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Urbild und Grenzerlebnis im revolutionären Rußland

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<strong>Urbild</strong> <strong>und</strong><br />

<strong>Grenzerlebnis</strong> <strong>im</strong><br />

<strong>revolutionären</strong><br />

<strong>Rußland</strong><br />

Urachhaus


Ikone der Heiligen Dreifaltigkeit von Andrej Rublev, 1411


Pavel Florenskij<br />

Die Ikonostase<br />

<strong>Urbild</strong> <strong>und</strong> <strong>Grenzerlebnis</strong><br />

<strong>im</strong> <strong>revolutionären</strong> <strong>Rußland</strong><br />

Einführung von Ulrich Werner<br />

Urachhaus


Die Übersetzung aus dem Russischen von Ulrich Werner beruht auf: SVJA-<br />

SÜENNIK PAVEL FLORENSKIJ: »Ikonostas«, erschienen in: Bogoslovskie trudy<br />

9 (1972), S. 83-148, der ersten <strong>und</strong> ungekürzten Veröffentlichung des Textes<br />

von 1922.<br />

Besonderer Dank gilt dem Enkel des Autors, Pavel Vasil'evic Florenskij, für<br />

den Großteil der Bildvorlagen aus seinem Archiv.<br />

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek<br />

Florenskij, Pavel A.:<br />

Die Ikonostase : <strong>Urbild</strong> u. <strong>Grenzerlebnis</strong><br />

<strong>im</strong> <strong>revolutionären</strong> Russland / Pavel Florenskij.<br />

Mit e. Einf. von Ulrich Werner.<br />

[Die Übers, aus d. Russ. von Ulrich Werner<br />

beruht auf d. 1. u. ungekürzten Veröff. d. Textes von 1922]. -<br />

Stuttgart : Urachhaus, 1988<br />

Einheitssacht.: Ikonostas (dt.)<br />

ISBN 3-87838-587-0<br />

ISBN 3 87838 5870<br />

2. aktualisierte Auflage 1990<br />

© 1988 Verlag Urachhaus Johannes M.Mayer GmbH, Stuttgart<br />

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks <strong>und</strong> der<br />

fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten.<br />

Umschlaggestaltung Bruno Schachtner, Dachau<br />

Satz <strong>und</strong> Druck der Offizin Chr. Scheufeie, Stuttgart


Inhalt<br />

Ulrich *Werner<br />

Pavel Florenskij: Lebensspuren<br />

Pavel Florenskijs >Ikonostase< <strong>im</strong> zeitgeschichtlichen<br />

Umkreis<br />

Pavel Florenskij<br />

Die Ikonostase<br />

Anmerkungen


Ulrich Werner<br />

Pavel Florenskij: Lebensspuren<br />

Es ist mit Meinungen, die man wagt, wie mit<br />

Steinen, die man voran <strong>im</strong> Brette bewegt: sie<br />

können geschlagen werden, aber sie haben ein<br />

Spiel eingeleitet, das gewonnen wird.<br />

(GOETHE) 1<br />

1922, fünf Jahre nach der Oktober-Revolution, verfaßte ein<br />

russischer Priester, Kunstwissenschaftler <strong>und</strong> Mathematiker<br />

unter dem Titel »Die Ikonostase« eine gr<strong>und</strong>legende, bis<br />

heute gültige Schrift über die Ikonenmalerei. Das Kultbild<br />

der Ostkirche, das in <strong>Rußland</strong> <strong>im</strong> 14. <strong>und</strong> 1 J.Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

