Glaubenszeugnis beteuert:<br />

»Ich bezeuge dass es keine Gottheit gibt<br />

außer Allah <strong>und</strong> dass Muhammad der Prophet<br />

Gottes ist«.<br />

Der muslimische Glaube an Muhammad<br />

als den Propheten Gottes ist auch<br />

deshalb gr<strong>und</strong>legend, da er die Beziehungen<br />

<strong>zwischen</strong> <strong>Christen</strong> <strong>und</strong> <strong>Muslimen</strong><br />

zweifellos am meisten stört. Die Frage des<br />

Prophetentums Muhammads ist auch<br />

deshalb eine gr<strong>und</strong>legende, da – entgegen<br />

der Tradition der christlichen Kirchen,<br />

die den Begründer des Islam niemals als<br />

Propheten anerkannt haben – heutzutage<br />

einige katholische Theologen keine<br />

Bedenken haben, ihn als solchen zu<br />

akzeptieren, <strong>zum</strong>indest auf eine gewisse<br />

Art. Schließlich entspricht nach der Meinung<br />

vieler Leute diese Anerkennung<br />

Muhammads als Propheten am besten<br />

der vom Zweiten Vatikanischen Konzil<br />

geforderten Bereitschaft <strong>zum</strong> Dialog <strong>und</strong><br />

auf jeden Fall dem Geiste unserer Zeit.<br />

Mit der Frage nach der Prophetie<br />

Muhammads ist die Frage nach dem<br />

Koran <strong>und</strong> somit der muslimischen Religion<br />

als ganzer gestellt. Wenn Muhammad<br />

ein von Gott gesandter Prophet ist,<br />

erscheint es als logische Folge, dass auch<br />

der Koran von Gott stammt. Ist Muhammad<br />

jedoch kein Prophet, muss man sich<br />

die Frage nach dem Ursprung des Koran<br />

stellen.<br />

Sich Gedanken über Muhammad <strong>und</strong><br />

den Koran zu machen, führt unweigerlich<br />

<strong>zum</strong> Überdenken des Islam. Wo soll<br />

man ihn einordnen? Ist der Islam eine<br />

Naturreligion? Ist er eine Religion im Sinne<br />

der Bibel? Ist er eine Religion der<br />

Offenbarung? Wenn er letzteres ist, wie<br />

erklärt es sich, das die Offenbarung im<br />

Koran von der biblischen Offenbarung<br />

<strong>und</strong> insbesondere vom der Offenbarung<br />

des Evangeliums abweicht? Und wenn<br />

der Islam nicht eine offenbarte Religion<br />

ist, weshalb gibt es so viele Übereinstimmungen<br />

<strong>zwischen</strong> der Offenbarung des<br />

Koran <strong>und</strong> der Bibel?<br />

Samir, Die prophetische Mission Muhammads CIBEDO-<strong>Beiträge</strong> 2/2006


Radikaler ausgedrückt: Gab es wirklich<br />

eine »Offenbarung« oder ist Muhammad<br />

lediglich ein Defraudant oder aber<br />

jemand, der glaubte, eine Offenbarung<br />

gehabt zu haben, sich selbst in die Falle<br />

ging <strong>und</strong> schließlich ernsthaft geglaubt<br />

hat, ein Gesandter Gottes zu sein? Welche<br />

Einordnung ist korrekt? Wäre es nicht<br />

möglich, dass er ein Oberhaupt, ein politischer<br />

Anführer war, dem es gelungen<br />

ist, die arabischen Stämme zu einen,<br />

ihnen eine gemeinsame Basis zu geben<br />

<strong>und</strong> ihnen somit eine umso größere<br />

Dynamik verlieh als er sie glauben ließ,<br />

dass seine Aussprüche <strong>und</strong> Taten unmittelbar<br />

von Gott bestimmt würden?<br />

Aber – so einige Theologen – angenommen,<br />

Muhammad wäre tatsächlich ein<br />

Defraudant, wie erklärt es sich, dass eine<br />

Religion, die nicht von Gott geschaffen<br />

wurde, eine solche Verbreitung erfahren<br />

durfte? Hilft der Islam darüber hinaus<br />

nicht Millionen Menschen, Gott zu<br />

erfahren? Und, schlussendlich, ist die<br />

gr<strong>und</strong>legende Frage doch der Ursprung<br />

des Islam. Dazu gibt es zahlreiche Antworten.<br />

Wir werden hier lediglich drei<br />

aufzeigen.<br />

1. Die griechischen oder lateinischen<br />

Theologen des Mittelalters sagten:<br />

»Der Islam ist ein Werk des Teufels«. Diese<br />

Annahme der diabolischen Herkunft<br />

des Islam findet sich allerdings<br />

fast nie bei den orientalischen Theologen<br />

des Mittelalters (Syrern, Kopten<br />

oder Arabern), die in alltäglichem<br />

Kontakt zu den <strong>Muslimen</strong> standen.<br />

Lediglich ‘Abd al-Masîh al-Kindî, dessen<br />

Schriften um das Jahr 825 entstanden,<br />

lässt unseres Wissens eine solche<br />

Meinung vermuten.<br />

2. Einige <strong>Christen</strong> bestätigen heute die<br />

muslimische Annahme, der Islam<br />

komme von Gott, <strong>und</strong> dass er von diesem<br />

gewollt sei. Und dies vorrangig aus<br />

zwei Gründen: Die Ausdehnung <strong>und</strong><br />

Dauer des islamischen Glaubens einerseits,<br />

seine Mystik andererseits. Ihre<br />

Überlegung ist folgende: Wenn diese<br />

Religion weder ein Werk Gottes noch<br />

des Teufels ist, sondern einfach das<br />

Werk eines Menschen, weshalb ist<br />

dann seine Ausbreitung so enorm, weshalb<br />

bewirkt er einen solch starken<br />

Glauben <strong>und</strong> weshalb hat er seine solche<br />

Mystik hervorgebracht?<br />

CIBEDO-<strong>Beiträge</strong> 2/2006<br />

Zweifellos sind die mystischen muslimischen<br />

Texte von einer großen<br />

Schönheit <strong>und</strong> spirituellen Erhabenheit.<br />

Sie können sich, trotz ihrer Esoterik,<br />

die zweifellos ihren Reiz für die<br />

westliche Welt erklärt, mit den schönsten<br />

mystischen christlichen Texten<br />

vergleichen. Freilich, wenn sie sich<br />

auch die Figur Christi als Beispiel nehmen<br />

<strong>und</strong> ihn zuweilen als »Siegel der<br />

Heiligen« ansehen, so ist es doch das<br />

»Licht Muhammads«, das sie leitet.<br />

Diese mystische Dimension erklärt<br />

den Reiz, den der Islam auf einige<br />

Abendländer ausübt, ob <strong>Christen</strong> oder<br />

Nicht-<strong>Christen</strong>, <strong>und</strong> sie treibt einige<br />

unter ihnen dazu, zu konvertieren. In<br />

Italien ist beispielsweise der Scheich<br />

‘Abd al-Wahid Pallavicini (abstammend<br />

einer noblen römischen Familie,<br />

die Jahrh<strong>und</strong>erte lang den Papst unterstützte)<br />

das Oberhaupt einer bekannten<br />

Sufi-Bewegung, die sich freilich ein<br />

wenig schwer getan hat, von den geborenen<br />

<strong>Muslimen</strong> anerkannt zu werden.<br />

3. Andere sehen im Islam hingegen eine<br />

vom Menschen erschaffene Religion,<br />

gegründet von einer außergewöhnlichen<br />

Persönlichkeit, dessen weltumfassendes<br />

Konzept der Gesellschaft,<br />

sowohl in spiritueller, kultureller, sozialer<br />

als auch politischer Hinsicht, sich<br />

im Laufe der Geschichte durchsetzen<br />

konnte <strong>und</strong> zu einer Einigung sehr verschiedenartiger<br />

Kulturkreise geführt<br />

hat. Diese Kultur schaffende Kraft des<br />

Islam <strong>und</strong> seine Fähigkeit, andere Kulturen<br />

zu assimilieren, faszinieren ebenso<br />

die westliche Welt wie auch die Afrikaner.<br />

Sie fühlen sich durch die Tatsache<br />

angezogen, dass der Islam, anders<br />

als das <strong>Christen</strong>tum, eine allumfassende<br />

(um nicht zu sagen totalitäre) Religion<br />

ist, die alle Bereiche des Lebens<br />

einschließt: Privat- <strong>und</strong> Familienleben,<br />

Gesellschaft, Politik <strong>und</strong>, nicht zu vergessen,<br />

das Militär.<br />

»Drei Dinge liebe ich auf der Welt:<br />

Gebet, Frauen <strong>und</strong> Parfüm«, lässt uns<br />

ein bekannter hadîth wissen <strong>und</strong> vereinigt<br />

diese so unterschiedlichen Aspekte<br />

auf eine dem Islam typische<br />

Weise: Er verbindet das Körperliche<br />

<strong>und</strong> das Geistige, das Gebet <strong>und</strong> die<br />

Politik – er ist dîn wa-dawlah wadunyâ.<br />

Aus der Ablehnung Muhammads als<br />

Propheten folgert der Muslim, dass seine<br />

Religion als wertlos angesehen wird,<br />

woraus sich wiederum erschließt, dass<br />

auch sein Leben wertlos ist, da er jede<br />

seiner Taten im Namen seiner Religion,<br />

dem Islam, ausführt. Diese<br />

Ablehnung wird als »Beleidigung einer<br />

Person« aufgefasst, »die der Muslim<br />

bereits in der Kindheit zu achten <strong>und</strong> lieben<br />

gelernt hat«. Für die Muslime ist<br />

Muhammad in der Tat das gute Vorbild,<br />

dem man folgen sollte, wie bereits<br />

zuvor Abraham. Man muss nur an die<br />

mystischen <strong>und</strong> poetischen Schriften<br />

denken, in denen der Gründer des<br />

Islam als Gipfel aller Tugenden dargestellt<br />

wird <strong>und</strong> die die frommen Muslime<br />

gerne auch singen <strong>und</strong> musikalisch<br />

darstellen. Mehr noch, eine solche<br />

Ablehnung beinhaltet letztlich,<br />

dass Muhammad ein Betrüger wäre,<br />

der nicht nur die Menschen <strong>zum</strong> Narren<br />

hielt, sondern sich auch über Gott<br />

lustig gemacht hätte.<br />

Samir, Die prophetische Mission Muhammads<br />

5


6<br />

2. Die muslimische<br />

Sichtweise<br />

2.1 Die islamische Auffassung des<br />

Prophetentums<br />

Die Muslime empfinden die Ablehnung<br />

Muhammads als Propheten seitens<br />

der <strong>Christen</strong> als Ungerechtigkeit, während<br />

sie selbst doch Jesus als Propheten<br />

anerkennen. Aus diesem Gr<strong>und</strong>e ist es<br />

wichtig, die muslimische Sichtweise des<br />

Prophetentums zu erklären.<br />

Der Koran nennt einige Propheten,<br />

insgesamt fünf<strong>und</strong>zwanzig. Es folgt eine<br />

mehr oder weniger chronologische Aufzählung,<br />

da der Koran sie nicht in ihrem<br />

historischen Kontext darstellt: Adam,<br />

Noah, Abraham, Lot, Isaak, Ismael,<br />

Jakob (oder Israel), Joseph, Moses,<br />

Aaron, David, Salomon, Hiob, Henoch,<br />

Elija <strong>und</strong> Elischa, Jona, Zacharias <strong>und</strong><br />

seinen Sohn Johannes den Täufer<br />

(Yahyâ), Maria <strong>und</strong> ihren Sohn Jesus<br />

(‘Isâ) <strong>und</strong> Muhammad. Die meisten dieser<br />

Propheten (rusul) entstammen der<br />

biblischen Tradition, einige der vorislamischen<br />

arabischen Tradition, z. B. Hud,<br />

Salih <strong>und</strong> Schu’aib. Sie entsprechen eher<br />

den wichtigen Personen des Alten (<strong>und</strong><br />

des Neuen) Testaments als den als solche<br />

bezeichneten Propheten. Außer Maria<br />

befindet sich keine Frau auf der Liste.<br />

Im Koran wird Jesus, einer der wichtigsten<br />

Mohammed vorangehenden Propheten,<br />

als eine außergewöhnliche Persönlichkeit<br />

dargestellt; von seiner Geburt<br />

bis zu seinem Tode ist jeder seiner<br />

Lebensabschnitte von ungewöhnlichen<br />

Ereignissen gekennzeichnet. Außergewöhnlich<br />

ist auch die über ihn verbreitete<br />

Doktrin – Jesus ist das Wort (Kalimat<br />

Allâh) <strong>und</strong> der Geist (Rûh Allâh) Gottes<br />

<strong>und</strong> den Engeln gleich gehört er <strong>zum</strong><br />

engsten Zirkel Gottes. Neben Maria ist er<br />

der Einzige (laut einem hadîth), der niemals<br />

von Satan berührt wurde. Und doch<br />

ist er lediglich ein Prophet – der größte,<br />

möglicherweise der heiligste, ein Gott<br />

ergebener Mann.<br />

2.2 Die Gleichberechtigung aller<br />

Propheten …<br />

Drei Suren bestätigen die Gleichberechtigung<br />

aller Propheten: 2, 135-140 ;<br />

3, 83; 2, 285 et 4, 150-152. Nur die Sure<br />

2, 253 macht einen Unterschied. Diese<br />

Texte stammen aus der Medina-Periode,<br />

einer Zeit, während der in Medina die<br />

Juden besonders zahlreich waren <strong>und</strong> es<br />

scheint, als ob Muhammad seine Position<br />

verteidigen musste. Er bestätigt, dass er<br />

alle Propheten ausnahmslos anerkennt,<br />

<strong>und</strong> dass sie alle gleichberechtigt sind,<br />

selbst wenn der eine oder andere (Moses<br />

oder Jesus) über besondere Fähigkeiten<br />

verfügten, insbesondere die, W<strong>und</strong>er zu<br />

vollbringen.<br />

In der Sure 2,253 wird im Koran auf<br />

eine gewisse Ungleichheit der Propheten<br />

hingewiesen, dieser Unterschied etabliert<br />

jedoch keine Hierarchie.<br />

»Unter diesen Botschaftern ziehen<br />

Wir manche den anderen vor. Es sind<br />

jene, zu denen Gott sprach; <strong>und</strong> Er hat<br />

weitere geschaffen. Für Jesus, Sohn von<br />

Maria, besitzen Wir Beweise <strong>und</strong> haben<br />

ihn durch den Heiligen Geist stärken<br />

lassen. Und wenn es der Wille Gottes<br />

gewesen wäre, hätten sich die Nachfolgenden<br />

nicht gegenseitig getötet, nachdem<br />

ihnen die Beweise zugekommen<br />

waren, aber sie haben sich entzweit, die<br />

einen hielten am Glauben fest, die anderen<br />

wurden abtrünnig« (2,253).<br />

2.3 Muhammad war jedoch das<br />

»Siegel der Propheten«<br />

»Mohammed ist der Vater keines Mannes<br />

unter euch, sondern er ist der Gesandte<br />

(rasûl) Gottes, das Siegel der Propheten.«<br />

(33,40). Die »prophetische Linie« hat also<br />

in Mohammed ihren Höhepunkt<br />

erreicht. Er ist der Gipfel, das Ziel der<br />

Linie der Propheten, anders ausgedrückt<br />

ist er es, der alles Vorangegangene assimiliert,<br />

vervollständigt <strong>und</strong> abschließt. Es<br />

kann also keinen Propheten nach<br />

Mohammed geben, welcher den langen<br />

Prozess der Offenbarung Gottes an die<br />

Menschheit abgeschlossen hat, der vor<br />

tausenden von Jahren begann. Er ist der<br />

letzte Gesandte Gottes an die Menschheit.<br />

Wenn also ein Muslim mindestens<br />

zehn Mal täglich wiederholt, dass Muhammad<br />

der Gesandte Gottes ist, versteht<br />

er darunter, dass er das »Siegel der<br />

Propheten« ist. In seiner Denkweise ist<br />

Muhammad eng mit seiner Funktion als<br />

letzter göttlicher Botschafter verb<strong>und</strong>en.<br />

Ebenso betrachtet er den Heiligen Koran<br />

als die letzte göttliche Botschaft, die dem<br />

Propheten des Islam offenbart wurde.<br />

Der Ausdruck »Siegel der Propheten«<br />

erscheint im Koran erst im Vers 40 der<br />

Sure 33. Er wird jedoch aufgenommen,<br />

wiederholt, ausgearbeitet, ausgeschmückt<br />

von der muslimischen Tradition, die daraus<br />

eine stützende Säule ihrer Theologie<br />

<strong>und</strong> den Angelpunkt ihrer »Theologie der<br />

Religionen« macht.<br />

Der Ausdruck »Siegel der Propheten«<br />

ist dem <strong>Christen</strong>tum entlehnt. So heißt es<br />

im Johannesevangelium 6, 27: »Schafft<br />

euch Speise, die nicht vergänglich ist, sondern<br />

die bleibt <strong>zum</strong> ewigen Leben. Die<br />

wird euch der Menschensohn geben; denn<br />

auf dem ist das Siegel Gottes des Vaters.«<br />

Der hier verwendete Ausdruck stammt<br />

von dem griechischen Verb sphragizo (das<br />

der heilige Hieronymus durch das lateinische<br />

signavit wiedergibt). Dieses Verb<br />

bedeutet: die Authentizität einer Person<br />

bestätigen <strong>und</strong> durch ein Zeugnis beweisen,<br />

dass eine Person tatsächlich die ist,<br />

die sie zu sein vorgibt. Als Nachfolger von<br />

Christus sind die <strong>Christen</strong> ebenfalls »vom<br />

Siegel Gottes gezeichnet«, wie Paulus<br />

(2 Kor 1, 21-22) bek<strong>und</strong>et: »Gott ist es<br />

aber, der uns fest macht samt euch in Christus<br />

<strong>und</strong> uns gesalbt <strong>und</strong> versiegelt <strong>und</strong> in<br />

unsre Herzen als Unterpfand den Geist<br />

gegeben hat.«<br />

2.4 Ist die Sichtweise des Korans<br />

bezüglich des Prophetentums<br />

ein Zeichen der Toleranz?<br />

Gerade die Anerkennung aller Propheten<br />

durch den Koran lässt die Muslime<br />

zu der Überzeugung gelangen, tolerant<br />

<strong>und</strong> gerecht zu sein, weit entfernt<br />

von jeglichem Fanatismus: Wir akzeptie-<br />

Samir, Die prophetische Mission Muhammads CIBEDO-<strong>Beiträge</strong> 2/2006


en alle Propheten früherer Religionen,<br />

sagen sie, insbesondere Moses <strong>und</strong> Jesus.<br />

Ihr, die <strong>Christen</strong>, seid intolerant, denn ihr<br />

erkennt Muhammad nicht an. In Wahrheit<br />

ist die Begründung für die »Religionskriege«<br />

in den Augen des Geschichtsanthropologen<br />

viel einfacher: In der Geschichte<br />

der Menschheit ist der religiöse<br />

Rahmen die mentale Kategorie, die die<br />

tiefe Identität des Menschen <strong>und</strong> der<br />

Gruppe gr<strong>und</strong>legend bestimmt.<br />

2.5 Das Gefühl der Muslime,<br />

angesichts der christlichen<br />

Nichtanerkennung<br />

Muhammads als Propheten<br />

ungerecht behandelt zu sein<br />

Anerkennung des prophetischen Charakters<br />

Jesus einerseits, Ablehnung des<br />

prophetischen Charakters Muhammads<br />

andererseits: Diese ungleiche Behandlung<br />

lässt bei den <strong>Muslimen</strong> ein Gefühl<br />

von Ungerechtigkeit aufkommen. Worauf<br />

die <strong>Christen</strong> antworten, die<br />

Besonderheit an Jesus (‘Isâ) sei nicht, dass<br />

er Prophet ist, sondern dass er der Sohn<br />

Gottes ist. Dies ist jedoch genau der<br />

Aspekt, den der Koran <strong>und</strong> die muslimische<br />

Theologie verneinen.<br />

Ein solcher Schlagabtausch gleicht<br />

mehr einem Handel als einem Dialog, bei<br />

dem jeder versucht, dem anderen offen<br />

gegenüber zu stehen <strong>und</strong> gleichzeitig seiner<br />

eigenen Tradition treu zu bleiben. Die<br />

Fragestellung ist falsch gestellt. Sie müsste<br />

von muslimischer Seite eher lauten:<br />

Wer ist Christus für Dich? Und von<br />

christlicher Seite: Wer ist Muhammad für<br />

Dich? Die wahre Frage ist ontologischer<br />

Natur, sie erfordert eine gemeinsame<br />

Suche nach der Wahrheit. Jeder sollte<br />

dem anderen ohne Vorbehalt die gr<strong>und</strong>legenden<br />

Züge seines Glaubens darlegen<br />

<strong>und</strong> dann sollte gemeinsam überlegt werden,<br />

bis zu welchem Punkt ein gemeinsamer<br />

Weg möglich ist.<br />

Begibt man sich auf das Gebiet der<br />

Konzessionen, Zugeständnisse, dann<br />

könnte man den <strong>Muslimen</strong> zu erklären<br />

versuchen, dass, wenn sie Christus als<br />

einen Propheten unter vielen anerkennen,<br />

sie das Mysterium Christus <strong>und</strong> sein<br />

CIBEDO-<strong>Beiträge</strong> 2/2006<br />

wahres Wesen im christlichen Verständnis<br />

nicht erfassen. Ebenso wenig wie jene<br />

<strong>Christen</strong>, die Muhammad als eine der<br />

großen Persönlichkeiten der Menschheit<br />

sehen, nicht mehr, <strong>und</strong> die damit dem<br />

wahren Wesen Muhammads nach muslimischer<br />

Auffassung natürlich nicht einmal<br />

nahe kommen.<br />

2.6 Der Islam ist<br />

die perfekte Religion<br />

Die Schlussfolgerung von der Aussage<br />

über Muhammad als »Siegel der Propheten«<br />

<strong>zum</strong> Islam als »Siegel der Religionen«<br />

findet sich bei allen <strong>Muslimen</strong>, vom einfachsten<br />

bis <strong>zum</strong> Gebildetsten, <strong>und</strong> wir<br />

haben diese Meinung in Ägypten, in<br />

Syrien, im Libanon, in Tunesien, in<br />

Marokko, in Europa (sogar bei den<br />

Maliern, den Nigerianern, den Pakistani<br />

...) zu hören bekommen. In groben Zügen<br />

ist ihre Argumentation die folgende:<br />

Für die Muslime gibt es nur drei Religionen:<br />

Das Judentum, das <strong>Christen</strong>tum<br />

<strong>und</strong> den Islam. Dieser nimmt seine beiden<br />

Vorgänger auf, vervollkommnet sie<br />

<strong>und</strong> schließt sie ab. Diese Argumentation<br />

lässt sich leicht nachvollziehen. Die Idee<br />

ist deutlich, einfach <strong>und</strong> gut formuliert.<br />

Die drei monotheistischen Religionen<br />

werden von den muslimischen Theologen<br />

»himmlische Religionen« genannt, die<br />

anderen religiösen Bewegungen verdienen<br />

den Titel Religion (dîn) nicht. Dieses<br />

Dogma, in Kombination mit den entsprechenden<br />

Aussagen des Koran, formen<br />

schon in der Kindheit den Geist eines<br />

jeden Muslim.<br />

Der Begriff der »himmlischen« oder<br />

»offenbarten Religion« ist in dieser Form<br />

nicht im Koran niedergeschrieben. Zwar<br />

findet sich dort 92 Mal das Wort dîn, sein<br />

Plural adyân jedoch taucht nicht ein einziges<br />

Mal auf. Zwar kommt der Begriff<br />

samâ (»Himmel«) <strong>und</strong> sein Plural samâwât<br />

nicht weniger als 310 Mal vor, aber<br />

das Adjektiv samâwî (himmlisch) wird<br />

man vergeblich suchen. Wie bereits<br />

erwähnt, wurde also der Begriff der<br />

»himmlischen Religionen« von muslimischen<br />

Theologen geprägt. Er spiegelt<br />

deutlich die islamische Auffassung von<br />

Religion wider; sie ist jedoch weder mit<br />

der der Soziologen noch mit der der<br />

<strong>Christen</strong> zu vereinen.<br />

Trotz der Eindeutigkeit <strong>und</strong> Offensichtlichkeit<br />

beruht die Idee, dass die letzte<br />

entstandene Religion automatisch die<br />

beste sei, da sie das Beste der Vorgänger<br />

übernimmt, auf einem Sophismus. Sie<br />

würde in ihrer Konsequenz den einzelnen<br />

auffordern, seine derzeitige Religion aufzugeben,<br />

um die jeweils neueste anzunehmen.<br />

Und mit einem Mal würde der<br />

Islam selbst sich in der Position befinden,<br />

überholt <strong>und</strong> überflüssig zu sein. So<br />

scheuen sich die Drusen <strong>und</strong> die Bahâ’îs<br />

nicht, um von zwei sehr bekannten religiösen<br />

Bewegungen zu sprechen, zu<br />

erklären, dass ihr Ziel nicht darin liegt,<br />

den Islam zu verbessern, sondern ihn zu<br />

vernichten, indem sie ihn überflügeln …<br />

Samir, Die prophetische Mission Muhammads<br />

7


8<br />

3. Die christliche<br />

Sichtweise<br />

3.1 Erinnerung an einige<br />

theologische Standpunkte<br />

Einige Theologen (z. B. Johannes von<br />

Damaskus, Anfang des 8. Jahrh<strong>und</strong>erts)<br />

sahen im Islam eine Häresie. Die christlichen<br />

syrischen <strong>und</strong> arabischen Theologen<br />

des Mittelalters anerkennen in ihren<br />

<strong>Gespräch</strong>en mit den <strong>Muslimen</strong> in Muhammad<br />

einen Mann, der kam, um die<br />

Versprechen Gottes an Ismael zu erfüllen,<br />

sie sehen in ihm ebenfalls einen großen<br />

Führer, der in der Gunst Gottes stand<br />

<strong>und</strong> die <strong>Christen</strong> aufgr<strong>und</strong> ihrer Sünden<br />

besiegen konnte. Jedoch hat keiner unter<br />

ihnen jemals Muhammad als Propheten<br />

anerkannt.<br />

Andere Autoren des Mittelalters,<br />

byzantinische <strong>und</strong> lateinische, sahen im<br />

Islam schlicht <strong>und</strong> einfach das Werk<br />

Satans, von Gott zugelassen, um die<br />

<strong>Christen</strong> für ihre Sünden büßen zu lassen.<br />

Muhammad wird hier wie einer der<br />

von Christus angekündigten falschen<br />

Propheten dargestellt.<br />

Seit recht kurzer Zeit haben andere<br />

Theologen versucht, im Islam eine Vorbereitung<br />

auf das Evangelium zu erkennen,<br />

indem sie die Ideen einiger Kirchenväter<br />

des 2. <strong>und</strong> 3. Jahrh<strong>und</strong>erts (Justin,<br />

Clemens von Alexandrien oder Irenäus)<br />

übernehmen, welche in der griechischen<br />

Philosophie eine praearatio evangelica<br />

sahen. In dieser Perspektive wäre der<br />

Islam, obzwar er chronologisch nach dem<br />

<strong>Christen</strong>tum kam, logisch gesehen vorislamisch.<br />

Andere wiederum gehen noch einen<br />

Schritt weiter: Der Koran sei ein »Wort<br />

Gottes«, das sich von der christlichen<br />

Niederschrift unterscheidet oder auch:<br />

eine partielle <strong>und</strong> unvollständige Offenbarung.<br />

Dieser Ansicht folgend muss der<br />

Text des Briefes an die Hebräer (1,1.2 ),<br />

der von der Rolle der Propheten <strong>und</strong> des<br />

Sohns handelt, in einem weiten Sinn verstanden<br />

werden: »Nachdem Gott vorzeiten<br />

vielfach <strong>und</strong> auf vielerlei Weise geredet hat<br />

zu den Vätern durch die Propheten, hat er<br />

in diesen letzten Tagen zu uns geredet durch<br />

den Sohn, den er eingesetzt hat <strong>zum</strong> Erben<br />

über alles.«<br />

3.2 Persönliche Anmerkungen zu<br />

Muhammad <strong>und</strong> dem Koran<br />

Muhammad ist überzeugt, der Überbringer<br />

einer Botschaft Gottes zu sein.<br />

Darüber hinaus ist er auch überzeugt das<br />

»Siegel der Propheten« zu sein, derjenige,<br />

mit der die Offenbarung Gottes an die<br />

Menschen zur Perfektion <strong>und</strong> zu ihrem<br />

Abschluss gelangt. Auch ist er sich sicher,<br />

dass Jesus ihn angekündigt <strong>und</strong> anerkannt<br />

hat. Wir hingegen sehen in ihm<br />

einen genialen Reformator <strong>und</strong> einen<br />

talentierten Politiker, einen ehrlichen<br />

<strong>und</strong> überzeugten gottesfürchtigen Mann,<br />

der alle Mittel einsetzt um das »Reich<br />

Gottes« auf Erden zu schaffen, welches der<br />

Islam ist. Unter vielen Aspekten ist er<br />

dem »Pfad der Propheten gefolgt«, wie es<br />

der Katholikos Timotheus I. gegenüber<br />

dem Kalifen al-Mahdî im Jahre 781 ausdrückte.<br />

Die Botschaft Muhammads greift die<br />

wichtigen Themen des Alten Testaments<br />

auf:<br />

● Die Anbetung eines einzigen Gottes,<br />

dem man sich aus freiem Willen <strong>und</strong><br />

vollständig unterwirft, ohne Kompromisse<br />

mit dem Heidentum einzugehen,<br />

das mit allen Mitteln, den Krieg eingeschlossen,<br />

bekämpft werden muss;<br />

● Eine auf dem offenbarten Gesetz (sharî’ah)<br />

beruhende, unterworfene (oft<br />

nur formelle) moralische Lebensführung<br />

<strong>und</strong> der Respekt der Familien<strong>und</strong><br />

Stammesstrukturen;<br />

● Ein gesellschaftliches Benehmen, das<br />

auf der strengen Rechtsprechung<br />

(Recht der Vergeltung), dem Mitgefühl<br />

gegenüber Schwachen <strong>und</strong> dem gegenseitigen<br />

Rückhalt innerhalb der umma<br />

– welche, wenn erforderlich, durch die<br />

Entfernung des Unruhestifters geschützt<br />

wird – <strong>und</strong> auf der Aversion<br />

gegen Aufwiegler beruht (fitnah). Die<br />

Gruppe hat immer einen höheren Stellenwert<br />

als das Individuum; wer sie verlassen<br />

will, wird geopfert, der Abtrünnige<br />

ist im Prinzip <strong>zum</strong> Tode verurteilt;<br />

● Muhammad behauptet, dass seine Botschaft<br />

sich in die Reihe der biblischen<br />

Propheten, von Abraham bis Jesus, einfügt.<br />

Diese Botschaft gibt nicht vor,<br />

etwas Neues zu offenbaren, sondern sie<br />

will lediglich als Erinnerung der Offenbarung<br />

Gottes an Adam zu Beginn der<br />

Schöpfung verstanden werden <strong>und</strong> fer-<br />

ner als die angeborene Religion des<br />

Menschen, sofern gilt: »die Religion ist<br />

bei Allah der Islam« (3, 19).<br />

Die Unterschiede <strong>zwischen</strong> dem Islam<br />

<strong>und</strong> den beiden biblischen Religionen<br />

sind jedoch beträchtlich. Die muslimische<br />

Tradition erklärt, dass Muhammad<br />

nicht nur Prophet (nabî) sondern auch<br />

Botschafter (rasûl) ist <strong>und</strong> zwar eines<br />

Gesetzes, das teilweise die ihm vorhergehenden<br />

außer Kraft setzt. Muhammad<br />

will die Bibel korrigieren <strong>und</strong> vervollständigen,<br />

er erkennt Jesus als den Messias,<br />

geboren von einer Jungfrau, an <strong>und</strong> gibt<br />

ihm bemerkenswerte Titel (Messias,<br />

Wort, Geist …), die jedoch nicht den<br />

gleichen Bedeutungsinhalt haben wie in<br />

den Evangelien. Schockiert durch die<br />

Aussagen der <strong>Christen</strong>, die ihm den biblischen<br />

Botschaften zu widersprechen<br />

scheinen (Dreifaltigkeit, Göttlichkeit<br />

<strong>und</strong> Kreuzigung Christi, etc.), wird der<br />

Koran sie »berichtigen« oder sie zurückweisen.<br />

3.3 Die Zweideutigkeiten im Islam<br />

Die Person Muhammads ist in mehr<br />

als nur einer Hinsicht widersprüchlich.<br />

Einerseits lassen sich noble Züge wie ein<br />

tiefreligiöses Gefühl feststellen, es lassen<br />

sich Haltungen <strong>und</strong> Lehren erkennen,<br />

die an die Propheten des Alten Testaments<br />

erinnern; andererseits gehen seine<br />

Haltungen <strong>und</strong> Ansichten keineswegs<br />

einfach konform mit denen der biblischen<br />

Propheten <strong>und</strong> noch weniger mit<br />

denen der Apostel Christi: So sein von<br />

Leidenschaft gezeichneter Umgang mit<br />

den Frauen (z. B. die Ehefrau des Zayd),<br />

sein Verhalten im Krieg <strong>und</strong> bei den Razzien<br />

oder etwa seine Heimtücke gegenüber<br />

manchen Gegnern.<br />

Der Koran selbst ist ebenfalls zweideutig:<br />

In der Tat befinden sich darin Passagen,<br />

die an die schönsten Bibeltexte erinnern,<br />

aber auch moralische <strong>und</strong> dogmatische<br />

Lehren, die im Missklang, wenn<br />

nicht sogar im Widerspruch zu jenen des<br />

Neuen Testaments stehen. Außerdem<br />

erleichtert die Glaubensauffassung vom<br />

Koran als »vom Himmel herabgekommen«<br />

<strong>und</strong> als göttlich selbst in jedem seiner<br />

Buchstaben nicht gerade den Dialog.<br />

Diese Zweideutigkeiten finden sich<br />

ebenfalls bei den <strong>Muslimen</strong>. Einerseits<br />

Samir, Die prophetische Mission Muhammads CIBEDO-<strong>Beiträge</strong> 2/2006


gelangen viele von ihnen zu einer echten<br />

Gotteserfahrung, zu einer Haltung kontinuierlicher<br />

Anbetung, völliger Unterwerfung<br />

unter <strong>und</strong> Hingabe an seinen<br />

Willen <strong>und</strong> ebenfalls zu einer Beziehung<br />

zu den Menschen, die von der Gerechtigkeit<br />

<strong>und</strong> der Barmherzigkeit gezeichnet<br />

sind. Wie ein hadîth es ausdrückt: »Sie<br />

wünschen ihren Brüdern, was sie für sich<br />

selbst wünschen«. Diese tugendhafte Praxis<br />

wird mit dem Willen zur Treue gegenüber<br />

dem Koran <strong>und</strong> der Sunna gelebt.<br />

Das tägliche fünfmalige rituelle Gebet<br />

(salât), die persönlichen Bittgebete, das<br />

Fasten (sawm) <strong>und</strong> die Spenden (zakât<br />

<strong>und</strong> sadaqah) öffnen das Herz der Muslime<br />

für Gott. Andere Muslime dagegen,<br />

inspiriert vom Studium des Koran, empfinden<br />

Gott als unerreichbar <strong>und</strong> nicht<br />

gewillt, sich selbst dem Menschen zu<br />

offenbaren; in solcher religiöser Gr<strong>und</strong>sicht<br />

erdrückt das Schicksal den Menschen<br />

gleichsam, macht ihn <strong>zum</strong> Sklaven.<br />

Die christliche Auffassung von der göttlichen<br />

Sohnschaft <strong>und</strong> von der Vergöttlichung<br />

des Menschen, die, christlich gesehen,<br />

den eigentlichen Sinn des Heiles<br />

ausmacht, ist für derart ausgerichtete<br />

Muslime skandalös. Die Gottesverehrung<br />

kann dann leicht einen formalistischen<br />

Charakter annehmen, <strong>und</strong> die Beziehung<br />

zu den Mitmenschen in Fanatismus <strong>und</strong><br />

Gewalt umschlagen, um »die Rechte Gottes«<br />

zu verteidigen. Schließlich gibt es<br />

dann jene, die sich auf die zahlreichen<br />

aussagekräftigen Verse aus dem Koran<br />

<strong>und</strong> der sunna stützen, um im Namen<br />

Gottes Krieg zu führen, ein Krieg, der oft<br />

als jihad bezeichnet wird.<br />

3.4 Theologische Überlegungen<br />

Das eigentliche Problem stellt diese<br />

Mischung aus widersprüchlichen Elementen<br />

dar, denn die Zweideutigkeit<br />

betrifft ja das, was als von Gott, dem<br />

Koran oder dem Propheten gesandt<br />

geglaubt wird.<br />

Das Problem wird noch durch folgende<br />

Punkte verstärkt <strong>und</strong> macht eine Einigung<br />

<strong>zwischen</strong> <strong>Christen</strong> <strong>und</strong> <strong>Muslimen</strong><br />

auf theologischer Ebene nahezu unmöglich:<br />

● Er proklamiert sich als das »Siegel der<br />

Propheten« <strong>und</strong> die Tradition stilisiert<br />

ihn <strong>zum</strong> rasûl par excellence;<br />

● Der Koran bezeichnet sich als die höch-<br />

CIBEDO-<strong>Beiträge</strong> 2/2006<br />

ste <strong>und</strong> vollkommenste Offenbarung<br />

seitens Gottes an die Menschen;<br />

● Die Muslime betrachten sich als die<br />

einzig wahren Gläubigen (mu’minîn).<br />

Nun aber macht der christliche Glaubensdiskurs<br />

zu genau diesen drei Punkten<br />

diametral verschiedene Aussagen: Johannes<br />

der Täufer ist der letzte Prophet,<br />

Christus ist die endgültige Offenbarung<br />

Gottes an die Menschen, die <strong>Christen</strong><br />

sind die einzigen authentischen Gläubigen.<br />

3.5 Könnte Muhammad im christlichen<br />

Sinne als Prophet gelten?<br />

Unseres Erachtens ist Muhammad ein<br />

aufrichtiger Mensch, kein Hochstapler<br />

oder Betrüger, <strong>und</strong> die Erfahrung, die er<br />

in der Einsamkeit am Berge Hira nahe<br />

Mekka mit Gott machte, kann nicht<br />

bestritten werden. Überzeugt von der<br />

Größe <strong>und</strong> Majestät des einzigen Gottes<br />

<strong>und</strong> von der Notwendigkeit mitzuteilen,<br />

was auf ihn »herabgestiegen« ist, lehrt er<br />

seine Treuen den Sinn der absoluten<br />

Transzendenz <strong>und</strong> der unendlichen<br />

Barmherzigkeit Gottes. Es ist auf diese<br />

Weise, sagt Timotheus I., dass »er den<br />

Pfad der Propheten beschritten hat«.<br />

Es gilt ferner festzustellen, dass bis<br />

622, während der ersten Etappe der Mission<br />

Muhammads, die Ausübung des<br />

muslimischen Glaubens nur die Überzeugung<br />

von der Einzigartigkeit Gottes<br />

beinhaltete: »Es gibt keinen Gott außer<br />

Gott«. Muhammad fühlte sich also nicht<br />

unmittelbar als ein Gesandter Gottes<br />

(rasûl Allah), oder er hatte <strong>zum</strong>indest<br />

nicht die Sicherheit, ein solcher zu sein;<br />

es ist nicht auszuschließen, das er sich<br />

nach <strong>und</strong> nach, unter dem Einfluss des<br />

christlichen Cousins seiner Frau Khadîjah,<br />

Waraqah ibn Nawfal, davon überzeugt<br />

hat. Erst in den jüngsten Suren findet<br />

sich der Befehl, dem Gesandten Gottes<br />

zu gehorchen.<br />

Lässt sich nun aus all dem schließen,<br />

dass Muhammad im Sinne der christlichen<br />

Theologie ein Prophet ist? Wir<br />

glauben es nicht, denn aus christlicher<br />

Sicht ist ein Prophet nicht allein dadurch<br />

definiert, dass er eine Botschaft Gottes<br />

an die Menschheit empfängt, sondern<br />

außerdem dadurch, dass er die Ankunft<br />

Christi vorbereitet. Denn im Großen <strong>und</strong><br />

Ganzen gesehen entfernen Muhammad<br />

<strong>und</strong> der Koran den Gläubigen von der<br />

Person Christi wie sie die authentischen<br />

Evangelien zeichnen <strong>und</strong> betrachten den<br />

Koran als den einzigen gültigen göttlichen<br />

Text. Den <strong>Muslimen</strong> erscheint die<br />

Darstellung Jesu als einfacher Mann Gottes,<br />

als Propheten, Thaumaturgen <strong>und</strong> als<br />

bedeutende Persönlichkeit der Menschheit<br />

nicht nur als das genaueste Bild Christi,<br />

sondern diese Darstellung bestätigt<br />

gleichzeitig die Wahrheit des Textes des<br />

Korans <strong>und</strong> seiner Aussagen.<br />

Kardinal Journet stützt sich auf einen<br />

Text des heiligen Thomas <strong>und</strong> erkennt<br />

an, dass Mohammed von einem »außergewöhnlichen<br />

prophetischen Licht« umgeben<br />

war, welches einige Wahrheiten<br />

besonders erhellte (wie den Monotheismus),<br />

jedoch andere Aspekte im<br />

Schatten beließ. Eine solche Ansicht ist<br />

nur schwerlich zu akzeptieren: Kann<br />

Gott einen »Halb-Propheten« entsenden,<br />

Träger eines Teils der Offenbarung <strong>und</strong><br />

Leugner eines anderen Teils?<br />

Wenn wir unter dem Begriff »Prophet«<br />

einen Menschen verstehen, dessen<br />

Lehren <strong>und</strong> Leben anderen Menschen<br />

helfen können, ein rechtschaffenes Leben<br />

zu führen <strong>und</strong> Gott einen zentralen Platz<br />

in ihrer Existenz zu geben, so wäre es<br />

durchaus möglich – lässt man die bereits<br />

genannten Vorbehalte außer Acht –<br />

Muhammad einen Propheten zu nennen.<br />

In diesem Sinne ist Muhammad sicherlich<br />

ein geistlicher Führer für viele Männer<br />

<strong>und</strong> Frauen (was jedoch die Muslime,<br />

für die er der Prophet par excellence ist,<br />

in keiner Weise befriedigen kann).<br />

Aber die eigentliche Frage ist doch<br />

letztlich diese: Wurde Muhammad von<br />

Gott auserwählt, um zu den Arabern zu<br />

sprechen <strong>und</strong> durch sie zur ganzen Welt?<br />

Dies ist kaum mit einem Ja zu beantworten;<br />

man könnte höchstens sagen, dass<br />

Gott seine Taten gebilligt hat. Ein Philosoph<br />

würde sagen, dass Muhammad eine<br />

»causa instrumentalis«, nicht jedoch die<br />

»causa finalis« gewesen sei, ihn einen<br />

»instrumentellen Gr<strong>und</strong>« nennen, jedoch<br />

nicht den »finalen Gr<strong>und</strong>«. Laut Louis<br />

Massignon »ist Muhammad in gewisser<br />

Weise in einigen Punkten erhellt gewesen,<br />

in anderen jedoch nicht«. Aus christlicher<br />

Sicht sollte sowohl der Begriff Prophet<br />

vermieden werden als auch die Aussage,<br />

Samir, Die prophetische Mission Muhammads<br />

9


10<br />

Gott habe ihm gestattet, etwas von der<br />

biblischen Offenbarung zu verkünden.<br />

3.6 Der Islam ist sowohl ein Weg<br />

als auch ein Hindernis<br />

Kurz gesagt, der Koran ist ein Weg, der<br />

die Menschen zu einem lückenhaften<br />

<strong>und</strong> unvollkommenen Wissen über Gott<br />

führt <strong>und</strong> gleichzeitig ein Hindernis<br />

sowohl für die Entdeckung Gottes als<br />

Vater, der sich in Jesus Christus geoffenbart<br />

hat, als auch für die Entdeckung von<br />

Jesus Christus <strong>und</strong> zwar genau deshalb,<br />

weil der Koran das letzte Wort zu Gott<br />

<strong>und</strong> Jesus zu sein vorgibt. Selbst der Titel<br />

»Barmherziger« (al-Rahmân) stimmt<br />

nicht mit dem Gott, der die Liebe ist, des<br />

christlichen Glaubens überein, sondern<br />

bezeichnet eher die herablassende Haltung<br />

einen Königs gegenüber seinen<br />

Untertanen.<br />

Da der Koran es nicht ermöglicht, das<br />

wahre Gesicht Christi zu entdecken, <strong>und</strong><br />

da er die gr<strong>und</strong>legenden Wahrheiten des<br />

christlichen Glaubens ablehnt (Dreifaltigkeit,<br />

Göttlichkeit Christi, Inkarnation,<br />

Erlösung, Tod <strong>und</strong> Auferstehung Jesu)<br />

kann er nicht als von Gott offenbart<br />

angesehen werden, auch wenn er einige<br />

sehr schöne Passagen über Christus <strong>und</strong><br />

die Jungfrau Maria beinhaltet. Was die<br />

vom Koran gelehrte Gesellschafts- <strong>und</strong><br />

Familienmoral angeht, so nähert sich diese<br />

der des Alten Testaments, steht jedoch<br />

im Gegensatz zu jener der Evangelien.<br />

In einigen Punkten ist der Koran eine<br />

einfache Rückkehr <strong>zum</strong> Judentum, mit<br />

dem einzigen – entscheidenden – Unterschied,<br />

dass dieser auf den erwarteten<br />

Messias, der das Gesetz zur Vollkommenheit<br />

bringen wird, ausgerichtet ist. Der<br />

Islam hingegen kehrt Christus <strong>und</strong> diesem<br />

neuen Gesetz den Rücken, das vor<br />

ihm kam, <strong>und</strong> das er als von ihm selbst<br />

überholt ansieht. Wie Timotheus I. diesbezüglich<br />

sagt: »Diese ist nicht Gottes<br />

Gewohnheit; er führt uns normalerweise<br />

von unten nach oben <strong>und</strong> nicht vom Vollkommeneren<br />

<strong>zum</strong> weniger Vollkommenen«.<br />

3.7 Der Muslim kann durch<br />

Christus gerettet werden<br />

Natürlich soll diese theologische Haltung<br />

nicht die Verneinung der Möglichkeit<br />

der Rettung eines jeden Muslim, der<br />

ehrlich nach seinem Glauben lebt, nach<br />

sich ziehen. Das würde der klaren Lehre<br />

des Zweiten Vatikanischen Konzils widersprechen.<br />

Jedoch geschieht die Erlösung<br />

aus christlicher Sicht nur in <strong>und</strong><br />

durch Christus. Der Willen des Vaters,<br />

die gesamte Menschheit <strong>und</strong> jede einzelne<br />

Person besonders zu erlösen, als auch<br />

die w<strong>und</strong>erbare Einwirkung des Geistes,<br />

der weht, wo immer er will, sind so geartet,<br />

dass nichts die Rettung der Muslime<br />

durch den erlösenden Tod des Sohnes<br />

<strong>und</strong> seiner Auferstehung aufhalten kann.<br />

Es erscheint demnach inkohärent zu<br />

behaupten, wie es einige Theologen tun,<br />

dass der Islam der Weg <strong>und</strong> das Mittel des<br />

Heils für die Muslime sei. Die Auffassung<br />

des Heils im Islam ist von der des <strong>Christen</strong>tums<br />

weit entfernt <strong>und</strong> basiert auf der<br />

genauen Befolgung der sharî’a. Dies muss<br />

dem Dialog <strong>und</strong> dem brüderlichen<br />

Zusammenleben keinen Abbruch tun.<br />

Im Gegenteil: Dialog <strong>und</strong> Koexistenz<br />

sind wahrhaftiger, wenn sie nicht auf<br />

Lügen basieren, sondern sich frei halten<br />

von jeglicher Zweideutigkeit <strong>und</strong> Selbstgefälligkeit.<br />

3.8 Ist die Nicht-Anerkennung des<br />

Prophetentums Mohammeds<br />

eine Ablehnung oder Abwertung<br />

des Islam?<br />

Für die <strong>Christen</strong> gilt: alle Religionen<br />

<strong>und</strong> alle Gläubigen verdienen Respekt.<br />

Mehr noch, jeder Mensch, einfach als solcher,<br />

verdient unendlichen Respekt, sei er<br />

gläubig oder Atheist. Denn er ist nach<br />

dem Abbild Gottes erschaffen, wie uns<br />

die Heilige Schrift lehrt (eine Aussage,<br />

die den <strong>Muslimen</strong> als Skandal erscheint).<br />

Somit ist die Aussage, der Koran sei nicht<br />

als von Gott gegeben anzuerkennen,<br />

nicht gleichzusetzen mit einem abwertenden<br />

Urteil über die Muslime.<br />

Kurz gesagt, wenn die <strong>Christen</strong><br />

Muhammad nicht als Propheten anerkennen,<br />

so ist dies der Treue zu ihrem<br />

Glauben <strong>und</strong> den Evangelien <strong>und</strong> Chris-<br />

tus, dem fleischgewordenen Wort Gottes,<br />

geschuldet. Ebenso, wie der Muslim, der<br />

die Göttlichkeit Christi negiert, dies<br />

nicht tut aufgr<strong>und</strong> von Feindseligkeit<br />

oder Animosität gegen die <strong>Christen</strong>, sondern<br />

aufgr<strong>und</strong> seiner Treue zu seinem<br />

Glauben <strong>und</strong> <strong>zum</strong> Koran. Natürlich ruft<br />

die spontane Reaktion eines Muslim oder<br />

eines <strong>Christen</strong> angesichts derartiger Aussagen<br />

eine gewisse Verärgerung hervor.<br />

Eine überlegtere Reaktion sollte jedoch in<br />

gegenseitiger Würdigung, Respekt <strong>und</strong><br />

Anerkennung der Verschiedenheit bestehen.<br />

3.9 Fordert der Koran die<br />

Anerkennung des Prophetentums<br />

Muhammads seitens<br />

der <strong>Christen</strong>?<br />

Zwei nahezu identische Koranverse,<br />

beide aus der Zeit von Medina, geben<br />

Antwort auf diese Frage. Der erste Text<br />

stammt aus der Sure Die Kuh (2, 62), welcher,<br />

laut den Gelehrten, der erste Text<br />

war, der Mohammed in Medina geoffenbart<br />

wurde <strong>und</strong> demnach aus dem Jahre<br />

622 stammt. Der zweite Text entstammt<br />

der Sure Der Tisch (5, 69), welcher den<br />

Experten zufolge der vorletzte der in<br />

Medina offenbarten Texte ist <strong>und</strong> aus den<br />

Jahren 631-632 stammt. Dieser Text lautet<br />

wie folgt:<br />

»Jene, die geglaubt haben, <strong>und</strong> die<br />

Juden <strong>und</strong> die Sabäer <strong>und</strong> die <strong>Christen</strong><br />

– wer an Allah glaubt <strong>und</strong> gute Werke<br />

tut –, keine Furcht soll über sie kommen,<br />

noch sollen sie traurig sein.« (5, 69)<br />

Diese beiden Texte bestehen aus drei<br />

Teilen. Der erste benennt vier religiöse<br />

Gruppierungen: Die Muslime, die Juden,<br />

die <strong>Christen</strong> <strong>und</strong> die Sabäer; der zweite<br />

definiert drei Formen der Erlösung: Der<br />

Glaube an Gott, der Glaube an das letzte<br />

Gericht <strong>und</strong> die Vollbringung guter<br />

Taten; der dritte zeigt die Folgen auf: Die<br />

Belohnung durch ihren Herrn, ohne<br />

Furcht (vor Strafe) noch Betrübnis,<br />

anders ausgedrückt, die Erlangung des<br />

Paradieses. Bemerkenswert ist, dass hier<br />

nicht verlangt wird, an Mohammed <strong>und</strong><br />

seine Eigenschaft als Prophet zu glauben.<br />

Diese klassische Interpretation dieser<br />

zwei Verse ist die einzig mögliche.<br />

Samir, Die prophetische Mission Muhammads CIBEDO-<strong>Beiträge</strong> 2/2006


4. Schlussfolgerung:<br />

Pastorale <strong>und</strong> spirituelle<br />

Überlegungen<br />

4.1 Pastorale Überlegung:<br />

Wie sollte mit einem Muslim<br />

gesprochen werden, ohne<br />

ihm mangelnden Respekt zu<br />

erweisen?<br />

Eine erste Regel des Dialogs besteht<br />

darin, diese Fragen nur anzugehen, wenn<br />

man selbst gefragt wird. Dann ist es gerechtfertigt,<br />

von Muhammad <strong>und</strong> dem<br />

Koran zu sprechen, indem zunächst alle<br />

in religiöser Hinsicht positiven Aspekte<br />

genannt werden. Diese Herangehensweise<br />

ist seit eh <strong>und</strong> je die der orientalischen<br />

<strong>Christen</strong>. Im Besonderen ist es die<br />

von Timotheus I. im Jahre 781. Er<br />

begann damit, die Punkte aufzuzählen,<br />

die ihm als Beweise dafür erschienen, dass<br />

Muhammad »den Pfad der Propheten<br />

beschritten hatte«. Es ist angemessen, mit<br />

Freude alles Schöne <strong>und</strong> Wahre im Koran<br />

hervorzuheben, wie überhaupt in jedem<br />

Buch <strong>und</strong> jeder Glaubensrichtung.<br />

Dann sollte der Christ mit dem Ziel,<br />

niemanden anzugreifen, mit Milde <strong>und</strong><br />

sogar mit Liebe darlegen, in welchen<br />

Punkten sein Glaube von dem des Muslim<br />

abweicht <strong>und</strong> ihm erklären, was es<br />

ihm unmöglich macht, Mohammed als<br />

den Gesandten Gottes <strong>und</strong> den Koran als<br />

Gottes ungeschaffenes Wort anzuerkennen.<br />

Es geht nicht darum, anzugreifen,<br />

vielmehr darum, dem eigenen Glauben<br />

treu zu bleiben. Ebenso der Muslim: in<br />

seiner eigenen Treue <strong>zum</strong> Glauben kann<br />

er nicht die Göttlichkeit Christi anerkennen,<br />

obwohl dies den <strong>Christen</strong> ebenso<br />

sehr verletzen kann. Und zwar aus drei<br />

Gründen:<br />

● Erstens ist es wichtig, den Muslim zu<br />

überzeugen, dass der Respekt <strong>und</strong> die<br />

Achtung, die man ihm entgegenbringt,<br />

unabhängig von der Tatsache sind, dass<br />

er gläubiger Muslim ist, vielmehr davon,<br />

dass er ein Mensch <strong>und</strong> somit ein<br />

Abbild Gottes ist.<br />

● Zweitens würde, ob man es will oder<br />

nicht, die Anerkennung des Propheten-<br />

CIBEDO-<strong>Beiträge</strong> 2/2006<br />

tums Muhammads, in welcher Form<br />

auch immer, dem Übertritt <strong>zum</strong> Islam<br />

gleichkommen. In der Tat besteht die<br />

shahâdah aus zwei Bezeugungen. Die<br />

erste, die die Einzigartigkeit Gottes<br />

betrifft, wird mit Chrsiten <strong>und</strong> Juden<br />

geteilt; die zweite (das Prophetentum<br />

Muhammads betreffend) ist jedoch<br />

genau das, was den Muslim charakterisiert.<br />

Es ist einfach der Kohärenz<br />

geschuldet, das man nicht zu ein <strong>und</strong><br />

derselben Zeit Christ <strong>und</strong> Muslim sein<br />

kann.<br />

● Schließlich sollte der Dialog auf der<br />

Wahrheit beruhen: Einem <strong>Christen</strong> ist<br />

es unmöglich, Muhammad als das »Siegel<br />

der Propheten« <strong>und</strong> gleichzeitig Christus<br />

als das höchste Wort Gottes an die<br />

Menschheit anzuerkennen. Kurz gesagt,<br />

der Christ kann seinen Glauben<br />

an Christus als den einzigen Retter des<br />

Menschen <strong>und</strong> als denjenigen, der den<br />

Vater in seiner Fülle offenbart, nicht in<br />

Klammern setzen. Ebenso kann der<br />

Muslim, der anerkennt, dass Christus<br />

das Wort Gottes ist, Christus nicht als<br />

das ungeschaffene <strong>und</strong> vor aller Zeit<br />

existierende Wort anerkennen …<br />

4.2. Spirituelle Überlegung:<br />

Eine dreifache Haltung von<br />

Wahrnehmung, Wahrheit<br />

<strong>und</strong> Liebe<br />

Die theologische Unterscheidung setzt<br />

voraus, dass man im Lichte Christi im<br />

Koran den Anteil des Lichts <strong>und</strong> den des<br />

Schattens ausmacht. Dies bewahrt davor,<br />

in anti-muslimischen Fanatismus oder<br />

pro-muslimische Naivität zu fallen. Ihr<br />

apostolischer Auftrag verpflichtet die<br />

<strong>Christen</strong> dazu, den <strong>Muslimen</strong> zu helfen<br />

(mit unendlicher Feinfühligkeit), ihren<br />

Glauben zu klären, um zu erkennen, was<br />

er an Anknüpfungspunkten bietet <strong>und</strong><br />

ihnen zu helfen, sich letztlich dem Evangelium<br />

öffnen zu können, dass sie bereits<br />

durch den Koran zu kennen glauben, das<br />

sie aber tatsächlich nicht kennen. Indem<br />

in ihnen der Wunsch nach einer<br />

anspruchsvolleren Spiritualität geweckt<br />

wird, eröffnet sich ihnen der Weg zu einer<br />

Begegnung mit dem Christus der Evangelien.<br />

Die Wahrheit besteht ferner in erster<br />

Linie darin, jegliche Zweideutigkeit zu<br />

vermeiden. Es gibt in der Tat einige dem<br />

Neuen Testament <strong>und</strong> dem Koran<br />

gemeinsame Ausdrücke (Wort, Geist,<br />

Messias, Diener, Prophet), die jedoch<br />

nicht die gleiche Bedeutung haben. Es ist<br />

wichtig, den tieferen Sinn dieser Ausdrücke<br />

innerhalb des islamischen Glaubens<br />

<strong>und</strong> Glaubensdenkens zu erfassen<br />

<strong>und</strong> die muslimische Mentalität zu verinnerlichen.<br />

Natürlich muss der gleiche<br />

Aufwand hinsichtlich des <strong>Christen</strong>tums<br />

betrieben werden. In anderen Worten:<br />

Der interreligiöse Dialog verpflichtet<br />

dazu, den Sinn seines eigenen Glaubens<br />

zu vertiefen <strong>und</strong> ein neues Verständnis<br />

von ihm zu gewinnen.<br />

Und schließlich die Liebe. Caritas<br />

Christi urget nos! Gottes Wille ist es, dass<br />

alle Menschen das Heil erlangen, <strong>und</strong><br />

dass jeder den Vater erkennt. Dies ist der<br />

Auftrag, den Christus seinen Jüngern mit<br />

auf den Weg gab. Der Einsatz besteht darin,<br />

ganz ohne Polemik, so weit wie nur<br />

möglich, mit den <strong>Muslimen</strong> auf dem<br />

Weg der Erkenntnis <strong>und</strong> der Suche nach<br />

Gott zu gehen. ■<br />

Samir, Die prophetische Mission Muhammads<br />

11


12<br />

Dialog in der Kritik<br />

von Ralph Ghadban<br />

Einleitung<br />

In den letzten Jahren ist der interreligiöse<br />

Dialog vermehrt in die Kritik geraten.<br />

Da ist die Rede von »multireligiöser<br />

Schummelei«, 1 »ritualisiertem Austausch<br />

von Harmlosigkeiten« 2 , »hektischem Aktionismus«<br />

3 . Auch von muslimischer Seite<br />

ist man über den Dialog mit den christlichen<br />

Kirchen tief enttäuscht. Abdulgani<br />

Karahan schreibt auf der Webseite von<br />

Milli Görüs: »Für uns als Muslime stellt<br />

sich aber auch an diesem Punkt noch einmal<br />

die Frage über den Sinn <strong>und</strong> Unsinn<br />

des expliziten Dialogs mit den Kirchen.« 4<br />

Man zweifelt an der Nützlichkeit des<br />

Dialogs <strong>und</strong> fragt nach seinem Sinn. Ob<br />

auf nationaler oder auf internationaler<br />

Ebene, seine Ergebnisse sind mehr als<br />

mager. Er hat es nicht geschafft, die Menschen<br />

näher zu bringen. Im Gegenteil, er<br />

hat die Kluft unter den Menschen vertieft.<br />

Der so genannte Dialog der Kulturen<br />

bildet die Rückseite der Medaille des<br />

Kampfes der Kulturen. Beide verzichten<br />

auf das gemeinsam Menschliche, markieren<br />

die Differenzen <strong>und</strong> bereiten auf neue<br />

Konflikte vor.<br />

Das erklärt auch, warum das so<br />

genannte »Weltethosprojekt« nicht an Bedeutung<br />

gewinnen kann. Das Projekt<br />

bewegt sich nämlich in demselben kulturalistischen<br />

Rahmen. Hans Küng<br />

schreibt: »Es wird keinen Frieden <strong>zwischen</strong><br />

den Zivilisationen geben ohne einen Frie-<br />

Ghadban, Dialog in der Kritik<br />

den unter den Religionen! Und es wird keinen<br />

Frieden unter den Religionen geben<br />

ohne einen Dialog <strong>zwischen</strong> den Religionen!«<br />

5 Die Absicht des Projektes, ein<br />

Weltethos über die Deklaration der Menschenrechte<br />

hinaus als Gr<strong>und</strong>lage einer<br />

Weltgesellschaft zu etablieren, ist fehlgeschlagen.<br />

Selbst der Religionswissenschaftler<br />

Friedrich Wilhelm Graf, ansonsten<br />

ein entschiedener Gegner von Huntingtons<br />

Antagonismus der Zivilisationen,<br />

empfiehlt, »von allzu harmonistischen<br />

Bildern der Weltgesellschaft Abschied zu<br />

nehmen«. Gegenüber den »Konstrukteuren<br />

eines Weltethos« habe Huntington<br />

Recht, wenn er die f<strong>und</strong>amentale Verschiedenheit<br />

der Kulturen betone, meint<br />

er. 6 Der Kulturbegriff ist zweischneidig, er<br />

kann Verständigung, aber genauso Antagonismen<br />

rechtfertigen. In allen Fällen<br />

unterstreicht er die Trennung.<br />

In Europa kann man die Situation des<br />

Dialogs stark verkürzt folgenderweise<br />

kennzeichnen:<br />

Auf muslimischer Seite besteht das<br />

dringende Bedürfnis, die eigene Religion<br />

bekannt zu machen, nicht zuletzt, weil in<br />

den letzten beiden Jahrzehnten immer<br />

mehr Muslime eine islamische Identität<br />

entwickelten. Man will auch die angeblich<br />

wachsende Islamophobie bekämpfen<br />

<strong>und</strong> die Vorurteile aufklären. Dafür<br />

bedient man sich nicht nur des Dialoges,<br />

sondern auch anderer Mitteln wie des<br />

Tages der offenen Moschee, Aufklärungs-<br />

projekten an den Schulen, der Fortbildung<br />

für Staatsdiener <strong>und</strong> Sozialarbeiter<br />

usw. Auf diese Weise wird der Dialog<br />

überlagert. Auf ihrem letzten Treffen in<br />

Graz am 15. Juni 2003, haben die Leiter<br />

islamischer Zentren <strong>und</strong> Imame in Europa<br />

gefordert, dass die Aufklärung über<br />

den Islam staatlich institutionalisiert<br />

wird. 7 Das würde dem Dialog sein Ende<br />

bereiten, es bliebe nur die Aufklärung<br />

über den Islam. Umgekehrt wird keine<br />

Aufklärung der Muslime über das <strong>Christen</strong>tum<br />

erwogen, so dass wir es schließlich<br />

mit einer islamischen Missionierung<br />

unter Mitwirkung des Staates zu tun<br />

haben werden. In der Grazer Erklärung<br />

heißt es: »Muslime sind hierbei aufgerufen<br />

ihre Dau’apflicht so zu verstehen, dass sie zu<br />

Information aufgerufen sind«.<br />

Auf christlicher Seite liefert der Theologe<br />

Hans-Christoph Goßman eine<br />

Zusammenfassung der christlichen Vorstellungen.<br />

8 Das Ziel des interreligiösen<br />

Dialogs ist das Zusammenleben im Alltag<br />

vor Ort miteinander <strong>und</strong> nicht nebeneinander.<br />

Das wird durch das gegenseitige<br />

Kennenlernen der Kulte, Riten <strong>und</strong><br />

Glaubensinhalte realisiert <strong>und</strong> führt zur<br />

Wahrnehmung sowohl der Gemeinsamkeiten,<br />

als auch der Unterschiede beider<br />

Religionen. Dieses Vorgehen hilft den<br />

Teilnehmern ihre eigene Religion besser<br />

zu verstehen <strong>und</strong> ihre eigene religiöse<br />

Identität weiterzuentwickeln. Dadurch<br />

entsteht ein gegenseitiges Vertrauen, das<br />

die Akzeptanz der Andersartigkeit er-<br />

1 Bölsche, Jochen, Der verlogene Dialog, Der Spiegel Nr. 51/17.12.2001<br />

2 Jakobs, Andreas, Dialogue en Vogue – Vom Sinn <strong>und</strong> Unsinn des Dialogs mit dem Islam. Hrsg. Konrad-Adenauer-Stiftung, Islam-Brief Nr. 3 (1/2003)<br />

3 Kandel, Johannes, »Lieber blauäugig als blind?« Anmerkungen <strong>zum</strong> »Dialog« mit dem Islam. Hrsg. Friedrich-Ebert-Stiftung, 2003<br />

4 Karahan, Abdulgani E., Wozu Dialog, wenn nur eine Seite spricht, die andere aber nicht zuhört – Muslime sind von christlichen Kirchen enttäuscht. www.igmg.de, 14.12.2003<br />

5 Küng, Hans, Weltethos für Weltpolitik <strong>und</strong> Weltwirtschaft, München 1998, S. 131<br />

6 Schwilk, Heimo, Nur ein religiöses Amerika kann dem Islam widerstehen. Bestsellerautor Samuel Huntington ruft seine Landsleute auf, die Identität der USA zu verteidigen. Die Welt am<br />

Sonntag, 5. September 2004<br />

7 Grazer Erklärung der Konferenz »Leiter islamischer Zentren <strong>und</strong> Imame in Europa« am 15. Juni 2003<br />

8 Goßmann, Hans-Christoph, Das Verständnis des christlich-islamischen Dialoges aus christlicher Sicht. In: Dunia. Die islamische Hochschulzeitschrift, Nr. 2, 1999, S. 53-54<br />

CIBEDO-<strong>Beiträge</strong> 2/2006


laubt, eine Gr<strong>und</strong>bedingung für das Miteinander<br />

anstatt Nebeneinander.<br />

Diese Skizze der Positionen der Dialogpartner<br />

reflektiert den Reichtum des<br />

Dialogs auf keinen Fall, deutet trotzdem<br />

auf schwere Mängel hin, von denen ich<br />

hier drei erwähnen möchte: Erstens die<br />

Glaubwürdigkeit <strong>und</strong> Zuverlässigkeit des<br />

Dialogs, zweitens die theologische Klärung<br />

der Beziehungen <strong>und</strong> drittens das<br />

Zusammenleben in einem Gemeinwesen.<br />

1. Glaubwürdigkeit <strong>und</strong><br />

Zuverlässigkeit<br />

Am 20. Februar 2002 veröffentlichte<br />

der Zentralrat der Muslime in Deutschland<br />

unter dem Titel »Islamische Charta«<br />

eine Gr<strong>und</strong>satzerklärung zur Beziehung<br />

der Muslime <strong>zum</strong> Staat <strong>und</strong> zur Gesellschaft.<br />

Sie sollte eine Antwort auf den 11.<br />

September sein <strong>und</strong> wurde im Allgemeinen<br />

eher positiv aufgenommen. Das war<br />

ein guter Anfang, dachte man <strong>und</strong> wartete<br />

mit Spannung auf die versprochene<br />

Begründung. Man wartet immer noch.<br />

Die Zweifler scheinen Recht zu behalten,<br />

es war offensichtlich ein Ablenkungsmanöver,<br />

um den Zorn der Menschen nach<br />

dem 11. September aufzufangen <strong>und</strong> es<br />

wird wahrscheinlich keine Begründung<br />

geben. Der Vorsitzende des Zentralrates<br />

mag in diesem Misstrauen ein Zeichen<br />

der Islamfeindlichkeit sehen, das ändert<br />

nichts daran, dass er verpflichtet ist, der<br />

Öffentlichkeit die Unstimmigkeiten der<br />

Charta zu erklären.<br />

Trotz massiver Öffentlichkeitsarbeit<br />

des Zentralrates während der letzten Jahre<br />

wurde in dieser Hinsicht keine Klarheit<br />

geschaffen. Im Gegenteil, das Misstrauen<br />

ist gewachsen. Nach wie vor möchte man<br />

z.B. wissen, warum klare Bestimmungen<br />

im Koran bezüglich Ehe- <strong>und</strong> Erbrecht<br />

aufgegeben werden <strong>und</strong> Forderungen, die<br />

nirgends in der Religion begründet sind,<br />

wie der »lautsprecherverstärkte Gebetsruf«<br />

auf dem Forderungsprogramm stehen.<br />

Warum sind Aufenthaltsgenehmigung<br />

<strong>und</strong> Einbürgerung Verträge? Was ist mit<br />

»klerikalem Gottesstaat«, mit »Kernbestand<br />

der Menschenrechtserklärung«, mit<br />

der »ges<strong>und</strong>en Lebensweise«, mit der<br />

Ablehnung der »Süchtigkeit«, mit der<br />

»islamischen Identität«, mit der »würdigen<br />

islamischen Lebensweise« usw. gemeint?<br />

Warum wird entgegen der Sunna das<br />

Recht auf Religionswechsel oder gar keine<br />

Religion zu haben akzeptiert?<br />

Die plakative Aufstellung von Positionen<br />

ohne ihre Begründung kann nicht<br />

überzeugen, insbesondere nicht, wenn<br />

man weiß, dass es für sie in einem demokratischen<br />

Rechtsstaat keine Alternative<br />

gibt. Sie ist unglaubwürdig. Daher die<br />

Forderung u.a. von Bischof Huber nach<br />

dem Massaker von Beslan nach einer klaren<br />

Distanzierung der Muslime in<br />

Deutschland vom Terror, wie es auf beeindruckende<br />

Weise in Frankreich geschehen<br />

ist. Dr. Nadeem Elyas, der damalige<br />

Vorsitzende des ZMD, hat beleidigt<br />

reagiert, weil die Muslime wieder das<br />

Opfer der Islamophobie wurden, wie er<br />

meint. 9 Nicht weniger verstimmt waren<br />

die Reaktionen des Generalsekretärs der<br />

IGMG, Oguz Ücüncü, <strong>und</strong> des Vorsitzenden<br />

des Islamrats, Ali Kizilkaya. 10 Alle<br />

greifen Bischof Huber an <strong>und</strong> überhören<br />

die anderen ähnlichen Stimmen, zu denen<br />

die des B<strong>und</strong>espräsidenten gehört. 11<br />

Dr. Elyas verkennt die Zeichen der<br />

Zeit: Er kann nicht mehr die Öffentlichkeit<br />

mit formellen Distanzierungen vom<br />

islamistischen Terror abspeisen. Er erhöht<br />

bestimmt nicht seine Glaubwürdigkeit,<br />

wenn er von »sogenannten islamistischen<br />

Terroristen« redet. 12 Er muss, wie übrigens<br />

alle Akteure im öffentlichen Leben, die<br />

Öffentlichkeit überzeugen. Dass das<br />

möglich ist, haben die französischen<br />

Muslime bewiesen.<br />

Beunruhigend für die Öffentlichkeit<br />

ist die Tatsache, dass die Imame, die auf<br />

die Muslime in Europa einen großen Einfluss<br />

ausüben, wie Qaradawi, der Vorsitzende<br />

des europäischen Fiqhrates <strong>und</strong><br />

sein Stellvertreter, Scheich Faisal Mawla-<br />

wi, unverhüllt für den Djihad, für die<br />

Selbstmordattentate, für die Tötung von<br />

israelischen <strong>und</strong> amerikanischen Zivilisten<br />

mit ihren Fatwas werben. 13 Die<br />

Unglaubwürdigkeit wird größer, wenn<br />

dieselbe Person widersprüchliche Fatwas<br />

erlässt: Qaradawi hat z.B. die Muslime<br />

<strong>zum</strong> Kampf auf der Seite der Taliban aufgerufen<br />

<strong>und</strong> den US-<strong>Muslimen</strong> den<br />

Kampf in der amerikanischen Armee verboten,<br />

später doch erlaubt. Das wurde als<br />

opportunistisch <strong>und</strong> verlogen betrachtet.<br />

Ein Maß an Opportunismus ist ohne<br />

Zweifeln vorhanden. Was uns aber nur<br />

opportunistisch erscheint, ist auch eine<br />

konsequente islamische Fiqh-Position,<br />

die nicht ernst genug genommen wird.<br />

In seinem Buch »Die Faktoren der Großzügigkeit<br />

<strong>und</strong> der Flexibilität in der islamischen<br />

Scharia« 14 erklärt Qaradawi, dass<br />

die Schariatexte ein weites Feld nicht<br />

regeln <strong>und</strong> den Religionsgelehrten überlassen,<br />

damit sie ausgehend von der<br />

Intention der Scharia, die der Zeit adäquaten<br />

Lösungen finden. Ausgehend<br />

vom Prinzip der Erleichterung des<br />

Lebens ( ) bedienen<br />

sich die Fatwas des Mittels des Qiyas, des<br />

Istihsan, <strong>und</strong> des Istislah um den herrschenden<br />

Gewohnheitsrecht, aber vor<br />

allem das Interesse, Maslaha, der Muslime<br />

zu berücksichtigen. Maslaha definiert<br />

al-Ghazali folgenderweise: »Mit Maslaha<br />

meinen wir die Bewahrung der Intention<br />

der Scharia. Die Intention der Scharia<br />

bezüglich des Menschen besteht aus fünf<br />

Prinzipien: Die Bewahrung ihrer Religion,<br />

ihr Leben, ihr Verstand, ihre Nachkommenschaft<br />

<strong>und</strong> ihr Eigentum. Alles, was<br />

diesen fünf Prinzipien dient, ist Maslaha<br />

<strong>und</strong> alles, was diesen Prinzipien widerspricht<br />

ist Verdorbenheit [Mafsada] <strong>und</strong><br />

seine Abwehr ist Maslaha.« 15 Daher ist es<br />

im Einzelnen möglich im Namen der<br />

Notwendigkeit, Darura, klare Schariavorschriften<br />

außer Kraft zu setzen, um<br />

die Maslaha, das Allgemeinwohl der<br />

muslimischen Gemeinde, zu bewahren:<br />

Die Notwendigkeiten setzen die Verbote<br />

außer Kraft ( ).<br />

Da die Absicht der Amerikaner, Krieg<br />

gegen die Taliban zu führen, klar wurde,<br />

9 Schäuble: Muslime sollten sich von Terror distanzieren, FAZ 8.09.2004. Mike Schier <strong>und</strong> Lennart Herberhold, Auch katholische Kirche kritisiert Muslime, Merkur Online, 9.09.2004<br />

10 www.igmg.de, 10.09.2004: Bischof Huber kritisiert muslimische Verbände<br />

11 Frankfurter R<strong>und</strong>schau 11.09.2004<br />

12 Lau, Jörg, Unverhüllte Patrioten. DIE ZEIT 09.09.2004 Nr.38<br />

13 Al-Fahd, Maschari, Die Haltung der religiösen Autoritäten <strong>zum</strong> dritten Golfkrieg, Asharq al-Awsat 19.04.2003. Siehe auch, Julia Gerlach, Globalisierung auf Islamisch. Scheich<br />

al-Qaradawi hält Selbstmordattentate für legitim. Die Zeit 37/2002<br />

14 Al-Qaradawi, Yusuf, ‘Awamel as-si’a wal-muruna fil-scharia al-islamiya. Kairo 1999, S. 9-34. Siehe auch für die erwähnten Begriffe die EI<br />

15 Al-Ghazali, Al-mustasfa min ‘ilm al-usul, Kapitel: Adillat al-ahkam. Für die verschiedenen Begriffe siehe die Enzyklopädie des Islam<br />

CIBEDO-<strong>Beiträge</strong> 2/2006<br />

Ghadban, Dialog in der Kritik<br />

13


14<br />

lag es nicht mehr im Interesse der amerikanischen<br />

Muslime, sich zu verweigern.<br />

Im Dialog muss gerade dieser Punkt<br />

der Maslaha in seiner rechtlichen <strong>und</strong><br />

theologischen Dimension diskutiert werden.<br />

Wie vereinbaren die Muslime die<br />

Vorrangigkeit der Interessen der islamischen<br />

Umma mit ihrer Zugehörigkeit zu<br />

einem deutschen Gemeinwesen? Die<br />

Schwierigkeit dabei besteht darin, dass<br />

die Muslime sich weigern, solche Diskussionen<br />

zu führen. Ausdrücklich warnt<br />

Qaradawi davor, theologische Fragen zu<br />

behandeln. Das bleibt allein Sache der<br />

Gelehrten. 16<br />

Eine weitere Schwierigkeit des Dialogs<br />

bildet die Zuverlässigkeit der Aussagen.<br />

Es gibt keine verbindliche Autorität in<br />

der Lehre, <strong>und</strong> die Salman Rushdie-Fatwa<br />

soll damals die Meinung Khomeinis<br />

reflektiert haben <strong>und</strong> nicht des Islam,<br />

wurde behauptet. Die Gefahr für Rushdie<br />

wurde dadurch nicht geringer. Das Fehlen<br />

dieser Autorität wirkt eher beunruhigend<br />

<strong>und</strong> nicht entschuldigend. Dass es<br />

keine Kirche im Islam gibt, verbietet<br />

nicht die Errichtung von zuverlässigen<br />

institutionalisierten Referenzen. Seit Jahren<br />

verlangt Scheich Hassan Fadlallah<br />

eine obere Autorität für die Muslime ähnlich<br />

dem Papst bei den Katholiken. Qaradawi<br />

hat zuletzt endlich seinen Traum<br />

realisiert <strong>und</strong> die »Union der islamischen<br />

Gelehrten« in Dublin gegründet. 17<br />

Auf christlicher Seite entstehen<br />

manchmal Unklarheiten, die auch unter<br />

der Rubrik Glaubwürdigkeit einzuordnen<br />

wären. Das geschieht, wenn christliche<br />

Dialogpartner angeben, dass sie an<br />

die Gottheit Christi nicht glauben, wie es<br />

der Geschäftsführer der »Stiftung Weltethos«<br />

in Berlin Martin Bauschke in seinem<br />

Buch »Jesus im Koran« tut. Er<br />

schreibt: »Mehrheiten oder Minderheiten<br />

sagen noch nichts aus über den Wahrheitsgehalt<br />

einer Glaubensüberzeugung. In<br />

jedem Fall ist es nicht so – <strong>und</strong> das sei auch<br />

den muslimischen Lesern <strong>und</strong> Leserinnen<br />

dieser Zeilen gesagt –, dass das <strong>Christen</strong>tum<br />

immer <strong>und</strong> überall eine Göttlichkeit Jesu<br />

vertreten hat.« 18 Manche Strömungen<br />

unter den Protestanten glauben nicht an<br />

die Gottheit Christi. Das ist aber nicht<br />

die herrschende Meinung in der evangelischen<br />

Kirche <strong>und</strong> überhaupt nicht die<br />

der Katholiken sowie des Restes der <strong>Christen</strong>heit<br />

in der Welt. Sie ist auch nicht die<br />

Meinung der Muslime. Der Gelehrte Ibn<br />

Qaim al-Jawzia, der das Standardwerk<br />

über das Recht der Schutzbefohlenen,<br />

d.h. <strong>Christen</strong> <strong>und</strong> Juden im Islam, verfasst<br />

hat, schreibt: »Alle <strong>Christen</strong>, vom<br />

Ersten bis <strong>zum</strong> Letzten, glauben an die<br />

Gottheit Christi.« 19 Das war im 14. Jh.<br />

<strong>und</strong> gilt noch in unserer Zeit. Mohammad<br />

Salim Abdullah schreibt 1995: »Viele<br />

Deutsche, die das Dogma der Trinität<br />

ablehnen, während sie an Monotheismus<br />

<strong>und</strong> christliche Ethik glauben, werden staunen,<br />

würden sie erfahren, wie klein der<br />

Abstand, der sie vom Islam trennt, ist.« 20<br />

Das sagt schon viel über diese Art von<br />

Dialog, der keiner ist, weil die angeblichen<br />

<strong>Christen</strong> im Gr<strong>und</strong>e genommen<br />

islamische Positionen vertreten.<br />

2. Theologische Klärung<br />

Trotz vierzehn Jahrh<strong>und</strong>erte islamischer<br />

Herrschaft haben die orientalischen<br />

<strong>Christen</strong> den Islam nicht anerkannt. In<br />

den modernen Zeiten haben der Kolonialismus<br />

<strong>und</strong> die christliche Mission, die<br />

eine Nichtanerkennung <strong>und</strong> oft eine<br />

Missachtung des Islam voraussetzten, der<br />

Sehnsucht der Muslime nach Anerkennung<br />

Aufschub gegeben. 21 Der Dialog<br />

erfüllt daher diese Sehnsucht. Die Theologin<br />

Jutta Sperber schreibt: »Das Dialogangebot<br />

der <strong>Christen</strong> wurde umgehend als<br />

theologische Anerkennung des Islam gewertet.<br />

Pendant dazu war die Bewertung der<br />

Mission als theologischer Angriff auf den<br />

Islam.« 22 Um den Dialog mit den <strong>Muslimen</strong><br />

zu ermöglichen, haben die <strong>Christen</strong><br />

eine lange feindliche Tradition überwinden<br />

müssen <strong>und</strong> vor allem eine gr<strong>und</strong>legende<br />

theologische Arbeit geleistet. Es<br />

gibt in<strong>zwischen</strong> eine etablierte »Theologie<br />

des Dialogs« <strong>und</strong> eine »pluralistische Religions-Theologie«.<br />

Einen Wendepunkt stellt Vatikan II<br />

dar: »Die katholische Kirche lehnt nichts<br />

von alledem ab, was in diesen Religionen<br />

wahr <strong>und</strong> heilig ist.« Deshalb hat das Konzil<br />

den Absolutheitsanspruch der katholischen<br />

Kirche insoweit relativiert, als es die<br />

Heilsmöglichkeit für Nichtchristen anerkennt,<br />

besonders für Muslime 23 <strong>und</strong> sogar<br />

für Atheisten, die auf nur Gott bekannten<br />

Wegen das Heil erlangen, wenn sie z.B.<br />

ihrem Gewissen folgen. 24 Die Muslime<br />

können als Individuen ihr Heil erlangen,<br />

die Funktion der islamischen Religion,<br />

das Heil zu vermitteln, ist unter katholischen<br />

Theologen aber umstritten. 25 Der<br />

Gr<strong>und</strong> ist, dass das Konzil sich diesbezüglich<br />

nicht eindeutig äußert. 26 Gemeinsam<br />

ist die Annahme, dass der Heilige Geist<br />

seit der Ankunft Jesu bei allen Menschen<br />

wirkt <strong>und</strong> daher der Heilsweg für alle<br />

Menschen offen ist. Umstritten ist die<br />

Annahme, ob die anderen Religionen<br />

einen selbständigen Heilsweg, der letztendlich<br />

zu Jesus führen kann, anbieten<br />

oder eine unvollkommene Lösung darstellen.<br />

In allen Fällen schreibt Vatikan II<br />

vor: »Unablässig aber verkündet sie [die<br />

katholische Kirche] <strong>und</strong> muss sie verkündigen<br />

Christus, der ist der Weg, die Wahrheit<br />

<strong>und</strong> das Leben, in dem die Menschen die<br />

16 Al-Qaradawi, Yusuf, Al-fatwa bayn al-indibat wat-tasaiyub. Beirut 1995, S. 113-115<br />

17 Al-Sharq al-Awsat, 2.07.2004<br />

18 Bauschke, Martin, Jesus im Koran, Köln 2001, S. 148<br />

19 Ibn Qaim al-Jusiya, Kitab hidayat al-hayara fil raddi ‘ala al-yahud wal-nasara, Kapitel 11<br />

20 Abdullah, M. salim, Muslims in Germany, in: Abedin, Syed Z. <strong>und</strong> Sardar, Ziauddin, Muslim Minorities in the West, London 1995, S. 77<br />

21 Für eine islamische Sicht des Dialogs siehe die <strong>Beiträge</strong> von Mohammad Hussein Fadlallah, Redwan al-Sayed, Fehmi Huweidi in: Die Christlich-Islamischen Beziehungen in Vergangenheit,<br />

Gegenwart <strong>und</strong> Zukunft, Hrsg. Talal Atrisi, Das Zentrum für strategische Forschung <strong>und</strong> Dokumentation, Beirut1994<br />

22 Sperber, Jutta, Dialog mit dem Islam. Göttingen 1999, S. 35<br />

23 »Der Heilswille Gottes umfasst auch die, welche den Schöpfer anerkennen, unter ihnen besonders die Muslime, die sich <strong>zum</strong> Glauben Abrahams bekennen <strong>und</strong> mit uns den Einen Gott<br />

anbeten, den Barmherzigen, der die Menschen am jüngsten Tag richten wird.« Vatkan II, zitiert in: Christian W. Troll SJ, Der Islam im Verständnis der Katholischen Theologie. Überblick<br />

<strong>und</strong> neuere Ansätze, CIBEDO 13, 1999 Nr. 3, S. 92-100<br />

24 Pressemitteilung der Deutschen Bischofskonferenz vom 27.09.2002, Das <strong>Christen</strong>tum – Eine Religion unter anderen? Zum interreligiösen Dialog aus katholischer Perspektive. S. 5<br />

25 Dazu Aoun, Muschir Baschir, Die theologischen Gr<strong>und</strong>lagen für einen christlich-islamischen Dialog. Das Institut für islamische <strong>und</strong> christliche Studien an der Universität St Joseph Beirut,<br />

Beirut 2003, insbesondere S. 159 ff<br />

26 »Das Konzil habe jedoch in Bezug auf den Islam eine theologisch entscheidende Frage offen gelassen: Können gläubige <strong>Christen</strong> Muhammad wirklich ein prophetisches Charisma<br />

zuerkennen?«, Christian W. Troll SJ, ibid.<br />

27 Pressemitteilung, ibid., S. 8<br />

Ghadban, Dialog in der Kritik CIBEDO-<strong>Beiträge</strong> 2/2006


Fülle des religiösen Lebens finden, in dem<br />

Gott alles mit sich versöhnt hat.« 27<br />

Damit stellt sich die Frage der Legitimität<br />

der Mission <strong>und</strong> ihrer Vereinbarkeit<br />

mit dem Dialog. 28 Von einem christlichen<br />

Standpunkt aus ist die Bezeugung<br />

der eigenen Religion eine legitime<br />

Pflicht. Das widerspricht nicht der Anerkennung<br />

eines Wahrheitsgehalts bei<br />

anderen Religionen, im Gegenteil, diese<br />

Anerkennung bildet die Voraussetzung<br />

für einen gelungenen Dialog. 29 Diese<br />

Voraussetzung fehlt bei den <strong>Muslimen</strong>,<br />

die von ihrem Absolutheitsanspruch keinen<br />

Millimeter abgewichen sind <strong>und</strong><br />

daher eine wirkliche Akzeptanz anderer<br />

Religionen bis heute nicht kennen. Zu<br />

dieser Problematik fällt ihnen nur das<br />

Thema der Schutzbefohlenen ein, <strong>und</strong><br />

wie diese vom Islam toleriert wurden. Ein<br />

deutscher Konvertit, Murad Hofmann,<br />

von dem man die Einhaltung der Regeln<br />

eines wissenschaftlichen Diskurses erwartet,<br />

denkt nicht anders als die Islamisten<br />

<strong>und</strong> erklärt in einem Interview: »Es ist<br />

daher essentiell, dass die hiesigen Muslime<br />

ihre Umwelt davon unterrichten, dass das<br />

islamische Minderheitenrecht das liberalste<br />

Statut für Andersgläubige ist, das die Welt<br />

bis heute gesehen oder normiert hat.« 30<br />

Hofmann liegt nicht nur hinter dem<br />

europäischen Standard, sondern auch<br />

hinter dem Standard aller Muslime, die<br />

ernsthaft versuchen, die Frage des Zusammenlebens<br />

anzugehen, <strong>und</strong> die dabei<br />

die Notwendigkeit der Behandlung<br />

gr<strong>und</strong>legender theologischer Fragen hinter<br />

der juristischen Fassade entdecken.<br />

Der Dialogbeauftragte der Schiiten im<br />

Libanon, Seoud al-Mawla, schreibt bezüglich<br />

der Rahmenbedingungen des<br />

Dialogs: »Zuerst gibt es eine muslimische<br />

Zurückhaltung, was einen Dialog über<br />

Theologie <strong>und</strong> ‘ilm al-kalam [islamische<br />

Theologie] betrifft. Dieser Dialog ist<br />

erwünscht <strong>und</strong> notwendig«. 31 Ähnliches<br />

stellen die Katholiken fest, wenn sie<br />

CIBEDO-<strong>Beiträge</strong> 2/2006<br />

schreiben: »Eine Bilanz der Kolloquien<br />

<strong>zwischen</strong> <strong>Christen</strong> <strong>und</strong> <strong>Muslimen</strong> während<br />

der vergangenen Jahrzehnte zeigt, dass der<br />

Dialog auf der Ebene der Theologie im<br />

engeren Sinn des Wortes äußerst schwierig<br />

bleibt.« 32<br />

Nach wie vor betrachten die Muslime<br />

<strong>Christen</strong> <strong>und</strong> Juden als Inhaber einer falschen<br />