eine Blütezeit erlebte, steht in einem geschichtlichen Zusammenhang,<br />

der über Byzanz bis nach Ägypten zurückreicht.<br />

Doch ist die Schrift, um die es hier geht, nicht in erster Linie<br />

historisch. Viele der in ihr angesprochenen Themen - die Abkehr<br />

von der Darstellung der äußeren Wirklichkeit, Umgestaltung<br />

des Lebens, Gesamtkunstwerk u. a. - waren in der<br />

Kunstdebatte der damals zeitgenössischen Avantgarde aktuell.<br />

Zu Lebzeiten des Autors blieb die »Ikonostase« ungedruckt;<br />

erst 1972, 50 Jahre nach ihrer Entstehung, erschien<br />

sie in einem von der Kirche herausgegebenen Sammelband<br />

<strong>und</strong> steht damit heute erst am Beginn ihrer Rezeption.<br />

Der Autor, Pavel Florenskij (1882-1937), ist bei uns noch<br />

weitgehend unbekannt. 2 In den Erinnerungen russischer<br />

1 j. w. GOETHE: »Max<strong>im</strong>en <strong>und</strong> Reflexionen«, 431<br />

2 Florenskijs Werk ist bisher nur in geringem Umfang <strong>und</strong> zudem nur auszugsweise<br />

ins Deutsche übersetzt worden. Die in Anm. 13 <strong>und</strong> 14 genannten<br />

Übersetzungen aus den 20er Jahren sind heute nur noch in wenigen<br />

Bibliotheken greifbar. Jüngst sind in deutscher Sprache einige Studien zu<br />

Florenskij erschienen, die aber nicht über einen engen Kreis von Speziali-<br />

7


Künstler <strong>und</strong> Schriftsteller der ersten Jahrh<strong>und</strong>erthälfte<br />

taucht sein Name gelegentlich auf, so bei Margarita Volosina<br />

<strong>und</strong> Andrej Belyj, 3 doch konnte auch der aufmerksame Leser<br />

kaum ahnen, daß sich hinter diesem Namen eine wichtige Gestalt,<br />

eine der bedeutendsten <strong>und</strong> zugleich eigentümlichsten<br />

Persönlichkeiten der neueren russischen Geistesgeschichte<br />

verbirgt. - Auf die Zeitgenossen wirkte er in mancher Hinsicht<br />

fremd. Ein Studienkollege schreibt, Florenskij habe auf<br />

ihn wie ein Gnostiker der ersten nachchristlichen Jahrh<strong>und</strong>erte<br />

gewirkt, er machte den Eindruck, »als hätte er schon<br />

tausend Leben gelebt«. 4 Zugleich ist Florenskijs Biographie<br />

wie kaum eine andere von den Peripetien <strong>und</strong> Widersprüchen<br />

der Epoche geprägt, die er als Handelnder <strong>und</strong> als Opfer<br />

durchlebte: die hoffnungsvollen wie auch apokalyptischen<br />

St<strong>im</strong>mungen des Silbernen Zeitalters der Jahrh<strong>und</strong>ertwende,<br />

sten hinaus bekannt geworden sind: H. J. RUPPERT: »Vom Licht der Wahrheit.<br />

Zum ioo.Geburtstag von P.A.Florenskij«, in: Kerygma <strong>und</strong> Dogma.<br />

Zeitschrift für theologische Forschung <strong>und</strong> kirchliche Lehre, 28 (1982),<br />

S. 179-214; M. SILBERER: »Die Trinitätsidee <strong>im</strong> Werk von Pavel A.Florenskij.<br />

Versuch einer systematischen Darstellung in Begegnung mit Thomas<br />

von Aquin«, Würzburg 1984; M. HAGEMEISTER: »Pavel Florenskij<br />

<strong>und</strong> seine Schrift >Mn<strong>im</strong>osti v geometrii< (1922)«, in: P.A.Florenskij:<br />

»Mn<strong>im</strong>osti v geometrii« (Imaginäre Größen in der Geometrie), Nachdruck<br />

München 1985, S. 1-60. Die Arbeiten von Silberer - mit der bisher<br />

vollständigsten Bibliographie, der X.Teil enthält eine detaillierte Lebensbeschreibung<br />

- <strong>und</strong> Hagemeister - eine sorgfältig recherchierte, umfassende<br />

<strong>und</strong> durch weiterführende Hinweise besonders anregende Darstellung<br />

- sind meinen Ausführungen zur Biographie Florenskijs Gr<strong>und</strong>lage.<br />