Religion <strong>und</strong> nicht einer anderen<br />

Religion, weiter ignorieren sie alle nicht<br />

monotheistischen Religionen. Die Juden<br />

haben die Offenbarung verraten <strong>und</strong> die<br />

<strong>Christen</strong> haben sie falsch verstanden. Das<br />

wiederholen die Muslime bis heute, wenn<br />

sie beim Beten die Fatiha rezitieren, in der<br />

es heißt: »6 Führe uns den geraden Weg, 7<br />

den Weg derer, denen du Gnade erwiesen<br />

hast, nicht (den Weg) derer, die d(ein)em<br />

Zorn verfallen sind <strong>und</strong> irregehen!« (1:6-<br />

7) 33 Dem Zorn verfallen sind die Juden<br />

<strong>und</strong> irregegangen sind die <strong>Christen</strong>,<br />

erklären die muslimischen Korankommentatoren.<br />

34 Wer seinen Dialogpartner<br />

so betrachtet, kann dessen Religion nicht<br />

respektieren <strong>und</strong> ernst nehmen. Daher<br />

bildet die Information <strong>und</strong> Aufklärung<br />

über den Islam den Kern der islamischen<br />

Mission, Da’wa. Die <strong>Christen</strong> wollen die<br />

Universalität der Liebe Gottes, wie sie in<br />

Jesus Christus offenbar geworden ist,<br />

bezeugen. Sie ist allen Menschen zugewandt<br />

<strong>und</strong> bei allen Menschen wirksam.<br />

35 Tariq Ramadan hat auf den Begriff<br />

Da’wa verzichtet <strong>und</strong> redet auch in<strong>zwischen</strong><br />

von Bezeugung, shahada. Der<br />

Westen ist nicht mehr dar al-da’wa, sondern<br />

dar al-shahada. 36 Die Übernahme<br />

christlicher Terminologie soll aber nicht<br />

darüber täuschen, dass die islamischen<br />

Inhalte gleich geblieben sind. Nicht<br />

zuletzt wegen dieser Doppeldeutigkeit ist<br />

Ramadan so umstritten.<br />

Ein zweiter Punkt, der dringend<br />

geklärt werden muss, ist die widersprüchliche<br />

Einschätzung der <strong>Christen</strong> <strong>und</strong><br />

Juden im Koran. Einmal sind sie Fre<strong>und</strong>e,<br />

das andere Mal Feinde. So können<br />

sich sowohl die friedfertigen Muslime als<br />

auch die Terroristen auf den Koran beziehen.<br />

Der Koran bestätigt das <strong>Christen</strong>tum<br />

<strong>und</strong> das Judentum: »92 Und dies<br />

(d.h. die koranische Offenbarung) ist eine<br />

von uns hinabgesandte, gesegnete Schrift,<br />

die bestätigt, was (an Offenbarung) vor ihr<br />

da war.« (6:92). Dann geht er respektvoll<br />

auf Distanz zu ihnen: »46 Und streitet mit<br />

den Leuten der Schrift nie anders als auf<br />

eine möglichst gute Art – mit Ausnahme<br />

derer von ihnen, die Frevler sind! Und sagt:<br />

‘Wir glauben an das, was (als Offenbarung)<br />

zu uns, <strong>und</strong> was zu euch herabgesandt<br />

worden ist. Unser <strong>und</strong> euer Gott ist<br />

einer. Ihm sind wir ergeben.« (29:46). In<br />

Medina wird der Ton härter: »70 Ihr Leute<br />

der Schrift! Warum glaubt ihr nicht an<br />

die Zeichen Gottes, wo ihr doch (selber)<br />

Zeugen (der göttlichen Wahrheit) seid? 71<br />

Ihr Leute der Schrift! Warum verdunkelt<br />

ihr die Wahrheit mit Lug <strong>und</strong> Trug, <strong>und</strong><br />

verheimlicht sie, wo ihr doch (um sie)<br />

wißt?« (3:70-71). Sie sollen die Schrift<br />

verfälscht haben: »79 Aber wehe denen,<br />

die die Schrift mit ihrer Hand schreiben<br />

<strong>und</strong> dann sagen: ‘Das stammt von Gott’,<br />

um sie zu verschachern« (2:79) <strong>und</strong> haben<br />

den Koran abgelehnt, deshalb: »...Gottes<br />

Fluch komme über die Ungläubigen«<br />

(2:89). Sie werden im Feuer der Hölle<br />

sein <strong>und</strong> (ewig) darin weilen (98:6). Endlich<br />

wird in 9:30 mit Juden <strong>und</strong> <strong>Christen</strong><br />

abgerechnet; dort heißt es: »Gott bekämpfe<br />

sie«. Der gemeinsame Gott der mekkanischen<br />

Periode ist der Gott allein der<br />

Muslime geworden.<br />

Nicht nur diese Widersprüchlichkeiten,<br />

sondern viele andere müssen geklärt<br />

werden: Warum glaubt der Koran an<br />

Moses <strong>und</strong> Jesus, an Thora <strong>und</strong> Evangelium<br />

genau wie die Juden <strong>und</strong> <strong>Christen</strong>? 37<br />

Warum wird im Koran die judeo-christliche<br />

Kennzeichnung Nasara <strong>und</strong> nie der<br />

Begriff <strong>Christen</strong> verwendet, trotz der Tatsache,<br />

dass das <strong>Christen</strong>tum seit Jahrh<strong>und</strong>erten<br />

überall verbreitet war? Außerdem:<br />

Inwieweit ist der koranische Text zuver-<br />

28 Vgl. Christian W. Troll SJ, Christlich-islamischer Dialog. Zwischen Mission <strong>und</strong> Ökumene In: Zeitschrift für Missionswissenschaft <strong>und</strong> Religionswissenschaft. 87 (2003), S.218-226. Der<br />

Autor spricht von einem »Verhaltenskodex«: Kein Zwang in Glaubensfragen, Garantie des religiösen Pluralismus, Anerkennung der Menschenrechte <strong>und</strong> Hilfe für die Schwachen<br />

29 Vgl. Christian W. Troll SJ, »Prüfet alles!« Der Dienst der Unterscheidung als unabdingbares Element dialogischer Beziehungen von <strong>Christen</strong> <strong>und</strong> <strong>Muslimen</strong> in: H. Schmid/ A. Renz/<br />

J. Sperber (Hrsg.), Herausforderung Islam. Anfragen an das christliche Selbstverständnis. Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart, 2003, S. 69-82.<br />

30 Interview mit Murad Hofman, Islam.de, Montag, 30.08.2004<br />

31 Al-Mawla, Seoud, Der islamisch-christlichen Dialog. Das notwendige Abenteuer, Beirut 1996, S. 41<br />

32 Sekretariat der deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), <strong>Christen</strong> <strong>und</strong> Muslime in Deutschland. Arbeitshilfen 172, Bonn 2003, S. 159<br />

33 Übersetzung von Rudi Paret<br />

34 U.a. at-Tabari, Jami’ al-bayan fi ta’wil al-quran, Teil I Sure al-fatiha Nr. 163-181<br />

35 Arbeitshilfe 172, S. 110<br />

36 Ramadan, Tariq, Western Muslims and the Future of Islam. Oxford 2004, S. 63-77<br />

37 In seinem neuen Buch »Der Islam. Geschichte, Gegenwart, Zukunft«, München 2004, spricht Hans Küng das Thema an, dazu Südtirol Online: Aufbruch im Islam? Küng sieht Herrschaft<br />

der Mullahs wanken, 13.09.2004<br />

Ghadban, Dialog in der Kritik<br />

15


16<br />

lässig? Die Muslime glauben, dass der<br />

Koran, den sie lesen, mit dem Koran von<br />

Osman identisch ist. Von dem letzten<br />

aber existiert keine Spur. Die Offenbarungszeit<br />

war sehr lange, nämlich 23 Jahre.<br />

Die muslimischen Gelehrten selber<br />

haben verschiedene Wissenschaften entwickelt,<br />

nicht zuletzt, die von asbab annuzul<br />

(die Umstände der Offenbarung),<br />

um den Text in seinem historischen Kontext<br />

zu verstehen. Noch im 13. Jh. war die<br />

Aufteilung <strong>zwischen</strong> mekkanischen <strong>und</strong><br />

medinesischen Suren nicht endgültig<br />

festgelegt. Im goldenen Koran der Großmoschee<br />

von Sanaa wird die Sure »Die<br />

Kuh« als mekkanisch eingetragen.<br />

Eine historisch-kritische Untersuchung<br />

des Koran ist unerlässlich für eine<br />

theologische Arbeit, weil der Koran von<br />

den <strong>Muslimen</strong> beinah vergöttlicht wird.<br />

Annemarie Schimmel spricht deswegen<br />

von Inlibration, das entspricht der Inkarnation<br />

bei den <strong>Christen</strong>. 38 Die Koranforschung<br />

der letzten zwanzig Jahre hat riesige<br />

Fortschritte gemacht. 39 Der neue<br />

Ansatz von Christoph Luxenberg, der<br />

<strong>zum</strong> ersten Mal den koranischen Text<br />

philologisch untersuchte, brachte erstaunliche<br />

Ergebnisse. 40 Die Gemeinsamkeiten<br />

der drei monotheistischen Religionen<br />

scheinen noch größer als vermutet zu<br />

sein.<br />

3. Das Zusammenleben<br />

Die Demokratie im Westen basiert auf<br />

den Menschenrechten. Dieser gemeinsame<br />

Nenner macht die pluralistische Entfaltung<br />

der Menschen erst möglich. Die<br />

Idee eines Minderheitenrechtes, wie sie<br />

Murad Hofmann vertritt, ist der Demokratie<br />

fremd, daher w<strong>und</strong>ert es, dass Hofmann<br />

in demselben Interview die Demo-<br />

kratie preist <strong>und</strong>: »nicht nur mit dem<br />

Islam kompatibel, sondern jeder anderen<br />

Regierungsform überlegen;« sieht. Des Rätsels<br />

Lösung steht im Beginn des zitierten<br />

Satzes, in dem es heißt: »Als eine Ideologie<br />

können wir uns mit Demokratie nicht<br />

anfre<strong>und</strong>en, aber als ein Mechanismus zur<br />

Verhinderung von Machtmissbrauch«. 41<br />

Wie das zu verstehen ist, wird erklärt: Die<br />

Parlamente können nicht willkürlich entscheiden,<br />

sie sind: »an unabänderliche<br />

Verfassungsvorgaben geb<strong>und</strong>en (sind). Bei<br />

<strong>Muslimen</strong> spielt halt die göttliche Scharia<br />

diese begrenzende Verfassungsrolle.« Das ist<br />

eine islamistische Auffassung genau wie<br />

die der Islamisten in Frankreich, die die<br />

Gesetze im Sinne des Islam ändern wollen<br />

<strong>und</strong> irgendwann die laizistische in<br />

eine islamische Republik umwandeln<br />

wollen. 42 Die Muslimbruderschaft in<br />

Ägypten ist auch für die Demokratie als<br />

Mechanismus, genau wie der »Front islamique«<br />

in Algerien usw.<br />

Hofmann fordert in seinem Interview<br />

die Muslime auf, in die demokratischen<br />

Parteien zwecks Beeinflussung der Parteiprogramme<br />

einzutreten, damit sie, wie er<br />

sagt, »islamkonformer« werden. Im Namen<br />

der Demokratie wird ihre Abschaffung<br />

angestrebt. Ähnliches geschieht im<br />

Dialog. Tariq Ramadan stellt vier Regel<br />

für den Dialogprozess auf, die erste lautet:<br />

»Die Legitimität der Überzeugungen der<br />

Teilnehmer anerkennen <strong>und</strong> respektieren.«<br />

43 Das bedeutet u.a. die Anerkennung<br />

der Scharia <strong>und</strong> konsequenterweise<br />

müssen sich die Dialogpartner im Namen<br />

der Religionsfreiheit dafür einsetzen.<br />

Anstatt von Scharia wird in einer verschlüsselten<br />

Sprache von einer islamischen<br />

Lebensweise gesprochen, die in<br />

einer postmodernen multikulturellen<br />

Gesellschaft ihren Platz in der Form eines<br />

kommunitaristischen Segments beansprucht.<br />

In der islamischen Charta heißt<br />

es ausdrücklich: »Auch im heutigen Übergang<br />

von der Moderne zur Postmoderne<br />

wollen Muslime einen entscheidenden Beitrag<br />

zur Bewältigung von Krisen leisten.«<br />

Diese Absicht wird bezweifelt. Lord Bhikhu<br />

Parekh, ein Verfechter des Multikulturalismus,<br />

schreibt: »Das Hauptproblem<br />

für Moslems ist nicht die Demokratie, sondern<br />

die Einfügung in eine multikulturelle<br />

Gesellschaft. Moslems sind von der absoluten<br />

Überlegenheit des Islam überzeugt, ...<br />

Die Haltung der Moslems gegenüber<br />

der kulturellen Vielfalt ist also einseitig. Sie<br />

begrüßen sie, weil sie ihnen die Freiheit<br />

gibt, ihre religiöse Identität zu behalten<br />

<strong>und</strong> andere mit ihrem Glauben vertraut zu<br />

machen. Aber sie ärgern sich über sie, weil<br />

sie ihnen ihre Überlegenheit abspricht <strong>und</strong><br />

sie <strong>und</strong> ihre Kinder anderen Religionen<br />

<strong>und</strong> weltlichen Kulturen aussetzt.« 44<br />

Postmodernismus, Multikulturalismus<br />

<strong>und</strong> Kommunitarismus haben zur Desintegration<br />

der Muslime in Europa viel beigetragen.<br />

45 Es folgt nun eine Rückbesinnung<br />

auf die demokratischen Gr<strong>und</strong>werte.<br />

Die Kultur wird in ihre Schranken<br />

gewiesen. Die Beziehung der Religion<br />

<strong>zum</strong> Staat wird erneut überprüft. Eine<br />

Hauptaufgabe der <strong>Christen</strong> im Dialog<br />

mit den <strong>Muslimen</strong> wäre die Vermittlung<br />

ihrer eigenen Erfahrungen mit dem säkularen<br />

Staat. Die Katholiken stellen sich<br />

selber diese Frage: »Können <strong>Christen</strong> aufgr<strong>und</strong><br />

ihrer <strong>zum</strong> Teil leidvollen, wegen der<br />

Befreiung der Kirche von politischen Aufgaben<br />

aber in<strong>zwischen</strong> bejahten Erfahrung<br />

mit dem Säkularisierungsprozess <strong>Muslimen</strong><br />

helfen, im säkularen Staat den geeigneten<br />

Rahmen für das Zusammenleben in Verschiedenheit<br />

zu erkennen?«. 46<br />

Gerade in dieser wichtigen Frage sorgen<br />

manche <strong>Christen</strong> für Verwirrung.<br />

Ausgehend von dem Gottesbezug in der<br />

Präambel des Gr<strong>und</strong>gesetzes – »Im<br />

38 Schimmel, Annemarie, Der Sufismus, in: Der Islam. Eine Einführung durch Experten Mainz 1998, S. 68<br />

39 Einen fachlichen Überblick lieferte das internationale Symposium in Berlin im Januar 2004: Historische Sondierungen <strong>und</strong> methodische Reflexionen zur Koranexegese – Wege zur<br />

Rekonstruktion des vorkoranischen Koran. Und der internationale Workshop in Beirut: Modernity and Islam. New Approaches in Koranic Studies, vom Juni 2003<br />

40 Luxenberg, Christoph, Die syro-aramäische Lesart des Koran. Ein Beitrag zur Entschlüsselung der Koransprache. Berlin 2000. Siehe auch seine Analyse von Leilat al-qadr in seinem<br />

Beitrag: »Weihnachten im Koran«, in: Imprimatur, Heft 1/2003 oder auch »Der Koran <strong>zum</strong> ‘islamischen Kopftuch’. Zu Sure 24:31«, in: Imprimatur Heft 2/2004<br />

41 Hofmann, Interview, ibid.<br />

42 Nürnberger Zeitung 23.04.2003. Auf ihrer Jahresversammlung hat die UOIF (Union des organsiations islamiques de France) <strong>und</strong> in Anwesenheit des Innenministers Sarkosy ihre Absicht<br />

bekräftigt die Gesetze im Sinne des Islam zu ändern. Wegen der ungleichen demographischen Entwicklung werden sie irgendwann auf demokratischen Wege die islamische Republik<br />

ausrufen.<br />

43 Ramadan, ibid., S. 210<br />

44 Parekh, Bhikhu, Ist der Islam eine Bedrohung für die Demokratie? Copyright: Project Syndicate/Institut für die Wissenschaften vom Menschen, Juli 2003. Aus dem Englischen von Eva<br />

Breust. Bhikhu Parekh chaired the Commission on the Future of Multi-Ethnic Britain which was set up in January 1998 by the Runnymede Trust. The Commission’s remit was to analyse the<br />

current state of multi-ethnic Britain and to propose ways of countering racial discrimination and disadvantage and ways of making Britain a confident and vibrant multicultural society at<br />

ease with its rich diversity. The Commission published its report after two years, this is known as the Parekh Report<br />

45 Dazu Wikan, Unni, Generous Betrayal. Politics of Culture in the New Europe. London 2002<br />

46 Arbeitshilfe 172, S. 166. Zur Entwicklung der Haltung der Katholischen Kirche siehe: Christian W. Troll SJ, Religiöser Wahrheitsanspruch <strong>und</strong> gesellschaftspolitischer Pluralismus, in<br />

Andreas Bsteh (Hrsg.), Eine Welt für alle. Gr<strong>und</strong>lagen eines gesellschaftspolitischen <strong>und</strong> kulturellen Pluralismus in christlicher <strong>und</strong> islamischer Perspektive, Mödling 1999, S. 61-99<br />

Ghadban, Dialog in der Kritik CIBEDO-<strong>Beiträge</strong> 2/2006


Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott<br />

<strong>und</strong> den Menschen ...« – versuchen sie die<br />

Religion bzw. das <strong>Christen</strong>tum als zentrale,<br />

wenn nicht alleinige Rechtfertigung<br />

der Menschenwürde des Artikels 1 GG<br />

darzustellen. Der Exverfassungsrichter<br />

Paul Kirchhof schreibt: »Die Herleitung<br />

ist religiös, die Gewährleistung staatlich.« 47<br />

Dagegen schreibt Dieter Hesselberger in<br />

seinem Kommentar des Gr<strong>und</strong>gesetzes<br />

für die politische Bildung: »Die Menschenwürde<br />

ist aber tatbestandlich nicht<br />

umschrieben, weil sie in erster Linie ein<br />

naturrechtlicher Begriff ist, der seine geistesgeschichtliche<br />

Wurzel nicht in der Rechtswissenschaft,<br />

sondern in Philosophie <strong>und</strong><br />

Theologie hat.« 48 Diejenigen, die die Rolle<br />

der Religion überbewerten, sprechen<br />

von einer »balancierten Trennung« <strong>zwischen</strong><br />

Staat <strong>und</strong> Religion, verkörpert in<br />

einer »Kooperation«. Der Trierer Bischof<br />

Reinhard Marx schreibt: »Weder der Staat<br />

als natürliche Größe noch die Kirche sind<br />

ohne den jeweiligen Bezugspartner allein<br />

für sich verstehbar.« 49<br />

Die Überbewertung der Religion findet<br />

auch im Bezug auf die offene Neutralität<br />

des Staates statt, 50 das Verbot religiöser<br />

Symbole an der Schule wird als »Schritt in<br />

die Laicité«, als Verdrängung der Religion<br />

aus der Öffentlichkeit beklagt. 51 Unter<br />

Religion verstehen manche nur das <strong>Christen</strong>tum<br />

<strong>und</strong> wollen das Kopftuch verbannen<br />

aber nicht die Nonnentracht. Das ist<br />

bestimmt nicht die beste Art, den <strong>Muslimen</strong><br />

die Trennung <strong>zwischen</strong> Staat <strong>und</strong><br />

Religion zu vermitteln.<br />

Der Islam ist auch in der Lage, die<br />

Menschenwürde theologisch zu begründen.<br />

Die Rolle, die die Ebenbildlichkeit<br />

mit Gott im <strong>Christen</strong>tum diesbezüglich<br />

spielt, erfüllen im Islam die Eigenschaften<br />

47 Zitiert in: Marx, Weihbischof Reinhard, Braucht der moderne Staat Religion? Die religiösen <strong>und</strong> wertmäßigen Gr<strong>und</strong>lagen des Verfassungsrechts, in: Johannes Beckermann (Hrsg.), Das<br />

Verhältnis von Staat <strong>und</strong> Kirche, Frankfurt a. M. 2002, S. 149<br />

48 Hesselberger, Dieter, Das Gr<strong>und</strong>gesetz. Kommentar für die politische Bildung, Berlin 1999, S. 69<br />

49 Marx, ibid., S. 143<br />

50 Zu den Begriffen offene <strong>und</strong> distanzierende Neutralität: Ernst-Wolfgang Böckenförde, Mit dem Unvertrauten vertraut werden. Die plurale Gesellschaft ist keine laizistische Zone. FAZ<br />

17. Juli 2004<br />

51 »Ich fürchte nämlich, dass ein Kopftuchverbot der erste Schritt auf dem Weg in einen laizistischen Staat ist, der religiöse Zeichen <strong>und</strong> Symbole aus dem öffentlichen Leben verbannt.«<br />

Rede von Ex-B<strong>und</strong>espräsident Johannes Rau am 22. Januar 2004 in Wolfenbüttel: Religionsfreiheit heute – <strong>zum</strong> Verhältnis von Staat <strong>und</strong> Religion in Deutschland.<br />

52 Johansen, Baber, Die Sündige, Ges<strong>und</strong>e Amme. Moral <strong>und</strong> gesetzliche Bestimmungen (Hukm) im islamischen Recht, in, Contingency in Sacred Law, S. 187<br />

53 Am Beispiel der Homosexualität kann man den Unterschied erklären. Juristenrecht bedeutet, dass die Juristen die Wahl <strong>zwischen</strong> verschiedenen Meinungen <strong>und</strong> Interpretationen hatten.<br />

Mit dem positiven Recht werden Straftat <strong>und</strong> Strafmaß festgelegt. Eine Interpretation wird privilegiert, was den Entscheidungsspielraum für den Richter einengt: Homosexuelle werden hingerichtet.<br />

Das Ergebnis ist, dass z.B. im Iran über 4.000 Menschen seit der islamischen Revolution von 1979 wegen Homosexualität getötet wurden, wahrscheinlich mehr als in der gesamten<br />

1400 jährigen islamischen Geschichte. Dazu Ralph Ghadban, Historie, Gegenwart <strong>und</strong> Zukunft der Einstellung zur Homosexualität <strong>und</strong> Pädophilie in islamischen Ländern, in: Muslime<br />

unter dem Regenbogen. Homosexualität, Migration <strong>und</strong> Islam. Berlin 2004, S. 39-63<br />

54 Zum Beispiel der sudanesische Islamreformer Mahmud Mohammad Taha. Er betrachtet die Scharia als die erste Botschaft des Islam, als eine Botschaft, die ganz <strong>und</strong> gar ins Gewand<br />

der Vorstellungen <strong>und</strong> Kategorien des 7. Jahrh<strong>und</strong>erts auf der Arabischen Halbinsel gekleidet ist. Sie kann deshalb keine allgemeine Gültigkeit beanspruchen. Dank des zivilisatorischen<br />

Fortschrittes besitzen wir heute die Möglichkeit, durch Vernunft, Wissen <strong>und</strong> Frömmigkeit den gr<strong>und</strong>legenden Text der mekkanischen Periode zu verstehen. Man müsse die zweite<br />

Botschaft des Islam, die für die gesamte Menschheit gültig ist, verkünden. Die zweite Botschaft des Islam hat dann eine ethisch-religiöse Dimension, die nicht im Widerpruch mit den<br />

Menschenrechten <strong>und</strong> der Demokratie stehen kann.<br />

55 Coulson, N. J., A History of Islamic Law, Edinburgh 1964, S. 12<br />

CIBEDO-<strong>Beiträge</strong> 2/2006<br />

des Menschen als bestes Geschöpf <strong>und</strong> als<br />

Vertreter Gottes auf Erden. Die daraus<br />

abgeleiteten Menschenrechte werden<br />

allerdings im Rahmen der Scharia anerkannt,<br />

was die Wahrnehmung dieser Rolle<br />

verhindert. Wie ist das Hindernis zu<br />

überwinden?<br />

Ausgehend davon, dass im islamischen<br />

Recht moralische <strong>und</strong> rechtliche Normen<br />

nicht immer zusammenfallen, unterscheidet<br />

Baber Johansen zwei semantische<br />

Felder, die zusammen den Bedeutungsinhalt<br />

des islamischen Rechtes konstituieren:<br />

Das Feld der anzuwendenden<br />

Rechtsbestimmungen, der Ahkam, verkörpert<br />

in der Person des Qadi <strong>und</strong> das<br />

Feld von Moral <strong>und</strong> Religion, diyana,<br />

verkörpert in der Person des Mufti. Zu<br />

ihrer Beziehung schreibt er: Ȇber tausend<br />

Jahre ist die Spannung <strong>zwischen</strong> hukm<br />

<strong>und</strong> diyana als ein Verhältnis gegenseitiger<br />

Komplementarität betrachtet worden, das<br />

den scholastischen Kompromiß <strong>zwischen</strong><br />

Recht <strong>und</strong> Moral, Vernunft <strong>und</strong> Religion<br />

repräsentierte.« 52 Das Spannungsverhältnis<br />

erlaubte eine praktische Säkularisierung<br />

weiter Teile der gerichtsverbindlichen<br />

Normen, die in der Moderne<br />

wegen ihrer Abweichung von der religiösen<br />

<strong>und</strong> moralischen Lebensführung<br />

abgelehnt wird. Man will Recht mit Religion<br />

<strong>und</strong> Moral eindeutig identifizieren<br />

<strong>und</strong> begründet damit eine Tradition des<br />

Anti-Rationalismus.<br />

Die Versuche über die Anpassung des<br />

Fiqh, den Anschluss an die Moderne zu<br />

finden, sind <strong>zum</strong> Scheitern verurteilt.<br />

Entweder wird der Fiqh, der ursprünglich<br />

ein Juristenrecht ist, in ein positives Recht<br />

verwandelt wie im Iran, Saudiarabien<br />

<strong>und</strong> andere Schariastaaten, mit dem<br />

Ergebnis, dass die traditionelle islamische<br />

Toleranz, die aus der erwähnten Bipolarität<br />

entstammte, verschw<strong>und</strong>en ist. 53<br />

Oder man versucht wie im Westen, ein<br />

Fiqh der Minderheiten, in diesem Fall der<br />

Muslime, zu basteln, der weder die Muslime<br />

noch die Westler überzeugt, weil er<br />

im Korsett der Scharia gefangen bleibt.<br />

Das Zusammenfallen von Religion <strong>und</strong><br />

Recht lässt keinen Raum für die Säkularisierung.<br />

Beide Felder sollen wieder<br />

getrennt <strong>und</strong> weiter entwickelt werden.<br />

Die Weiterentwicklung der Rechtsnormen<br />

wird einfacher, wenn im Feld der<br />

Religion eine Ethik im Sinne eines ethischen<br />

Systems <strong>und</strong> nicht einer allgemeinen<br />

Moral, ausgehend von Koran <strong>und</strong><br />

Sunna, entwickelt wird, die dem Handeln<br />

der Menschen eine zuverlässige<br />

Orientierung liefert. 54 Das moralische<br />

Handeln wird im Islam begründet durch<br />

die Beziehung zu Gott <strong>und</strong> das Gewissen<br />

der handelnden Personen. Von den 6236<br />

Versen des Koran haben circa 600 Verse<br />

einen normativen Charakter <strong>und</strong> beziehen<br />

sich hauptsächlich auf kultische Vorschriften<br />

wie Gebet, Fasten, Pilgern usw.<br />

Circa 80 Verse behandeln rechtliche Fragen<br />

wie Straf- <strong>und</strong> Erbrecht. 55 Die übrigen<br />

tausende Verse handeln von Religion<br />

<strong>und</strong> Moral. Der moderne Fiqh fokussiert<br />

auf die normativen Verse. Es ist höchste<br />

Zeit, dass man sich dem Rest vermehrt<br />

zuwendet.■<br />

Ghadban, Dialog in der Kritik<br />

17


18<br />

Die »Wiener Erklärung« der Konferenz<br />

der Imame <strong>und</strong> SeelsorgerInnen<br />

vom 8. April 2006<br />

von Johannes Kandel<br />

1. Ziele <strong>und</strong> Intentionen<br />

2003 fand auf Initiative der Islamischen<br />

Glaubensgemeinschaft in Österreich<br />

(IGGIÖ) die erste europäische<br />

Imam-Konferenz statt (»Konferenz Leiter<br />

Islamischer Zentren <strong>und</strong> Imame in Europa«).<br />

Sie veröffentlichte ein viel beachtetes<br />

Gr<strong>und</strong>satzdokument, die »Grazer<br />

Erklärung«. 2005 folgte die Österreichische<br />

Imam-Konferenz, die für den Islam<br />

in Österreich eine gr<strong>und</strong>legende Standortbestimmung<br />

versuchte. Und schließlich<br />

trafen sich am 8. <strong>und</strong> 9. April 2006<br />

erneut Imame <strong>und</strong> SeelsorgerInnen aus<br />

mehr als 40 Ländern (auch die Türkei,<br />

Libyen <strong>und</strong> der Libanon waren vertreten)<br />

in Wien <strong>und</strong> verabschiedeten die »Wiener<br />

Erklärung« (WE).<br />

Es ist kein Zufall, dass die Initiatoren<br />

der Konferenzen aus Österreich kommen,<br />

hat sich doch hier ein Islam entwickelt,<br />

der selbstbewusst auftritt. In<br />

Österreich leben 340.000 Muslime, das<br />

sind 4.2 % der österreichischen Gesamtbevölkerung.<br />

Der Islam ist seit 1912,<br />

noch zu Zeiten der k.u.k.-Vielvölker-<br />

Monarchie, als Religionsgemeinschaft<br />

offiziell anerkannt. Die IGGIÖ besitzt<br />

seit 1979 den Status einer Körperschaft<br />

des Öffentlichen Rechts <strong>und</strong> müht sich<br />

neben der resoluten Vertretung eigener<br />

Interessen auch um eine stärkere Vernetzung<br />

von <strong>Muslimen</strong> in Europa. Sie<br />

möchte gerne eine Vorreiterrolle in dieser<br />

Angelegenheit spielen. Das gelegentliche<br />

Lob für das »österreichische Modell« ultra<br />

montes tut gut <strong>und</strong> befördert die Aktivitäten.<br />

Doch sollte man nicht den voreiligen<br />

Schluss ziehen, dass »Austria« auch<br />

im Blick auf seine Muslime stets nur<br />

»felix« sei. Ein Ländervergleich von »Integrationserfolgen«,<br />

bzw. Defiziten von<br />

<strong>Muslimen</strong> ist immer schwierig, weil die<br />

muslimischen Populationen im Blick auf<br />

ethnische Herkunft, religiöse <strong>und</strong> kulturelle<br />

Orientierungen sehr unterschiedlich<br />

sind <strong>und</strong> die politischen <strong>und</strong> rechtlichen<br />

Rahmenbedingungen auch sehr verschiedene<br />

Integrationspolitiken hervorbringen.<br />

Auch ist der Islam nicht mehr ausschließlich<br />

als »Migrantenreligion« zu<br />

betrachten. In Österreich gibt es durchaus<br />

ähnliche Probleme <strong>und</strong> kritische<br />

Diskurse im Blick auf die religiösen <strong>und</strong><br />

politischen Orientierungen von <strong>Muslimen</strong>,<br />

wie in anderen europäischen Staaten.<br />

1 Mit der rechtlichen »Anerkennung«<br />

des Islam als Religionsgemeinschaft, verschwinden<br />

ja nicht automatisch alle jene<br />

Probleme, die im Verhältnis von nichtmuslimischer<br />

»Mehrheitsgesellschaft«<br />

<strong>und</strong> <strong>Muslimen</strong> seit Jahren diskutiert werden:<br />

Das Verhältnis von <strong>Muslimen</strong> <strong>zum</strong><br />

säkularen Staat, d.h. Trennung von Staat<br />

<strong>und</strong> Religion, die Institutionalisierungs-<br />

Kandel, Die »Wiener Erklärung« der Konferenz der Imame <strong>und</strong> SeelsorgerInnen<br />

prozesse <strong>und</strong> die Frage der Repräsentativität<br />

islamischer Organisationen, die Frage<br />

nach Menschenrechten (Religionsfreiheit,<br />

Frauen), Demokratie <strong>und</strong> Pluralismus<br />

bei gleichzeitigem Festhalten an<br />

dem Ideal einer muslimischen Identität<br />

<strong>und</strong> Lebensweise gemäß der Scharia.<br />

Insofern ist das »österreichische Modell«<br />

nur bedingt, wie B<strong>und</strong>eskanzler Schüssel<br />

meinte, ein »Exportartikel«. Gleichwohl<br />

ist es sicherlich hilfreich, von der Unaufgeregtheit<br />

mancher Debatten <strong>und</strong> der<br />

tendenziell größeren Gelassenheit beim<br />

Konfliktmanagement zu lernen.<br />

Die prominent besetzten Treffen von<br />

Imamen wurden in zunehmendem Maße<br />

auch von der Politik geschätzt, dokumentiert<br />

durch die Anwesenheit <strong>und</strong> Beteiligung<br />

politischer Prominenz. So gaben<br />

sich B<strong>und</strong>eskanzler Schüssel, Außenministerin<br />

Plassnik <strong>und</strong> EU-Kommissarin<br />

Ferrero-Waldner die Ehre, die 120 Teilnehmer<br />

zu begrüßen. Der Weltislam war<br />

mit Prof. Dr. Ekmeleddin Ihsanoglu,<br />

Generalsekretär der »Organisation der<br />

Islamischen Konferenz« <strong>und</strong> Amar Hariba<br />

von der »World Islamic Call Society« (eine<br />

globale »Da’wa«-Organisation) vertreten.<br />

Hariba fiel durch maßlose Kritik an der<br />

Veröffentlichung der Mohammed-Karikaturen<br />

von der dänischen Zeitschrift<br />

»Jyllands-Posten« auf. Während das Thema<br />

in der Konferenz keine herausgehobe-<br />

1 Das wird in der kontrovers diskutierten Studie des Österreichischen Innenministeriums deutlich: Perspektiven <strong>und</strong> Herausforderungen in der Integration muslimischer Mitbürgerinnen in<br />

Österreich. Herausgegeben vom BM.I <strong>und</strong> .SIAK Österreich. Wien 2006. Autor der Studie war der in an der Universität Erlangen-Nürnberg lehrende bekannte Rechts- <strong>und</strong> Islamwissenschaftler<br />

Mathias Rohe. Die z.T. heftige Kritik an der Studie bezog sich auf die Methode. Es wurden 504 Türken <strong>und</strong> Bosnier via Telefon vor allem im Raum Wien befragt, dazu kamen 100<br />

qualitative Leitfadeninterviews. Die Kritik an der Studie ist m.E. weit überzogen. Obwohl Repräsentativität für die Telefonumfrage nicht behauptet werden kann, bietet die Studie eine Reihe<br />

von nützlichen <strong>und</strong> z.T. bestürzenden Einsichten in das Innenleben muslimischer Gemeinschaften in Österreich. So manchem Kritiker <strong>und</strong> Vertretern muslimischer Organisationen haben die<br />

benannten Integrationsprobleme gleichwohl nicht gefallen.<br />

CIBEDO-<strong>Beiträge</strong> 2/2006


ne Rolle spielte, <strong>und</strong> die Teilnehmer<br />

sichtlich bemüht waren, es nicht in den<br />

Vordergr<strong>und</strong> treten zu lassen, goss Hariba<br />

Öl ins Feuer. Er bezeichnete die Veröffentlichung<br />

als »Verbrechen« <strong>und</strong> forderte<br />

ein EU-weites Gesetz, um derartige<br />

»Beleidigungen« künftig zu unterbinden.<br />

Die Konferenzen wurden bislang vom<br />

österreichischen Außenministerium <strong>und</strong><br />

den Städten, in denen sie stattfanden,<br />

finanziert. Die IGGIÖ hätte sich einen<br />

solchen Aufwand nicht leisten können.<br />

Noch 2003 war die ISESCO (»Islamische<br />

Organisation für Erziehung, Wissenschaft<br />

<strong>und</strong> Kultur«, eine Unterorganisation der<br />

von Saudi-Arabien maßgeblich beeinflussten<br />

<strong>und</strong> finanzierten Islamischen Weltliga)<br />

mit von der Partie <strong>und</strong> hatte sich mit<br />

einem Beitrag an der Finanzierung beteiligt.<br />

Die Abhängigkeit von bestimmten<br />

Geldgebern aus der arabisch-islamischen<br />

Welt scheint von den österreichischen<br />

Imamen <strong>zum</strong>indest als Problem gesehen<br />

zu werden, denn in der Erklärung vom<br />

2005 wurde die Bedeutung der finanziellen<br />

Unabhängigkeit der Muslime in<br />

Österreich ausdrücklich hervorgehoben.<br />

Muslime in Europa 2 haben sich über<br />

eine Reihe von Organisationen (Moscheevereine,<br />

Verbände, Lobbygruppen,<br />

Dachorganisationen) in den letzten Jahren<br />

verstärkt öffentlich positioniert. Die<br />

Verlautbarungen (zuletzt in der »Topkapi«-Declaration<br />

vom 4. Juli) 3 sind auch<br />

Reaktionen auf einen wachsenden<br />

»Rechtfertigungsdruck« seitens der<br />

»Mehrheitsgesellschaften« vor dem Hintergr<strong>und</strong><br />

kontroverser Diskurse zur Vereinbarkeit<br />

von »Islam« <strong>und</strong> »Demokratie«<br />

sowie der Bedrohung durch einen islamisch<br />

begründeten internationalen Terrorismus.<br />

Sie sind gleichzeitig Ausdruck<br />

des Ringens um eine Standortbestim-<br />

CIBEDO-<strong>Beiträge</strong> 2/2006<br />

mung von <strong>Muslimen</strong> in nicht-muslimischer<br />

Umgebung. Es gibt somit immer<br />

zwei Adressaten solcher Erklärungen: die<br />

europäischen »Mehrheitsgesellschaften«<br />

<strong>und</strong> die eigene Klientel. Beide Seiten<br />

zufrieden zu stellen, ist häufig ein schwieriges<br />

Unterfangen, denn was die »Mehrheitsgesellschaft«<br />

erwartet, entspricht<br />

durchaus nicht immer dem Bewusstseinsstand<br />

<strong>und</strong> den Intentionen der muslimischen<br />

Klientel. Das liegt auf der Hand,<br />

wenn wir uns die unterschiedliche ethnische<br />

Herkunft <strong>und</strong> die sehr verschiedenen<br />

kulturellen, religiösen <strong>und</strong> politischen<br />

Orientierungen von <strong>Muslimen</strong> in<br />

Europa vergegenwärtigen. Diese doppelte<br />

Adressatenschaft ist ein Gr<strong>und</strong>, warum<br />

öffentliche Erklärungen wiederholte Bekenntnisse<br />

zu allgemeinen verfassungspolitischen<br />

Selbstverständlichkeiten (contra<br />

Terror, pro Verfassungs- <strong>und</strong> Rechtstreue)<br />

bieten <strong>und</strong> zugleich selbstbewusste Forderungskataloge<br />

für die Entfaltung <strong>und</strong><br />

Institutionalisierung muslimischen Lebens<br />

enthalten. Die »Mehrheitsgesellschaft«<br />

soll beruhigt <strong>und</strong> zugleich die<br />

eigene Anhängerschaft befriedigt werden.<br />

Die dabei häufig auftretenden Unklarheiten<br />

<strong>und</strong> Formelkompromisse erregen<br />

gleichwohl das Misstrauen der »Mehrheitsgesellschaft«<br />

<strong>und</strong> ziehen harsche Kritik<br />

auf sich. 4<br />

Auch die vorliegende Erklärung versucht<br />

eine Gratwanderung. Der informierte<br />

Leser hat nach der Lektüre ein<br />

déja-vue-Erlebnis. Irgendwo, irgendwie<br />

<strong>und</strong> irgendwann ist das alles schon mal<br />

fre<strong>und</strong>lich gesagt <strong>und</strong> mit Bedacht aufgeschrieben<br />

worden. Kritiker sprachen gar<br />

von einer »Schmusest<strong>und</strong>e« <strong>zwischen</strong><br />

österreichischem Staat <strong>und</strong> IGGIÖ, bzw.<br />

den europäischen Imamen. Das war die<br />

Konferenz eher nicht, obwohl sich Kritik<br />

in Grenzen hielt. So blieb der Hinweis<br />

von Parlamentspräsident Prof. Dr.<br />

Andreas Kohl auf mangelnde Deutschkenntnisse<br />

von einigen Islamlehrern <strong>und</strong><br />

die vereinzelte Verwendung von Unterrichtsmitteln<br />

mit islamistischen Inhalten<br />

doch sehr moderat. Gewiss lag der<br />

Hauptnutzen der Konferenz für viele<br />

Teilnehmer im Meinungs- <strong>und</strong> Gedankenaustausch<br />

<strong>und</strong> der Gelegenheit, sich<br />

besser zu vernetzen.<br />

2. Zur Lage der Muslime:<br />

der unvermeidliche<br />

»Opferdiskurs«<br />

Die WE beginnt mit einer allgemeinen<br />

Einschätzung zur Lage der Muslime<br />

in Europa, formuliert gr<strong>und</strong>legende Herausforderungen<br />

<strong>und</strong> Aufgaben muslimischer<br />

Gemeinschaften <strong>und</strong> präsentiert<br />

dann ausführlich die Ergebnisse der<br />

Diskussionen in Arbeitsgruppen zu nachstehenden<br />

Themen:<br />

● Integrationssoziologie<br />

● Bildung<br />

● Politik<br />

● Wirtschaft<br />

● Frauen<br />

● Jugend<br />

● Umwelt<br />

● Ökologie<br />

Die Themenauswahl zeigt, dass es den<br />

Teilnehmern der Konferenz um eine<br />

möglichst umfassende, problemorientierte,<br />

zugleich analytische <strong>und</strong> normative,<br />

Positionierung von <strong>Muslimen</strong> in Europa<br />

ging.<br />

Das Ziel der Imamkonferenz wird klar<br />

formuliert: es geht aus Sicht der Imame<br />

<strong>und</strong> »Seelsorger« um den Nachweis der<br />

2 Leider gibt es immer noch keine befriedigende, vergleichende Gesamtdarstellung <strong>zum</strong> Islam in Europa, obwohl die quantitativen <strong>und</strong> qualitativen Studien in den letzten 10 Jahren deutlich<br />

zugenommen haben. Vgl. den auch schon 4 Jahre alten Forschungsbericht von FRANK J. BUIJS/JAN RATH, Muslims in Europe. The State of Research. Amsterdam 2002, der aber immer<br />

noch wichtig bleibt. Aktuelle Analysen bieten JOCELYNE CÉSARI, When Islam and Democracy Meet. Muslims in Europe and in the United States. New York/Basingstole 2004. JYTTE KLAU-<br />

SEN, Europas muslimische Eliten. Wer sie sind <strong>und</strong> was sie wollen. Frankfurt/Main 2006. Standardwerk bleibt JORGEN NIELSEN; Muslims in Western Europe. Edinburgh 2004; NEZAR<br />

AL-SAYYAD/MANUEL CASTELLS (Eds.), Muslim-Europe or Euro-Islam. Politics, Culture and Citizenship in the Age of Globalization. London/Boulder/New York/Oxford 2002; ROBERT J.<br />

PAULY, JR., Islam in Europe. Integration or Marginalization? Aldershot 2004; JAN RATH et al., Western Europe and it’s Islam. Leiden/Boston/Köln 2001. Vgl. auch Friedrich-Ebert-Stiftung<br />

(Hrsg.), Muslime in Europa – ein Ländervergleich. Berlin 2001. HOLM SUNDHAUSSEN/ERNST PULSFORT/JOHANNES KANDEL (Hrsg.) Religionen <strong>und</strong> Kulturen in Südosteuropa. Nebeneinander<br />

<strong>und</strong> Miteinander von <strong>Muslimen</strong> <strong>und</strong> <strong>Christen</strong>. Berlin 2002.<br />

3 Die Erklärung wurde von der »Muslims of Europe Conference« erarbeitet, die auf Einladung des britischen Außenministeriums Spitzenvertreter des Weltislam <strong>und</strong> Vertreter des Islam aus<br />

Europa zusammenführte, darunter z.B. Tariq Ramadan, Amr Khaled, Hamza Yussuf, Mustafa Ceric <strong>und</strong> den Islamisten Yussuf al-Qaradawi. Dazu kamen Vertreter aus Saudi-Arabien.<br />

www.muslimsofeurope.com.<br />

4 Als ein Beispiel sei hier die Islamische Charta des Zentralrats der Muslime in Deutschland genannt. Vgl. dazu JOHANNES KANDEL, Die Islamische Charta. Fragen <strong>und</strong> Anmerkungen.<br />

Hrsg. von der Frierich-Ebert-Stiftung, Berlin 2002. THOMAS LEMMEN, Die Islamische Charta des Zentralrats der Muslime in Deutschland e.V. (ZMD). In: HANS WALDENFELS/HEINRICH<br />

OBERREUTER (Hrsg.), Der Islam – Religion <strong>und</strong> Politik. Paderborn 2004, S. 107 ff. TILMAN NAGEL; Zum schariatischen Hintergr<strong>und</strong> der Charta des Zentralrats der Muslime in Deutschland,<br />

in: HARTMUT LEHMANN (Hrsg.), Koexistenz <strong>und</strong> Konflikt von Religionen im vereinten Europa, Göttingen 2004, S. 114 ff. RAINER BRUNNER, Die »Islamische Charta« des Zentralrats<br />

der Muslime in Deutschland. http://www.gazette.de/Archiv/Gazette-September2002/Brunner04.html Derselbe, Zwischen Laizismus <strong>und</strong> Scharia. Muslime in Europa. Aus Politik <strong>und</strong><br />

Zeitgeschichte (APUZ), H.20, 2005.<br />

Kandel, Die »Wiener Erklärung« der Konferenz der Imame <strong>und</strong> SeelsorgerInnen<br />

19


20<br />

Kompatibilität von Islam <strong>und</strong> den »Prinzipien<br />

der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit,<br />

des Pluralismus <strong>und</strong> der Menschenrechte.«<br />

Die Teilnehmer sorgen sich um<br />

die »Akzeptanz der Muslime in der Mehrheitsgesellschaft«,<br />

die als längst nicht<br />

erreicht betrachtet wird. Im Gegenteil:<br />

eher seien in verschiedenen europäischen<br />

Ländern im Gefolge sozialer <strong>und</strong> wirtschaftlicher<br />

Spannungen Tendenzen zu<br />

beobachten, Muslime zu Sündenböcken<br />

zu stempeln: »Muslime werden pauschalierend<br />

benutzt, um ein Bild des ‚Fremden’<br />

entstehen zu lassen, das in Zeiten der Unsicherheit<br />

Halt in einer negativen Abgrenzung<br />

bietet. Es scheint, als solle damit ein<br />

‚Wir’-Gefühl erzeugt werden, das Gesellschaften,<br />

die massiv unter einem Verlust des<br />

sozialen Zusammenhanges leiden, zunehmend<br />

abhanden kommt.«<br />

Es ist bedauerlich, dass die »Wiener<br />

Erklärung« (WE) mit dieser einseitigen<br />

<strong>und</strong> pauschalen Schuldzuweisung beginnt.<br />

Sie lässt wenig Raum für nüchterne<br />

Analyse. Ohne Zweifel lassen sich<br />

islamfeindliche Einstellungen <strong>und</strong> Tendenzen<br />

in den verschiedenen EU-Staaten<br />

feststellen, aber es ist vermessen, zu<br />

behaupten, dass es eine intentionale Strategie<br />

der »Mehrheitsgesellschaften« geben<br />

soll, Muslime unter den – inflationär behaupteten,<br />

aber nie belegten – »Generalverdacht«<br />

zu stellen. Es ist nicht zu bestreiten,<br />

dass es in Teilen der muslimischen<br />

communities einen »gefühlten«<br />

Generalverdacht gibt, empirisch lässt<br />

sich, jedenfalls für die meisten europäischen<br />

Staaten, ein solcher Vorwurf nicht<br />

halten. Das Bild des Islam hat sich aber<br />

seit dem 11. September 2001 in Österreich<br />

<strong>und</strong> Deutschland – vor dem Hintergr<strong>und</strong><br />

fortschreitender islamistischterroristischer<br />

Bedrohung <strong>und</strong> oft emotionalisierender,<br />

suggestiver Medienberichterstattung<br />

– verdüstert. 5 Doch weder<br />

die seit Anfang der neunziger Jahre oft<br />

vorgebrachte These von einem nachhaltigen<br />

»Feindbild Islam« noch die Behaup-<br />

tung von einer signifikant verbreiteten<br />

»Islamophobie«, lassen sich ernsthaft<br />

empirisch stützen, wie z.B. Wilhelm<br />

Heitmeyers Studien (»Deutsche Zustände«)<br />

belegen. 6 Das gilt auch cum grano<br />

salis für Österreich. 7 Gleichwohl stehen<br />

die Zeichen eher auf eine Verschärfung<br />

im Verhältnis von Nicht-<strong>Muslimen</strong> <strong>und</strong><br />

<strong>Muslimen</strong>. Sicherlich sind wachsendes<br />

Misstrauen, Distanz <strong>und</strong> auch feindselige<br />

Ablehnung von <strong>Muslimen</strong> ernstzunehmende<br />

<strong>und</strong> beklagenswerte Erscheinungen,<br />

deren Ursachen genau zu analysieren<br />

sind. Leider signalisiert die WE eine fatale<br />

Tendenz, die im »Dialog« mit muslimischen<br />

Organisationen leider häufig zu<br />

beobachten ist: die geringe Fähigkeit zur<br />

Selbstdistanz, geschweige denn Selbstkritik.<br />

Schuld an der »Misere« der Muslime<br />

sind in der Regel immer »die anderen«. Es<br />

sind die Politiker der EU mit ihrer vermeintlich<br />

verfehlten Migrations- <strong>und</strong><br />

Integrationspolitik, es sind die »Mehrheitsgesellschaften«,<br />

die Muslime pauschal<br />

ablehnen <strong>und</strong> unter »Generalverdacht«<br />

stellen. Es ist die mangelnde zivilgesellschaftliche<br />

Unterstützung der Muslime<br />

durch die nationalen Regierungen,<br />

es sind die mannigfachen tatsächlichen<br />

oder nur wahrgenommenen Kränkungen,<br />

Demütigungen <strong>und</strong> Diskriminierungen.<br />

Schließlich soll auch die Außenpolitik<br />

mancher europäischer Staaten<br />

(insbesondere Großbritanniens) im Blick<br />

auf den Nahostkonflikt, den Afghanistan-Konflikt<br />

<strong>und</strong> den Krieg im Irak am<br />

Elend der Muslime in Europa schuld<br />

sein.<br />

Es ist gar nicht zu bezweifeln, dass, wie<br />

es in der WE wenig später heißt, »Muslime<br />

einem starken Rechtfertigungsdruck<br />

ausgesetzt« sind. In der Tat hat sich ein<br />

»Rechtfertigungsdruck« in dem Maße<br />

aufgebaut, wie Nicht-Muslime in Europa<br />

einen islamisch begründeten F<strong>und</strong>amentalismus<br />

mit Gewaltneigung <strong>und</strong> einen<br />

islamistisch gesteuerten Terrorismus erleben<br />

müssen. Ein neuerliches Blutbad ist<br />

im Sommer 2006 von den britischen<br />

Sicherheitskräften in letzter Minute verhindert<br />

worden <strong>und</strong> in Deutschland kam<br />

es nur aufgr<strong>und</strong> technischen Versagens<br />

nicht zur Explosion von zwei in Regionalzügen<br />

deponierten Kofferbomben. Die<br />

Reaktionen muslimischer Verbände in<br />

Großbritannien <strong>und</strong> einzelner Vertreter<br />

muslimischer Organisationen in<br />

Deutschland auf diese unmittelbaren<br />

tödlichen Bedrohungen dämpfen Hoffnungen,<br />

es könne im »Dialog« zu einer<br />

wirklich tiefgehenden Aufarbeitung des<br />

Zusammenhanges von bestimmten<br />

Islaminterpretationen <strong>und</strong> terroristischer<br />

Gewalt kommen. Die immer wiederkehrenden<br />

Behauptungen aus muslimischen<br />

Kreisen, diese Erscheinungen hätten<br />

wenig, bzw. gar nichts mit »dem Islam« zu<br />

tun, griffen zu kurz, weil die derzeit von<br />

maßgeblichen Islam-Interpretatoren der<br />

islamischen Welt angebotenen konservativen<br />

<strong>und</strong> islamistischen Islam-Auslegungen<br />

(z.B. im Blick auf die Kategorie des<br />

»Djihad«) eine Fülle von Anknüpfungspunkten<br />

bieten <strong>und</strong> sich in aktuellen<br />

Interpretationen <strong>und</strong> Rechtfertigungen<br />

islamistischer Terroristen finden. 8 Hier<br />

hätte die kritische inner-muslimische<br />

Diskussion einsetzen müssen <strong>und</strong> hier<br />

wäre der Dialog mit Nicht-<strong>Muslimen</strong><br />

von besonderer Wichtigkeit gewesen.<br />

Dass es hier Versäumnisse seitens der<br />

Muslime gibt, wird von der WE immerhin<br />

gesehen. Islamische Gelehrte dürften<br />

der Kritik, »die anhand einzelner Missstände<br />

eine Unverträglichkeit ‚islamischer’<br />

mit ‚westlichen’ Werten zu konstruieren<br />

suche« nicht einfach mit dem Verweis entgegentreten,<br />

»dass solcherlei negative<br />

Erscheinungsformen im Gegensatz zur islamischen<br />

Lehre in überkommenen Traditionen<br />

wurzelten«. Dagegen lägen »in der<br />

theologischen Argumentation ... große <strong>und</strong><br />

erprobte Möglichkeiten, nachhaltige<br />

Bewusstseinsveränderungen herbeizuführen.<br />

Diese sollten als Teil der Lösung aber<br />

auch erkannt, respektiert <strong>und</strong> im öffentlichen<br />

Diskurs gefördert werden«. Das ist<br />

5 In der Allensbach Umfrage vom 17. Mai 2006 assoziieren 91% der Befragten den Islam mit »Benachteiligung von Frauen« (im Vergleich zur Befragung von 2004 = 85%), 83% (2004 =<br />

75%) halten den Islam für »fanatisch«, 62% (2004 = 49%) für »rückwärtsgewandt«, 71% (2004 = 66%) für »intolerant« <strong>und</strong> 60% (2004 = 52%) für »<strong>und</strong>emokratisch«. FAZ vom 17. Mai<br />

2006.<br />

6 Hier sei nur ein typisches, krasses Beispiel einer verzeichnenden Darstellung zitiert: JOCHEN HIPPLER / ANDREA LUEG, Feindbild Islam oder Dialog der Kulturen. Hamburg, 2002. Zum<br />

»Feindbild Diskurs« siehe v.a. SIEGFRIED KOHLHAMMER, Die Feinde <strong>und</strong> die Fre<strong>und</strong>e des Islam. Göttingen, 1996. WILHELM HEITMEYER, Deutsche Zustände. Bde. 1-4. Frankfurt/Main,<br />

2002-2006. Heitmeyers Fragen zur Ermittlung von »Islamphobie« sind zu problematisieren, weil sie in der Tendenz geeignet sind, auch legitime kritische Einstellungen <strong>zum</strong> Islam als<br />

»Islamophobie« zu denunzieren.<br />

7 Siehe Anmerkung 1<br />

8 Siehe dazu die Textzusammenstellung von GILLES KEPEL <strong>und</strong> JEAN -PIERRE MILELLI, Al-Qaida. Texte des Terrors. München/Zürich, 2006. Unübertroffene aktuelle Aufbereitung von<br />

Geschichte, Theorien <strong>und</strong> Interpretationen des Djihad bei DAVID COOK, Understanding Jihad. University of California Press: Berkeley, Los Angeles, London, 2005. Ferner: PATRICK<br />

SOOKHDEO, Understanding Islamic Terrorism. Pewsey, Wiltshire, 2004. MARK A. GABRIEL, Islam <strong>und</strong> Terrorismus. Was der Koran wirklich über <strong>Christen</strong>tum, Gewalt <strong>und</strong> Ziele des<br />

Djihad lehrt. Gräfelfing, 2005. 3 Siehe dagegen die apologetische, ganz auf Verharmlosung der dominant militanten Interpretationen von Djihad gerichtete Schrift: ERGÜN CAPAN,<br />

Aus islamischer Perspektive Terror <strong>und</strong> Selbstmordattentate. Mörfelden-Walldorf, 2005. bes. der Beitrag von Ali Bulac.<br />

Kandel, Die »Wiener Erklärung« der Konferenz der Imame <strong>und</strong> SeelsorgerInnen CIBEDO-<strong>Beiträge</strong> 2/2006


sehr zu begrüßen, wenn die »theologische<br />

Argumentation« tatsächlich der Frage<br />

nach dem Verhältnis von Religion <strong>und</strong><br />

Kultur, bzw. Tradition nachginge <strong>und</strong> kritisch<br />

bilanzierte, welche dominant theologischen<br />

Denkfiguren geeignet sind,<br />

eine »Unverträglichkeit« westlicher mit<br />

islamischen Werten zu behaupten. Die<br />

Problemfelder <strong>und</strong> unerledigten Themen<br />

liegen offen zu Tage: z.B. Menschenrechte,<br />

Religionsfreiheit (Religionswechsel!),<br />

Frauen, Djihad.<br />

Im Blick auf religiös begründete politische<br />

Gewalt muss den Imamen zugute<br />

gehalten werden, dass sie das Problem im<br />

Gr<strong>und</strong>satz wohl sehen. Noch ein Jahr<br />

zuvor, in der Erklärung der Imam-Konferenz<br />

von 24. April 2005, wurde z.B. eine<br />

aktive Auseinandersetzung mit islamistischem<br />

Extremismus <strong>und</strong> Terrorismus<br />

gefordert. Man dürfe, so hieß es seinerzeit,<br />

»extreme Ansichten <strong>und</strong> Haltungen«,<br />

die sich außerhalb des Konsenses der<br />

Muslime in Österreich befänden, nicht<br />

einfach als »marginale Erscheinungen«<br />

abtun, sondern bekämpfen. So sollte ein<br />

Gremium aus »Intellektuellen <strong>und</strong> MeinungsbildnerInnen«<br />

geschaffen werden,<br />

dass sich »ernsthaft <strong>und</strong> wissenschaftlich<br />

mit der Erscheinung des Terrorismus« auseinandersetze.<br />

Indirekt wurden »fetwas«<br />

<strong>zum</strong> Thema in Aussicht gestellt. Diese<br />

Absichtserklärung war, vergleicht man sie<br />

mit öffentlichen Bek<strong>und</strong>ungen muslimischer<br />

Organisationen in anderen europäischen<br />

Ländern, durchaus ungewöhnlich<br />

<strong>und</strong> erfreulich. In Deutschland ist von<br />

Seiten des organisierten Islam eine derartige<br />

Intention nie formuliert worden.<br />

Gleichwohl ist es bedauerlich, dass den<br />

starken Worten keine Taten gefolgt sind.<br />

Ein solches Gremium ist bedauerlicherweise<br />

nicht eingerichtet worden. Die WE<br />

2006 greift das Thema leider nicht mehr<br />

auf, es ist aber davon auszugehen, dass<br />

keine Neigung besteht, hinter die Erklärung<br />

von 2005 zurückzufallen.<br />

Die WE nimmt Bezug auf die »gewaltigen<br />

Herausforderungen« der Moderne<br />

<strong>und</strong> bezeichnet treffend die Schlüsselprobleme:<br />

Frieden <strong>und</strong> Sicherheit, soziale<br />

CIBEDO-<strong>Beiträge</strong> 2/2006<br />

Gerechtigkeit <strong>und</strong> Erhalt der Umwelt.<br />

Die versammelten Theologen <strong>und</strong> Seelsorger<br />

bieten einen »lösungsbezogenen<br />

Ansatz« an: der Islam, der »Vielfalt als<br />

gottgewollt nicht in Frage« stelle, soll es<br />

richten. Es ist in diesem Zusammenhang<br />

nicht klar, was unter »Vielfalt« verstanden<br />

werden soll: die religiöse »Vielfalt« der<br />

monotheistischen Religionen, die religiöse<br />

Vielfalt innerhalb des Islam oder der<br />

politische Pluralismus? »Vielfalt« klingt<br />

immer gut, sie suggeriert Offenheit <strong>und</strong><br />

Toleranz. Doch ohne inhaltliche Füllung<br />

wird sie zur Leer- <strong>und</strong> Beruhigungsformel.<br />

Das gleich nachfolgende Zitat der<br />

Sure 6,82 soll sicher deutlich machen,<br />

dass es in erster Linie die gläubigen Menschen<br />

sind, <strong>und</strong> die Muslime im Besonderen,<br />

die aus der Sicherheit ihres Glaubens<br />

heraus befähigt sind, durch gute<br />

Werke an der gerechten Gestaltung der<br />

Welt zu arbeiten.<br />

3. Integration, »islamische<br />

Identität in Europa« <strong>und</strong><br />

»Euro-Islam«<br />

Muslime betrachten sich nicht mehr<br />

als »Gastarbeiter«, sondern als »lebendigen<br />

Teil Europas«. Sie wollen aus religiöser<br />

Motivation heraus, »Verantwortung<br />

für das Allgemeinwohl« übernehmen. Das<br />

ist sehr zu begrüßen <strong>und</strong> es müssen politisch<br />

<strong>und</strong> gesellschaftlich Wege geebnet<br />

werden, um <strong>Muslimen</strong> ihren gleichberechtigten<br />

Platz in der EU-Bürgerschaft<br />

zu gewährleisten. Da das Verhältnis von<br />

Staat <strong>und</strong> Religion in den einzelnen EU-<br />

Staaten sehr verschieden ist, wird es auch<br />

unterschiedliche Wege zur Anerkennung<br />

muslimischer Religionsgemeinschaften<br />

geben. Dabei können, wie z.B. der<br />

»Kopftuchstreit« in Deutschland <strong>und</strong><br />

Frankreich gezeigt hat, zweifellos Spannungen<br />

<strong>zwischen</strong> Wahrung religiöser<br />

Identitäten <strong>und</strong> Akzeptanz f<strong>und</strong>amentaler<br />

Verfassungsprinzipien demokratischer<br />

Staaten auftreten.<br />

Warum der im Dialog mit <strong>Muslimen</strong><br />

als die europäische Variante des Islam<br />

diskutierte »Euro-Islam« von den Imamen<br />

schon in der »Grazer Erklärung« von<br />

2003 zurückgewiesen wurde, ist <strong>zum</strong>indest<br />

einer Erklärung bedürftig. Dort hieß<br />

es, dass es »so wenig wie es einen afrikanischen,<br />

arabischen oder sonst wie ethnischen<br />

Islam gibt, auch nicht von einem ‚europäischen<br />

Islam’ gesprochen werden kann.« Es<br />

gäbe nur einen »Islam in Europa«. »Euro-<br />

Islam« wird als etwas den <strong>Muslimen</strong> von<br />

außen Aufgezwungenes verstanden, als<br />

eine islamfremde Erscheinung. Das verw<strong>und</strong>ert,<br />

denn auch die Imame werden<br />

nicht bestreiten können, dass, blicken wir<br />

auf die Entwicklungsgeschichte des<br />

Islam, dieser in starkem Maße von den<br />

Ethnien <strong>und</strong> Kulturen geprägt wurde, in<br />

denen er Wurzeln schlug. Die islamische<br />

Geschichte bietet dafür eine Fülle von<br />

Beispielen. 9 Der afrikanische Islam ist<br />

anders als der arabische oder asiatische<br />

<strong>und</strong> insofern sollte es auch einen »europäischen<br />

Islam« geben können. Ein »europäischer<br />

Islam« wäre einer, der mit den<br />

Gr<strong>und</strong>werten der europäischen Verfassung<br />

vereinbar ist. Darauf verweist der<br />

»Erfinder« des Begriffes, »Euro-Islam«,<br />

der Göttinger Politikwissenschaftler Bassam<br />

Tibi. Er versteht unter »Euro-Islam«,<br />

»eine Interpretation des Islam, die offen ist<br />

<strong>und</strong> im Zeichen der hoch-islamischen Aufklärung<br />

sowie des islamischen Rationalismus<br />

steht. Ein Euro-Islam ist vereinbar<br />

mit drei europäischen Verfassungsnormen:<br />

1) Laizismus (Trennung <strong>zwischen</strong> Religion<br />

<strong>und</strong> Politik), 2) säkulare Toleranz (Freiheit<br />

Andersdenkender <strong>und</strong> des Glaubens) <strong>und</strong><br />

schließlich 3) Pluralismus«. 10 Es mag sein,<br />

dass die Imame <strong>und</strong> andere einflussreiche<br />

muslimische islamische Rechtsgelehrte<br />

<strong>und</strong> Intellektuelle sowohl mit der »hochislamischen<br />

Aufklärung« (Tibi meint<br />

wahrscheinlich die Philosophie der<br />

Mutazila) als auch mit »aufklärerischen«,<br />

»progressiven« Interpretationsansätzen<br />

im Gegenwartsislam 11 Schwierigkeiten<br />

haben. Aber sie müssten doch für einen<br />

Islam in Europa die von Tibi in den<br />

Punkten eins bis drei genannten Gr<strong>und</strong>prinzipien<br />

europäischer Leitkultur akzeptieren<br />

<strong>und</strong> sie gemeinsam mit Nicht-<br />

<strong>Muslimen</strong> politisch leben können. Die<br />

Trennung von Religion <strong>und</strong> Staat kann ja<br />

9 Der Islam in der Gegenwart. Hrsgg. Von WERNER ENDE/UDO STEINBACH. München, 2005 5 , bes. S. 777 ff. Wie stark regionale <strong>und</strong> lokale Traditionen den Islam prägen, zeigt<br />

besonders drastisch der Umgang mit der verabscheuungswürdigen Praktik der weiblichen Genitalverstümmelung.<br />

10 BASSAM TIBI, Europa ohne Identität? Die Krise der multikulturellen Gesellschaft. München, 2000, S. 257. Die Stiftung Zentrum für Türkeistudien definiert Euro-Islam normativ:<br />

»Er müsste auf fünf Säulen fußen: der Ablehnung der Scharia, dem Prinzip des Laizismus, der Kompatibilität islamischer Lebensweisen mit den Normen der Industriegesellschaft, Treue zur<br />

verfassungsmäßigen Ordnung der Aufnahmeländer <strong>und</strong> Zustimmung zu Demokratie <strong>und</strong> Pluralität.« Vgl. »Euro-Islam«. Zum empirischen Gehalt eines neuen Islamverständnisses in der<br />

Migration. Essen, 2002, S. 18. (= ZfT-aktuell, Nr. 89).<br />

11 Vgl. dazu CHRISTIAN W. TROLL, Progressives Denken im zeitgenössischen Islam. Hrsgg. von der Friedrich-Ebert-Stiftung, Berlin, 2006. (= Islam <strong>und</strong> Gesellschaft, Nr. 4)<br />

Kandel, Die »Wiener Erklärung« der Konferenz der Imame <strong>und</strong> SeelsorgerInnen<br />

21


22<br />

auch verschiedene Formen annehmen,<br />

wie wir in Europa sehen. Entscheidend ist<br />

die Akzeptanz des religions- <strong>und</strong> weltanschaulich<br />

neutralen Rechtsstaates, der<br />

Gleichberechtigung der Religionen <strong>und</strong><br />

Religionsfrieden garantiert. Diese gleiche<br />

Rechte sichernde <strong>und</strong> friedensstiftende<br />

Funktion des Staates wird auch als »Säkularität«<br />

bezeichnet, hat aber nichts mit<br />

der von <strong>Muslimen</strong> gefürchteten Ideologie<br />

des »Säkularismus« zu tun, die Religionen<br />

in den Raum des Privaten abdrängen <strong>und</strong><br />

nicht als öffentliche Angelegenheit gelten<br />

lassen will. Die Akzeptanz von »Säkularität«<br />

des Staates sollte die Geschäftsgr<strong>und</strong>lage<br />

von allen Ethnien, Kulturen<br />

<strong>und</strong> Religionen in Europa sein.<br />

»Der Islam«, so heißt es in der WE, sei<br />

»auch aus der Leistung seines großen wissenschaftlichen<br />

<strong>und</strong> kulturellen Erbes direkter<br />

Bestandteil der europäischen Identität«.<br />

Wir finden solche <strong>und</strong> ähnliche Thesen<br />

immer wieder in apologetischen Abhandlungen<br />

<strong>und</strong> sie werden im »Dialog« stets<br />

vorgetragen, um die Legitimität muslimischer<br />

Existenz in Europa zu unterstreichen.<br />

Der historische Rückgriff soll<br />

Nicht-<strong>Muslimen</strong> signalisieren: Wir Muslime<br />

haben in Europa nicht nur ein<br />

Lebensrecht als Zugewanderte oder hier<br />

Geborene, sondern wir gehören <strong>zum</strong><br />

Erbe <strong>und</strong> den großen geistig-politischen<br />

Traditionen Europas, ja die europäische<br />

Kultur hätte sich ohne den Islam gar<br />

nicht so entwickeln können, wie sie sich<br />

heute darstellt. Es ist keine Frage, dass es<br />

nicht nur konfrontative Austauschprozesse<br />

<strong>zwischen</strong> Abendland <strong>und</strong> Morgenland<br />

gegeben hat, sondern eben auch langjährige<br />

gegenseitige Befruchtung <strong>und</strong> friedliche<br />

Koexistenz <strong>zwischen</strong> <strong>Muslimen</strong> <strong>und</strong><br />

Nicht-<strong>Muslimen</strong>, wie unter Verweis auf<br />

eine kurze Phase muslimischer Herrschaft<br />

in Spanien unter Abdurrahman III.<br />

(912-961) <strong>und</strong> Al-Hakam (961-976)<br />

gezeigt werden kann. Doch muss hier ein<br />

auch ein »Caveat« formuliert werden.<br />

»Al-Andalus« (das muslimische Spanien)<br />

taugt keinesfalls, wie Detailstudien zeigen,<br />

zur Glorifizierung eines vermeintlichen<br />

goldenen Zeitalters des christlich-<br />

muslimischen Dialogs, der gegenseitigen<br />

Toleranz <strong>und</strong> »convivencia«. Hier ist seit<br />

der Aufklärung eine Mythenbildung im<br />

Gange. 12 Es ist deutlich überzogen, wie es<br />

gelegentlich geschieht, »den« Islam <strong>zum</strong><br />

eigentlichen Bewahrer »der« griechischrömischen<br />

Traditionen zu stilisieren. Der<br />

Islam verfuhr bei der Rezeption dieser<br />

Traditionen, anders als die lateinische<br />

<strong>Christen</strong>heit, erheblich selektiver. Damit<br />

sollen keineswegs die Übersetzungsleistungen<br />

der Werke großer griechischer<br />

Philosophen z.B. ins Arabische (»Haus<br />

der Weisheit« in Bagdad) geschmälert oder<br />

gar die herausragenden Werke muslimischer<br />

Wissenschaftler in Philologie,<br />

Philosophie, Naturwissenschaften, Medizin,<br />

Astronomie, Architektur, Kunst <strong>und</strong><br />

Literatur gering geschätzt werden. 13 Für<br />

den zeitgenössischen Islam in Europa<br />

bleibt es aber eine Herausforderung, tatsächlich<br />

substantielle <strong>Beiträge</strong> zur Erarbeitung<br />

einer modernen »europäischen<br />

Identität« zu leisten, die wir ja nicht<br />

umstandslos »haben«, sondern die –<br />

historisch wandelbar – stets neu errungen<br />

werden muss. Insofern ist die »europäische<br />

Identität« ein »offenes Projekt«,<br />

allerdings eines, das unverzichtbare Impulse<br />

seiner griechisch-römischen <strong>und</strong><br />

jüdisch-christlichen Traditionen verdankt,<br />

<strong>und</strong> das die Akzeptanz universaler<br />

Menschenrechte, rechtsstaatlicher Demokratie<br />

<strong>und</strong> einer politische Kultur des<br />

Pluralismus voraussetzt. 14 Der Lackmus-<br />

Test für einen islamischen Beitrag zur<br />

»europäischen Identität« ist der geplante<br />

Beitritt der Türkei zur EU.<br />

4. Integration, Assimilation<br />

<strong>und</strong> Parallelgesellschaften<br />

Immer wieder wird zur Beschreibung<br />

unversöhnlicher Alternativen das Begriffspaar<br />

»Integration« <strong>und</strong> »Assimilation«<br />

verwendet. »Integration« wird bejaht,<br />

»Assimilation« emphatisch verworfen.<br />

Selten werden beide Begriffe klar definiert<br />

<strong>und</strong> bleiben somit in einer Grauzone,<br />

die je nach Interessenlage für die poli-<br />

tische Auseinandersetzung genutzt werden.<br />

Offensichtlich verstehen die Imame<br />

»Assimilation« als die Aufforderung an<br />

die Muslime, »bedingungslos Religion,<br />

Kultur <strong>und</strong> sprachliche Vielfalt aufgeben<br />

zu sollen.« Nicht nur im Blick auf den<br />

vorliegenden Text fragt man sich, wer<br />

denn in Europa (abgesehen von ultrakonservativen.<br />

rechtspopulistischen <strong>und</strong><br />

rechtsextremistischen Kräften) ein solches<br />

Ansinnen ernsthaft an Muslime<br />

richtet. Das Gegenteil dürfte der Fall sein.<br />

In allen EU-Staaten müht sich die Politik<br />

um Integration <strong>und</strong> Anerkennung des<br />

Islam, sicherlich teilweise zögerlich <strong>und</strong><br />

mit bescheidenem Erfolg. In der Tat ist,<br />

wie die Imame zu Protokoll geben, »Integration<br />

… keine Einbahnstraße, sondern<br />

… ein beidseitiger Prozess.« Genau hier<br />

liegen aber Differenzen <strong>und</strong> Spannungen,<br />

wenn es darum geht, beidseitige<br />

Integrationsleistungen konkret zu benennen.<br />

Die Forderung der WE, dass sich die<br />

»Mehrheitsgesellschaft« zur »Diversität«<br />

bekennen <strong>und</strong> gegen Rassismus <strong>und</strong> Diskriminierung<br />

Front machen soll, ist mit<br />

der umstrittenen Anti-Diskriminierungsrichtlinie<br />

der EU <strong>und</strong> ihrer Umsetzung in<br />

nationales Recht im Prinzip erfüllt. Jetzt<br />

kommt es darauf an, die Bestimmungen<br />

im Alltag tatsächlich praktisch umzusetzen.<br />

Die in der WE vorgeschlagenen<br />

praktischen »Anreize <strong>und</strong> Möglichkeiten<br />

verbesserter Partizipation« sind teilweise<br />

schon erreicht, teilweise wird darüber<br />

heftig gestritten: erleichterte Einbürgerung,<br />

Familienzusammenführung, Zugang<br />

<strong>zum</strong> Arbeitsmarkt, diversity management,<br />

positive Diskriminierung <strong>und</strong><br />

Quoten, Nostrifzierung (d.h. rechtliche<br />

Anerkennung) ausländischer Bildungsgänge<br />

<strong>und</strong> kommunales Wahlrecht. Vor<br />

allem über die Forderung »positiver Diskriminierung«<br />

<strong>und</strong> Quotenregelung<br />

(wobei nicht klar ist, wie diese aussehen<br />

soll) wird es mit Sicherheit Auseinandersetzungen<br />

geben, weil hier ein Gr<strong>und</strong>problem<br />

einer »Politik der Anerkennung«<br />

(Charles Taylor) in der Spannung <strong>zwischen</strong><br />

staatsbürgerlicher Gleichheit des<br />

Einzelnen <strong>und</strong> Anerkennung kollektiver<br />

(ethnischer, religiöser, kultureller) Iden-<br />

12 EUGEN SORG, Das Land, wo Blut <strong>und</strong> Honig floss. http://www.weltwoche.ch/artikel/?AssetID=11897&CategoryID=73; FRANSCISCO GARCIA FITZ, Auf dem Weg <strong>zum</strong> Djihad.<br />

Die Toleranz im islamischen Spanien ist nur ein multikultureller Mythos. DIE WELT, 1. Juni 2006. SIEGFRIED KOHLHAMMER, Ein angenehmes Märchen. In: Merkur, H.651, Juli 2003,<br />

S.595 ff. Zur Geschichte von Al-Andalus: MARIA ROSA MENOCAL, Die Palme im Westen. Muslime, Juden <strong>und</strong> <strong>Christen</strong> im alten Andalusien. Berlin, 2003. RICHARD FLETCHER, Moorish<br />

Spain. Berkeley, 1992.<br />

13 CHRISTIAN MEIER, Die griechisch-römische Tradition. In: HANS JOAS/KLAUS WIEGANDT (Hrsg.) Die kulturellen Werte Europas. Frankfurt/Main, 2005. S. 95 f. Zur wissenschaftlichen<br />

Leistung des Islam im Mittelalter vgl. MONTGOMERY WATT, WOLF-GÜNTER LERCH, Philosophen<br />

14 Vgl. ebda. <strong>und</strong> WOLFGANG HUBER, Die jüdisch-christliche Tradition. In: JOAS, Kulturelle Werte, S. 69 ff.; Vgl. ferner zur Konstruktion europäischer Identität THOMAS MEYER, Die<br />

Identität Europas. Frankfurt/Main, 2004.<br />

Kandel, Die »Wiener Erklärung« der Konferenz der Imame <strong>und</strong> SeelsorgerInnen CIBEDO-<strong>Beiträge</strong> 2/2006


titäten berührt wird. Es kann gewiss kein<br />

EU-weites Patentrezept geben. Politiken<br />

des Multikulturalismus stehen gegenwärtig<br />

nicht zu Unrecht in der Kritik, weil<br />

die Gefahr besteht, dass die »positive Diskriminierung«<br />

partikularer Minoritäten<br />

den Gr<strong>und</strong>satz staatsbürgerlicher Gleichheit<br />

<strong>und</strong> staatlicher Neutralität gegenüber<br />

Religionen, Kulturen <strong>und</strong> Weltanschauungen<br />

aushebeln kann. 15 Die Entwicklung<br />

in Großbritannien sollte uns<br />

hierzulande ein warnendes Beispiel sein. 16<br />

Zu Recht mahnen die Imame an, dass<br />

bei der »Definition <strong>und</strong> Verwendung des<br />

Begriffs ‚Parallelgesellschaft’ … mehr Sorgfalt<br />

gehegt« werde. In der Tat ist der<br />

Begriff »Parallelgesellschaft« im politischen<br />

Diskurs streckenweise zu einem<br />

Kampfbegriff verkommen. Gelegentlich<br />

gewinnt man den Eindruck, dass bereits<br />

eine gewisse sozialräumliche Konzentration<br />

von <strong>Muslimen</strong> <strong>und</strong> die häufig damit<br />

einhergehende Ausbildung einer eigenen<br />

Infrastruktur im Blick auf wirtschaftliche<br />

<strong>und</strong> soziale Dienstleistungen, Medienkonsum,<br />

Kultur- <strong>und</strong> Freizeiteinrichtungen<br />

zu einer demokratiegefährdenden<br />

Segregation hochstilisiert wird, ohne dass<br />

<strong>zwischen</strong> ethnischen Kolonien, »Ghettos«<br />

<strong>und</strong> Parallelgesellschaften unterschieden<br />

wird. Die Imame merken an:<br />

»Die berechtigte Pflege von Kultur <strong>und</strong><br />

Religion innerhalb eines geschützten Raumes<br />

soll nicht bereits unter den Generalverdacht<br />

von bewusster Abkapselung gestellt<br />

werden. Die Querverbindungen, Vernetzungen<br />

<strong>und</strong> der Dialog nach draußen zeigen,<br />

dass es hier nicht um eigene Abschottung,<br />

sondern um ‚community’-Bildung<br />

geht, deren Ziele etwa in der Wahrnehmung<br />

sozialer Aufgaben der Gesellschaft<br />

zugute kommen können.« Sicherlich ist die<br />

»berechtigte Pflege von Kultur <strong>und</strong> Reli-<br />

CIBEDO-<strong>Beiträge</strong> 2/2006<br />

gion« ein demokratisches Recht von Individuen<br />

<strong>und</strong> Kollektiven <strong>und</strong> hat durch<br />

die Bestrebungen der UNESCO, das<br />

Recht auf »kulturelle Vielfalt« als Menschenrecht<br />

zu definieren, besondere Förderung<br />

erfahren. 17 Das Problem liegt darin,<br />

was unter »kultureller Vielfalt« verstanden<br />

<strong>und</strong> in welchem Umfang sie<br />

geschützt werden soll. Wie soll ferner der<br />

geforderte »geschützte Raum« aussehen?<br />

Der Kopftuchstreit in Deutschland hat<br />

z.B. sehr deutlich gemacht, dass die<br />

Gefahr besteht, unter Verweis auf den<br />

Schutz »kultureller Vielfalt« nur eine<br />

bestimmte Interpretation islamischer<br />

Bekleidungsvorschriften zu schützen.<br />

Der Staat hat hier faktisch einen »Orthodoxieschutz«<br />

übernommen, grenzt die<br />

Vertreter anderer Interpretationen aus<br />

<strong>und</strong> ermutigt jene, die ihre ultrakonservative<br />

Lesart des Koran zur allein Wahren<br />

erheben <strong>und</strong> in Anspruch nehmen für<br />

alle Muslime zu sprechen. 18<br />

Ferner sollte geklärt werden, was unter<br />

»Parallelgesellschaften« tatsächlich verstanden<br />

werden soll. Es gibt zunächst eine<br />

große Diskrepanz <strong>zwischen</strong> einer »gefühlten«<br />

Parallelgesellschaft (»die schotten sich<br />

ab«, »die Mehrheitsgesellschaft will uns<br />

nicht«) <strong>und</strong> den tatsächlichen objektiven<br />

Bef<strong>und</strong>en. Über »Parallelgesellschaften«<br />

wird intensiver seit Ende der neunziger<br />

Jahre im Diskurs über die »multikulturelle<br />

Gesellschaft« diskutiert. Der globale<br />

Terrorismus, vor allem aber der Mord an<br />

Theo van Gogh (November 2004) <strong>und</strong><br />

die Terroranschläge in London (7. Juli<br />

2005), die von jungen <strong>Muslimen</strong> der<br />

zweiten, bzw. dritten Generation von<br />

Einwanderern begangen wurden, die in<br />

den Niederlanden, bzw. Großbritannien<br />

aufwuchsen, haben die Diskussion über<br />

die Entwicklung kulturell abgeschotteter<br />

Gegenwelten <strong>und</strong> »Parallelgesellschaften«<br />

überall in Europa kräftig angeheizt. Doch<br />

was sind eigentlich »Parallelgesellschaften»?<br />

»Parallelgesellschaften« sind soziale<br />

Räume, in denen die Kommunikation<br />

<strong>zwischen</strong> »Mehrheitsgesellschaft« <strong>und</strong><br />

relativ homogenen sozialen Kollektiven<br />

(ethnisch, kulturell <strong>und</strong> oder religiös definiert)<br />

gestört oder gar schon abgebrochen<br />

ist. In »Parallelgesellschaften« werden<br />

gezielt Gegeninstitutionen in Wirtschaft,<br />

Arbeitsmarkt, Bildung <strong>und</strong> Freizeit aufgebaut.<br />

Soziale Kontrolle, ausgeübt von<br />

dominanten Führungspersönlichkeiten<br />

innerhalb der ethnischen, religiösen <strong>und</strong><br />

kulturellen Gruppen, verdichtet sich zu<br />

psychischem <strong>und</strong> physischem Zwang<br />

gegenüber einzelnen »Abweichlern« <strong>und</strong><br />

Gruppen. In Parallelgesellschaften gelten<br />

die individuellen Menschenrechte praktisch<br />

nicht mehr, weil die dominanten<br />

Gruppen <strong>und</strong> ihre Eliten verhindern, dass<br />

die Menschen sie in Anspruch nehmen.<br />

Vollständige Parallelgesellschaften sind<br />

dann erreicht, wenn sie auch noch eine<br />

eigene Rechtsordnung ausbilden. Insofern<br />

widersprechen »Parallelgesellschaften«<br />

gr<strong>und</strong>sätzlich dem Leitbild einer<br />

demokratischen Zivilgesellschaft <strong>und</strong><br />

bedrohen die individuellen Menschenrechte,<br />

den gesellschaftlichen Zusammenhalt<br />

sowie die Integration. Nach dieser<br />

Definition sehe ich für Deutschland<br />

<strong>und</strong> Österreich zwar noch keine voll ausgebildeten<br />

Parallelgesellschaften, aber<br />

Ansätze in einzelnen urbanen Regionen.<br />

19<br />

Die Imame fordern die weitere »Institutionalisierung«<br />

des Islam, d.h. die Schaffung<br />

eigener Einrichtungen, <strong>und</strong> sie warnen<br />

davor, solche als »antiintegratives<br />

Gegenmodell« mit einer »Vorverurteilung«<br />

zu belegen. Die Warnung ist sicher<br />

15 Es gibt im wissenschaftlich-politischen Diskurs erhebliche Meinungsverschiedenheiten darüber, was Minderheitenrechte sind <strong>und</strong> welche gesellschaftlichen Folgen es hat, wenn der Staat<br />

ethnische, kulturelle <strong>und</strong> religiöse Rechte von Minoritäten anerkennt. JAKOB T. LEVY, The Multiculturalism of Fear. Oxford, 2000. S. 127 ff. entwickelt ein nützliches Kategorienschema<br />

kultureller Rechte (»cultural rights-claims«). Ferner: CLAUS OFFE. »Homogenität« im demokratischen Verfassungsstaat – Sind politische Gruppenrechte eine adäquate Antwort auf Identitätskonflikte?<br />

In: Peripherie – Demokratie <strong>und</strong> Minderheitenrechte, Nr. 64, 1996. UNNI WIKAN, Generous Betrayal. Politics of Culture in the New Europe. Chicago/London, 2002. Siehe auch<br />

die Debatte zu »affirmative action« in den USA. Profiliertester Kritiker einer Politik des Multikulturalismus ist der britische Philosoph BRIAN BARRY, Culture and Equality. Cambridge, 2002.<br />

16 Siehe zu Großbritannien v.a. MELANIE PHILLIPS, Londonistan. How Britain Is Creating A Terror State Within. London, 2006.<br />

17 Universal Declaration on Cultural Diversity vom 2. November 2001. Die Erklärung sieht aber sehr klar die Spannung <strong>zwischen</strong> der Berufung auf das Recht auf »kulturelle Differenz« <strong>und</strong><br />

konkurrierende individuelle Menschenrechte: »No one may invoke cultural diversity to infringe upon human rights guaranteed by international law, nor limit their scope.« (Article 4).<br />

18 Monika Wohlrab-Sahr, in der wissenschaftlichen community durch eine Arbeit über Konvertiten bekannt geworden, kommentiert genau diese Problematik sehr korrekt <strong>und</strong> beschreibt die<br />

gesellschaftlichen Wirkungen von Gerichtsurteilen: »Eine problematische Folge der Gerichtsurteile <strong>zum</strong> Islam – sei es <strong>zum</strong> Kopftuch oder <strong>zum</strong> Schächten ohne Betäubung – allerdings ist,<br />

dass sie – auch im öffentlichen Bewusstsein – zwangsläufig eine traditionalistische Form des Islam festschreiben, die aus dem Koran oder der muslimischen Tradition eine bestimmte, historisch<br />

invariante Konsequenz literalistisch ableitet. Der Verfassungsrechtler Dieter Grimm hat in diesem Zusammenhang von der Gefahr des Orthodoxieschutzes gesprochen. In Ermangelung<br />

objektiver Kriterien dafür, was zu einer Religion gehört <strong>und</strong> was nicht, sind die Richter auf die überzeugenden Selbstbeschreibungen derjenigen verwiesen, die ihr Verhalten mit dem<br />

Anspruch rechtfertigen, es sei von ihrer Religion zwingend vorgeschrieben.« MONIKA WOHLRAB-SAHR, So sichtbar unsichtbar. In: Freitag, 24. Oktober 2003. Monika Wohlrab-Sahr ist<br />

Professorin für Religionssoziologie an der Universität Leipzig. Sie veröffentlichte u.a. das Buch: Konversion <strong>zum</strong> Islam in Deutschland <strong>und</strong> den USA, Frankfurt a. M., Campus, 1999.<br />

19 Eine wirklich substantielle Definition von »Parallelgesellschaften« versucht THOMAS NEYER, Identitätspolitik. Vom Missbrauch kultureller Unterschiede. Frankfurt/Main, 2002, S. 208ff.<br />