Herrn Michael Hagemeister (Marburg) gilt mein besonderer Dank<br />

für sein anhaltendes Interesse <strong>und</strong> die selbstlose Förderung, die er dieser<br />

Publikation zukommen ließ.<br />

3 M.WOLOSCHIN: »Die grüne Schlange. Lebenserinnerungen«, Stuttgart<br />

1982, S.358; A.BELYJ: »Im Zeichen der Morgenröte. Erinnerungen an<br />

Aleksandr Blok«, Basel 1974, S.29, 48, 442<br />

4 L. SABANEEFF: »Pavel Florensky - Priest, Scientist and Mystic«, in: The<br />

Russian Review, №.4 (Okt. 1961), S.312, 324<br />

8


das Gottsuchertum s eines Teils der russischen Intelligenzija,<br />

die wissenschaftlichen <strong>und</strong> künstlerischen - <strong>und</strong> nicht zuletzt<br />

politischen - Revolutionen, schließlich Bürgerkrieg, forcierte<br />

Industrialisierung des Landes <strong>und</strong> Stalin-Terror.<br />

Als Pavel Aleksandrovic Florenskij am 9. (21.) Januar 1882<br />

geboren wurde, wohnte die Familie in Zelten, später in Güterwaggons<br />

auf der Bahnstation des Ortes Evlach <strong>im</strong> heutigen<br />

Azerbajdzan. Sein Vater war als Ingenieur am Bau der Transkaukasischen<br />

Bahnlinie zwischen Tiflis <strong>und</strong> Baku beteiligt.<br />

Mein Geburtsort ist Evlach, wo die von natürlichen Reichtümern überquellende<br />

<strong>und</strong> <strong>im</strong> Ubermaß lebensschwangere Steppe von zwei schneebedeckten<br />

Berggruppen eingefaßt wird. ... Ich möchte in diesem Zwiespalt der Natur,<br />

die mich erzogen hat, den anschaulichen Ausdruck meines eigenen Zwiespalts<br />

sehen, in dem sich Nord <strong>und</strong> Süd durch das historisch jüngste <strong>und</strong><br />

älteste Blut spannungsvoll gegenüberstehen, indem sie sich nicht nur nicht<br />

vermischen, sondern <strong>im</strong> Gegenteil einander zu entschiedenerer Selbstbest<strong>im</strong>mung<br />

aufrufen. 6<br />

So schrieb Florenskij viele Jahre später in einem Rückblick<br />

auf die Kindheit. In einer symbolischen Beschreibung verknüpft<br />

er die Abstammung von einem russischen Vater <strong>und</strong><br />

einer armenischen Mutter mit dem Zwiespalt der Natur seines<br />

Geburtsortes. Ein Leitthema seines Denkens klingt hier<br />

an, die Antinomie, aber auch die Kraft, die er aus dem Umgang<br />

mit Gegensätzen bezieht <strong>und</strong> die ihn den Dialog, die<br />

Grenzbezirke <strong>und</strong> Ubergänge auch zwischen den wissenschaftlichen<br />

Disziplinen suchen läßt.<br />

5 Gottsuchertum (bogoiskatel'stvo), russische philosophische Strömung,<br />

die eine neue Religiosität außerhalb der orthodoxen Kirche begründen<br />

wollte (Merezkovskij, Gippius, Filosofov, Berdjaev, S.Bulgakov u.a.).<br />

6 Aus der Autobiographie Florenskijs, zitiert nach IERODIAKON ANDRONIK<br />

(TRUBACEV): »Osnovnye certy licnosti, zizn' i tvorcestvo svjascennika<br />

Pavla Florenskogo« (Wesenszüge der Persönlichkeit, Leben <strong>und</strong> Werk des<br />