Siehe das Themenheft der B<strong>und</strong>eszentrale für Politische Bildung: Aus Politik <strong>und</strong> Zeitgeschichte, 1-2/2006, 2. Januar 2006 zu »Parallelgesellschaften«. Ansätze für Parallelgesellschaften<br />

werden in zwei Berliner Regionalstudien festgestellt, der so genannten »Mitte« <strong>und</strong> »Kreuzberg-Friedrichshain« Studie des Zentrums für Demokratische Kultur. Zentrum Demokratische Kultur<br />

(Hrsg.), Aspekte der Demokratiegefährdung im Berliner Bezirk Mitte <strong>und</strong> Möglichkeiten der demokratischen Intervention, Berlin, 2004.<br />

Kandel, Die »Wiener Erklärung« der Konferenz der Imame <strong>und</strong> SeelsorgerInnen<br />

23


24<br />

berechtigt, denn fortschreitende Institutionalisierung<br />

sollte nicht von vornherein<br />

als Versuch der Schaffung parallelgesellschaftlicher<br />

Strukturen verdächtigt werden.<br />

Sie kann einen integrativen Effekt<br />

haben. Gleichwohl ist auch die kritische<br />

Nachfrae am Platze, wie offen <strong>und</strong> kommunikativ<br />

denn die bestehenden Einrichtungen<br />

tatsächlich sind, <strong>und</strong> ob sie nicht<br />

Ausgangsbasen für Abschottung <strong>und</strong><br />

Schaffung parallelgesellschaftlicher<br />

Strukturen werden können. Hier gibt es<br />

durchaus Gr<strong>und</strong> zur Sorge. Es muss Imamen<br />

zu denken geben, wenn das Misstrauen<br />

der »Mehrheitsgesellschaft« sich<br />

immer wieder auf Moscheeaktivitäten<br />

(z.B. Koranschulen) richtet. Nicht-Muslime<br />

wollen wissen, welcher Islam dort<br />

gelehrt <strong>und</strong> nach welchen pädagogischen<br />

Standards unterrichtet wird. Es ist zu fragen,<br />

wie offen <strong>und</strong> dialogfähig Moscheevereine<br />

sind, welche vertrauensbildenden<br />

Aktivitäten sie entfalten, um ihre nichtmuslimische<br />

Umgebung an ihrem Leben<br />

teilhaben zu lassen. Moscheen sind ja<br />

nicht nur Orte des Gebets, sondern haben<br />

soziale Funktionen, sie sind Orte der<br />

Kommunikation, Beratung, Bildung <strong>und</strong><br />

auch des Geschäfts. Hier finden wir muslimisches<br />

Alltagsleben. Ein »Tag der Offenen<br />

Moschee« reicht nicht, um Misstrauen<br />

zu zerstreuen, <strong>zum</strong>al wenn, wie in<br />

Deutschland, jedes Jahr neu, auf Büchertischen<br />

<strong>und</strong> in Bibliotheken von bestimmten<br />

Moscheen anti-demokratisches,<br />

islamistisches <strong>und</strong> anti-semitisches<br />

Schrifttum sowie anti-semitische audiovisuelle<br />

Medien auftauchen. Jüngstes <strong>und</strong><br />

krasses Beispiel ist die in Deutschland<br />

vom türkischen Okusan-Verlag auf DVD<br />

verkaufte antisemitische TV-Hetzserie<br />

»Zehras Augen«. 20<br />

Die Imame sehen das Problem wohl,<br />

sie fordern eine »offene Haltung« von<br />

Moscheen »nach draußen«. Es wird sich<br />

zeigen, mit welchen konkreten Aktionen<br />

eine solche Offenheit erreicht werden<br />

soll. Dass in diesem Zusammenhang nun<br />

ausgerechnet als leuchtendes Beispiel das<br />

englische Bradford genannt wird, ist<br />

befremdlich. Gerade Bradford ist überaus<br />

umstritten, denn hier sind, trotz der vielen<br />

gut gemeinten Bildungs- <strong>und</strong> Sozial-<br />

Projekte, ethnische Segregation <strong>und</strong> die<br />

Ausbildung islamischer Gegenwelten<br />

weit fortgeschritten. Es zeigt sich also das<br />

genaue Gegenteil einer offenen Haltung.<br />

Hier wurde in den frühen achtziger Jahren<br />

ein Schulleiter mit dem Vorwurf,<br />

»Rassist« zu sein, aus dem Amt gejagt,<br />

weil er es gewagt hatte, auf der Integration<br />

von Kindern asiatischer Herkunft zu<br />

bestehen <strong>und</strong> Englisch als erste Sprache<br />

in seiner Schule lehren wollte, hier brannten<br />

1989, angefeuert vom »Bradford Muslim<br />

Council« die »Satanischen Verse« Salman<br />

Rushdies, hier entzündeten sich<br />

(zuletzt 2001) heftige gewalttätige Auseinandersetzungen<br />

<strong>zwischen</strong> Einheimischen<br />

<strong>und</strong> Jugendlichen mit Migrationshintergr<strong>und</strong>.<br />

Und hier finden islamistische<br />

Gruppen Zulauf <strong>und</strong> festigen ihren<br />

Einfluss in der muslimischen community.<br />

Gerade für Bradford gilt, was der<br />

»Community Cohesion Report« des britischen<br />

Innenministeriums als bedenkliche<br />

Entwicklung von Parallelgesellschaften<br />

beklagte: »Separate educational arrangements,<br />

community and voluntary bodies,<br />

employment, places of worship, language,<br />

social and cultural networks, means that<br />

many communities operate on the basis of a<br />

series of parallel lives. These lives often do<br />

not seem to touch at any point, let alone<br />

overlap and promote meaningful interchanges.«<br />

21<br />

5 Presse- <strong>und</strong> Meinungsfreiheit<br />

versus Religionsfreiheit?<br />

Ganz offenk<strong>und</strong>ig bemühte sich die<br />

Imam-Konferenz, den im Frühsommer<br />

2006 langsam abebbenden sogenannten<br />

»Karikaturenstreit« nicht <strong>zum</strong> Zankapfel<br />

<strong>und</strong> Streitpunkt der Konferenz werden zu<br />

lassen. Versöhnliche Töne sind angesagt:<br />

Presse- <strong>und</strong> Meinungsfreiheit werden als<br />

»unverzichtbares <strong>und</strong> allgemeines Gut«<br />

bezeichnet. Sie stehe nicht im Widerspruch<br />

zur Religionsfreiheit. Es habe sich<br />

in Europa »ein gewisser gesellschaftlicher<br />

Konsens gebildet, wo Bereiche liegen, die<br />

eines besonderen Feingefühls bedürfen.« Es<br />

wird dankbar registriert, dass es Gesetze<br />

gebe, welche die religiösen Gefühle der<br />

Gläubigen schützten, gleichzeitig wird<br />

kritisch angemerkt, dass »sich im Umgang<br />

mit dem Islam ein solcher Konsens erst noch<br />

bilden muss.« Im Klartext heißt das: der<br />

20 Hessischer R<strong>und</strong>funk Fernsehen, Sendung Defacto 7. Mai 2006.<br />

21 Community Cohesion. A Report of the Independent Review Team. Chaired by Ted Cantle. London, 2001. S. 9.<br />

Schutz der »religiösen Gefühle« geht in<br />

Europa noch nicht weit genug! Hier wäre<br />

es interessant gewesen zu erfahren, welche<br />

zusätzlichen Schutzmaßnahmen die Imame<br />

von den europäischen Staaten erwarten.<br />

Dies ist eine hochbrisante Angelegenheit,<br />

weil die Gefahr besteht, dass unter<br />

dem Rubrum »Verletzung religiöser Gefühle«<br />

immer stärker legitime Kritik an islamischer<br />

Theologie <strong>und</strong> Religionspraxis in<br />

die Verbotszone gedrängt werden soll. Die<br />

Diskussion <strong>zum</strong> Thema »Islamophobie«wie<br />

sie in<strong>zwischen</strong> auf internationaler<br />

Ebene geführt wird, lässt immer<br />

gefährlichere Tendenzen von Selbstzensur<br />

als Folge z.T. bewusst inszenierter muslimischer<br />

»Empörung« nach vermeintlichen<br />

»Beleidigungen des Islam« (siehe<br />

Papstrede in Regensburg vom 12. September)<br />

erkennen.<br />

6. Bildung<br />

Die Ausführungen der Konferenz über<br />

Bildung sind überaus erfreulich. Die Forderungen<br />

von »lebenslänglichem Lernen«,<br />

Zugang zu Bildung unabhängig von der<br />

sozialen Schicht, größere Durchlässigkeit<br />

des Bildungswesen, Chancengleichheit,<br />

frühen Spracherwerb der jeweiligen Landessprache,<br />

Lernbegleitung <strong>und</strong> Lernberatung<br />

sind sicherlich in weiten Teilen<br />

von Politik <strong>und</strong> »Mehrheitsgesellschaften«<br />

Europas Konsens. Auch die positive<br />

integrative Rolle des Kindergartens, des<br />

Religionsunterrichts (im Rahmen des<br />

Regelunterrichts) <strong>und</strong> die vielfältigen Angebote<br />

der Erwachsenenbildung sind<br />

weitgehend unstrittig. Über die Konstruktion<br />

des Religionsunterrichts, der in<br />

Europa höchst differenziert organisiert<br />

ist, wird sicherlich weiter verhandelt werden<br />

müssen. Das »österreichische Modell«<br />

taugt auch hier nicht als schlicht zu<br />

übertragende Konzeption, sondern es<br />

sind die nationalen Traditionen <strong>und</strong> die<br />

sehr verschiedenen Zusammensetzungen<br />

der muslimischen Populationen zu<br />

berücksichtigen. In Deutschland geht die<br />

Debatte darüber nach dem Auftakt in der<br />

»Deutschen Islamkonferenz« in eine neue<br />

<strong>Gespräch</strong>sr<strong>und</strong>e, allerdings ist die Funktion<br />

des B<strong>und</strong>es auf die Rolle des Moderators<br />

<strong>und</strong> ggf. Ideenlieferanten beschränkt,<br />

denn über den Unterricht wird<br />

Kandel, Die »Wiener Erklärung« der Konferenz der Imame <strong>und</strong> SeelsorgerInnen CIBEDO-<strong>Beiträge</strong> 2/2006


in den B<strong>und</strong>esländern entschieden. Zur<br />

Zeit gibt es in keinem B<strong>und</strong>esland ordentlichen<br />

»bekenntnisgeb<strong>und</strong>enen« islamischen<br />

Religionsunterricht nach Art. 7,<br />

Absatz 3 GG, sondern nur »Platzhalter«-<br />

Modelle in NRW, Niedersachsen, Baden-<br />

Württemberg <strong>und</strong> Bayern. 22<br />

Sehr zu unterstützen ist die Forderung<br />

der Imame, dass sich die »Qualität« des<br />

Religionsunterrichts auch in der »Entwicklung<br />

der Koranschulen in den Gemeinden<br />

mit ihrem zusätzlichen Angebot vor<br />

allem auf dem Gebiet der Koranrezitation<br />

<strong>und</strong> der Pflege der Muttersprache positiv<br />

niederschlagen« solle, vor allem im Blick<br />

auf didaktisch geeignete Lehrmaterialien,<br />

Liedtexte, Bücher etc. Es ist sehr zu wünschen,<br />

dass die in Europa im Religionsunterricht<br />

erreichten religionspädagogischen<br />

Standards tatsächlich Eingang in<br />

die Koranschulen-Unterweisung finden.<br />

23 Noch ist davon wenig zu merken.<br />

7. Politik- <strong>und</strong> Staatsverständnis<br />

Ausführlich widmen sich die Imame<br />

dem islamischen Staats- <strong>und</strong> Politikverständnis,<br />

weil sie in dem Vorwurf an die<br />

Muslime, diese hätten »den Gedanken der<br />

Trennung von Macht- <strong>und</strong> Aufgabenbereichen<br />

<strong>zwischen</strong> politischer <strong>und</strong> geistlicher<br />

Führung nicht vollzogen« eine »Wurzel von<br />

großen Missverständnissen« erblicken. Das<br />

Thema anzusprechen, ist sehr löblich,<br />

denn in der Tat fokussiert sich die nichtmuslimische<br />

Kritik immer wieder auf das<br />

Verhältnis von säkularem Staat <strong>und</strong> Religion,<br />

das in allen europäischen Demokratien<br />

im verfassungsrechtlich verankerten<br />

Gr<strong>und</strong>satz der Trennung von Staat <strong>und</strong><br />

Kirche Ausdruck gef<strong>und</strong>en hat, gleichgültig<br />

wie dies im einzelnen geregelt ist.<br />

Nach Auffassung der Imame sollte die<br />

nicht-muslimische Seite im Blick auf das<br />

Verhältnis von Staat <strong>und</strong> Religion die<br />

»Entwicklung der islamischen Länder«<br />

berücksichtigen, weil dies die »von vielen<br />

CIBEDO-<strong>Beiträge</strong> 2/2006<br />

<strong>Muslimen</strong> vielfach als überheblich empf<strong>und</strong>ene<br />

eigenzentrierte Sichtweisen positiv<br />

erweitern <strong>und</strong> die prinzipielle Vergleichbarkeit<br />

historischer Abläufe hinterfragen,<br />

die jetzt unter dem Stichwort ‚mangelnde<br />

Aufklärung’ im europäischen Diskurs <strong>zum</strong><br />

Allgemeinplatz wurde.« Denn »de facto<br />

war die politische Führung über weiteste<br />

Strecken der islamischen Geschichte autonom<br />

<strong>und</strong> gestaltete sich nicht in Personalunion<br />

mit den religiösen Würdenträgern.«<br />

Umgekehrt sollte den <strong>Muslimen</strong> ein »besseres<br />

Verständnis der europäischen<br />

Geschichte … gewisse Befindlichkeiten« seitens<br />

der Nicht-Muslime verklären <strong>und</strong><br />

»das gegenseitige Verständnis vertiefen«.<br />

Aus diesen gew<strong>und</strong>enen <strong>und</strong> blumig formulierten<br />

Sätzen gewinnt der Beobachter<br />

folgende Erkenntnisse:<br />

● Erstens: Das westliche Politik- <strong>und</strong><br />

Staatsverständnis wird von <strong>Muslimen</strong><br />

vielfach als überheblich empf<strong>und</strong>en.<br />

● Zweitens: Historische Abläufe im Westen<br />

<strong>und</strong> im Orient sind bezüglich ihrer<br />

Vergleichbarkeit zu hinterfragen.<br />

● Drittens: Die Kritik an »mangelnder<br />

Aufklärung« im Islam wird als degoutant<br />

empf<strong>und</strong>en.<br />

● Viertens: Das europäische Staatsverständnis,<br />

wie es sich in der Geschichte<br />

entwickelt hat, wird in erster Linie auf<br />

der Ebene von »Befindlichkeiten« betrachtet,<br />

nach der Melodie: »So sind sie<br />

nun mal die Europäer mit ihrer Aufklärungsgeschichte«.<br />

● Fünftens: Die Trennung von Staat <strong>und</strong><br />

Religion ist in der islamischen Geschichte<br />

weitestgehend »de facto« umgesetzt<br />

worden.<br />

Das Ganze ist im Geist der Distanz<br />

<strong>und</strong> einer milde apologetischen Argumentation<br />

gehalten, ohne dass – bis auf<br />

die bloße Behauptung, »de facto« seien<br />

Staat <strong>und</strong> Religion ȟber weiteste Strecken<br />

der islamischen Geschichte autonom« gewesen<br />

– der Versuch gemacht wird, für den<br />

europäischen Kontext eine islamische<br />

Begründung für die behauptete Vereinbarkeit<br />

von Islam <strong>und</strong> rechtsstaatlicher<br />

Demokratie zu geben. Damit hier kein<br />

Missverständnis aufkommt: Der demokratische<br />

Rechtsstaat kann von Religionen<br />

nur die unbedingte Einhaltung der<br />

Rechtsordnung (»Rechtstreue«) verlangen,<br />

aber keine theologische Begründung<br />

<strong>und</strong> Legitimation von Demokratie. Das<br />

stellt sich im zivilgesellschaftlichen Diskurs<br />

f<strong>und</strong>amental anders dar. Gerade im<br />

Dialog sollte an dieser Stelle nachgefragt<br />

werden. Es müssen Begründungen erwartet,<br />

ja gefordert werden. Denn es ist nicht<br />

gerade vertrauensbildend, wenn die muslimische<br />

Seite gelegentlich den Eindruck<br />

erweckt, dass sie eigentlich einem islamischen<br />

Staatsideal à la Medina bei Vollgeltung<br />

der Scharia folgt <strong>und</strong> die rechtsstaatliche<br />

Demokratie nur als gerade noch zu<br />

ertragenes (weil Religionsfreiheit gewährendes!)<br />

Provisorium gelten lässt. Die<br />

eigentlich substantielle staatstheoretische<br />

Debatte steht noch aus. Es gibt bis heute<br />

keine konsistente »islamische Staatstheorie«<br />

mit der Präferenz für eine bestimmte<br />

Regierungsform. Staat <strong>und</strong> Religion wurden<br />

»de facto« über weite Strecken in islamischen<br />

Gemeinwesen unterschieden, sie<br />

waren aber wohl kaum »autonom«, wie es<br />

in der WE heißt. 24 Es wäre näher zu<br />

bestimmen, wie sich das Spannungsfeld<br />

von religiöser Autorität (die Rolle der<br />

»ulema«) <strong>und</strong> weltlicher Herrschaft (Kalifat)<br />

in der islamischen Geschichte entwickelte<br />

<strong>und</strong> welche Erkenntnisse sich<br />

daraus ggf. für eine moderne islamische<br />

Begründung von rechtsstaatlicher Demokratie<br />

gewinnen lassen. 25<br />

Die eigentümliche Heftigkeit, mit der<br />

die Imame die »wiederholt laut gewordene<br />

Forderung« nach »Abschaffung der Scharia«<br />

zurückweisen (»Vorurteile, Scheinwissen,<br />

unqualifizierte Äußerungen«) <strong>und</strong> als<br />

Versuch interpretieren, die »Abschaffung<br />

des Islam« zu betreiben, zeigt, dass hier ein<br />

empfindlicher Nerv berührt wird. Es liegt<br />

an den <strong>Muslimen</strong> selbst deutlich zu<br />

sagen, was sie unter Scharia verstehen<br />

<strong>und</strong> welche Bedeutung die Scharia auch<br />

für das Leben von <strong>Muslimen</strong> in nichtmuslimischer<br />

Umgebung haben soll.<br />

Weil dieser Punkt so heikel <strong>und</strong> gewiss<br />

auch mit Vorurteilen <strong>und</strong> Scheinwissen<br />

22 Vgl. <strong>zum</strong> aktuellen Stand des Islamunterrichts: STEFAN REICHMUTH/MARK BODENSTEIN/MICHAEL KIEFER/BIRGIT VÄTH (Hg.), Staatlicher Islamunterricht in Deutschland. Berlin, 2006.<br />

23 Vgl. IRKA-CHRISTIN MOHR, Islamischer Religionsunterricht in Europa. Bielefeld, 2005.<br />

24 Siehe vor allem PATRICIA CRONE, God’s rule. Government and Islam. New York, 2004. TILMAN NAGEL, Staat <strong>und</strong> Glaubensgemeinschaft im Islam. Geschichte der politischen Ordnungsvorstellungen<br />

der Muslime. 2 Bde. Zürich/München, 1981. Ausgezeichnete knappe Problematisierung bei GUDRUN KRÄMER, »Der Islam ist Religion <strong>und</strong> Staat«: Zum Verhältnis<br />

von Religion, Recht <strong>und</strong> Politik im Islam. In: F<strong>und</strong>amentalismus, Terrorismus, Krieg. Hrsgg. von WOLFGANG SCHLUCHTER. Weilerswist, 2003, S. 52 ff. Vgl. auch GUDRUN KRÄMER,<br />

Gottes Staat als Republik, Reflexionen zeitgenössischer Muslime zu Islam, Menschenrechten <strong>und</strong> Demokratie. Baden-Baden, 1999, S. 49 ff. BASSAM TIBI, Der wahre Imam. Der Islam von<br />

Mohammed bis zur Gegenwart. München, 1998.<br />

25 Sehr anregend ANGELIKA HARTMANN; Kalifat <strong>und</strong> Herrschaft im Islam. In: Geschichte <strong>und</strong> Erinnerung im Islam. Hrsgg. Von ANGELIKA HARTMANN. Göttingen, 2004. S. 223 ff.<br />

Kandel, Die »Wiener Erklärung« der Konferenz der Imame <strong>und</strong> SeelsorgerInnen<br />

25


26<br />

behaftet ist, muss unbedingt Klarheit<br />

geschaffen werden. Leider bleibt die WE<br />

hier sehr ungenau <strong>und</strong> ausweichend, um<br />

es vorsichtig zu sagen. Wieso ist der<br />

Begriff Scharia als Strafrecht »völlig falsch<br />

interpretiert«? Und keineswegs regelt die<br />

Scharia, wie uns die WE Glauben<br />

machen will, nur »die Glaubenspraxis auf<br />

Gr<strong>und</strong>lage der Quellen«!<br />

Scharia ist in einem weiten Sinn ein<br />

System von Normen <strong>und</strong> Regeln sowie<br />

ein Verfahren zur Gewinnung von Normen,<br />

das sich von Koran <strong>und</strong> Sunna ableitet,<br />

wobei religiöse <strong>und</strong> rechtliche Vorschriften<br />

zusammen die Scharia bilden. 26<br />

Gemeinhin wird <strong>zwischen</strong> zwei Dimensionen<br />

von Scharia unterschieden: »ibadat«,<br />

das sind Regeln <strong>zum</strong> religiösen<br />

Ritus, Pflichtgebet etc. (also das, was die<br />

WE unter »Glaubenspraxis« versteht) <strong>und</strong><br />

»mu’amalat«, das erfasst Materien<br />

<strong>zwischen</strong>menschlicher Beziehungen, z.B.<br />

Erb-, Ehe-, Familienrecht <strong>und</strong> eben auch<br />

das Strafrecht mit den menschenrechtlich<br />

völlig inakzeptablen »hadd«-Strafen<br />

(Grenzvergehen) für Ehebruch <strong>und</strong> Unzucht,<br />

Verleumdung wegen Unzucht,<br />

Diebstahl, Straßen- <strong>und</strong> Raubmord<br />

sowie Alkoholgenuss. 27<br />

Warum lässt die WE in dieser Frage<br />

die um Aufklärung ringenden Nicht-<br />

Muslime <strong>und</strong> Muslime erneut im Dunkeln?<br />

Solange die Scharia-Frage nicht<br />

offen diskutiert <strong>und</strong> geklärt wird, helfen<br />

hehre offizielle muslimische Erklärungen<br />

über die »Vereinbarkeit einer demokratischen<br />

Ordnung mit dem Islam« wenig, um<br />

Misstrauen abzubauen <strong>und</strong> dem Verdacht<br />

vorzubeugen, es gäbe muslimische<br />

Kräfte, die die Einführung »der« Scharia<br />

im Vollsinne auch im demokratischen<br />

Europa befürworteten.<br />

Interessant ist auch der nach der<br />

Behauptung der Vereinbarkeit von Islam<br />

<strong>und</strong> Demokratie folgende Satz: »Die<br />

Identifikation mit dem Staat ist dann<br />

naturgemäß besonders hoch, wenn eine<br />

größtmögliche Deckungsgleichheit mit persönlichen<br />

Wertvorstellungen damit einhergeht.«<br />

Das ist eine durchaus legitime Forderung<br />

<strong>und</strong> man kann sie als Angebot<br />

gegenüber dem Staat lesen, wachsende<br />

Loyalität gegen immer stärkere Berücksichtigung<br />

der »persönlichen Wertvorstellungen«<br />

in Aussicht zu stellen. Was<br />

geschieht aber, wenn sich diese Hoffnungen<br />

nicht erfüllen <strong>und</strong> die »Wertvorstellungen«<br />

von Staat <strong>und</strong> religiöser Minderheit<br />

auseinander gehen? In weltanschaulich<br />

neutralen Staaten wie Österreich <strong>und</strong><br />

Deutschland ist die Berücksichtigung<br />

muslimischer Interessen, z.B. im Blick<br />

auf manche umstrittenen Formen der<br />

Religionspraxis (z.B. das Kopftuch), nur<br />

in einem schwierigen Aushandlungsprozess<br />

divergierender Interessen zu erreichen.<br />

Ein in der WE befürworteter <strong>und</strong><br />

in Österreich praktizierter »institutionalisierter<br />

Dialog« ist hierbei natürlich sehr<br />

hilfreich. Das wünschte man sich für<br />

Deutschland auch. Die »Deutsche Islamkonferenz«,<br />

die am 27. September ihre<br />

Arbeit aufnahm, ist ein wichtiger Schritt<br />

in diese Richtung.<br />

Positiv ist der Aufruf der Imame zu<br />

größerer politischer Partizipation über<br />

die Wahrnehmung des Wahlrechts hinaus<br />

in Elternvertretungen von Schulen,<br />

ArbeitnehmerInnenvertretung <strong>und</strong> der<br />

Parteienlandschaft. Zugleich mahnen die<br />

Imame die Politik, »ihren Part im beidseitigen<br />

Prozess der Integration ernst zu nehmen«<br />

<strong>und</strong> stellen »mit Besorgnis … diskriminierende<br />

Haltungen« fest, die Eingang<br />

in die Politik finden. Erneut ist vom<br />

»Generalverdacht« <strong>und</strong> der »Islamfeindlichkeit«<br />

die Rede. »Sondergesetze« gegen<br />

Muslime dürfe es nicht geben. Worauf<br />

sich diese Warnung konkret bezieht,<br />

bleibt nebulös. Dass »Rassismus Unrecht«<br />

ist <strong>und</strong> »jede Herrschaft, die darauf gründet<br />

illegitim« ist, das ist internationaler<br />

Standard <strong>und</strong> müsste nicht eigens hervorgehoben<br />

werden. Das wird von keinem<br />

Demokraten bestritten. Allerdings<br />

wäre es schon wichtig zu wissen, was die<br />

Imame unter Rassismus verstehen, denn<br />

es gibt durchaus Meinungsverschiedenheiten<br />

darüber. Oft dient der Rassismusverdacht<br />

vordergründiger Abwehr von<br />

legitimer Kritik an bestimmten kulturellen<br />

<strong>und</strong> religiösen Praktiken. Weiter heißt<br />

es: »Antisemitismus <strong>und</strong> Islamfeindlichkeit<br />

sind aufarbeitungsbedürftig.« Das ist eine<br />

merkwürdig zurückhaltende Formulierung<br />

<strong>und</strong> natürlich nicht zu bestreiten.<br />

Wenn damit aber angedeutet werden soll,<br />

dass »Antisemitismus« <strong>und</strong> »Islamfeindlichkeit«<br />

lediglich Spielarten von Rassismus<br />

sind <strong>und</strong> sie sich gleichen, dann<br />

muss widersprochen werden. Es gibt bislang<br />

keinen wissenschaftlichen <strong>und</strong> politischen<br />

Konsens über den Antisemitismusbegriff,<br />

wohl aber eine in Politik <strong>und</strong><br />

Wissenschaft weithin akzeptierte »Working<br />

Definition« von Antisemitismus. 28<br />

Dagegen bleibt »Islamfeindlichkeit« völlig<br />

diffus, wie auch der seit Ende der<br />

neunziger Jahre in den öffentlichen<br />

Diskurs eingeführte Begriff der »Islamophobie«.<br />

29 Hier müsste in der Tat noch<br />

viel »aufgearbeitet« werden. Antisemitismus<br />

als jahrh<strong>und</strong>ertealter Judenhaß,<br />

der sich im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert bis zur fast<br />

vollständigen physischen Vernichtung<br />

des europäischen Judentums steigerte,<br />

kann unmöglich auf die gleiche Bewertungsebene<br />

gehoben werden wie »Islamophobie«.<br />

Nirgendwo, <strong>und</strong> schon gar<br />

nicht in Europa, werden Muslime pauschal<br />

mit physischen Vernichtungsdrohungen<br />

überzogen.<br />

8. Wirtschaft<br />

»Wohlstand soll nicht auf Kosten anderer<br />

erworben werden, sondern mit Verantwortung<br />

verb<strong>und</strong>en sein«, formulieren die<br />

Imame. Eine Wirtschaft ohne ethische<br />

Richtlinien ist für sie nicht vorstellbar.<br />

Die Wirtschaftsordnung soll von den<br />

Gr<strong>und</strong>prinzipien: soziale Gerechtigkeit<br />

<strong>und</strong> nachhaltiges, ökologisches Wirtschaften<br />

bestimmt werden. Das sind sehr<br />

26 MATHIAS ROHE, Islamismus <strong>und</strong> Scharia. In: Integration <strong>und</strong> Islam. Hrsgg. vom B<strong>und</strong>esamt für Migration <strong>und</strong> Flüchtlinge. Nürnberg, 2005. S. 123. Dort weitere aktuelle Literatur.<br />

27 In einigen Rechtsschulen wird auch der Abfall vom Islam (»Apostasie«) zu den »hadd«- Vergehen gezählt. Einige islamische Staaten verfolgen Vergewaltigung <strong>und</strong> Homosexualität als<br />

»hadd«- Vergehen. Treffende Erläuterung des Komplexes bei CHRISTINE SCHIRRMACHER/URSULA SPULER-STEGEMANN, Frauen <strong>und</strong> die Scharia. Die Menschenrechte im Islam.<br />

München, 2004, S. 37 ff.<br />

28 Vgl. die »Working Definition« wie sie der deutsche Diplomat Ulrich Sahm vorgeschlagen hat: »Anti-Semitism is a certain perception of Jews, which may be expressed as hatred toward<br />

Jews.« http://usahm.de/Dokumente/ANTISEMITISM17050.htm<br />

29 Die Diskussion über Islamophobie ist stark von den Kriterien bestimmt worden, die der Runnymede Trust 1997 in seiner Schrift »Islamophobia – A Challenge for all of us« formulierte. Die<br />

Kritik hat m.E. mit Recht deutlich gemacht, dass Islamophobie ein vager, diffuser Begriff ist, der völlig disparate Phänomene vermeintlicher »Islamfeindlichkeit« erfasst <strong>und</strong> allzu häufig als<br />

bloßer Kampfbegriff zur Verhinderung legitimer Kritik an Theologie <strong>und</strong> religiöser Praxis des Islam verwendet wurde. Zur Kritik vgl. v.a. KENAN MALIK, The Islamophobia Myth (February<br />

2005). www.kenanmalik.com/essays/islamophobia_prospect.html<br />

Kandel, Die »Wiener Erklärung« der Konferenz der Imame <strong>und</strong> SeelsorgerInnen CIBEDO-<strong>Beiträge</strong> 2/2006


egrüßenswerte Gr<strong>und</strong>sätze, die auch<br />

von weiten Teilen des politischen Spektrums<br />

<strong>und</strong> der christlichen Religionsgemeinschaften<br />

in Österreich <strong>und</strong> Deutschland<br />

vertreten werden. Die ökonomische<br />

Kritik an einer vermachteten Wirtschaft,<br />

die mitunter ihren Hauptzweck aus den<br />

Augen verliert, nämlich die Menschen<br />

mit Gütern <strong>und</strong> Dienstleistungen zu versorgen,<br />

<strong>und</strong> ausschließlich dem Fetisch<br />

des Renditenzuwachses huldigt, wird<br />

sicher von vielen <strong>Muslimen</strong> <strong>und</strong> Nicht-<br />

<strong>Muslimen</strong> geteilt. Wie das traditionelle<br />

islamische Zinsverbot (»riba«) für Gelddarlehen<br />

in eine globalisierte kapitalistische<br />

Wirtschaft passt, <strong>und</strong> ob die Alternative,<br />

die Erfolgsbeteiligungsfinanzierung,<br />

ähnliche wirtschaftliche Funktionen<br />

übernehmen kann, ist aber höchst strittig.<br />

Das islamische Banking-System wird<br />

auch längst nicht in allen islamischen<br />

Staaten praktiziert <strong>und</strong> selbst in den Staaten,<br />

die eine »islamische Finanzwirtschaft«<br />

praktizieren, gibt es Mischsysteme. Dennoch<br />

sollte die islamische Kritik am Zins,<br />

die auch von den christlichen Kirchen<br />

Jahrh<strong>und</strong>erte lang geübt wurde, <strong>und</strong> die<br />

angebotenen flexiblen Alternativen zu<br />

weiteren Diskussionen über die Rolle der<br />

Geldwirtschaft im Kapitalismus Anlass<br />

sein. 30<br />

9. Frauen<br />

Die »Frauenfrage« gibt immer wieder<br />

Anlass zu heftigen <strong>und</strong> kontroversen<br />

Debatten, nicht nur <strong>zwischen</strong> <strong>Muslimen</strong><br />

<strong>und</strong> Nicht-<strong>Muslimen</strong>, sondern auch<br />

innerhalb der muslimischen communities.<br />

Seit Frauenrechte zu den internationalen<br />

Menschrechtsstandards gehören<br />

<strong>und</strong> in alle Verfassungen moderner demokratischer<br />

Staaten inkorporiert worden<br />

sind, hat sich der Druck auf jene islamischen<br />

Staaten massiv erhöht, in denen mit<br />

Hilfe ultrakonservativer <strong>und</strong> islamistischer<br />

Koran- <strong>und</strong> Traditionsauslegungen<br />

patriarchalisch-tribale Diskriminierungen<br />

CIBEDO-<strong>Beiträge</strong> 2/2006<br />

<strong>und</strong> Unterdrückung von Frauen gestützt<br />

wird. Es ist beklemmend, dass die Dominanz<br />

solcher Interpretationen nur von<br />

wenigen einzelnen progressiven muslimischen<br />

Intellektuellen <strong>und</strong> kleinen mutigen<br />

Frauengruppen bekämpft wird. 31<br />

Haben diese in islamischen Staaten einen<br />

schweren Stand, so ist es umso unverständlicher,<br />

warum Muslime »in der Diaspora«<br />

nicht viel kritischer <strong>und</strong> unverkrampfter<br />

mit diesen Traditionen umgehen,<br />

bietet doch die rechtsstaatliche <strong>und</strong><br />

pluralistische Demokratie glänzende<br />

Gelegenheiten zu offener <strong>und</strong> kritischer<br />

Diskussion, ohne dass die Beteiligten mit<br />

staatlichen Repressionen rechnen müssen.<br />

Die Ausführungen der Imame zur<br />

Frauenfrage schließen sich an die eingangs<br />

genannten, der WE vorangegangenen,<br />

öffentlichen Bek<strong>und</strong>ungen an.<br />

»Mann <strong>und</strong> Frau sind im Islam gleichwertige<br />

Partner« heißt es, »die gegenseitige Verantwortung<br />

tragen <strong>und</strong> gleich an Menschenwürde<br />

sind.« Als »Frauenrechte« werden<br />

bezeichnet: das »Recht auf Lernen<br />

<strong>und</strong> Lehre, das Recht auf Arbeit, finanzielle<br />

Unabhängigkeit, aktives <strong>und</strong> passives<br />

Wahlrecht, Teilhabe im gesellschaftlichen<br />

Diskurs«. Jede »Form von Verletzung von<br />

Frauenrechten« soll »kritisiert <strong>und</strong> bekämpft<br />

werden«. Weiterhin soll den Frauen<br />

»Chancengleichheit <strong>und</strong> mündige <strong>und</strong><br />

freie Orientierung … ermöglicht werden«.<br />

Diese Formulierungen klingen mutig, ja<br />

sogar kämpferisch. Gleichwohl sind einige<br />

äußerst ambivalent <strong>und</strong> verbergen<br />

geschickt eine konservative <strong>und</strong> patriarchalische<br />

Gr<strong>und</strong>haltung: Die Rede von<br />

der »Gleichwertigkeit« <strong>und</strong> gleichen<br />

Menschenwürde bezieht sich ausschließlich<br />

auf das Verhältnis von Mann <strong>und</strong><br />

Frau vor Gott. Von gesellschaftlicher<br />

Gleichberechtigung ist nicht die Rede, deshalb<br />

schließt die WE auch nicht an die in<br />

den internationalen Menschenrechtserklärungen<br />

<strong>und</strong> der österreichischen B<strong>und</strong>esverfassung<br />

(Art. 7) gewählten Formulierungen<br />

an 32 , was der einfachste Weg<br />

gewesen wäre, um allen Missverständnis-<br />

sen vorzubeugen, sondern gesteht den<br />

Frauen nur einige ausgewählte Rechte zu.<br />

Vom Recht auf individuelle Selbstbestimmung<br />

ist z.B. nicht die Rede, etwa vom<br />

Recht der Frau, sich auch einen nichtmuslimischen<br />

Ehepartner auszuwählen<br />

(Art. 16 der Allgemeinen Erklärung der<br />

Menschenrechte).<br />

Die Imame legen großen Wert auf die<br />

Unterscheidung von »Religion an sich«<br />

<strong>und</strong> kulturellen Traditionen. So wichtig<br />

Differenzierungen hier sind <strong>und</strong> so sehr<br />

jede »Verengung auf eine einzige religiöse<br />

Perspektive unzulässig« wäre, so problematisch<br />

ist es auch, wenn mit einer solchen<br />

Argumentation der religiöse Legitimationsanteil<br />

für frauenfeindliche Einstellungen<br />

<strong>und</strong> Diskriminierungen heruntergespielt<br />

werden soll. Islam in der Gegenwart<br />

ist nur zu verstehen, wenn der religiöse<br />

Kern im Kontext von Kulturen <strong>und</strong><br />

Zivilisationen gesehen wird. Es ist korrekt<br />

zu sagen, dass »frauenfeindliche Strukturen<br />

… verschiedene Ausformungen« haben <strong>und</strong><br />

deshalb »religions- <strong>und</strong> kulturübergreifendes<br />

Denken« sich »gemeinsam gegen familiäre<br />

Gewalt <strong>und</strong> strukturelle Benachteiligungen<br />

von Frauen« wenden sollte. Die<br />

Frage, nach den spezifisch religiösen Legitimationen<br />

von Frauenfeindlichkeit,<br />

gleichviel von welcher Religion sie ausgehen,<br />

bleibt aber relevant <strong>und</strong> muss im<br />

»Dialog« diskutiert werden. Die Imame<br />

sehen ja offensichtlich aufklärende »theologische<br />

Argumentationsschienen« <strong>und</strong><br />

möchten diese einbringen. Das könnte<br />

bei der geforderten Analyse des »Ehrbegriffes«<br />

praktisch fruchtbar werden, wenn<br />

tatsächlich einmal gefragt würde, welchen<br />

Anteil koranische <strong>und</strong> in der Tradition<br />

vorfindliche Denkfiguren neben<br />

»lokalen« <strong>und</strong> »kulturbedingten Vorstellungen«<br />

dabei haben.<br />

Die Imame wünschen eine »verstärkte<br />

Partizipation muslimischer Frauen«, um<br />

»Ausgrenzungstendenzen <strong>und</strong> Diskriminierungen«<br />

entgegen zu treten. Das dürfte<br />

Konsens in allen rechtsstaatlichen Demo-<br />

30 Vgl. JOHANNES REISSNER, Die innerislamische Diskussion zur modernen Wirtschafts- <strong>und</strong> Sozialordnung. In: ENDE/STEINBACH, Der Islam in der Gegenwart, S.152 ff.<br />

31 AMINA WADUD, Inside The Gender Djihad. Women’s Reform in Islam. Oxford, 2006. AMINA WADUD/AMINA WADID-MUHSIN, Qur’an and Woman: Rereading the Sacred Text<br />

from a Woman’s Perspective. Oxford, 1999. AZIZAH Y. AL-HIBRI, Qu’ranic Fo<strong>und</strong>ations of the Rights of Muslim Women In The Twenty-First Century. In: Women in Indonesian Society:<br />

Access, Empowerment, Opportunity 3. Edited by ATHO MUDZHAR et al., Sunan Kalijaga Press, 2001. S. 21. Dieselbe, Deconstructing Patriarchal Jurisprudence in Islamic Law. A Faithful<br />

Approach. In: A.K. WING/A. KATHERINE (Hg.) Feminism. An International Reader. New York/London, 2000. S. 3221 ff. RIFFAT HASSAN, Gender Equality and Justice in Islam.<br />

www.crescentlife.com/thisthat/members_one_of_another.htm<br />

32 In Artikel 7 der österreichischen B<strong>und</strong>esverfassung heißt es: (1) Alle B<strong>und</strong>esbürger sind vor dem Gesetz gleich. Vorrechte der Geburt, des Geschlechtes, des Standes, der Klasse <strong>und</strong> des<br />

Bekenntnisses sind ausgeschlossen (...) (2) B<strong>und</strong>, Länder <strong>und</strong> Gemeinden bekennen sich zur tatsächlichen Gleichstellung von Mann <strong>und</strong> Frau. Maßnahmen zur Förderung der faktischen<br />

Gleichstellung von Frauen <strong>und</strong> Männern insbesondere durch Beseitigung tatsächlich bestehender Ungleichheiten sind zulässig. In Artikel 3, Absatz 2 GG steht: »Männer <strong>und</strong> Frauen sind<br />

gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen <strong>und</strong> Männern <strong>und</strong> wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.« Satz 2<br />

formuliert ein Staatsziel!<br />

Kandel, Die »Wiener Erklärung« der Konferenz der Imame <strong>und</strong> SeelsorgerInnen<br />

27


28<br />

kratien Europas sein. Wie soll das geschehen?<br />

Gefordert werden »Maßnahmen zur<br />

Mädchen- <strong>und</strong> Frauenförderung«, allerdings<br />

nur solche, die »eine religiös sensible<br />

Gr<strong>und</strong>haltung« anerkennen. Es bleibt<br />

vage, wie niedrigschwellige Angebote<br />

staatlich geförderter »kultur- <strong>und</strong> religionssensible<br />

Beratungs- <strong>und</strong> Hilfseinrichtungen«<br />

aussehen sollen. Welche Hilfen<br />

sollen gegeben werden? Wer entscheidet<br />

über die religiöse <strong>und</strong> kulturelle »Sensibilität«?<br />

Die Imame? Örtliche Moscheevereine?<br />

Islamische Verbände? Vor dem<br />

Hintergr<strong>und</strong> eines, vorsichtig ausgedrückt,<br />

dominant konservativen Frauenbildes<br />

im europäischen Islam, wäre es<br />

höchst problematisch, wenn Mädchen<strong>und</strong><br />

Frauenförderung allein diesen Wertvorstellungen<br />

folgen sollte. Wenn »Selbstermächtigung«,<br />

wie es ambitiös heißt, das<br />

Ziel sein soll, so wäre es hilfreich, das<br />

näher zu erläutern. Es ist auch Konsens,<br />

dass – bei allen Schwierigkeiten in der<br />

Praxis – Frauen der Weg in den Arbeitsmarkt<br />

geebnet werden muss. Doch<br />

sicherlich geht es bei »Selbstermächtigung«<br />

nicht nur darum, sondern die menschenrechtlichen<br />

Gr<strong>und</strong>standards müssen<br />

der unverzichtbare Ausgangspunkt<br />

jeder Frauenpolitik sein.<br />

»Kopftuchverbote sind kontraproduktiv,<br />

da sie Frauen von wesentlichen Bereichen<br />

des Lebens ausschließen. Im Widerspruch<br />

<strong>zum</strong> Recht auf freie Religionsausübung<br />

grenzen sie islamisch gekleidete Frauen aus<br />

<strong>und</strong> bewirken damit in vielen Fällen genau<br />

jenen Rückzug, den sie zu bekämpfen vorgeben.«<br />

Die Position ist klar: »Islamisch<br />

gekleidete Frauen« sind Kopftuchträgerinnen,<br />

andere – auch islamisch zu begründende<br />

– Meinungen werden als unislamisch<br />

abgewehrt. Diskussionen über die<br />

Stimmigkeit <strong>und</strong> Plausibilität der in<br />

Koran, Sunna <strong>und</strong> Traditionen gegebenen<br />

Begründungen für das Kopftuch <strong>und</strong><br />

die Frage, ob diese Bekleidungsvorschriften<br />

in Europa genauso gelten müssen wie<br />

z.B. in Saudi-Arabien, werden offensichtlich<br />

als illegitime Versuche, »Glaubenspraxis<br />

von außen« zu interpretieren,<br />

zurückgewiesen. Das ist erstaunlich,<br />

denn die Imame fordern gleichzeitig,<br />

»dass auch im Bereich von Ehe <strong>und</strong> Familie<br />

auf Herausforderungen der Moderne auf<br />

dem Boden der Theologie neue islamische<br />

Antworten gef<strong>und</strong>en werden sollen.« Das<br />

gilt offenbar nicht für das Kopftuch. Die<br />

angedachten »neue(n) islamische(n) Antworten«<br />

sehen die Imame in erster Linie<br />

im Blick auf den islamischen Ehevertrag.<br />

Eine Konkretion dieser interessanten<br />

These bleibt aber leider aus.<br />

Über die Kontraproduktivität von<br />

Kopftuchverboten ist hinlänglich gestritten<br />

worden, <strong>und</strong> das Thema ist noch<br />

nicht erledigt, wie die Debatte in<br />

Deutschland zeigt. 33 Bedauerlich ist, dass<br />

nicht gesagt wird, auf welche gesellschaftlichen<br />

Bereiche sich »Kopftuchverbote«<br />

beziehen sollen. Nirgendwo in Europa<br />

sind islamische Kopftücher im gesellschaftlichen<br />

Leben generell verboten.<br />

Verbote beziehen sich bekanntlich nur<br />

auf den Bildungs- <strong>und</strong> Ausbildungsbereich<br />

sowie Teile der Arbeitswelt <strong>und</strong><br />

zudem auf verschiedene Personengruppen,<br />

z.B. Schüler <strong>und</strong>/oder Lehrer. Um<br />

Differenzierung geht es den Imamen leider<br />

nicht. Die verfassungsrechtlichen<br />

Abwägungsfragen, die sich in einem religiös-<br />

<strong>und</strong> weltanschaulich neutralen Staat<br />

im Blick auf religiöse Symbole in säkularen<br />

Einrichtungen, wie der staatlichen<br />

Schule, stellen, interessieren sie auch<br />

nicht, <strong>und</strong> so bleiben sie einer Attitüde<br />

der Anklage verhaftet (»Bevorm<strong>und</strong>ung«).<br />

Es ist ja keineswegs zwingend, dass im<br />

Abwägungsprozess <strong>zwischen</strong> individueller<br />

Religionsfreiheit, Gr<strong>und</strong>rechten Dritter<br />

<strong>und</strong> Gütern von Verfassungsrang (so<br />

im deutschen Verfassungsrecht) die individuelle<br />

Religionsfreiheit stets Vorrang<br />

behalten muss. Die Rechtspraxis zeigt<br />

auch andere Regelungen. Es gibt auch<br />

Grenzen der Religionsfreiheit.<br />

Die Imame bleiben eine Antwort auf<br />

die spannende Frage schuldig, wie das<br />

von ihnen befürwortete »Selbstbestimmungsrecht«<br />

der Frau mit der als offenbar<br />

unbedingt verpflichtend empf<strong>und</strong>enen<br />

Verhüllungsgebot in Einklang gebracht<br />

werden soll. »Selbstbestimmt« wäre ja auch<br />

die Entscheidung einer Muslimin, das<br />

Kopftuch nicht zu tragen. Oder soll<br />

»Selbstbestimmung« nur in den Grenzen<br />

scharia-rechtlicher Bestimmungen möglich<br />

sein?<br />

10. Jugend<br />

In diesem Abschnitt finden sich viele<br />

Positionierungen, die ein hohes Maß an<br />

Gemeinsamkeiten mit der nicht-muslimischen<br />

»Mehrheitsgesellschaft« signalisieren.<br />

Wer wollte nicht zustimmen, junge<br />

Muslime als »Brückenbauer <strong>und</strong> Bindeglieder<br />

<strong>zwischen</strong> den Kulturen« anzuerkennen<br />

<strong>und</strong> ihr kulturelles Kapital, dass sich<br />

z.B. in »Mehrsprachigkeit« <strong>und</strong> »rascher<br />

Anpassungsfähigkeit im interkulturellen<br />

Bereich« ausdrückt, zu fördern? Auch ist<br />

unstrittig, dass in erheblichem Maße in<br />

Bildung investiert werden muss, um<br />

»Abschottung« <strong>und</strong> »Isolation« zu verhindern.<br />

Besondere Unterstützung sollte der<br />

Vorschlag finden, die Vernetzung jugendlicher<br />

Selbstorganisation von <strong>Muslimen</strong><br />

mit anderen Jugendorganisationen sowie<br />

die wissenschaftliche Forschung zu jungen<br />

<strong>Muslimen</strong> zu fördern. Hier gibt es in<br />

der Tat schmerzhafte Lücken <strong>und</strong> Forschungsdesiderate.<br />

11. Ökologie<br />

Wenn die Imame unter Verweis auf<br />

koranische Aussagen, die besondere Verantwortung<br />

<strong>und</strong> Statthalterschaft des<br />

Menschen <strong>zum</strong> Schutz von Gottes<br />

Schöpfung betonen, so ist hier ein weites<br />

Feld von Gemeinsamkeiten <strong>und</strong> Übereinstimmungen<br />

<strong>zwischen</strong> christlicher<br />

Schöpfungslehre <strong>und</strong> Islam angesprochen.<br />

Der vom »Islam empfohlene ‚Weg<br />

der Mitte’ … <strong>zwischen</strong> Genuss <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heitsbewusstsein,<br />

<strong>zwischen</strong> Konsum<br />

<strong>und</strong> Bewusstheit für größere wirtschaftliche<br />

Zusammenhänge, die nicht <strong>zum</strong> Schaden<br />

der Umwelt, seien es Mitmenschen <strong>und</strong><br />

Natur gereichen dürfen«, ist uneingeschränkt<br />

zu bejahen. In der Praxis ergeben<br />

sich viele Möglichkeiten zur Kooperation<br />

von <strong>Muslimen</strong> <strong>und</strong> Nichtmuslimen.<br />

■<br />

33 Siehe dazu JOHANNES KANDEL, Auf dem Kopf <strong>und</strong> in dem Kopf. Der »Kopftuchstreit« <strong>und</strong> die Muslime. Berlin, 2004. Hrsgg. von der Friedrich-Ebert-Stiftung (= Islam <strong>und</strong> Gesellschaft,<br />

Nr. 3).<br />

Kandel, Die »Wiener Erklärung« der Konferenz der Imame <strong>und</strong> SeelsorgerInnen CIBEDO-<strong>Beiträge</strong> 2/2006


Dokumentation<br />

Konferenz Europäischer Imame<br />

<strong>und</strong> Seelsorgerinnen Wien 2006<br />

Veranstaltet von der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich in<br />

Zusammenarbeit mit dem österreichischen Außenministerium, der Stadt<br />

Wien <strong>und</strong> der Europäischen Islamischen Konferenz<br />

Schlusserklärung der Konferenz<br />

Den Islam in Europa theologisch als<br />

kompatibel mit den Prinzipien der<br />

Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit,<br />

des Pluralismus <strong>und</strong> der Menschenrechte<br />

zu verorten, ist der Standortbestimmung<br />

der »Konferenz Leiter islamischer<br />

Zentren <strong>und</strong> Imame in Europa«<br />

im Jahre 2003 in der damaligen<br />

europäischen Kulturhauptstadt Graz<br />

gelungen. Gleichzeitig wurden jegliche<br />

Form von Fanatismus, Extremismus<br />

<strong>und</strong> Fatalismus klar verurteilt. Damit<br />

wurde nicht nur innermuslimisch ein<br />

wichtiges Zeichen der Orientierung<br />

gesetzt, sondern es sollte auch der Integrations-<br />

<strong>und</strong> Identifikationsprozess<br />

der Muslime, die in der Vielfalt ihrer<br />

ursprünglichen Herkunft ca. 50 Millionen<br />

Personen in Gesamteuropa umfassen,<br />

durch die Betonung des Partizipationsgedankens<br />

befördert werden.<br />

Als Zeugnis muslimischen Selbstverständnisses<br />

sollte aber auch nach außen<br />

ein wichtiges aufklärendes Signal getätigt<br />

werden, das Ängsten <strong>und</strong> Vorbehalten<br />

entgegenwirken könnte, um das<br />

friedliche <strong>und</strong> von gegenseitigem Verständnis<br />

<strong>und</strong> Respekt getragene Miteinander<br />

zu bestärken.<br />

CIBEDO-<strong>Beiträge</strong> 2/2006<br />

2006 muss von den Konferenzteilnehmern<br />

nüchtern festgestellt werden, dass es<br />

noch großer Anstrengungen auf allen Seiten<br />

bedürfen wird, um die Akzeptanz der<br />

Muslime in der Mehrheitsgesellschaft zu<br />

erreichen. In verschiedenen europäischen<br />

Ländern sind soziale <strong>und</strong> wirtschaftliche<br />

Spannungen gleichzeitig in Zusammenhang<br />

mit einer oft aggressiv <strong>und</strong> emotional<br />

geführten »Ausländerdebatte« zu<br />

bringen. Muslime werden pauschalierend<br />

benutzt, um ein Bild des »Fremden« entstehen<br />

zu lassen, das in Zeiten der Unsicherheit<br />

Halt in einer negativen Abgrenzung<br />

bietet. Es scheint, als solle damit ein<br />

»Wir«-Gefühl erzeugt werden, das Gesellschaften,<br />

die massiv unter einem Verlust<br />

des sozialen Zusammenhangs leiden,<br />

zunehmend abhanden kommt.<br />

Gleichzeitig sehen sich Muslime<br />

einem starken Rechtfertigungsdruck ausgesetzt,<br />

da nach dem Prinzip »bad news is<br />

good news« in der öffentlichen Wahrnehmung<br />

die Krisenberichterstattung Bilder<br />

von Aggression <strong>und</strong> Gewalt, oft an außereuropäischen<br />

Schauplätzen, in den Vordergr<strong>und</strong><br />

rückt. In der Diskussion tauchen<br />

immer wieder Kritikpunkte auf, die<br />

anhand einzelner Missstände eine Unver-<br />

träglichkeit »islamischer« mit »westlichen«<br />

Werten zu konstruieren suchen.<br />

Hier wird es von Seiten muslimischer<br />

Gelehrter nicht genügen, sich mit dem<br />

Verweis, dass solcherlei negative Erscheinungsformen<br />

im Gegensatz zur islamischen<br />

Lehre in überkommenen<br />

Traditionen wurzelten, als nicht weiter<br />

zuständig zu erklären. In der theologischen<br />

Argumentation liegen schließlich<br />

große <strong>und</strong> erprobte Möglichkeiten,<br />

nachhaltige Bewusstseinsveränderungen<br />

herbeizuführen. Diese sollen<br />

als Teil der Lösung aber auch erkannt,<br />

respektiert <strong>und</strong> im öffentlichen Diskurs<br />

gefördert werden.<br />

Die Moderne rückt die persönliche<br />

Verantwortung jedes einzelnen mündigen<br />

Bürgers stärker als je in den Mittelpunkt.<br />

Wir stehen vor gewaltigen Herausforderungen,<br />

was die Bewahrung<br />

von Frieden <strong>und</strong> Sicherheit, die Frage<br />

sozialer Gerechtigkeit <strong>und</strong> den Erhalt<br />

der Umwelt betrifft. Die Religionen<br />

leisten mit ihrem Appell zu verantwortlichem<br />

Handeln, das vom Gedanken<br />

an das Wohl anderer getragen sein soll,<br />

einen entscheidenden Beitrag. Sie können<br />

einen positiven Ausgleich zu auf<br />

Schlusserklärung der Konferenz Europäischer Imame in Wien 2006<br />

29


30<br />

Konsum ausgerichteten, an der individuellen<br />

Spaßoptimierung abgestellten<br />

Lebenseinstellungen schaffen.<br />

Der Islam trägt einen lösungsbezogenen<br />

Ansatz in sich, indem Vielfalt als<br />

gottgewollt nicht in Frage gestellt werden<br />

soll, sondern gelassen in mehr<br />

Kenntnis mündend nutzbar zu machen<br />

ist. »Gute Werke« bilden eine Maxime<br />

des Handelns. Wie eng Friede <strong>und</strong> Gerechtigkeit<br />

zusammen liegen, zeigt der<br />

Anspruch diskriminierungsfreien, gerechten<br />

Umgangs miteinander auf, unabhängig<br />

von Herkunft, Religion,<br />

gesellschaftlichem Ansehen oder Alter:<br />

»Diejenigen, die glauben <strong>und</strong><br />

ihren Glauben nicht mit Unrecht vermischen,<br />

sie sind es die Sicherheit<br />

haben <strong>und</strong> sie sind es, die rechtgeleitet<br />

sind.« (Sure 6, Vers 82)<br />

Die Konferenz beschäftigte sich in<br />

Arbeitsgruppen detailliert mit einzelnen<br />

Aspekten:<br />

Daraus gingen folgende Überlegungen<br />

hervor:<br />

Integrationssoziologie<br />

Der religiöse Anspruch persönliche<br />

Bereitschaft zu zeigen, Verantwortung für<br />

das Allgemeinwohl zu übernehmen, bildet<br />

die Gr<strong>und</strong>lage eines integrativen<br />

Zugangs, der den jeweiligen Lebensmittelpunkt<br />

<strong>zum</strong> vordringlichen Radius<br />

macht. So ist es natürlich, dass Muslime<br />

das Gastarbeiterimage zu überwinden<br />

suchen. Sie betrachten sich nicht als<br />

»Fremdkörper«, sondern als lebendigen<br />

Teil Europas. Große historisch gewachsene<br />

muslimische Populationen sind eine<br />

Tatsache. Der Islam ist auch aus der Leistung<br />

seines großen wissenschaftlichen<br />

<strong>und</strong> kulturellen Erbes direkter Bestandteil<br />

der europäischen Identität.<br />

Integration <strong>und</strong> Assimilation dürfen<br />

als Begrifflichkeiten nicht vermischt werden,<br />

wie dies bisher oft der Fall ist. Die<br />

Interaktion mit der Mehrheitsgesellschaft<br />

darf nicht zur Voraussetzung haben,<br />

bedingungslos Religion, Kultur <strong>und</strong><br />

sprachliche Vielfalt aufgeben zu sollen.<br />

Die mit Assimilationsforderungen implizierte<br />

Annahme der Minderwertigkeit<br />

des »anderen« führt zu Abkapselung <strong>und</strong><br />

Ghettoisierung.<br />

Integration ist keine Einbahnstraße,<br />

sondern als beidseitiger Prozess zu verstehen.<br />

Als aktiver <strong>und</strong> sichtbarer Teil<br />

suchen sich Muslime auf allen Gebieten<br />

bereichernd <strong>und</strong> ergänzend zu beteiligen:<br />

wirtschaftlich, kulturell, wissenschaftlich,<br />

politisch, sozial. Voraussetzung hierzu ist<br />

die Beherrschung der Landessprache als<br />

Instrument der Kommunikation. Von<br />

der Mehrheitsgesellschaft erwarten wir<br />

ein Bekenntnis zu Diversität, eine Haltung<br />

gegen Tendenzen von Rassismus<br />

<strong>und</strong> Diskriminierung. Anreize <strong>und</strong> Möglichkeiten<br />

der verbesserten Partizipation<br />

liegen in der erleichterten Einbürgerung<br />

bei gelungener Integration, bei der Familienzusammenführung,<br />

beim Zugang<br />

<strong>zum</strong> Arbeitsmarkt, diversitiy management,<br />

positiver Diskriminierung <strong>und</strong><br />

Quoten, der Nostrifizierung ausländischer<br />

Bildungsgänge, der demokratischen<br />

Teilhabe (z.B. kommunales Wahlrecht).<br />

Bei der Definition <strong>und</strong> der Verwendung<br />

des Begriffs »Parallelgesellschaft« soll<br />

mehr Sorgfalt gehegt werden. Die berechtigte<br />

Pflege von Kultur <strong>und</strong> Religion<br />

innerhalb eines geschützten Raumes<br />

soll nicht bereits unter den Generalverdacht<br />

von bewusster Abkapselung<br />

gestellt werden. Die Querverbindungen,<br />

Vernetzungen <strong>und</strong> der Dialog<br />

nach draußen zeigen, dass es hier nicht<br />

um eigene Abschottung, sondern um<br />

»community«-Bildung geht, deren Ziele,<br />

etwa in der Aufgabe sozialer Aufgaben,<br />

der Gesellschaft zugute kommen<br />

können. In einer Zeit wachsenden Pluralismus<br />

wäre es von Vorteil, wenn sich<br />

eine Einstellung durchsetzen könnte,<br />

die es als selbstverständliche Gegebenheit<br />

betrachtet, dass die Bevölkerung<br />

verschiedenste Interessens- <strong>und</strong> Neigungsgruppen<br />

umfasst, die möglichst<br />

in Ergänzung <strong>und</strong> Bereicherung vielfältige<br />

Überlappungen <strong>und</strong> Schnittstellen<br />

bilden.<br />

Unter diesem Aspekt sind auch Anstrengungen<br />

von muslimischer Seite zu<br />

betrachten, die Institutionalisierung<br />

eigener Einrichtungen anzustreben.<br />

Kindergärten, Schulen oder auch die<br />

Moscheeaktivitäten dürfen nicht als<br />

»antiintegratives Gegenmodell« mit<br />

einer Vorverurteilung belegt werden.<br />

Denn erste Erfahrungen beweisen, dass<br />

kluge <strong>und</strong> pädagogisch ausgereifte<br />

Konzepte, die auch Elemente der<br />

Kooperation <strong>und</strong> Vernetzung mit<br />

anderen Einrichtungen aufweisen, das<br />

Empowerment der jungen Generation<br />

stärken können, aber auch Brückenbaufunktionen<br />

übernehmen können.<br />

Moscheen stellen einen wesentlichen<br />

Aspekt im muslimischen Gemeindeleben<br />

dar. Ihre Unabhängigkeit,<br />

auf geistig-moralischer Ebene wie<br />

finanziell, ist ein Schlüssel für die authentische<br />

Entwicklung der Identität<br />

eines »Islam in Europa«. Imame <strong>und</strong><br />

andere Funktionsträger, Männer <strong>und</strong><br />

Frauen, innerhalb der muslimischen<br />

Community sind wichtige Multiplikatoren<br />

<strong>und</strong> haben Vorbildfunktion. Die<br />

Beteiligung von Frauen ist zu fördern.<br />

Um die Lebenswirklichkeit der Gemeinde<br />

in der Arbeit aufgreifen zu<br />

können, ist nicht nur sprachliche Kompetenz<br />

(Erwerb der Landessprache)<br />

eine Voraussetzung, sondern auch Wissen<br />

um gesellschaftliche Strukturen<br />

<strong>und</strong> Entwicklungen. Denn im Islam<br />

Schlusserklärung der Konferenz Europäischer Imame in Wien 2006 CIBEDO-<strong>Beiträge</strong> 2/2006


sind gesellschaftliche Rahmenbedingungen<br />

unbedingt bei der Beantwortung<br />

religiöser Fragen auf Basis der<br />

Quellen zu berücksichtigen. In der<br />

Aus- <strong>und</strong> Fortbildung der Imame<br />

steckt in Europa noch ein großes Entwicklungspotenzial.<br />

Sie sollen aus der<br />

Rolle der Respektperson heraustreten<br />

<strong>und</strong> zur Vertrauensperson werden,<br />

wozu es vermehrter sozialer Kompetenz<br />

bedürfen wird. Gebraucht werden<br />

eigene Bildungsinstitutionen, aber<br />

auch gezielte Weiterbildungsprogramme,<br />

die an den lokalen Bedürfnissen<br />

orientiert sind. Die Moschee soll auch<br />

in ihrer traditionellen Rolle als sozialer<br />

Knotenpunkt ins allgemeine Bewusstsein<br />

treten, indem entsprechende Aktivitäten<br />

von einer offenen Haltung nach<br />

draußen begleitet werden. Viel versprechend<br />

erscheinen hier die Ansätze von<br />

Bradford/England, wo eine Einbindung<br />

der lokalen Moschee-Gemeinden<br />

<strong>und</strong> Imame in Fortbildungsprojekte<br />

erfolgt.<br />

Presse- <strong>und</strong> Meinungsfreiheit sind<br />

ein unverzichtbares <strong>und</strong> allgemeines<br />

Gut. Es besteht kein Widerspruch zur<br />

Religionsfreiheit, da beide eng miteinander<br />

verknüpft sind. Meinungsfreiheit<br />

soll in Verantwortung ausgeübt<br />

werden <strong>und</strong> in Beachtung gegenseitigen<br />

Respekts. In Europa hat sich – von<br />

Land zu Land teilweise auch mit<br />

Unterschieden – doch ein gewisser gesellschaftlicher<br />

Konsens gebildet, wo<br />

Bereiche liegen, die eines besonderen<br />

Feingefühls bedürfen. Auch Gesetze<br />

kennen – wieder in unterschiedlicher<br />

Form – Paragraphen mit Schutzbestimmungen.<br />

Wir sehen, dass sich im<br />

Umgang mit dem Islam ein solcher<br />

Konsens erst noch bilden muss. Da wir<br />

uns <strong>zum</strong> Dialog als beste Lösung im<br />

Konfliktfall bekennen, sehen wir hier<br />

auch die beste Möglichkeit, mehr<br />

gegenseitiges Verständnis zu erreichen.<br />

CIBEDO-<strong>Beiträge</strong> 2/2006<br />

Bildung<br />

Bildung ist im Islam geradezu eine<br />

Lebenseinstellung, da lebenslängliches<br />

Lernen vorausgesetzt wird. Die Zugänglichkeit<br />

ist unabhängig von der sozialen<br />

Schicht zu gewährleisten. Viele Probleme<br />

ließen sich über Bildungsmaßnahmen<br />

konstruktiv angehen, indem damit<br />

eine Stärkung der Persönlichkeit, die<br />

Fähigkeit zu Selbstreflexion <strong>und</strong> Eigenkritik<br />

einhergeht.<br />

Horizonte zu erweitern wird aber auch<br />

gezielter Förderung der Mehrheitsgesellschaft<br />

bedürfen. Die soziale Durchlässigkeit<br />

des Bildungssystems ist in vielen<br />

europäischen Staaten problematisch,<br />

wovon Kinder <strong>und</strong> Jugendliche mit<br />

Migrationshintergr<strong>und</strong> besonders betroffen<br />

sind. Die Problematik von »Ghettoschulen«<br />

oder die hohe Zahl von Migrantenkindern<br />

in Sonderschulen soll vor<br />

dem sozialen Hintergr<strong>und</strong> gesehen werden<br />

<strong>und</strong> nicht als kulturell oder religiös<br />

bedingtes Phänomen.<br />

Chancengleichheit muss aktiv gefördert<br />

werden. Dazu gehören Investitionen<br />

in frühzeitigen Spracherwerb, Lernbegleitung<br />

<strong>und</strong> Lernberatung <strong>und</strong> beidseitige<br />

interkulturelle Kompetenz. Moscheen<br />

<strong>und</strong> muslimische Vereine können<br />

hier aktiv eingeb<strong>und</strong>en sein. Gleichzeitig<br />

geht es um den Abbau von Rassismus<br />

<strong>und</strong> Islamfeindlichkeit. Schulbildung<br />

prägt fürs Leben, weshalb Stereotypen,<br />

die über den Islam auf diesem Wege verbreitet<br />

wurden, besonders schwer zu<br />

überwinden sind, wie eine Schulbuchstudie<br />

von Frau Prof. Susanne Heine für<br />

Deutschland <strong>und</strong> Österreich nachwies.<br />

Heute bemüht man sich stärker <strong>und</strong> der<br />

Problematik bewusster um einen einfühlsamen<br />

<strong>und</strong> aufklärerischen Ansatz bei der<br />

Behandlung des Islam in Schulbüchern.<br />

Diese Tendenz ist noch zu verstärken <strong>und</strong><br />

unterstützen.<br />

Unbestritten ist die positive Rolle des<br />

Kindergartens auf die Entwicklung des<br />

Kindes. Die Vorteile für sprachliche <strong>und</strong><br />

soziale Entwicklung sind so groß, dass<br />

hier der Keim für ein späteres positives<br />

Fortkommen liegt. Die Empfehlung für<br />

den Kindergartenbesuch ist verb<strong>und</strong>en<br />

mit dem Hinweis, dass die Attraktivität<br />

für muslimische Eltern wesentlich zu<br />

steigern wäre, könnte auf ihre speziellen<br />

Bedürfnisse unter den Stichworten<br />

Interkulturalität <strong>und</strong> Beachtung religiöser<br />

Praxis (halal-Speiseangebot) besser<br />

eingegangen werden. Muslimische<br />

Kindergärten, die hier ein maßgeschneidertes<br />

Angebot haben, können<br />

oft gerade Kinder erreichen, deren<br />

Eltern sonst von einem Besuch Abstand<br />

genommen hätten. Als Programm<br />

zur späteren besseren Integration<br />

in die Regelschule sollen sie mehr<br />

Förderung erfahren.<br />

Religionsunterricht im Islam im<br />

Rahmen des Regelunterrichts an<br />

öffentlichen Schulen soll endlich als<br />

wirksames Instrument der Integration<br />

wahrgenommen werden. Die sichtbare<br />

Gleichstellung mit anderen Religionsgemeinschaften<br />

wirkt sich günstig auf<br />

das Zugehörigkeitsgefühl aus. Der in<br />

seiner Bedeutung unbestrittene Dialog<br />

der Religionen wird sich nur an die<br />

Basis tragen, wenn auch seine Mitglieder<br />

religiöse Wurzeln <strong>und</strong> Werte kennen.<br />

Darüber hinaus trägt Religionsunterricht<br />

zur Identitätsbildung aktiv<br />

bei, indem Unterschiede <strong>zwischen</strong> religiöser<br />

Lehre <strong>und</strong> kulturell bedingten<br />

Traditionen aufgezeigt werden <strong>und</strong> das<br />

Bewusstsein als Teil der europäischen<br />

Gemeinschaft gestärkt wird. Realitätsbezogener<br />

Unterricht in der jeweiligen<br />

Landessprache soll extremistische Meinungen<br />

als solche bloßstellen <strong>und</strong> einer<br />

Selbstethnisierung durch sprachliche<br />

oder vom Ursprungsland herrührende<br />

Ghettoisierung vorbeugen. Diese Qualität<br />

des Unterrichts soll sich auch auf<br />

die Entwicklung der Koranschulen in<br />

den Gemeinden mit ihrem zusätzlichen<br />

Angebot vor allem auf dem<br />

Gebiet der Koranrezitation <strong>und</strong> der<br />

Pflege der Muttersprache positiv<br />

niederschlagen. Dabei ist besonderes<br />

Augenmerk auf die Entwicklung didaktisch<br />

geeigneter Lehrmaterialien zu<br />

legen. Liedtexte, Kopiervorlagen <strong>und</strong><br />

Bücher sollen im Einklang mit dem<br />

offiziellen approbierten Lehrplan <strong>und</strong><br />

seiner Zielrichtung stehen. Die Lehrpläne<br />

<strong>und</strong> Lehrbücher werden ständig<br />

reformiert <strong>und</strong> an die neuen Gegebenheiten<br />

angepasst.<br />

Schlusserklärung der Konferenz Europäischer Imame in Wien 2006<br />

31


32<br />

Erwachsenenbildung ist mehr als<br />

einzig Sprachunterricht. Hier sollen<br />

gezielte Programme sinnvolle Freizeitgestaltung<br />

fördern.<br />

Politik<br />

Eine Wurzel von großen Missverständnissen<br />

liegt in dem Vorwurf an<br />

die Muslime, ein gespaltenes Verhältnis<br />

<strong>zum</strong> Staat zu haben, indem sie den<br />

Gedanken der Trennung von Macht<strong>und</strong><br />

Aufgabenbereichen <strong>zwischen</strong> politischer<br />

<strong>und</strong> geistlicher Führung nicht<br />

vollzogen hätten. Hier wäre ein historisch<br />

genaueres Bewusstsein sehr hilfreich,<br />

das auch die Entwicklung der<br />

islamischen Länder berücksichtigt, was<br />

in den schulischen Lehrplänen fast völlig<br />

vernachlässigt wird. Dieses Wissen<br />

könnte die von <strong>Muslimen</strong> vielfach als<br />

überheblich empf<strong>und</strong>ene eigenzentrierte<br />

Sichtweise positiv erweitern <strong>und</strong><br />

die prinzipielle Vergleichbarkeit historischer<br />

Abläufe hinterfragen, die jetzt<br />

unter dem Stichwort »mangelnde Aufklärung«<br />

im europäischen Diskurs <strong>zum</strong><br />

Allgemeinplatz wurde. Die Aufgeschlossenheit<br />

gegenüber den Wissenschaften<br />

wurde ein wesentlicher Faktor<br />

für die Entwickeltheit islamischer<br />

Gesellschaften, von der auch Europa<br />

gerade als Impulse für die Aufklärung<br />

profitierte. De facto war die politische<br />

Führung über weiteste Strecken der<br />

islamischen Geschichte autonom <strong>und</strong><br />

gestaltete sich nicht in Personalunion<br />

mit den religiösen Würdenträgern.<br />

Umgekehrt kann besseres historisches<br />

Verständnis der europäischen<br />

Geschichte <strong>Muslimen</strong> gewisse Befindlichkeiten<br />

erklären <strong>und</strong> das gegenseitige<br />

Verständnis vertiefen.<br />

Auch der Begriff »Scharia« wird<br />

immer wieder völlig falsch interpretiert<br />

(etwa als »Strafrecht«) <strong>und</strong> angewendet,<br />

woraus große Ängste <strong>und</strong> Abwehrhaltungen<br />

resultieren. Auch hier appellieren<br />

wir an die gebotene Sachlichkeit<br />

<strong>und</strong> korrekte Definition, die in der<br />

Betonung des dynamischen Charakters<br />

bei der Auslegung der Quellen gerade<br />

geeignet ist, Vorurteile zu entkräften.<br />

Wie kontraproduktiv Scheinwissen ist,<br />

zeigt die wiederholt laut gewordene Forderung<br />

nach »Abschaffung der Scharia«,<br />

die völlig absurd ist, da die Scharia die<br />

Glaubenspraxis auf Gr<strong>und</strong>lage der Quellen<br />

regelt, also etwa Fragen nach der<br />

Gebetswaschung, der Höhe der sozialreligiösen<br />

Pflichtabgabe für Bedürftige<br />

usw. Solche unqualifizierten Äußerungen<br />

können dem nötigen vertrauensbildenden<br />

Prozess nur abträglich sein, da er von<br />

<strong>Muslimen</strong> als Ruf nach Abschaffung des<br />

Islam verstanden werden muss. Die Vereinbarkeit<br />

einer demokratischen Ordnung<br />

mit dem Islam wurde wiederholt<br />

durch offizielle muslimische Erklärungen<br />

unterstrichen. Die Identifikation mit<br />

dem Staat ist dann naturgemäß besonders<br />

hoch, wenn eine größtmögliche Dekkungsgleichheit<br />

mit persönlichen Wertvorstellungen<br />

damit einhergeht. Somit ist<br />

das Modell des Anerkennungsstatus für<br />

den Islam, wie es in Österreich besteht,<br />

tatsächlich besonders geeignet, da es über<br />

die emotionale Ebene der Zugehörigkeit<br />

einen institutionalisierten Dialog mit sich<br />

bringt. Damit wird mit <strong>und</strong> nicht über<br />

Muslime geredet, <strong>und</strong> es können Sachfragen<br />

im Lande geklärt werden, ohne dass<br />

man auf ausländische Gutachten zurückgreifen<br />

müsste, die immer die Problematik<br />

in sich bergen, weder der konkreten<br />

Situation völlig angemessen zu sein, noch<br />

eigenständig aus der lokalen muslimischen<br />

Community erwachsen zu sein, die<br />

sich statt mit dergeforderten Eigenständigkeit<br />

oft »von außen« bestimmt sehen<br />

würde. Die Teilhabe von Menschen mit<br />

muslimischem Hintergr<strong>und</strong> an demokratischen<br />

Entscheidungsfindungsprozessen<br />

soll gesteigert werden. Die Imame weisen<br />

nicht nur darauf hin, passiv persönlich<br />

vom Wahlrecht Gebrauch zu machen,<br />

sondern auch aktive Möglichkeiten der<br />

Partizipation z.B. in Elternvertretungen<br />

von Schulen oder bei ArbeitnehmerInnenvertretungen<br />

aktiv zu unterstützen,<br />

aber auch innerhalb der Parteienlandschaft.<br />

Die Politik ist gefordert ihren Part<br />

im beidseitigen Prozess der Integration<br />

ernst zu nehmen. Hand in Hand mit<br />

integrationspolitischen Maßnahmen sollten<br />

solche <strong>zum</strong> Abbau von Fremdenfeindlichkeiten<br />

in all ihren Erscheinungsformen,<br />

auch jener der Islamfeindlichkeit,<br />

greifen. Mit Besorgnis sind Tendenzen<br />

festzustellen, wo diskriminierende<br />

Haltungen gegen Muslime in die Politik<br />

Eingang finden. Hier soll es keine<br />

Sondergesetze geben, denn Muslime<br />

dürfen nicht mit einer Art Generalverdacht<br />

belegt werden. Die Beweislastumkehr<br />

ist ein Verstoß gegen die<br />

Rechtsstaatlichkeit.<br />

Rassismus ist Unrecht <strong>und</strong> jede<br />

Herrschaft, die darauf gründet, ist illegitim.<br />

Antisemitismus <strong>und</strong> Islamfeindlichkeit<br />

sind aufarbeitungsbedürftig.<br />

Auch Muslime sind nicht vor Rassismus<br />

gefeit. Die Imamekonferenz<br />

spricht sich gegen jede Form von Rassismus<br />

<strong>und</strong> von ethnischer Diskriminierung<br />

innerhalb der muslimischen<br />

Gemeinden Europas aus.<br />

Wirtschaft<br />

Wohlstand soll im Islam nicht auf<br />

Kosten anderer erworben werden, sondern<br />

mit Verantwortung verb<strong>und</strong>en<br />

sein – Gesellschaftlich unter dem<br />

Aspekt sozialer Gerechtigkeit <strong>und</strong> ökologisch<br />

unter dem Gesichtspunkt<br />

nachhaltigen Wirtschaftens, das sorgsam<br />

mit den Ressourcen umgeht <strong>und</strong><br />

die Schöpfung zu pflegen <strong>und</strong> zu<br />

bewahren sucht.<br />

Menschenwürdiges Leben in Gegenwart<br />

<strong>und</strong> Zukunft zu sichern ist aus<br />

islamischer ökonomischer Sicht mit<br />

einer Reihe ethischer Richtlinien verb<strong>und</strong>en.<br />

Dazu gehören ein Zinsverbot,<br />

ein Monopolverbot, das Verbot von<br />

Spekulationen <strong>und</strong> die Pflicht zu einem<br />

verantwortungsvollen Umgang<br />

mit Konsum <strong>und</strong> Rohstoffen.<br />

Islamische Wirtschaftsgebote setzen<br />

darauf, dass Geld im Fluss bleiben soll.<br />

Parallel dazu ist auch die dritte Säule<br />

des Islam zu sehen, die als sozial-religiöse<br />

Pflichtabgabe einen Anteil von<br />

2,5 % des stehenden Vermögens als zu<br />

leistende »Reinigung« an Bedürftige<br />

abzugeben befiehlt. Hier geht es um<br />

Umverteilung im Sinne der Sicherung<br />

der Gr<strong>und</strong>bedürfnisse jedes einzelnen<br />

Mitglieds der Gemeinschaft.<br />

Schlusserklärung der Konferenz Europäischer Imame in Wien 2006 CIBEDO-<strong>Beiträge</strong> 2/2006


Zinsgeschäfte bringen durch den<br />

damit verb<strong>und</strong>enen Mechanismus des<br />

Kapitalhortens durch Banken mit sich,<br />

dass Geld im Umlauf fehlt. Die Reduzierung<br />

des Investitionsvolumens kann<br />

Arbeitslosigkeit verursachen, den<br />

Wettbewerb verfälschen, gesellschaftliche<br />

Spannungen verursachen. Staatverschuldung<br />

ist ein gewaltiges Problem<br />

nicht nur der dritten Welt. Ruin <strong>und</strong><br />

Verelendung betreffen ganze Bevölkerungsgruppen.<br />

Alternativen <strong>zum</strong> Zinsgeschäft<br />

wären durch Muslime weiterzuentwickeln<br />

<strong>und</strong> zu fördern. Die<br />

Nachfrage zeitigte bereits jetzt, dass<br />

westliche Banken islamische Geschäftszweige<br />

anbieten <strong>und</strong> dabei muslimische<br />

Experten beschäftigen.<br />

Muslime in Europa werden als Konsumenten<br />

ein immer stärkerer Faktor.<br />

Der Markt reagiert zunehmend, etwa<br />

auf dem Lebensmittelsektor, wo Halalzertifizierung<br />

Bedürfnisse dieser Käuferschicht<br />

decken soll. Das islamische<br />

Reinheitsgütesiegel wäre europaweit in<br />

standardisierter Form zu verwenden<br />

<strong>und</strong> sollte nach einheitlichen Kriterien<br />

vergeben werden, um hier muslimischen<br />

Konsumenten Sicherheit zu<br />

gewähren.<br />

CIBEDO-<strong>Beiträge</strong> 2/2006<br />

Frauen<br />

Mann <strong>und</strong> Frau sind im Islam gleichwertige<br />

Partner, die gegenseitige Verantwortung<br />

tragen <strong>und</strong> gleich an Menschenwürde<br />

sind. Das Recht auf Lernen <strong>und</strong><br />

Lehre, das Recht auf Arbeit, finanzielle<br />

Unabhängigkeit, aktives <strong>und</strong> passives<br />

Wahlrecht, Teilhabe im gesellschaftlichen<br />

Diskurs sind Pfeiler, die den Status absichern<br />

sollen. Chancengleichheit <strong>und</strong><br />

mündige <strong>und</strong> freie Orientierung soll<br />

Frauen ermöglicht werden. Diese gr<strong>und</strong>sätzlichen<br />

Aussagen der vorausgegangenen<br />

Konferenzen sollen im Folgenden<br />

weiter vertieft werden. Denn Frauenanliegen<br />

sind von gesamtgesellschaftlichem<br />

Interesse. Daher soll jede Form von Verletzung<br />

von Frauenrechten kritisiert <strong>und</strong><br />

bekämpft werden. Zwangsehe, FGM,<br />

Ehrenmorde <strong>und</strong> familiäre Gewalt haben<br />

keine Gr<strong>und</strong>lage im Islam.<br />

In der Außensicht manifestiert sich am<br />

Bild der Frau im Islam häufig die Einstellung<br />

gegenüber der Religion an sich.<br />

Begründet wird damit oft eine Position<br />

der Überlegenheit seitens der Mehrheitsgesellschaft.<br />

Mangelndes Wissen erschwert<br />

eine sachliche Auseinandersetzung.<br />

Werden Musliminnen vor allem als<br />

»Opfer« wahrgenommen, so drängt sie<br />

dies in ein Rollenklischee. Sich daraus zu<br />

lösen gelingt paradoxerweise schwer,<br />

solange die Mehrheitsgesellschaft an der<br />

Vorstellung der »religiös gefesselten« passiven<br />

muslimischen Frau festhält <strong>und</strong> Barrieren<br />

bereithält, will sie als sichtbar den<br />

Glauben praktizierende aktive Muslimin<br />

das Klischee brechen. Hier sollen wir zu<br />

einer solidarischen Denkens- <strong>und</strong> Handlungsweise<br />

finden. Frauenfeindliche<br />

Strukturen haben verschiedene Ausformungen.<br />

Religions- <strong>und</strong> kulturübergreifendes<br />

Denken wendet sich gemeinsam<br />

gegen familiäre Gewalt <strong>und</strong> strukturelle<br />

Benachteiligungen von Frauen. Die Reflexion<br />

über traditionelle Rollenzuschreibungen<br />

<strong>und</strong> Stereotype kann diese überwinden<br />

<strong>und</strong> Vernetzung <strong>und</strong> Zusammenarbeit<br />

fördern.<br />

Eine stärkere Differenzierung <strong>zwischen</strong><br />

Religion <strong>und</strong> Tradition, die häufig<br />

Frauen benachteiligt <strong>und</strong> dem Islam<br />

zuwiderläuft, ist unabdingbar. Ansonsten<br />

besteht die Gefahr, dass die Religion pau-<br />

schal verantwortlich für Missstände<br />

gemacht wird, <strong>und</strong> man übersieht, welche<br />

theologischen Argumentationsschienen<br />

gerade aufklärend <strong>und</strong> derartige<br />

Traditionen überwindend angezeigt<br />

sind. Gleichzeitig wäre eine Verengung<br />

auf eine einzig religiöse<br />

Perspektive unzulässig. Denn die Lebenswirklichkeit<br />

von muslimischen<br />

Frauen in Europa ist geprägt von diversen<br />

Faktoren, die als solche analysiert<br />

werden müssen. Der Ehrbegriff soll<br />

von Imamen analysiert <strong>und</strong> aus der<br />

Religion, im Gegensatz zu lokalen traditionellen<br />

<strong>und</strong> kulturbedingten Vorstellungen,<br />

begreiflich gemacht werden.<br />

Die verstärkte Partizipation muslimischer<br />

Frauen bedarf durchdachter<br />

politischer Konzepte, die Ausgrenzungstendenzen<br />

<strong>und</strong> Diskriminierungen<br />

entgegen treten. Maßnahmen zur<br />

Mädchen- <strong>und</strong> Frauenförderung, die<br />

eine religiöse Gr<strong>und</strong>haltung anerkennen,<br />

wären ein solcher Schritt. Staatlich<br />

geförderte kultur- <strong>und</strong> religionssensible<br />

Beratungs- <strong>und</strong> Hilfseinrichtungen<br />

von <strong>und</strong> für muslimische<br />

Frauen bieten ein besonders niederschwelliges<br />

Angebot <strong>und</strong> setzen Impulse<br />

der Selbstermächtigung. Frauen sollen<br />

frei von Abhängigkeitsverhältnissen<br />

sein. Der ungehinderte Zugang <strong>zum</strong><br />

Arbeitsmarkt ist dabei vordringlich.<br />

Unabhängigkeit ist stark an finanzielle<br />

Ungeb<strong>und</strong>enheit <strong>und</strong> damit Beschäftigung<br />

geb<strong>und</strong>en, wobei die Politik ausgleichende<br />

<strong>und</strong> gerechte Vorkehrungen<br />

treffen kann, damit Väter <strong>und</strong> Ehemänner<br />

nicht vordringlich als Versorger<br />

betrachtet werden müssen.<br />

Kopftuchverbote sind kontraproduktiv,<br />

da sie Frauen von wesentlichen<br />

Bereichen des Lebens ausschließen. Im<br />

Widerspruch <strong>zum</strong> Recht auf freie Religionsausübung<br />

grenzen sie islamisch<br />

gekleidete Frauen aus <strong>und</strong> bewirken<br />

damit in vielen Fällen genau jenen<br />

Rückzug, den sie zu bekämpfen vorgeben.<br />

Zusätzlich laden Verbote die<br />

Diskussion emotional weiter auf <strong>und</strong><br />

festigen Klischees, indem sie ihre<br />

Begründung just aus der Argumentation<br />

beziehen, die »Kopftuchträgerinnen«<br />

mit ihrem sichtbaren Teilhaben<br />

an der Gesellschaft überwinden: Das<br />

Schlusserklärung der Konferenz Europäischer Imame in Wien 2006<br />

33


34<br />

Kopftuch sei ein Symbol der Unterdrückung<br />

<strong>und</strong> des Zwangs, ein politisches<br />

Zeichen für eine extremistische<br />

Haltung <strong>und</strong> nicht konform mit europäischen<br />

Vorstellungen des Geschlechterverhältnisses.<br />

Die Bevorm<strong>und</strong>ung<br />

muslimischer Frauen, indem<br />

ein Teil der Glaubenspraxis von<br />

außen interpretiert <strong>und</strong> verurteilt wird,<br />

spricht ihnen ihre Mündigkeit ab <strong>und</strong><br />

kann damit Polarisierungstendenzen<br />

verschärfen. Das Selbstbestimmungsrecht<br />

der Frau soll aber außer Frage stehen<br />

– nach innen wie nach außen.<br />

Auch innerhalb der muslimischen<br />

Gemeinschaft besteht vermehrter<br />

Handlungsbedarf. Bewusstseinsbildung<br />

gegen jeden Missbrauch von Religion<br />

soll gefördert werden. Gleichzeitig<br />

bekennt sich die Konferenz dazu,<br />

dass auch im Bereich Ehe <strong>und</strong> Familie<br />

auf Herausforderungen der Moderne<br />

auf dem Boden der Theologie neue<br />

islamische Antworten gef<strong>und</strong>en werden<br />

sollen. Diese können auch in<br />

einem Wiederentdecken <strong>und</strong> neu<br />

nutzbar gemachtem Element wie dem<br />

islamischen Ehevertrag liegen. Dieser<br />

bietet dem Brautpaar die Möglichkeit,<br />

die Zukunft gemeinsam zu überdenken<br />

<strong>und</strong> Vereinbarungen festzuhalten.<br />

Jugend<br />

Jugendliche verkörpern als Zukunftsträger<br />

in besonderem Maße die<br />

Vision muslimischer Europäer – europäischer<br />

Muslime, die durch ihre als<br />

selbstverständlich wahrgenommene<br />

Identitätszugehörigkeit in beide Richtungen<br />

Brückenbauer <strong>und</strong> Bindeglieder<br />

<strong>zwischen</strong> den Kulturen sein können.<br />

Die muslimische Jugend soll sich<br />

ihrer speziellen Verantwortung in dieser<br />

Richtung bewusst sein. Dazu muss<br />

ein entsprechendes, ihre besonderen<br />

Kompetenzen schätzendes Klima vorhanden<br />

sein, das Mehrsprachigkeit,<br />

rasche Anpassungsfähigkeit im interkulturellen<br />

Bereich <strong>und</strong> eine aufgeschlossene<br />

Gr<strong>und</strong>haltung als persönliche<br />

Werte erkennt <strong>und</strong> fördert. Die<br />

Aufgabe, eine solche Wertschätzung zu<br />

vermitteln <strong>und</strong> daran angeknüpft Programme<br />

zur gezielten Förderung dieser<br />

Talente zu schaffen, liegt sowohl bei den<br />

muslimischen Familien <strong>und</strong> Gemeinschaften,<br />

als bei der Mehrheitsgesellschaft.<br />

Das Potential der muslimischen<br />

Jugendlichen soll anerkannt werden. Ihr<br />

Selbstbewusstsein ist zu stärken.<br />

Vorurteile <strong>und</strong> latente Fremdenfeindlichkeit<br />

können zu Abschottung <strong>und</strong> Isolation<br />

führen, durch die wiederum eine<br />

ablehnende Einstellung gegenüber »den<br />

anderen« gezüchtet werden kann.<br />

Dadurch können sich Polarisierungen<br />

aufbauen, die gesellschaftspolitischen<br />

Sprengstoff bieten. Diese präventiv anzugehen,<br />

bedarf es der im Bereich »Bildung«<br />

angesprochenen Maßnahmen. Muslimische<br />

Jugendliche sollen gleiche Möglichkeiten<br />

nutzen können wie Jugendliche<br />

der Mehrheitsgesellschaft (Beispiel: Europäische<br />

Austauschprogramme in Schul<strong>und</strong><br />

Berufs/Studienbildung, unabhängig<br />

von Staatsbürgerschaft). Jugendliche<br />

brauchen eine Perspektive. Sie sollen die<br />

gleichen Chancen vorfinden, im Berufsleben<br />

Fuß zu fassen oder eine Wohnung<br />

zu finden.<br />

Jugendliche Selbstorganisation von<br />

<strong>Muslimen</strong> <strong>und</strong> ihre Vernetzung mit anderen<br />

Jugendorganisationen soll darüber<br />

hinaus gefördert werden. Vereine jugendlicher<br />

Muslime weisen jene Merkmale<br />

auf, die bei jenen der ersten Generation<br />

noch nicht zu finden sind: die Landessprache<br />

als Kommunikationssprache, keine<br />

Einengung der Mitglieder auf ein<br />

bestimmtes Herkunftsland, ein auf die<br />

Lebenswirklichkeit im Lande verstärkt<br />

zugeschnittenes Angebot von Aktivitäten.<br />

Hier eine sinnvolle Freizeitgestaltung,<br />

emotionale Zugehörigkeit <strong>und</strong> Verantwortungsgefühl<br />

für ein funktionierendes<br />

Miteinander zu erfahren, gibt Halt.<br />

Damit werden indirekt auch Jugendkriminalität,<br />

Drogenkonsum <strong>und</strong> die Verbreitung<br />

von Extremismus wirksam<br />

bekämpft.<br />

Die meinungsbildende Rolle der<br />

Medien ist besonders bei dem Bereich der<br />

Jugend anzusprechen. Die Wissenschaft<br />

soll sich verstärkt besonderen Phänomen,<br />

die die muslimische Jugend betreffen,<br />

widmen <strong>und</strong> mit seriösen Ergebnissen<br />

helfen, die Diskussion zu versachlichen.<br />

Ökologie<br />

Der Mensch trägt in seiner Funktion<br />

als Sachwalter der Schöpfung<br />

hohe Verantwortung für deren Pflege<br />

<strong>und</strong> Erhalt. Natürliche Ressourcen<br />

dürfen daher nur unter dem Gesichtspunkt<br />

der Nachhaltigkeit sorgsam<br />

genutzt werden.<br />

Der Koran warnt den Menschen vor<br />

Überheblichkeit in Ausübung seiner<br />

Statthalterschaft: »Siehe, Wir boten die<br />

Verantwortung (»amana« – die Ausübung<br />

von freiem Willen <strong>und</strong> Verstand)<br />

den Himmeln <strong>und</strong> der Erde <strong>und</strong> den<br />

Bergen an, doch weigerten sie sich, sie zu<br />

tragen <strong>und</strong> schreckten davor zurück. Der<br />

Mensch lud sie sich jedoch auf; denn er<br />

überschätzt sich <strong>und</strong> ist eingebildet.«<br />

(33.72) Das natürliche Gleichgewicht<br />

der Natur soll geschützt <strong>und</strong> bewahrt<br />

werden. Denn so wie sich Wasser, Luft,<br />

Erde, belebte <strong>und</strong> unbelebte Natur,<br />

Tier- <strong>und</strong> Pflanzenreich aufeinander<br />

beziehen, wird im Koran ein Kreislauf<br />

des Lebens wiedergegeben, bei dem<br />

Eingriffe negative Auswirkungen für<br />

das gesamte System zur Folge haben<br />

könnten. Respekt vor dem W<strong>und</strong>er der<br />

Schöpfung Gottes ist geboten, aus dem<br />

Respekt im Umgang mit dieser resultieren<br />

soll. Zur Tierwelt heißt es etwa:<br />

»Es gibt kein Getier auf Erden <strong>und</strong> keinen<br />

Vogel, der auf seinen zwei Schwingen<br />

dahinfliegt, die nicht Gemeinschaften<br />

wären so wie ihr.« (6:38)<br />

Die Balance <strong>zwischen</strong> Nutzbarmachung<br />

der Natur <strong>und</strong> ihrem Schutz<br />

schlägt sich häufig zu deren Ungunsten<br />

nieder. Umweltzerstörung als Konsequenz<br />

menschlicher Gier nach maximaler<br />

Ausbeutung wird in 20:41 angesprochen:<br />

»In Erscheinung getreten ist<br />

Unheil zu Land <strong>und</strong> Meer als Folge dessen,<br />

was die Menschen anrichteten,<br />

damit Er sie einiges von ihrem (Fehl)verhalten<br />

spüren ließe, auf dass sie umkehren.«<br />

Muslime sind angehalten sich<br />

Schlusserklärung der Konferenz Europäischer Imame in Wien 2006 CIBEDO-<strong>Beiträge</strong> 2/2006