Priesters Pavel Florenskij), in: turnal Moskovskoj Patriarchii (Zeitschrift<br />

der Moskauer Patriarchie), 4 (1982), S. 13.<br />

9


Seine Kindheit verbrachte Pavel Florenskij in Tiflis <strong>und</strong> Batum,<br />

später übersiedelte die große Familie - Eltern, sieben<br />

Kinder <strong>und</strong> mehrere Tanten - wieder nach Tiflis. Sie lebte<br />

zurückgezogen, doch gab es für die Kinder reichlich Anregung<br />

durch die kulturellen, technisch-wissenschaftlichen <strong>und</strong><br />

historischen Interessen, denen sich die Erwachsenen widmeten.<br />

Die wichtigste Wissensquelle war für Pavel die Natur:<br />

Wann <strong>im</strong>mer die Möglichkeit bestand, war er <strong>im</strong> Freien. In<br />

seiner Autobiographie schreibt er, er sei eigentlich nicht <strong>im</strong><br />

2. Klassischen Gymnasium in Tiflis zur Schule gegangen,<br />

sondern bei der Natur. Mit Fre<strong>und</strong>en richtete er sich <strong>im</strong> Keller<br />

des väterlichen Hauses ein Naturalienkabinett <strong>und</strong> ein Laboratorium<br />

ein. Die Freude <strong>und</strong> Fülle des Seins, die Vielgestalt<br />

der Formen habe ihn berauscht <strong>und</strong> beflügelt. Auf die<br />

Beobachtungen während der Kindheit, nicht auf Bücher<br />

führte er später seine religiös-philosophischen Uberzeugungen<br />

zurück.<br />

Pavel Florenskij war zwar getauft worden, doch gab es in der<br />

Familie keine religiöse Erziehung; über Religion wurde nicht<br />

gesprochen. Der Vater vertrat in weltanschaulich-ethischen<br />

Fragen einen skeptisch-relativistischen Humanismus. So war<br />

die Kirche ebenso wie die Schule für Pavel nicht mehr als ein<br />

notwendiges Übel.<br />

Ich stellte mir einen St<strong>und</strong>enplan meiner Beschäftigungen zusammen; die<br />

Zeit, die für die Schule <strong>und</strong> den obligatorischen Besuch des Gottesdienstes<br />

vorgesehen war, umgab ich mit einem Trauerrand, sie war für mich hoffnungslos<br />

verloren. 7<br />

Wie sein Vater lebte Pavel in der Uberzeugung, daß die Welt<br />

rein physisch-naturwissenschaftlich erklärt werden könne.<br />

Doch <strong>im</strong> Sommer 1899 brach dieser Glaube für ihn zusammen.<br />

7 Zitiert nach IERODIAKON ANDRONIK (TRUBACEV): »Osnovnye certy licnosti«.<br />

10


Am Ende der Gymnasialzeit durchlebte ich eine geistige Krise, als sich mir<br />

die Beschränktheit des physischen Wissens offenbarte. In diesem Zustand<br />

öffnete ich mich dem Einfluß L.Tolstojs (den ich zuvor ignoriert hatte). In<br />

der Folgezeit zeigte er sich in der Bestrebung, ein menschheitliches Weltempfinden<br />

<strong>und</strong> eine menschheitliche Weltanschauung als absolut wahr zu begreifen,<br />

<strong>im</strong> Gegensatz zu den heutigen Wahrheiten der Wissenschaft, die vor<br />

allem technische Bedeutung haben. Meine Neigung, die Physik technisch<br />

anzuwenden, hatte mir der Vater vermittelt, sie nahm aber erst Gestalt an, als<br />

die Wissenschaft nicht mehr Gegenstand des Glaubens war. Ferner erwuchs<br />

aus dieser Krise das Interesse an der Religion. 8<br />

Im Jahr 1900 verließ Florenskij die Provinz <strong>und</strong> begann ein<br />