hier durch ihr persönliches Verhalten<br />

problembewusst zu zeigen <strong>und</strong> aktive<br />

<strong>Beiträge</strong> <strong>zum</strong> Umweltschutz zu leisten.<br />

Um das Wasser kreisen besonders<br />

zahlreiche Aussagen. Sparsamkeit im<br />

Umgang wird empfohlen. Etwa ist es<br />

verpönt, bei der Gebetswaschung<br />

unnötig Wasser rinnen zu lassen. Es<br />

bestehen Regelungen <strong>zum</strong> Gewässerschutz.<br />

Wasser wird als ein so wichtiges<br />

Gut betrachtet, dass ein Gr<strong>und</strong>recht<br />

des Menschen darauf besteht. Trinkwasser<br />

soll darum allgemein zugänglich<br />

sein, kann nicht zu einem Privateigentum<br />

mutieren. Im Bereich der frommen<br />

Stiftungen, die testamentarisch<br />

von Gläubigen verfügt werden, ist besonders<br />

das Schlagen eines Brunnens<br />

empfohlen, um für die Nachwelt eine<br />

andauernde gute Tat zu setzen.<br />

Das Gebot des »Maßhaltens« konkretisiert<br />

sich r<strong>und</strong> um das Thema der<br />

Nahrung. Verwirklicht werden soll der<br />

im Islam empfohlene »Weg der Mitte«,<br />

hier <strong>zwischen</strong> Genuss <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heitsbewusstsein,<br />

<strong>zwischen</strong> Konsum<br />

<strong>und</strong> Bewusstheit für größere wirtschaftliche<br />

Zusammenhänge, die nicht<br />

<strong>zum</strong> Schaden der Umwelt, seien es<br />

Mitmenschen oder Natur, gereichen<br />

dürfen. Diese Haltung lässt sich direkt<br />

beziehen auf die moderne Forderung<br />

nach mündigen Konsumenten, die mit<br />

ihren bewussten Kaufentscheidungen<br />

nach ethischen Standards (»fair trade«)<br />

handeln.<br />

Muslime sollen sich verstärkt des<br />

Themas »Umweltschutz« annehmen<br />

<strong>und</strong> aktiv Vernetzungen mit Umweltexperten<br />

<strong>und</strong> zuständigen Abteilungen<br />

der Stadtverwaltung für spezifische<br />

Projekte eingehen.<br />

Zu beleben sind islamische Traditionen<br />

wie die Stiftung für Fütterung<br />

<strong>und</strong> Aufnahme für obdachlose Tiere<br />

<strong>und</strong> die Tradition des Bäume Pflanzens<br />

als nachhaltige gute Tat.<br />

Islamische Gebetsstätten sollen das<br />

ökologische Bewusstsein der Muslime<br />

widerspiegeln <strong>und</strong> mit ökologisch verträglichem<br />

Baumaterial gebaut zu Aus-<br />

CIBEDO-<strong>Beiträge</strong> 2/2006<br />

hängeschildern dieser Einstellung werden.<br />

Dezidiert zu betonen ist, dass Muslime<br />

die negativen Auswirkungen der<br />

Kriege <strong>und</strong> eingesetzter chemischer Waffen<br />

auf die gesamte Natur besorgt verfolgen<br />

<strong>und</strong> eine Dokumentation verlangen.<br />

Die Kriegsbetreiber sind zur Wiedergutmachung<br />

auch dieser Zerstörungen <strong>und</strong><br />

ihrer Wirkungen auf den Menschen zu<br />

fordern.<br />

Wien, am 8. April 2006<br />

Initiative muslimischer ÖsterreicherInnen<br />

E-Mail: dieinitiative@gmx.at<br />

Schlusserklärung der Konferenz Europäischer Imame in Wien 2006<br />

35


36<br />

Buchbesprechungen<br />

BAZARGAN, Mehdi: Und Jesus ist der<br />

Prophet. Der Koran <strong>und</strong> die <strong>Christen</strong>, aus<br />

dem Persischen von Markus Gerhold.<br />

Herausgegeben <strong>und</strong> mit einer Einleitung<br />

von Navid Kermani. München 2006, 108<br />

Seiten.<br />

Mehdi Bazargans Koranexegese <strong>und</strong><br />

der interreligiöse Dialog.<br />

Eine christliche Stellungnahme<br />

von Christian W. Troll SJ<br />

Navid Kermani, der im deutschen<br />

Sprachraum nicht unbekannte Schriftsteller<br />

<strong>und</strong> Islamk<strong>und</strong>ler, stellt als Herausgeber<br />

des vorliegenden kleinen Buches<br />

den Autor Mehdi Bazargan (1907-1995)<br />

als einen »große[n] Korangelehrte[n] <strong>und</strong><br />

liberale[n] iranische[n] Politiker« sowie<br />

»eine der wichtigsten <strong>und</strong> prominentesten<br />

Stimmen des Islam im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert«<br />

vor <strong>und</strong> qualifiziert das Buch als »für die<br />

heutige Debatte über das Verhältnis von<br />

<strong>Christen</strong> <strong>und</strong> <strong>Muslimen</strong> unverzichtbar«.<br />

Dies lässt jeden Muslim <strong>und</strong> <strong>Christen</strong><br />

aufhorchen, denen das Verstehen der Fragen<br />

der christlich-islamischen Begegnung<br />

am Herzen liegt. Die einleitenden Ausführungen<br />

Kermanis über die politische<br />

<strong>und</strong> religiöse Bedeutung Mehdi Bazargans<br />

sind dabei hilfreich, das abschließend<br />

angefügte Zeitungsinterview aus<br />

dem Jahre 1994 (91-101) dagegen<br />

erscheint – weil mit dem Thema des Bandes<br />

kaum verb<strong>und</strong>en –überflüssig.<br />

Die Aussagen des Koran über Jesus,<br />

Maria, seine Mutter, über den dreieinigen<br />

Gott, die <strong>Christen</strong> <strong>und</strong> schließlich über<br />

das rechte Denken <strong>und</strong> Verhalten der<br />

Muslime diesen gegenüber sind den – leider<br />

immer noch nicht genügend zahlreichen<br />

– islamk<strong>und</strong>igen christlichen Gläubigen<br />

nicht unbekannt. Es gibt zu diesem<br />

Thema eine ganze Reihe seriöser Darstellungen<br />

von muslimischen <strong>und</strong> nichtmus-<br />

limischen Autoren, z.B. arabische (Haddad,<br />

Hayek) 1 , englische (G. Parrinder, K.<br />

Cragg, H. Räisannen) 2 , französische (H.<br />

Michaud, J.-M. Gaudeul) 3 <strong>und</strong> deutsche<br />

(O. H. Schumann, G. Risse, J.-D.<br />

Thyen) 4 , die die chronologische Folge der<br />

relevanten Aussagen des Korans durchaus<br />

berücksichtigen. Damit soll Bazargans<br />

Verdienst, in dem Teilstück des 7. Bandes<br />

seines mehrbändigen Werkes B - azgasht be<br />

Qur’ - an (Rückkehr <strong>zum</strong> Koran), das er mit<br />

»Der Koran <strong>und</strong> die <strong>Christen</strong>« überschreibt,<br />

diese koranischen Aussagen in<br />

chronologischer Abfolge <strong>und</strong> in ihrem<br />

jeweiligen Kontext zusammengestellt<br />

<strong>und</strong> interpretiert zu haben, nicht geleugnet<br />

werden. Allerdings hätte es der Leser<br />

durchaus verdient, wenigstens anhand<br />

von Erklärungen in Fußnoten jeweils die<br />

Gründe zu erfahren, warum <strong>und</strong> wo die<br />

von Bazargan vertretene Chronologie der<br />

Herabkunft der jeweiligen koranischen<br />

Aussagen von der Chronologie anderer,<br />

gewichtiger muslimischer Korangelehrter<br />

abweicht. Nicht wenige sunnitische<br />

Autoren halten z. B. Sure 9 <strong>und</strong> nicht<br />

Sure 66,12 <strong>und</strong> Sure 5,14-19 <strong>und</strong> 5,47f.<br />

<strong>und</strong> Sure 5,5, für die chronologisch letzten,<br />

<strong>und</strong> damit die Reihe der koranischen<br />

Aussagen abschließenden Texte des<br />

Koran. 5<br />

Ferner erfährt der Leser nicht, wo<br />

genau die deutsche Übertragung des<br />

koranischen Textes, wie sie im vorliegenden<br />

Büchlein vorliegt, vom Text der<br />

Übertragung von Max Henning vom Jahre<br />

1901 abweicht, wo genau es sich um<br />

Hennings Erklärungen, <strong>und</strong> wo um<br />

Überarbeitungen von Markus Gerold<br />

handelt. Somit sind Zweifel an Kermanis<br />

Einschätzung nicht abwegig, der hier vorgelegte<br />

Text liefere »eine solide Gr<strong>und</strong>lage«<br />

»für die Debatte über das Verhältnis von<br />

<strong>Christen</strong> <strong>und</strong> <strong>Muslimen</strong>« (S. 19).<br />

Doch kommen wir direkt zu Bazargans<br />

Kommentar. Den Text des Korans<br />

selbst kritisch zu hinterfragen ist für den<br />

<strong>Christen</strong> im unmittelbaren Kontext des<br />

Dialogs aus einsichtigen Gründen unangemessen.<br />

Korankommentare von <strong>Muslimen</strong><br />

<strong>und</strong> ihre Autoren sind dagegen in<br />

diesem Dialog von gr<strong>und</strong>legender Bedeutung.<br />

Muslimische Korankommentare<br />

<strong>und</strong> Erklärungen von einzelnen Passagen<br />

des Koran unterliegen wie jeder andere<br />

juristisch-theologische muslimische Text<br />

der Kritik von <strong>Muslimen</strong> sowie Nichtmuslimen.<br />

Der christliche Gläubige ist<br />

vital daran interessiert, wie anerkannte, in<br />

den Koranwissenschaften ausgewiesene<br />

Muslime den Koran interpretiert haben<br />

<strong>und</strong> vor allem, wie sie ihn in unseren<br />

Tagen im Hinblick auf den christlichen<br />

Glauben <strong>und</strong> die christlich-islamischen<br />

Beziehungen auslegen.<br />

Es ist Bazargans erklärte Absicht, »die<br />

verehrten <strong>Christen</strong> <strong>und</strong> Christinnen« mit<br />

der »Sicht des Islams auf die christliche<br />

Religion <strong>und</strong> die christliche Gemeinschaft«<br />

bekannt zu machen, allein »durch den<br />

Koran, der eine authentische <strong>und</strong> bedeutende<br />

Quelle darstellt <strong>und</strong> sie als ‘Nazarener’<br />

oder ‘Angehörige des Buches’ (Ahl al-Kit - ab)<br />

bezeichnet« (23). Nun behauptet er<br />

jedoch nur wenige Zeilen weiter, »dass die<br />

Verehrung <strong>und</strong> Würdigung Christi <strong>und</strong><br />

Marias im Koran <strong>und</strong> die Rolle, die einer<br />

solchen Mutter bei der Erziehung eines solchen<br />

Sohnes für die Menschheit zuteil wird,<br />

über die Aussagen der vier Evangelien hinausgehen«<br />

(26). Wie soll der Christ diese<br />

Behauptung verstehen? Man darf annehmen,<br />

dass Bazargan als angeblich bedeutender<br />

muslimischer Religionswissenschaftler<br />

<strong>und</strong> Förderer des gegenseitigen<br />

Verstehens von <strong>Christen</strong> <strong>und</strong> <strong>Muslimen</strong><br />

die vier Evangelien des Neuen Testamentes<br />

eingehend – <strong>und</strong> somit unter anderem<br />

auch aus der christlichen Perspektive –<br />

studiert hat. Dabei wird ihm kaum entgangen<br />

sein, dass jedes von ihnen aus dem<br />

Glauben an Jesus als den Messias, als den<br />

»Sohn Gottes«, verfasst <strong>und</strong> tradiert wor-<br />

1 Yusuf D. al-Haddad, Dur _ us qur’ _ aniyyah, Bd. 1: Al-Indsch- ıl fi’l Qur’ _ an (Al-Maktabah al B _ ulusiyyah, Lubn _ an, 1982); Michel Hayek, Christ de l’Islam (Paris, 1959).<br />

2 G. Parrinder, Jesus in the Qur’an (London, 1965); K. Cragg, Jesus and the Muslims. An exploration (London, 1985); H. Räisannen, Das Koranische Jesusbild (Helsinki,1971); Encyclopedia<br />

of the Qur’an (Leiden, 2001 ff.) vol. 1, art. Christians and Christianity (by S. H. Griffith); vol. 3, art. Jesus (by Neal Robinson).<br />

3 H. Michaud, Jésus selon le Coran (Neuchâtel, 1960); J.-M- Gaudeul, Encounters and Clashes. Islam and Christianity in History (Rome, 2000), vol. I, S. 9-19; vol. II, S. 17-19.<br />

4 O. H. Schumann, Der Christus der Muslime. (Gütersloh, 1975); G. Risse, Gott ist Christus, der Sohn der Maria: Eine Studie <strong>zum</strong> Christusbild im Koran (Bonn, 1989); J.-D. Thyen, Bibel <strong>und</strong><br />

Koran. Eine Synopse gemeinsamer Überlieferungen. (Köln/Wien, 1989), S. 179-204.<br />

5 Vgl. dazu Der Koran. Arabisch-Deutsch. Übersetzung <strong>und</strong> wissenschaftlicher Kommentar von Adel Theodor Khoury, Bd. 6 (Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 1995), S. 25-26; ebd. Bd. 7<br />

(Gütersloh: Gütersloher Berlagshaus, 1996), S. 275-276.<br />

Buchbesprechungen CIBEDO-<strong>Beiträge</strong> 2/2006


den ist <strong>und</strong> somit <strong>zum</strong> Ziel hat, auf Seiten<br />

der gläubigen Leser die Haltung der<br />

Anbetung <strong>und</strong> totalen Hingabe an Gott<br />

in der Person des gekreuzigten <strong>und</strong> auferstandenen<br />

Jesus von Nazareth zu vertiefen.<br />

Wie kann er übersehen, dass Maria in<br />

diesen Evangelien als die Mutter Jesu, des<br />

Messias <strong>und</strong> Sohnes Gottes, als die »Mutter<br />

des Herrn« dargestellt wird? Es sei <strong>zum</strong><br />

Beispiel nur an die Kindheitsgeschichte<br />

Jesu im ersten <strong>und</strong> zweiten Kapitel des<br />

Evangeliums nach Lukas erinnert <strong>und</strong><br />

darin u. a. etwa an die Darstellung der<br />

Begegnung der beiden schwangeren<br />

Frauen Elisabeth <strong>und</strong> Maria <strong>und</strong> an Elisabeths<br />

Ausruf an die Adresse Marias, der<br />

Mutter Jesu: »Gebenedeit bist du unter den<br />

Frauen, <strong>und</strong> gebenedeit ist die Frucht deines<br />

Leibes! Woher geschieht mir dies, dass<br />

die Mutter meines Herrn zu mir kommt?«<br />

(Lukas 1,42-43.) Die Mutter Jesu ist nach<br />

dem Glauben der Evangelien »Mutter des<br />

Herrn«.<br />

Bazargan erklärt dann, es sei »nicht die<br />

Absicht des Koran, das Evangelium für<br />

ungültig zu erklären oder die christliche<br />

Religion als ‚überholt’ zu betrachten«.<br />

»Insgesamt« manifestiere sich in den<br />

relevanten Aussagen des Koran »eher der<br />

Aufruf zur Erneuerung als offene Feindseligkeit.<br />

Die meisten Verse des Koran,<br />

die sich mit dem <strong>Christen</strong>tum beschäftigen,<br />

beziehen sich auf Glaubensüberzeugungen<br />

<strong>und</strong> gr<strong>und</strong>legende Kritikpunkte,<br />

während ein geringerer Teil der<br />

Verse aus dem 7. <strong>und</strong> 8. Jahr nach der<br />

Hidschra von der hinterhältigen Kooperation<br />

mancher Buchbesitzer mit den<br />

Götzendienern Arabiens in Kriegen<br />

gegen den Propheten handelt oder sich<br />

mit Spott <strong>und</strong> Polemik gegen die neue<br />

Religion auseinandersetzt. Im Falle der<br />

zweiten Gruppe von Versen klingen Vorsicht,<br />

Zurückhaltung <strong>und</strong> teilweise sogar<br />

Protest oder Tadel mit« (27-28).<br />

Dieses Zitat soll uns als Beispiel dienen,<br />

auf den unseres Erachtens verschwommen<br />

zweideutigen, dem Dialog<br />

wenig dienlichen Charakter des Kommentars<br />

Bazargans hinzuweisen.<br />

a. Was genau meint Bazargan hier mit<br />

»Evangelium« (vgl. unter anderem<br />

auch die verwandten Ausführungen<br />

auf S. 88)? Der Zusammenhang lässt<br />

vermuten, dass er das Evangelium im<br />

christlichen Sinne meint <strong>und</strong> nicht das<br />

CIBEDO-<strong>Beiträge</strong> 2/2006<br />

»Evangelium« (buschrà = Frohe Botschaft),<br />

das nach koranischem Glauben<br />

auf jeden der genuinen Propheten bzw.<br />

Gesandten (rusul), einschließlich Muhammad,<br />

also auch Jesus, von Gott<br />

herabgesandt wurde. Meint er also das<br />

Evangelium im Sinne des christlichen<br />

Glaubens (<strong>und</strong> nicht nur eines der vier<br />

Evangelien des Neuen Testaments, von<br />

denen er unzweideuting kurz zuvor<br />

sprach), dann ist hier die christliche<br />

Frohbotschaft, die Kernbotschaft des<br />

christlichen Glaubens gemeint, die<br />

–wie jedem informierten Religionsk<strong>und</strong>ler<br />

bekannt sein dürfte – lautet:<br />

»Jesus Christus, der Gekreuzigte <strong>und</strong><br />

Auferstandene, ist der Herr, der ‚Sohn<br />

Gottes’. In ihm ist allen Menschen angeboten,<br />

Söhne <strong>und</strong> Töchter Gottes zu werden<br />

<strong>und</strong> so das Heil zu finden«. Somit<br />

würde Bazargans oben zitierte Aussage<br />

(27) bedeuten, dass der Koran diese<br />

Kernbotschaft des Evangeliums <strong>und</strong><br />

damit des christlichen Glaubens<br />

weiterhin als gültig anerkennt, d.h.<br />

nicht für »überholt« hält.<br />

b. Dieser christliche Glaube benötigt<br />

nach Bazargan »Erneuerung« (27).<br />

»Erneuerung« in welch genauerem<br />

Sinn? Im Kontext des islamischen<br />

Denkens besteht Erneuerung (tadschd<br />

- ıd ) in einer gründlichen Neuinterpretation<br />

der islamischen Lehren <strong>und</strong><br />

Vorschriften von den autoritativen<br />

Quellen der islamischen Religion<br />

(Koran, Had - ıth, S - ıra) her. Diese werden<br />

in ihrer Ganzheit als weiterhin gültig<br />

vorausgesetzt, wobei die Frage der<br />

Zuverlässigkeit einzelner Had - ıthe<br />

durchaus debattierbar bleibt. Sollte<br />

Bazargan diesen islamischen Begriff<br />

der Erneuerung im vorliegenden Text<br />

auf den christlichen Glauben anwenden,<br />

dann würde er sagen wollen: Der<br />

Koran erkennt den Anspruch der<br />

christlichen Glaubensbotschaft <strong>und</strong><br />

die für den christlichen Glauben<br />

gr<strong>und</strong>legenden <strong>und</strong> autoritativen<br />

Texte an. Er würde dann die <strong>Christen</strong><br />

dazu aufrufen, diese Texte – vor allem<br />

den Text des Neuen Testaments – einer<br />

gründlichen Neuinterpretation zu unterziehen.<br />

Ein solcher Aufruf würde<br />

den meisten <strong>Christen</strong> einleuchten <strong>und</strong><br />

wäre, wenn genügend konkret <strong>und</strong><br />

präzis gemacht, dem christlich-islamischen<br />

Dialog auf theologischer Ebene<br />

durchaus dienlich. Weist doch der<br />

christliche Glaube, wie er sich in den<br />

großen Kirchen versteht, selbst immer<br />

wieder auf die Notwendigkeit ständiger<br />

Selbstkritik <strong>und</strong> Erneuerung in<br />

diesem Sinn hin. Er wird sich gerne<br />

auch von kompetenten, nichtchristlichen<br />

Fachleuten <strong>und</strong> Kritikern dabei<br />

helfen lassen.<br />

Allerdings stellt sich im vorliegenden<br />

Text bald heraus, dass Bazargan<br />

»Erneuerung« in einem anderen Sinn<br />

versteht, denn er wirft den <strong>Christen</strong><br />

<strong>zum</strong> einen vor, den Text ihrer Schrift<br />

»verändert« zu haben, <strong>und</strong> <strong>zum</strong> anderen,<br />

in ihrem Glauben an Jesus als den<br />

Messias <strong>und</strong> Sohn Gottes <strong>und</strong> im<br />

Glauben an Gott als den Dreieinen<br />

sich frevelhafter Übertreibung schuldig<br />

zu machen. An keiner Stelle entwickelt<br />

Bazargan vom Koran her eine<br />

Sicht, die das Selbstverständnis des<br />

jüdischen <strong>und</strong> des christlichen Glaubens<br />

ernst nimmt <strong>und</strong> mit ihm – im<br />

heutigen Kontext weltweiter Koexistenz<br />

– mit der damit einhergehenden<br />

Verpflichtung, gerade der Gottgläubigen,<br />

zur Konvivenz, d.h. einen Modus<br />

friedlichen Zusammenlebens entwickeln<br />

würde. Dies würde von Bazargan<br />

natürlich in keiner Weise verlangen,<br />

die totale Ablehnung der spezifisch<br />

christlichen Glaubensaussagen<br />

aufzugeben.<br />

c. Bazargan hält den alten muslimischen<br />

Vorwurf des tahr - ıf – im Sinne von bewusster<br />

Manipulation des Textes der<br />

Bibel durch Juden <strong>und</strong> <strong>Christen</strong> – aufrecht.<br />

Seine Argumentation ist bemerkenswert:<br />

Da der Koran eindeutig lehre,<br />

dass Jesus die Prophetie Muhammads<br />

vorhergesagt habe, diese jetzt<br />

aber weder in der Tora noch in den<br />

Evangelien zu finden sei, »muss eine<br />

solche Ankündigung ... damals in der<br />

Tora <strong>und</strong> den Evangelien noch vorhanden<br />

gewesen <strong>und</strong> erst später entfernt worden<br />

sein. Es scheint abwegig, dass der<br />

Koran von etwas spricht, dass nirgends<br />

existierte, ohne von den Feinden widerlegt<br />

zu werden« (63). Allerdings stellt<br />

Bazargan an anderer Stelle des Textes,<br />

wieder in unklar verschwommener<br />

Redeweise, fest: »... der Koran ... lehnt<br />

die Tora <strong>und</strong> die Evangelien nicht ab<br />

<strong>und</strong> sagt nicht, dass sie vernichtet werden<br />

müssen, weil sie alt <strong>und</strong> unvollständig<br />

seien, sondern bezeichnet sich selbst als<br />

Beschützer <strong>und</strong> Bewahrer der Schrift«<br />

(29). Die Tora <strong>und</strong> die Evangelien in<br />

Buchbesprechungen<br />

37


38<br />

den Händen von Juden <strong>und</strong> <strong>Christen</strong><br />

entgehen also der Verbrennung. Der<br />

Koran bewahrt <strong>und</strong> beschützt sie. Freilich<br />

weist Bazargan die jüdischen <strong>und</strong><br />

christlichen Gläubigen gleichzeitig<br />

daraufhin, dass diese Schriften textlich<br />

manipuliert worden sind <strong>und</strong> in ihnen<br />

wesentliche, geoffenbarte Wahrheiten<br />

entweder fehlen oder aber, frei erf<strong>und</strong>en,<br />

ihnen hinzugefügt worden sind.<br />

Muss die Evidenz des koranischen Textes,<br />

fragt der christliche Gläubige seinen<br />

muslimischen Dialogpartner, auch<br />

heute noch im Sinne einer textuellen<br />

Manipulation der Heiligen Schriften<br />

durch Juden <strong>und</strong> <strong>Christen</strong> aufrecht<br />

erhalten werden? Wird diese Anschuldigung<br />

aber aufrechterhalten, muss<br />

dann nicht ein seriöser Religionswissenschaftler<br />

wenigstens den Versuch<br />

machen, die Anschuldigungen auch<br />

mit wissenschaftlichen Argumenten zu<br />

untermauern?<br />

d. Bazargan konzediert, dass einige Aussagen<br />

des Koran über das <strong>Christen</strong>tum<br />

»offen« feindselig sind. Er unterscheidet<br />

dabei zwei Kategorien von Aussagen.<br />

Die erste Kategorie, die aus den<br />

»meisten« dieser feindseligen Aussagen<br />

besteht, »bezieht sich auf Glaubensüberzeugungen<br />

<strong>und</strong> gr<strong>und</strong>legende Kritikpunkte«.<br />

Dazu zählen für ihn: »das<br />

Verlassen des Pfades des absoluten Monotheismus<br />

(tawh - ıd )«, »die Anbetung<br />

Christi <strong>und</strong> die Behauptung, Jesus sei<br />

Gottes Sohn« (29); die »Abweichung<br />

vom reinen Monotheismus« <strong>und</strong> der<br />

»Vorwurf, dass sie [die <strong>Christen</strong>] sich in<br />

ihrem Handeln nicht nach ihrem eigenen<br />

Buch richten« (33). Hier ist nicht<br />

klar, was in diesem, auf Sure 42,15 folgenden,<br />

Kommentar mit »ihrem eigenen<br />

Buch« gemeint ist, die Heilige<br />

Schrift der <strong>Christen</strong> oder aber der von<br />

Gott auf Muhammad herabgesandte<br />

Koran, der in seinem wesentlichen<br />

Inhalt als identisch mit dem wesentlichen<br />

Inhalt des »eigenen Buch(es)«<br />

der <strong>Christen</strong> behauptet wird. In Kommentierung<br />

von Sure 29,47 unterscheidet<br />

Bazargan <strong>zwischen</strong> zwei<br />

Gruppen von »Buchbesitzern« (gemeint<br />

sind hier vor allem Juden <strong>und</strong><br />

<strong>Christen</strong>), je nachdem ob sie an das auf<br />

Muhammad herabgesandte Buch glauben,<br />

d.h. den Koran (44). »Die erste<br />

Gruppe besteht aus denjenigen, die das<br />

Buch tatsächlich annehmen <strong>und</strong> dessen<br />

Botschaft befolgen«. Damit kann Bazargan<br />

eigentlich nur die Juden <strong>und</strong><br />

<strong>Christen</strong> meinen, die <strong>zum</strong> Islam konvertieren.<br />

»Die andere Gruppe sind jene,<br />

die sich für die Ablehnung des Buches<br />

entschieden haben«. Diese, also die<br />

Juden <strong>und</strong> <strong>Christen</strong>, die nicht <strong>zum</strong><br />

Islam konvertieren, obwohl ihnen der<br />

Koran bekannt gemacht worden ist,<br />

»haben keinen wahrhaften Glauben an<br />

Gott <strong>und</strong> seine Religion« (44). Hier<br />

spricht Bazargan den Juden <strong>und</strong> <strong>Christen</strong>,<br />

die bewusst nicht <strong>zum</strong> Islam<br />

übergetreten sind, nicht nur den Glauben<br />

an Gottes Religion ab – der auf<br />

dem Koran basierende Islam wird hier<br />

wohlgemerkt als die einzige wirkliche<br />

Religion Gottes, eben »seine Religion«<br />

qualifiziert –nein, es wird ihnen auch<br />

jeglicher »wahrhafte Glauben« abgesprochen.<br />

Juden <strong>und</strong> <strong>Christen</strong> sind mit<br />

anderen Worten Ungläubige (k - afir -<br />

un). Dieselbe exklusive <strong>und</strong> verurteilende<br />

Interpretation des Koran formuliert<br />

Bazargan in Kommentierung von<br />

Sure 3,113 folgendermaßen: »Die<br />

Religionen sollten als Einheit betrachtet<br />

werden, <strong>und</strong> alle sollten sich als ‘Muslime’,<br />

also als ‘Gottergebene’, bezeichnen.<br />

Genau diese universale, über einzelne<br />

Konfessionen hinausgehende Religion<br />

<strong>und</strong> Botschaft ist es, die ‘Islam’ genannt<br />

<strong>und</strong> von Gott angenommen wird. Wer<br />

einem Weg oder einer Religion folgt, die<br />

außerhalb dieses allgemeinen ‘Islam’ (im<br />

Sinne der Hinwendung zu Gott <strong>und</strong><br />

dem Glauben an seine Propheten) liegt,<br />

wird im Jenseits bestraft« (59-60). Der<br />

Koran, seine spezifische Version des<br />

Monotheismus <strong>und</strong> Lehre über die<br />

Propheten, ist für Bazargan der Maßstab<br />

für alle wahre Religion. Wer<br />

immer einer Religion folgt, die diesem<br />

Maßstab nicht genau entspricht, ist ein<br />

Sünder, den Gottes Strafe im Jenseits<br />

erwartet.<br />

So weit zur ersten Gruppe der Koranverse,<br />

die sich »auf Glaubensüberzeugungen<br />

<strong>und</strong> gr<strong>und</strong>legende Kritikpunkte«<br />

beziehen, die der Koran bei den <strong>Christen</strong><br />

beanstandet. Verfehlungen der<br />

<strong>Christen</strong> in Bezug auf diese koranischen<br />

Lehren werden nach Bazargans<br />

Koranverständnis nur von Gott bestraft,<br />

im Jenseits oder auch schon hienieden.<br />

Zur Erklärung von Sure 3,56<br />

macht Bazargan klar, dass Gott die<br />

Aufgabe der Bestrafung der Ungläubigen<br />

in jedem Fall sich selbst vorbehält.<br />

Der Koran wendet sich damit nach<br />

Bazargan unausgesprochen »gegen die<br />

Ansicht, sie [d.h. ‘Laien oder Geistliche’]<br />

hätten über Himmel <strong>und</strong> Hölle der<br />

Menschen zu entscheiden. Er unterbindet<br />

auf diese Weise von vorneherein jede<br />

Art von Inquisition« (54).<br />

e. Die zweite Gruppe von Koranversen<br />

besteht aus einer geringeren Anzahl<br />

von Koranversen, die alle dem 7. oder<br />

8. Jahr der Hidschra zuzurechnen sind.<br />

Sie handeln »von der hinterhältigen<br />

Kooperation mancher Buchbesitzer mit<br />

den Götzendienern Arabiens in Kriegen<br />

gegen den Propheten« oder positionieren<br />

sich »mit Spott <strong>und</strong> Polemik gegen<br />

die neue Religion.« In diesen Versen, so<br />

Bazargan, »klingen Vorsicht, Zurückhaltung<br />

<strong>und</strong> teilweise sogar Protest <strong>und</strong><br />

Tadel mit« (28). Zunächst ist der<br />

christliche Leser wieder mit der ungenauen,<br />

vieldeutigen Formulierung<br />

Bazargans konfrontiert. Wen genau<br />

meint er mit den Worten »mancher<br />

Buchbesitzer«? In Sure 5,51 fordert der<br />

Koran die muslimischen Gläubigen<br />

auf, nicht die Juden <strong>und</strong> <strong>Christen</strong> zu<br />

Fre<strong>und</strong>en zu nehmen. »Sie sind untereinander<br />

Fre<strong>und</strong>e, <strong>und</strong> wer von euch sie<br />

zu Fre<strong>und</strong>en nimmt, siehe, der ist von<br />

ihnen. Siehe, Gott leitet nicht ungerechte<br />

Leute« (72). Bazargan schreibt im<br />

Kommentar zu diesem Vers: »Trotz des<br />

Wunsches des Propheten <strong>und</strong> der Muslime,<br />

mit den <strong>Christen</strong> <strong>und</strong> Juden in<br />

Medina friedlich <strong>und</strong> ohne Störungen<br />

zusammenzuleben, war es im Jahre 6<br />

nach der Hidschra zu Auseinandersetzungen<br />

gekommen, nachdem sich verschiedene<br />

Fronten gegen die Muslime<br />

gebildet hatten. Es war nun notwendig<br />

geworden, vorsichtig vorzugehen <strong>und</strong><br />

sich vor Listen <strong>und</strong> Intrigen zu hüten.<br />

Den <strong>Muslimen</strong> wird nicht empfohlen,<br />

mit den Andersgläubigen zu kämpfen<br />

oder sie zu unterdrücken, damit sie dem<br />

Islam folgen. Es wird den <strong>Muslimen</strong><br />

lediglich befohlen, mit denen keinen<br />

B<strong>und</strong> einzugehen, die sich ihnen gegenüber<br />

intrigant verhalten, keine Aufrichtigkeit<br />

<strong>und</strong> Fre<strong>und</strong>lichkeit zeigen <strong>und</strong><br />

sich gegen sie [d.h. gegen die Muslime?]<br />

zur Wehr setzen« (73).<br />

Nun ist es wohlbekannt, dass der Prophet<br />

die Juden Medinas der hinterhältigen<br />

Kooperation mit den Mekkanern<br />

beschuldigte. Sein Vorgehen gegen die<br />

drei jüdischen Stämme Medinas<br />

Buchbesprechungen CIBEDO-<strong>Beiträge</strong> 2/2006


aucht hier nicht im Einzelnen erneut<br />

dargestellt werden. 6 Allerdings beließ<br />

es Muhammad bekanntlich nicht beim<br />

Verbot, die Juden zu Fre<strong>und</strong>en zu nehmen.<br />

Durch Vertreibung <strong>und</strong> Tötung<br />

wurden sie aus dem Leben Medinas<br />

entfernt. Bazargan betritt im vorliegenden<br />

Kommentar insofern Neuland,<br />

als er andeutet, auch die <strong>Christen</strong> hätten<br />

im Jahre 6 nach der Hidschra an<br />

»Auseinandersetzungen« mit den <strong>Muslimen</strong><br />

teilgenommen, »nachdem sich<br />

verschiedene Fronten gegen die Muslime<br />

gebildet hatten« (73). Im Kommentar<br />

zu den Versen 78, 80 <strong>und</strong> 81 derselben<br />

5. Sure bezeichnet Bazargan sowohl<br />

Juden als auch <strong>Christen</strong> als »die Frevelnden<br />

unter den Buchbesitzern«. Diese<br />

werden, sagt er, »erstmals offen angegriffen<br />

<strong>und</strong> zur Bekehrung aufgerufen.<br />

Dem Propheten werden die nötigen<br />

Mittel dafür vorgeschlagen.« Es bleibt<br />

offen, an welche Mittel Bazargan hier<br />

denkt. Der folgende Vers 82 derselben<br />

Sure 5, in dem der Koran dem Propheten<br />

versichert: »Wahrlich, du wirst finden,<br />

dass unter allen Menschen die Juden<br />

<strong>und</strong> die, welche Gott Götter zur Seite<br />

stellen, den Gläubigen am meisten Feind<br />

sind, <strong>und</strong> wirst finden, dass den Gläubigen<br />

diejenigen, welche sprechen: ‘Wir<br />

sind Nazarener’, am fre<strong>und</strong>lichsten<br />

gegenüberstehen.«, »deutet«, so Bazargan,<br />

»auf eine religionsgeschichtliche<br />

Evolution hin. Jedenfalls wird <strong>zwischen</strong><br />

trotzigen <strong>und</strong> engstirnigen Kindern<br />

Israels <strong>und</strong> aufrichtigen <strong>und</strong> demütigen<br />

Gefolgsleuten Christi unterschieden«<br />

(77). Hier öffnet Bazargans Neigung<br />

zu vagen <strong>und</strong> verschwommenen Formulierungen<br />

der Vorstellungskraft des<br />

Lesers Tür <strong>und</strong> Tor wahrlich weit!<br />

Sure 9 »Die Reue« datiert Bazargan in<br />

das 8. Jahr nach der Hidschra. Zu den<br />

zur Genüge bekannten Versen 29 <strong>und</strong><br />

30 dieser Sure, in denen der Koran<br />

befiehlt: »Kämpfet wider jene von<br />

denen, welchen die Schrift gegeben ward,<br />

die nicht glauben an Gott <strong>und</strong> an den<br />

Jüngsten Tag <strong>und</strong> nicht verwehren, was<br />

Gott <strong>und</strong> sein Gesandter verwehrt<br />

haben, <strong>und</strong> nicht bekennen das<br />

Bekenntnis der Wahrheit, bis sie den Tribut<br />

aus der Hand gedemütigt entrichten«<br />

schreibt Bazargan erklärend, es<br />

CIBEDO-<strong>Beiträge</strong> 2/2006<br />

werde in diesem <strong>und</strong> dem darauf folgenden<br />

Vers »von Kämpfen gesprochen,<br />

die die Ruhe wiederherstellen sollen, also<br />

nicht von Kämpfen gegen jeden Buchbesitzer<br />

... Dies bezieht sich alles nur auf<br />

diejenigen, die dem Namen nach Buchbesitzer<br />

sind, aber Gott andere Mächte<br />

zur Seite stellen, seine Propheten zu Söhnen<br />

Gottes machen, ihre Führer als Herren<br />

an die Stelle Gottes setzen, das Licht<br />

Gottes mit ihren Verleumdungen <strong>und</strong><br />

ihrer Propaganda auslöschen möchten<br />

<strong>und</strong> mit den Götzendienern kooperieren,<br />

um die Muslime <strong>und</strong> den Islam zu<br />

vernichten« (79). Unser Korankommentator<br />

liefert einen weiteren Beweis<br />

für seine eigenartige, nicht unbedingt<br />

stringent erscheinende Logik in seiner<br />

Erklärung von Vers 33 derselben Sure:<br />

»Er ist’s, der entsandt hat Seinen<br />

Gesandten mit der Leitung <strong>und</strong> der Religion<br />

der Wahrheit, um sie sichtbar zu<br />

machen über jede andere Religion, auch<br />

wenn es den Ungläubigen zuwider ist«:<br />

»Der Koran geht davon aus, dass Unterschiede,<br />

Vielfalt, ja sogar Auseinandersetzungen<br />

<strong>und</strong> verschiedene Gesetze zur<br />

Ordnung der Schöpfung gehören <strong>und</strong><br />

nicht außerhalb dieser Ordnung liegen«<br />

(80). Es scheint, dass für Bazargan<br />

auch in unseren Tagen gegebenenfalls<br />

der Kampf mit der Waffe ein legitimes,<br />

der Ordnung der Schöpfung zugehörendes<br />

<strong>und</strong> von Gottes Wort gefordertes<br />

Mittel ist, die »Religion der Wahrheit<br />

sichtbar zu machen über jede andere<br />

Religion, auch wenn es den Ungläubigen<br />

zuwider ist« (Sure 9,33).<br />

Aber vielleicht irrt sich der Schreiber<br />

dieser Zeilen, denn Bazargan spricht<br />

an anderen Stellen seines Kommentars<br />

eine ganz andere Sprache. Etwa: »Jetzt,<br />

da wir an einem Punkt der Geschichte<br />

angelangt sind, wo wir eine Gemeinde<br />

der Anbeter Gottes aufbauen <strong>und</strong> das<br />

rettende Seil Gottes fest umklammern<br />

sollten, verbietet sich jeder Alleingang<br />

<strong>und</strong> jeder Zwiespalt. Sollten wir in dieser<br />

Welt zu Mitteln der Gewalt greifen,<br />

um das Diesseits <strong>und</strong> das Jenseits der<br />

Menschen in Ordnung zu bringen oder<br />

sollten wir es eher mit Argumenten <strong>und</strong><br />

Disputen versuchen?« (31).<br />

In diesem Beitrag haben wir versucht,<br />

genau in diesem Sinne zu argumentie-<br />

ren. Wir nehmen Bazargans Aussage,<br />

dass der Koran »die Entscheidung <strong>und</strong><br />

das Urteil über die Meinungsverschiedenheiten<br />

der Menschen sowie über ihre<br />

Behauptungen <strong>und</strong> ihren Wahrheitsanspruch<br />

allein Gott im Jenseits« überlässt,<br />

zustimmend zur Kenntnis <strong>und</strong> stimmen<br />

seiner Aufforderung zu, dass »in<br />

dieser Welt ... alle Menschen in guten<br />

Werken <strong>und</strong> im Dienst am Nächsten<br />

wetteifern« sollen, »um ihren Wahrheitsanspruch<br />

zu beweisen.« Allerdings sollte<br />

bei einem Gelehrten, der nach<br />

Navid Kermani »eine der wichtigsten<br />

<strong>und</strong> prominentesten Stimmen des Islam<br />

im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert« ist, diesen lobenswerten<br />

Wünschen eine glaubwürdige,<br />

konsistente, dem Wissensstand unserer<br />

Tage angemessene <strong>und</strong> die Nichtmuslime<br />

in ihrer Würde <strong>und</strong> Identität<br />

wirklich respektierende Koranauslegung<br />

entsprechen. Der vorliegende<br />

Text stellt letztlich für informierte<br />

gläubige <strong>Christen</strong> eine Zumutung dar.<br />

Zudem verrät er gewissermaßen die<br />

beachtlichen exegetischen Bemühungen<br />

gläubiger, kritisch denkender islamischer<br />

Religionsgelehrten in unseren<br />

Tagen. ■<br />

6 Siehe dazu zusammenfassend den »Exkurs: Der Koran <strong>und</strong> die Juden« in Der Koran. Arabisch-Deutsch. Übersetzung <strong>und</strong> wissenschaftlicher Kommentar von Adel Theodor Khoury, Bd. 6,<br />

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 1995, S. 142-150.<br />

Buchbesprechungen<br />

39


40<br />

ASLAN, Reza: Kein Gott außer Gott. Der<br />

Glaube der Muslime von Muhammad bis<br />

zur Gegenwart. München: Beck 2006<br />

von Alexander Görlach<br />

Reza Aslans Einführung in die<br />

Geschichte des Islam liefert genau das,<br />

was wir heute im Diskurs über das Verhältnis<br />

von Islam <strong>und</strong> aufgeklärter freiheitlicher<br />

Moderne gerne von <strong>Muslimen</strong><br />

einfordern: Authentischen Kritizismus.<br />

Aslans Buch ist auf der einen Seite an<br />

wissenschaftlichen Erkenntnissen orientiert.<br />

Aslan geht zudem exegetisch mit<br />

den Quellen der islamischen Geschichtsschreibung<br />

um, <strong>und</strong> spart bei dieser Herangehensweise<br />

sogar partiell den Koran<br />

nicht aus – also ein kritisches Buch.<br />

Auf der anderen Seite ist »Kein Gott<br />

außer Gott« unverkennbar von einem<br />

Muslim geschrieben, der die islamische<br />

Tradition <strong>und</strong> Gegenwart als Glaubender<br />

durchdringt <strong>und</strong> in ihr lebt. »Im Namen<br />

Gottes, des Erbarmers, des Barmherzigen«<br />

steht wie selbstverständlich am Anfang<br />

des Werkes – also ein authentisches Buch.<br />

Nebenbei ist es auch noch lesbar<br />

geschrieben – Allah sei Dank! Azlan versteht<br />

es, in einem lockeren, fast journalistischen<br />

Stil, pointiert die Stationen der<br />

islamischen Geschichte zu erzählen.<br />

Am Ende greifen Vergangenheit <strong>und</strong><br />

Gegenwart ineinander: Aslan fasst die<br />

gegenwärtigen Diskussionen über Säkularismus,<br />

Aufklärung <strong>und</strong> den Stellenwert<br />

der Religion zusammen. Sein Diskurs<br />

hebt in der islamischen Kulturwelt an,<br />

besonders die Türkei ist dabei im Blickfeld;<br />

er scheut aber den Vergleich mit<br />

Ländern der christlich geprägten Welt<br />

wie den Vereinigten Staaten nicht.<br />

Für Aslan ist bei seinem Diskurs klar,<br />

dass Islam <strong>und</strong> Demokratie zusammen<br />

gehen können. Er verweist auf die innerislamische<br />

Entwicklung, beispielsweise<br />

auf Muhammad Abduh in Ägypten, der<br />

in der ersten Hälfte des 19. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

damit begonnen hat, den Islam mit der<br />

Moderne, die mit Napoleon in seine Heimat<br />

am Nil gelangte, zusammen zu denken<br />

<strong>und</strong> in ein neues Ausbildungssystem<br />

Buchbesprechungen<br />

zu integrieren, das nicht mehr nur an der<br />

islamisch-theologischen Wissenschaft<br />

orientiert war.<br />

Eine Absage erteilt Aslan auch der<br />

westlichen Vorstellung der Trennung von<br />

weltlicher <strong>und</strong> geistlicher Sphäre. Der<br />

Islam ist mehr als eine Religion, schreibt<br />

er. Der Islam »ist die dynamische Überzeugung,<br />

dass religiöse <strong>und</strong> weltliche Verantwortung<br />

eines Menschen nicht voneinander<br />

zu trennen sind, <strong>und</strong> die Verpflichtung des<br />

einzelnen gegenüber Gott zusammenfällt«.<br />

Säkulare Konzepte, die aus Sicht Aslans<br />

religiöse Aufgaben <strong>und</strong> Zuständigkeiten<br />

auf weltliche Organisationen <strong>und</strong> Personen<br />

übertragen, sind mit dem Islam nicht<br />

vereinbar, wohl aber ein gewisser Pluralismus,<br />

der sich als Topos aus der Gründungszeit<br />

des Islam bis auf den heutigen<br />

Tage erhalten habe. Muhammads Staats<strong>und</strong><br />

Gesellschaftskonzept sei immer<br />

davon ausgegangen, dass in ihm auch<br />

nicht-muslimische Minderheiten leben.<br />

Diese Pluralität habe auch heute noch<br />

Grenzen, wenn »muslimische Gr<strong>und</strong>werte«<br />

verletzt werden. »Pluralismus bedeutet<br />

religiöse Toleranz, nicht schrankenlose religiöse<br />

Freiheit«, meint Aslan. Diesem Satz<br />

kann durchaus widersprochen werden, er<br />

zeigt zur gleichen Zeit aber exemplarisch,<br />

wie nahe der historisch konzipierte Abriss<br />

der islamischen Geschichte der aktuellen<br />

Debatte ist. ■<br />

CIBEDO-<strong>Beiträge</strong> 2/2006


Projektbericht<br />

Christlich-muslimische Begegnung:<br />

Multiplikatorenschulung im virtuellen<br />

Seminar<br />

von Barbara Huber-Rudolf<br />

Schon im dritten Durchgang bietet<br />

die Hochschule St. Georgen in Kooperation<br />

mit CIBEDO ein Studienprogramm<br />

zu Islam <strong>und</strong> christlich-muslimischer<br />

Begegnung an. Es ist als Möglichkeit zur<br />

zusätzlichen Qualifizierung künftiger<br />

Mitarbeiter <strong>und</strong> Mitarbeiterinnen in der<br />

Pastoral konzipiert worden. Aus den<br />

Erfahrungen mit diesem Angebot, das die<br />

Präsenz des Lehrenden <strong>und</strong> der Lernenden<br />

voraussetzt, wurde die Idee zu einer<br />

Multiplikatorenschulung im virtuellen<br />

Seminar entwickelt.<br />

1. Der Handlungsbedarf<br />

Wozu brauchen Mitarbeiter <strong>und</strong> Mitarbeiterinnen<br />

im kirchlichen Dienst Weiterbildung<br />

im Islam? Die Frage scheint<br />

mir nicht nur deshalb berechtigt zu sein,<br />

weil die Kollegen in der Praxis durchaus<br />

ausgelastet sind, sondern weil auch die<br />

Auseinandersetzung mit anderen Religionen,<br />

insbesondere den monotheistischen,<br />

schon zur f<strong>und</strong>amentaltheologischen<br />

Gr<strong>und</strong>ausbildung im Laufe des Studiums<br />

gehört.<br />

Der Pfarrer, die Gemeindereferentin,<br />

der Religionslehrer, die -lehrerin <strong>und</strong> die<br />

CIBEDO-<strong>Beiträge</strong> 2/2006<br />

Erzieherin stehen in den Diskursen unserer<br />

Gesellschaft als meinungsbildende<br />

Bezugspersonen ihres Adressatenkreises.<br />

Sie fragen sich <strong>und</strong> werden von anderen<br />

über die Schlagzeilen, die »Islam« in den<br />

Medien hinterlässt, angefragt. Kaum ein<br />

Thema, das Muslime in den vergangenen<br />

Jahren in Europa aufgeworfen haben, hat<br />

nicht auch zu innerkirchlichen Debatten<br />

<strong>und</strong> teils zu wertvollen Klärungen geführt.<br />

Moscheenbau in Europa, z.B.,<br />

wurde immer auch mit der Religionsfreiheit<br />

der <strong>Christen</strong> in der sog. islamischen<br />

Welt in Verbindung gebracht. Die Klärung<br />

in Bezug auf die Gewährung der<br />

Religionsfreiheit für alle Religionen (<strong>und</strong><br />

nicht nur für die etablierten Kirchen) als<br />

einem gr<strong>und</strong>gesetzlich verankerten <strong>und</strong><br />

auch von den Kirchen gestützten Wert ist<br />

in weite Kreise der Bevölkerung im Kontext<br />

des Moscheebaus getragen worden.<br />

Als vorschnell die Diskussion um das<br />

Kopftuch der muslimischen Lehrerin auf<br />

die Tracht der Ordensfrauen übertragen<br />

wurde, ist klar geworden, in welcher<br />

Weise Freiheit bzw. Abhängigkeit von<br />

äußeren Zeichen in Islam <strong>und</strong> <strong>Christen</strong>tum<br />

besteht. Und als wenig plausibel<br />

konnte die Beurteilung der christlichen<br />

Ordenstracht als einem überkonfessionell-neutralen<br />

Kulturwert Wirkung entfalten.<br />

Aus den Prozessen um die Ehren-<br />

morde haben wir gelernt, wie stark<br />

kulturgeb<strong>und</strong>en auch der Ausdruck von<br />

islamischem Glaubensvollzug der Zuwanderer<br />

aus sog. islamischen Ländern<br />

beurteilt werden muss. Der Glaubenswechsel<br />

des pakistanischen Muslims <strong>zum</strong><br />

<strong>Christen</strong>tum setzte ein Fragezeichen hinter<br />

die Behauptung von der Allgemeinheit<br />

der Menschenrechte. Nach dem<br />

Karikaturenstreit hat sich auch die offizielle<br />

Kirche darauf besonnen, dass sie<br />

mit Popetown in ihren religiösen Empfindungen<br />

verletzt werden kann.<br />

In ihren Arbeitsfeldern trifft die Zielgruppe<br />

der hier vorzustellenden Multiplikatorenschulung<br />

auf Muslime im Kindergarten,<br />

in der Jugendarbeit, in der Ehevorbereitung,<br />

in der Sterbebegleitung <strong>und</strong> in<br />

vielen Bereichen der Caritas. In drohenden<br />

Moscheebaukonflikten haben sich<br />

Pfarrgemeinden bereits als Mediatoren<br />

erfolgreich erwiesen. Kooperationen sind<br />

nötig <strong>und</strong> längst möglich in allen Dimensionen<br />

von der interkulturellen Woche bis<br />

zur Fußballweltmeisterschaft. Weltbewegende<br />

Dramen, aber auch das ritualisierte<br />

Engagement für den Frieden führen die<br />

Pfarr- <strong>und</strong> Moscheegemeinden zu multireligiösen<br />

Gebeten zusammen.<br />

Huber-Rudolf, Christlich-muslimische Begegnung: Multipliatorenschulung im virtuellen Seminar<br />

41


42<br />

Das Multiplikatorenseminar im virtuellen<br />

Raum dient der Verbesserung der<br />

gesellschaftlichen Diskursfähigkeit der<br />

Mitarbeiter/innen im kirchlichen<br />

Dienst als Meinungsbildner <strong>und</strong> zur<br />

Kompetenzerweiterung in den pastoralprofessionellen<br />

Kontakten.<br />

Bewerbung <strong>und</strong> Kontaktaufnahme<br />

Um den bisherigen Referenten für<br />

Weltanschauungsfragen zu entlasten<br />

(<strong>und</strong> damit den Islam aus dem sog. Sektenreferat<br />

zu nehmen) wurde im Bistum<br />

Würzburg eine Referentin für Islamfragen<br />

beauftragt, die mit 50 % Zeitkontingent<br />

der katholischen Akademie Domschule<br />

zugeordnet ist. Diese Konstellation<br />

hat sich für die Einführung des virtuellen<br />

Seminars als günstig erwiesen. Die Domschule<br />

fungierte als Veranstalter. CIBE-<br />

DO ist nicht als Akademie ausgestattet<br />

<strong>und</strong> bedarf der Infrastruktur, z.B. eines<br />

Tagungssekretariates <strong>und</strong> eines Verteilers,<br />

einer entsprechenden Einrichtung. Die<br />

Referentin, Frau Dr. Lautenschläger<br />

(Kontakt für Nachfragen über Bischöfliches<br />

Ordinariat Würzburg), bewarb die<br />

Veranstaltung in ihrer Funktion durch<br />

persönliche Bezüge. Dabei schien die<br />

Motivation der Dekane, die künftige<br />

Ansprechpartner/innen in ihren Dekanaten<br />

benennen wollen, ausdrücklich hilfreich.<br />

So konnten die benannten Teilnehmer<br />

mit einer gewissen Sicherheit damit<br />

rechnen, auch künftig für das Anliegen<br />

Unterstützung <strong>und</strong> Arbeitszeit zu finden.<br />

2. Die Ausschreibung<br />

»Begegnungen <strong>und</strong> <strong>Gespräch</strong>e mit<br />

<strong>Muslimen</strong> ...<br />

... haben deutsche <strong>Christen</strong> oft nur auf<br />

dem Wochenmarkt beim türkischen<br />

Gemüsehändler oder auf den Elternabenden<br />

im Kindergarten <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>schulen.<br />

Stumm sitzt man sich in der Straßenbahn<br />

gegenüber, stumm geht jeder an seine<br />

Arbeit. Ohne einander zu begegnen<br />

feiern <strong>Christen</strong> <strong>und</strong> Muslime ihre Gottesdienste<br />

<strong>und</strong> Feste. Misstrauen wecken die<br />

Meldungen aus der islamischen Welt,<br />

Sorgen bereiten die Nachrichten aus der<br />

Weltkirche, Verunsicherungen lösen die<br />

Berichte des Verfassungsschutzes aus.<br />

Als <strong>Christen</strong> wissen wir um die<br />

Bedeutung des Wortes <strong>und</strong> um den Wert<br />

persönlicher Begegnungen. Das Zweite<br />

Vatikanische Konzil verlangt, bei aller<br />

Anerkennung der Verschiedenheit,<br />

gegenseitige Hochachtung, Ehrfurcht<br />

<strong>und</strong> Eintracht zu pflegen. Der offene<br />

Dialog soll dazu beitragen, die Anregungen<br />

des Geistes treulich aufzunehmen<br />

<strong>und</strong> <strong>zum</strong> Aufbau einer friedlichen Welt<br />

zusammen zu arbeiten. (GS 92)<br />

In Klugheit <strong>und</strong> Liebe, so fordert das<br />

Konzil die Söhne <strong>und</strong> Töchter in der Kirche<br />

auf, sollen sie die geistlichen Güter<br />

<strong>und</strong> die sittlichen Werte der Bekenner<br />

anderer Religionen anerkennen, wahren<br />

<strong>und</strong> fördern. (NA 2)<br />

Unter diesem Leitmotiv will der Kurs<br />

informieren <strong>und</strong> jeden <strong>und</strong> jede an seinem<br />

<strong>und</strong> ihrem Arbeitsplatz oder in jedweder<br />

Lebenssituation unterstützen, die<br />

Chancen wahrzunehmen, die in den Dialog<br />

mit den mehr als drei Millionen <strong>Muslimen</strong><br />

<strong>und</strong> Musliminnen in unserem<br />

Land liegen.<br />

Sie möchten<br />

● sich <strong>und</strong> andere über den Islam informieren<br />

● den gesellschaftlichen Diskurs über den<br />

Islam verstehen<br />

● Begegnungen von <strong>Christen</strong> <strong>und</strong> <strong>Muslimen</strong><br />

ermöglichen <strong>und</strong> begleiten<br />

● mit <strong>Muslimen</strong> für ein zukunftsfähiges<br />

Europa kooperieren<br />

● Verantwortung übernehmen für den<br />

interreligiösen Dialog<br />

● die religionspädagogische Herausforderung<br />

»Islam« annehmen<br />

● einen christlich-islamischen <strong>Gespräch</strong>skreis<br />

gründen<br />

Sie suchen<br />

● fachk<strong>und</strong>iges Wissen über den Islam<br />

● Einblick in die Geschichte der interreligiösen<br />

Begegnung<br />

● Erfahrungen in interreligiöser Dialogpraxis<br />

● pastorale Kompetenz bei der Beratung<br />

von <strong>Muslimen</strong> <strong>und</strong> Angehörigen<br />

● Orientierung hinsichtlich der kirchlichen<br />

Haltung zu <strong>Muslimen</strong><br />

● geistliche Impulse für den interreligiösen<br />

Dialog<br />

Huber-Rudolf, Christlich-muslimische Begegnung: Multipliatorenschulung im virtuellen Seminar<br />

Zielgruppe:<br />

Haupt- <strong>und</strong> Ehrenamtliche<br />

● in der Pastoral <strong>und</strong> Sonderseelsorge<br />

● bei Caritas <strong>und</strong> Diakonie<br />

● im Kindergarten <strong>und</strong> Schuldienst<br />

● in der Jugendarbeit<br />

● in der Erwachsenenbildung<br />

Mit uns werden Sie:<br />

● islamwissenschaftliche Informationen<br />

über theologische <strong>und</strong> gesellschaftliche<br />

Themen erarbeiten<br />

● kirchliche <strong>und</strong> theologische Positionen<br />

<strong>zum</strong> Dialog kennen lernen<br />

● Dialogeinrichtungen besuchen<br />

● Kontakte zu muslimischen <strong>Gespräch</strong>spartnern<br />

knüpfen <strong>und</strong><br />

● ihre Dialogkompetenz stärken<br />

Projektmethoden<br />

● Lehrbrief per Mail (oder auf dem Postweg)<br />

● Wochenaufgaben per Mail (oder Post)<br />

● Gegenseitige Debatte der Aufgaben<br />

● Teilnehmerchat <strong>und</strong> Treffen <strong>zum</strong> Erfahrungslernen<br />

<strong>und</strong> zur inhaltlichen<br />

Diskussion<br />

● Expertenchat<br />

● Teilnehmerbesuche <strong>und</strong> Vermittlung<br />

von persönlichen Kontakten<br />

Zeitaufwand:<br />

● der jetzige Kurs dauert von Oktober<br />

2005 bis April 2006<br />

● r<strong>und</strong> drei Wochenarbeitsst<strong>und</strong>en<br />

Themen <strong>und</strong> Termine:<br />

5. Oktober 2005: Auftaktveranstaltung<br />

1. Block: Die Beteiligten am interreligiösen<br />

Dialog<br />

7.10.2005: Die katholische Kirche <strong>und</strong><br />

der interreligiöse Dialog<br />

21.10.2005: Eine kleine Typologie der<br />

Dialogisierenden<br />

4.11.2005: Das <strong>Christen</strong>tum in der Sicht<br />

der Muslime<br />

18.11.2005: Die muslimischen <strong>Gespräch</strong>spartner:<br />

Richtungen <strong>und</strong> Organisationen<br />

CIBEDO-<strong>Beiträge</strong> 2/2006


2. Block: Systematische Gr<strong>und</strong>informationen<br />

2.12.2005: Als Christ den Koran befragen:<br />

Offenbarungsproblematik<br />

16.12.2005: Das Vorbild Muhammads<br />

im Alltag der Muslime: Religiöse Vielfalt<br />

<strong>und</strong> interkulturelle Konflikte<br />

13.1.2006: Der Dialog in der islamischen<br />

Geschichte: Toledos Toleranz, die Kreuzzüge,<br />

Türken vor Wien/in Berlin<br />

27.1.2006: Das Scharia-Denken – ein<br />

Fremdkörper in der Demokratie? Einführung<br />

in die Schariakratie<br />

10.2.2006: Gemeinsame Wertvorstellungen<br />

auf dem Prüfstand. Islamische Ethik<br />

<strong>und</strong> Moderne<br />

3. Block: Pastoral-professionelle Kontakte<br />

24.2.2006: Religionspädagogik mit <strong>Muslimen</strong><br />

in Schule <strong>und</strong> Kindergarten: Interreligiöses<br />

Lernen <strong>und</strong> Islamischer Religionsunterricht<br />

(Interrel. Schulfeiern <strong>und</strong><br />

Jugendarbeit)<br />

10.3.2006: Pastorale Begleitung von Paaren,<br />

Trauernden <strong>und</strong> Kranken: Religionsverschiedene<br />

Ehen <strong>und</strong> Kategorialseelsorge<br />

(Notfallseelsorge)<br />

24.3.2006: Spiritualitäten im interreligiösen<br />

Dialog – Spiritualität des interreligiösen<br />

Dialogs<br />

6. April 2006: Schlussveranstaltung«<br />

3. Die Auftaktveranstaltung<br />

Das erste Treffen verfolgte mehrere<br />

Ziele. Erstens sollten sich die Teilnehmer<br />

untereinander kennen lernen <strong>und</strong> die<br />

Arbeitsgruppen bilden. Zweitens sollte<br />

Verständigung darüber erzielt werden,<br />

was die Konzeption anbieten kann, welche<br />

Erwartungen der Teilnehmer noch<br />

eingearbeitet werden konnten. Drittens<br />

musste nachgefragt werden, in welcher<br />

Weise sich die Teilnehmer auf die technischen<br />

Bedingungen einzulassen bereit<br />

<strong>und</strong> fähig waren. Und schließlich sollten<br />

die Teilnehmer erkennen, wie die Person<br />

der Verfasserin der E-Mail-Lektionen in<br />

der persönlichen Begegnung im Vergleich<br />

zu den schriftlichen Äußerungen wirkt<br />

<strong>und</strong> diese dadurch im guten Sinne relativiert.<br />

Aus diesem Gr<strong>und</strong> hat die Verfasserin<br />

die erste E-Mail-Lektion als Vortrag mit<br />

CIBEDO-<strong>Beiträge</strong> 2/2006<br />

anschließender Diskussion in die Gruppe<br />

eingegeben, die zweite E-Mail-Lektion<br />

liegt als Rollenspiel von Lehramtsstudierenden<br />

der TU Darmstadt gestaltet vor.<br />

Mit diesen beiden didaktisch abwechslungsreichen<br />

Lernformen haben die Teilnehmer<br />

die Gelegenheit einander kennen<br />

zu lernen <strong>und</strong> die Inhalte zu prüfen.<br />

Die Auftaktveranstaltung stellt ein<br />

Wir-Gefühl für die gesamte Projektgruppe<br />

her <strong>und</strong> gibt Raum für persönliche<br />

Präferenzen der Kooperation in den<br />

Kleingruppen.<br />

Der Aufbau der E-Mail-Lektionen<br />

Um den Teilnehmern mit Erhalt einer<br />

jeden E-Mail-Lektion zu verdeutlichen,<br />

dass sich die Mühe <strong>und</strong> die Zeit in Themen<br />

von hoher Aktualität investiert wird,<br />

leiten Meldungen aus der Tagespresse in<br />

das jeweils zu behandelnde Thema ein.<br />

Gerade der Bezug <strong>zum</strong> Tagesgeschehen<br />

wurde besonders geschätzt <strong>und</strong> in der<br />

Auswertung von den Teilnehmern ausdrücklich<br />

hervorgehoben. Diese Leistung<br />

ist für jeden neu zu beginnenden Kurs<br />

erneut zu bringen, der Aufwand aber<br />

befördert die Motivation der Teilnehmenden.<br />

Ähnlich verhält es sich mit der Betreuung<br />

der Antworten auf die im Anschluss<br />

an die Lektionen gestellten Fragen. Die<br />

Teilnehmer wünschen sich auch eine<br />

Lösung, die es nicht immer geben kann,<br />

die aber in einer mit der Erfahrung der<br />

Verfasserin formulierten Einschätzung<br />

bestehen <strong>und</strong> mit ihrem Kommentar<br />

<strong>zum</strong> Lernprozess in der Arbeitsgruppe<br />

identisch sein darf.<br />

Als drittes Element gehören zu den E-<br />

Mail-Lektionen Literaturlisten, die im<br />

ersten Projektdurchlauf aus den Beständen<br />

der Dokumentation <strong>und</strong> Bibliothek<br />

von CIBEDO gespeist wurden. Die Fülle<br />

des Materials wirkte allerdings eher<br />

entmutigend <strong>und</strong> überforderte die Lernkapazitäten<br />

mancher Teilnehmer. Andererseits<br />

fühlen sich einige Teilnehmer<br />

nach Abschluss des Kurses auch so sicher,<br />

dass sie zu den Lektionen ähnlichen Fragestellungen<br />

selbst Inputs in ihre<br />

Gemeinden geben könnten. Ausführliche<br />

Literaturlisten sind gut geeignet, die Thematik<br />

in mehrere Richtungen zu ent-<br />

wickeln <strong>und</strong> gerade für diese Adressaten<br />

hilfreich. Es bedarf deshalb einer Zweiteilung<br />

dieses Angebots. Ein Teil der Literatur<br />

sollte als Basistexte gekennzeichnet<br />

<strong>und</strong> mit einem Kommentar versehen<br />

werden. Der Rest kann für Eigeninteresse<br />

unkommentiert angereiht <strong>und</strong> immer<br />

wieder aktualisiert werden.<br />

Der Aufbau der E-Mail-Lektionen<br />

<strong>und</strong> die zugr<strong>und</strong>eliegende Projektmethode<br />

erfordern eine individuelle persönliche<br />

Begleitung jeder Multiplikatorengruppe,<br />

die sich für das virtuelle<br />

Seminar entscheidet.<br />

Die Expertenbefragung<br />

Die Teilnehmer hatten die Gelegenheit<br />

mit zwei Experten zu sprechen. Prof.<br />

Dr. Christian W. Troll SJ, der Verantwortliche<br />

des Studienprogrammes in St.<br />

Georgen <strong>und</strong> Dr. Kurt von DITIB in<br />

Frankfurt. Die Fragen an den christlichen<br />

Experten kreisten um den Komplex der<br />

Durchführung von päpstlichen <strong>und</strong><br />

bischöflichen Direktiven auf der Gemeindeebene.<br />

Auch die Frage, ob man<br />

denn für einen fruchtbaren Dialog mit<br />

<strong>Muslimen</strong> nicht viel mehr eigene missionarische<br />

Interessen haben müsste, wurde<br />

gestellt. Der muslimische Experte wurde<br />

auf den innerislamischen Dialog angesprochen<br />

<strong>und</strong> danach befragt, ob es wohl<br />

genügend Vertrauen auf muslimischer<br />

Seite gebe, mit <strong>Christen</strong> ins <strong>Gespräch</strong><br />

kommen zu wollen, auch danach, wie viel<br />

Vertrauen <strong>Christen</strong> noch als Vorschussleistung<br />

aufbringen müssten, bis Muslime<br />

mit Ehrlichkeit darauf reagierten.<br />

In der Expertenbefragung wurde deutlich,<br />

wie schwierig es ist, die <strong>Gespräch</strong>sebene,<br />

die die Projektleiterin mit den von<br />

ihr angefragten Experten erreicht hatte,<br />

auf die von außen dazu stoßenden Teilnehmer<br />

des Seminars zu übertragen. Es<br />

darf nicht übersehen werden, dass die<br />

Gastgeber ihre Gäste untereinander möglichen<br />

Themen <strong>und</strong> damit auch Verletzungen<br />

aussetzen, die auf den Gastgeber<br />

zurückfallen. Das distanzierende Forum<br />

eines Chats im virtuellen Raum hilft, die<br />

Situation zu entschärfen.<br />

Huber-Rudolf, Christlich-muslimische Begegnung: Multipliatorenschulung im virtuellen Seminar<br />

43


44<br />

4. Die Abschlussveranstaltung<br />

In der Auswertung der Abschlussveranstaltung<br />

wurde mehrfach auf die Bedeutung<br />

von Differenzierungen im Spektrum<br />

der Möglichkeiten, Muslim zu sein,<br />

hingewiesen. Gerade weil die Teilnehmer<br />

schon Erfahrungen mit vielen verschiedenen<br />

<strong>Muslimen</strong> haben, brauchen sie elaborierte<br />

Kategorien <strong>zum</strong> Verständnis von<br />

<strong>Muslimen</strong>. Dabei werden allerdings keine<br />

fertigen Lösungen erwartet. Die Teilnehmer<br />

reagierten mit Dankbarkeit auf<br />

Denkanstöße <strong>und</strong> anregende Fragen. Sie<br />

scheuten sich nicht, sich mit Vorurteilen<br />

auseinanderzusetzen <strong>und</strong> Engführungen<br />

der eigenen Perspektive aufzubrechen.<br />

Was die pastoralen Fragen der Teilnehmer<br />

betrifft, schätzen sie die Berücksichtigung<br />

verschiedenster Lebenssituationen<br />

<strong>und</strong> dafür überschaubare praktische,<br />

erprobte Impulse.<br />

Die Lesbarkeit der Lektionen sollte<br />

durch Tabellen <strong>und</strong> Schemata verbessert<br />

werden.<br />

Die Teilnehmer verstehen sich nach<br />

einem halben Jahr der intensiven Arbeit<br />

als Netzwerk von Multiplikatoren in der<br />

Diözese, zur Unterstützung der Referentin<br />

für Islamfragen. Sowohl die Referentin<br />

als auch die Domschule wollen in zwei<br />

Jahren einen weiteren Zyklus anbieten,<br />

um dieses Netzwerk weiter zu knüpfen.<br />

Warum virtuell <strong>und</strong> nicht per Post?<br />

Die Frage, warum man nicht auch an<br />

diesem Multiplikatorenseminar teilnehmen<br />

könne, wenn man keine E-Mail-<br />

Anschrift besitzt, wurde mir oft gestellt.<br />

Mit ihr einher geht die Vorstellung von<br />

Lehrbriefen, die für andere Bereiche auch<br />

verschickt, bearbeitet <strong>und</strong> beantwortet<br />

werden.<br />

Dem ist entgegenzuhalten, dass der<br />

Kosten- <strong>und</strong> Zeitaufwand ungleich geringer<br />

ist, wenn das Seminar im virtuellen<br />

Raum stattfindet. Warum?<br />

1. Der Anbieter spart alle Papier-,<br />

Druck- <strong>und</strong> Versandkosten. Die Teilnehmer<br />

entscheiden selbst, ob sie am<br />

Bildschirm oder an der Druckversion<br />

der Lektion arbeiten wollen <strong>und</strong> tragen<br />

die entsprechenden Kosten.<br />

2. Die Kommunikation erfolgt unmittelbar.<br />

Sowohl die Teilnehmer<br />

untereinander als auch die Gruppensprecher<br />

mit der Projektleitung konnten<br />

per E-Mail oder über das Telefon<br />

des virtuellen Seminars direkt <strong>und</strong><br />

teilweise ohne Zeitverzögerung miteinander<br />

kommunizieren.<br />

3. Ein Chat im virtuellen Seminar erfordert<br />

keine Reisezeiten <strong>und</strong> -kosten.<br />

4. Das moderne Medium bietet Möglichkeiten<br />

der Visualisierung <strong>und</strong> der<br />

Beweglichkeit in anderen Informationswelten<br />

(Musik, Bilder, Führungen<br />

durch Internet-Seiten), die ein<br />

Brief nicht eröffnen kann.<br />

Auch das virtuelle Seminar will nicht<br />

ohne die persönliche Begegnung auskommen.<br />

Im Gegenteil kommt den Treffen<br />

große Bedeutung für die Motivation <strong>und</strong><br />

den Lernfortschritt der Teilnehmer zu.<br />

Das Angebot richtet sich an alle Veranstalter<br />

im kirchlichen Bereich, die eine<br />

Multiplikatorengruppe für den christlich-islamischen<br />

Dialog im Sinne des<br />

Zweiten Vatikanischen Konzils schulen<br />

wollen. ■<br />

Huber-Rudolf, Christlich-muslimische Begegnung: Multipliatorenschulung im virtuellen Seminar<br />

CIBEDO-<strong>Beiträge</strong> 2/2006


Neuanschaffungen der CIBEDO-Bibliothek<br />

AKYÜN, Hatice: Einmal Hans mit scharfer Soße. Leben in<br />

zwei Welten. München 2005, 4. Auflage, 190 Seiten.<br />

ISBN 3-442-31094-6<br />

ALAVI, Nasrin: Wir sind der Iran. Aufstand gegen die Mullahs<br />

– die junge persische Weblog-Szene. Köln 2005, 386 Seiten.<br />

ISBN 3-462-03651-3<br />

AZM, Sadiq Galal al-: Islam <strong>und</strong> säkularer Humanismus.<br />

Tübingen 2005, 118 Seiten. ISBN 3-16-148527-0<br />

BAR-ON, Dan: Die »Anderen« in uns. Dialog als Modell der<br />

interkulturellen Konfliktbewältigung. Hamburg 2006, 260 Seiten.<br />

ISBN 3-89684-061-4<br />

BAUER, Thomas <strong>und</strong> SCHNEIDERS, Thorsten Gerald<br />

(Hrsg.): »Kinder Abrahams«: Religiöser Austausch im lebendigen<br />

Kontext. Reihe: Veröffentlichungen des Centrums für Religiöse<br />

Studien Münster Bd. 2, Münster 2005, 287 Seiten.<br />

ISBN 3-8258-8023-0<br />

BAUMANN, Andreas <strong>und</strong> TROEGER, Eberhard u.a.<br />

(Hrsg.): Christliches Zeugnis <strong>und</strong> islamische Da’wa. <strong>Beiträge</strong><br />

<strong>zum</strong> Forschungsbedarf. Reihe: Evangelium <strong>und</strong> Islam Bd.1,<br />

Nürnberg 2005, 117 Seiten. ISBN 3-937965-37-8<br />

BEAUMONT, Mark: Christology in Dialogue with Muslims.<br />

A critical Analysis of Christian Presentations of Christ for Muslims<br />

from the Ninth and Twentieth Centuries. Oxford 2005,<br />

227 Seiten. ISBN 1-84227-123-7<br />

BERTSCH, Ludwig <strong>und</strong> EVERS, Martin u.a. (Hrsg.): Viele<br />

Wege – ein Ziel. Herausforderungen im Dialog der Religionen<br />

<strong>und</strong> Kulturen. Freiburg 2006, 412 Seiten.<br />

ISBN 3-451-28943-1<br />

BUTTERWEGGE, Christoph <strong>und</strong> HENTGES, Gudrun<br />

(Hrsg.): Massenmedien, Migration <strong>und</strong> Integration. Wiesbaden<br />

2006, 260 Seiten.<br />

ISBN 3-531-15047-2<br />

EICH, Thomas: Abu l-Huda as-Sayyadi. Eine Studie zur<br />

Instrumentalisierung sufischer Netzwerke <strong>und</strong> genealogischer<br />

Kontroversen im spätosmanischen Reich. Berlin 2003, 301 Seiten.<br />

ISBN 3-87997-305-9<br />

ELSDÖRFER, Ulrike: Frauen in <strong>Christen</strong>tum <strong>und</strong> Islam. Dialoge<br />

– Traditionen – Spiritualitäten. Königstein/Ts. 2006, 239<br />

Seiten. ISBN 3-89741-198-9<br />

ENDE, Werner <strong>und</strong> STEINBACH, Udo (Hrsg.): Der Islam<br />

in der Gegenwart. Entwicklung <strong>und</strong> Ausbreitung – Kultur <strong>und</strong><br />

Religion – Staat, Politik <strong>und</strong> Recht, 5. neubearbeitete Auflage,<br />

München 2005, 1064 Seiten. ISBN 3-406-53447-3<br />

CIBEDO-<strong>Beiträge</strong> 2/2006<br />

ENZENSBERGER, Hans Magnus: Schreckens Männer. Versuch<br />

über den radikalen Verlierer. Frankfurt 2006, 53 Seiten.<br />

ISBN 3-518-06820-2.<br />

GINAIDI, Christa <strong>und</strong> GINAIDI, Ahmed: Die Situation der<br />

Frau im Islam <strong>und</strong> im <strong>Christen</strong>tum. Psychologisch-ethnologische<br />

<strong>und</strong> historisch-theologische Hintergründe. Stuttgart 2005,<br />

187 Seiten. ISBN 3-89821-485-0<br />

GOLDBERG, Andreas <strong>und</strong> HALM, Dirk <strong>und</strong> SEN, Faruk:<br />

Die deutschen Türken. Münster 2004, 162 Seiten.<br />

ISBN 3-8258-8232-2<br />

GRAF, Friedrich Wilhelm: Moses Vermächtnis. Über göttliche<br />

<strong>und</strong> menschliche Gesetze. München 2006, 99 Seiten.<br />

ISBN 3-406-54221-3<br />

GRYPEOU, Emmanouela <strong>und</strong> SWANSON, Mark N. <strong>und</strong><br />

THOMAS, David (Hrsg.): The encounter of eastern Christianity<br />

with early Islam. Reihe: The History of Christian-Muslim<br />

Relations Bd. 5, Leiden 2006, 338 Seiten.<br />

ISBN 90-04-14938-4<br />

HEINRICH, Rolf: Leben in Religionen – Religionen im<br />

Leben. Interreligiöse Spuren. Reihe: Interreligiöse Begegnungen<br />

– Studien <strong>und</strong> Projekte Bd. 1, Münster 2005, 222 Seiten.<br />

ISBN 3-8258-8037-0<br />

KAATSCH, Hans-Jürgen <strong>und</strong> ROSENAU, Hartmut u.a.<br />

(Hrsg.): Kultur <strong>und</strong> Religion. <strong>Beiträge</strong> zu einer Ethik des Dialogs.<br />

Reihe: Ethik interdisziplinär Bd. 9, Münster 2005, 88 Seiten.<br />

ISBN 3-8258-8394-9<br />

KELEK, Necla: Die verlorenen Söhne. Plädoyer für die Befreiung<br />

des türkisch-muslimischen Mannes. Köln 2006, 218 Seiten.<br />

ISBN 3-462-03686-2<br />

KIEFER, Michael: Islamk<strong>und</strong>e in deutscher Sprache in Nordrhein-Westfalen.<br />

Kontext, Geschichte, Verlauf <strong>und</strong> Akzeptanz<br />

eines Schulversuchs. Reihe: Islam in der Lebenswelt Europa Bd.<br />

2, Münster 2005, 250 Seiten. ISBN 3-8258-8881-9<br />

KLAUSEN, Jytte: Europas muslimische Eliten. Wer sie sind<br />

<strong>und</strong> was sie wollen. Frankfurt M. 2006, 306 Seiten.<br />

ISBN 3-593-38017-9<br />

KLÖCKER, Michael <strong>und</strong> TWORUSCHKA, Udo (Hrsg.):<br />

Ethik der Weltreligionen. Ein Handbuch. Darmstadt 2005,<br />

310 Seiten. ISBN 3-534-17253-1<br />

MAK, Geert: Der Mord an Theo van Gogh. Geschichte einer<br />

moralischen Panik. Frankfurt M. 2005, 105 Seiten.<br />

ISBN 3-518-12463-3<br />

Neuanschaffungen der CIBEDO-Bibliothek<br />

45


46<br />

METZGER, Albrecht: Islamismus. Hamburg 2005, 95 Seiten.<br />

ISBN 3-434-46238-4<br />

OBERMANN, Andreas: Religion unterrichten <strong>zwischen</strong><br />

Kirchturm <strong>und</strong> Minarett. Perspektiven für einen dialogischkonfessorischen<br />

Unterricht der abrahamischen Religionsgemeinschaften<br />

an berufsbildenden Schulen. Reihe: <strong>Christen</strong>tum<br />

<strong>und</strong> Islam im Dialog Bd. 8. Münster 2006, 411 Seiten.<br />

ISBN 3-8258-9149-6<br />

PONGRATZ-LIPPITT, Christa (Hrsg.): Franz Kardinal<br />

König. Offen für Gott – offen für die Welt. Kirche im Dialog.<br />

Freiburg 2006, 176 Seiten. ISBN 3-451-28891-5<br />

POYA, Abbas: Anerkennung des Igtihad – Legitimiation der<br />

Toleranz. Möglichkeiten innerer <strong>und</strong> äußerer Toleranz im Islam<br />

am Beispiel der Igtihad-Diskussion. Berlin 2003, 178 Seiten.<br />

ISBN 3-87997-306-7<br />

REICHMUTH, Stefan <strong>und</strong> BODENSTEIN, Mark u.a.<br />

(Hrsg.): Staatlicher Islamunterricht in Deutschland. Die<br />

Modelle in NRW <strong>und</strong> Niedersachsen im Vergleich. Berlin<br />

2006, 143 Seiten. ISBN 3-8258-8830-4<br />

SCHNEIDERS, Thorsten Gerald <strong>und</strong> KADDOR, Lamya<br />

(Hrsg.): Muslime im Rechtsstaat. Reihe: Veröffentlichungen<br />

des Centrums für Religiöse Studien Münster Bd. 3, Münster<br />

2005, 168 Seiten. ISBN 3-8258-8024-9<br />

SELIM, Nahed: Nehmt den Männern den Koran! Eine weibliche<br />

Interpretation des Islam. München 2006, 332 Seiten.<br />

ISBN 3-492-04893-5<br />

SEZGIN, Hilal: Typisch Türkin? Porträt einer neuen Generation.<br />

Freiburg 2006, 191 Seiten. ISBN 3-451-28875-3<br />

WADUD, Amina: Qur’an and woman. Rereading the sacred<br />

text from a woman’s persepctive. 2. Auflage, New York 1999,<br />

118 Seiten. ISBN 0-19-512836-2<br />

WROGEMANN, Henning: Missionarischer Islam <strong>und</strong> gesellschaftlicher<br />

Dialog. Eine Studie zu Begründung <strong>und</strong> Praxis des<br />

Aufrufes <strong>zum</strong> Islam (da’wa) im internationalen sunnitischen<br />

Diskurs. Frankfurt M. 2006, 510 Seiten.<br />

ISBN 3-87476-489-3<br />

Die Autoren der <strong>Beiträge</strong><br />

Ghadban, Dr. Ralph, Wissenschaftler, Berlin<br />

Görlach, Dr. Alexander, Theologe, Berlin<br />

Huber-Rudolf, Dr. Barabara, wissenschaftliche Mitarbeiterin,<br />

CIBEDO, Frankfurt a. M.<br />

Kandel, Dr. Johannes, Historiker <strong>und</strong> Politikwissenschaftler,<br />

Berlin<br />

Samir Khalil Samir SJ, Professor an der Universität Saint<br />

Joseph, Beirut<br />

Troll, Prof. Dr. Christian W. SJ, Honorarprofessor, Philosophisch-Theologische<br />

Hochschule Sankt Georgen, Frankfurt<br />

a. M.<br />

Neuanschaffungen der CIBEDO-Bibliothek/Die Autoren der <strong>Beiträge</strong> CIBEDO-<strong>Beiträge</strong> 2/2006


Christlich-islamische Begegnungs- <strong>und</strong> Dokumentationsstelle<br />

– Arbeitsstelle der Deutschen Bischofskonferenz –<br />

Balduinstraße 62 . 60599 Frankfurt am Main<br />

Telefon: 069/72 64 91 . Fax: 069/72 30 52<br />

www.<strong>cibedo</strong>.de ISSN 1863-2238

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