Studium der theoretischen Mathematik an der physikalischmathematischen<br />

Fakultät der Moskauer Universität. Sein<br />

wichtigster Hochschullehrer wurde N. Bugaev, der Begründer<br />

der Arithmologie, in dessen Vorlesungen ihn besonders<br />

die Ausführungen über Diskontinuität faszinierten. Immer<br />

wieder hat Florenskij auf die Bedeutung der Mathematik als<br />

Basis seiner Weltanschauung wie auch seiner wissenschaftlichen<br />

Arbeiten verwiesen:<br />

Die Weltanschauung Florenskijs formte sich hauptsächlich auf dem Boden<br />

der Mathematik <strong>und</strong> ist von ihren Elementen durchdrungen, obwohl sie sich<br />

nicht ihrer Sprache bedient. Deshalb gilt für Florenskii als das Wesentlichste<br />

in der Erkenntnis der Welt eine allgemeine Gesetzmäßigkeit als funktionale<br />

Verknüpfung, die jedoch <strong>im</strong> Sinn der Theorie der Funktionen <strong>und</strong> der Arithmologie<br />

zu verstehen ist. In der Welt herrscht Diskontinuität hinsichtlich der<br />

Verknüpfungen <strong>und</strong> Diskretheit hinsichtlich der Realität selbst.<br />

Durch die Mathematik gelangte er<br />

... zur These von der Form oder Idee (<strong>im</strong> platonisch-aristotelischen Sinn) als<br />

einem einheitlichen Ganzen, das »vor seinen Teilen« ist <strong>und</strong> sie seinerseits<br />

best<strong>im</strong>mt <strong>und</strong> sich nicht aus ihnen zusammensetzt.'<br />

8 Zitiert nach IERODIAKON ANDRONIK (TRUBACEV) : » Osnovnye certy licnosti«.<br />

Die Ursache dieser Krise bleibt unklar.<br />

9 P. A. FLORENSKIJ: »Biograficeskie svedenija (avtoreferat)« (Biographische<br />

Mitteilungen, Autoreferat), in: Le Messager. Vestnik russkogo (studenceskogo)<br />

christianskogo dvizenija (Bote der russischen/studentischen/christ-


Enges Spezialistentum war Florenskij fremd. Der Mathematikstudent<br />

besuchte Veranstaltungen der historisch-philosophischen<br />

Fakultät (S.N.Trubeckoj, L.M.Lopatin) <strong>und</strong><br />

nahm am intensiven Geistesleben der Metropole teil. Mit Boris<br />

Bugaev, dem Sohn seines Mathematikprofessors, der unter<br />

dem Namen Andrej Belyj berühmt wurde, verband ihn<br />

bald eine enge Fre<strong>und</strong>schaft. In den Lesungen <strong>und</strong> Diskussionen<br />

der literarischen <strong>und</strong> religiös-philosophischen Zirkel<br />

Moskaus begegnete er den Symbolisten <strong>und</strong> Gottsuchern, die<br />

den Zeitgeist prägten: Vjaceslav Ivanov, Dmitrij Merezkovskij,<br />

Aleksandr Blok, Nikolaj Berdjaev, Vasilij Rozanov - mit<br />

dem er bis zu dessen Tod 1919 befre<strong>und</strong>et war - <strong>und</strong> vielen<br />

anderen. Seine ersten Arbeiten erschienen in symbolistischen<br />

Zeitschriften. 1907 veröffentlichte er einen kleinen Gedichtband<br />

<strong>im</strong> symbolistischen Stil (»Im ewigen Azur«).<br />

... ein Symbol ist nicht etwas Bedingtes, das wir nach Lust <strong>und</strong> Laune hervorbringen.<br />

Symbole werden vom Geist nach innerer Notwendigkeit gebildet,<br />

<strong>und</strong> dies vollzieht sich jedesmal, wenn best<strong>im</strong>mte Seiten des Geistes<br />

besonders lebendig zu wirken beginnen. Das Symbolisierende <strong>und</strong> das Symbolisierte<br />

werden nicht zufällig miteinander verknüpft. Historisch lassen<br />

sich Parallelen in der Symbolik unterschiedlicher Völker <strong>und</strong> unterschiedlicher<br />

Zeiten nachweisen. 10<br />

Diese Stelle aus einem Brief an Andrej Belyj überrascht durch<br />

die Sicherheit, mit der der 22jährige Florenskij Themen anspricht,<br />

die sich durch sein ganzes Werk ziehen: Neben dem<br />

Prozeß der Zeichenbildung in der Sprache <strong>und</strong> <strong>im</strong> Kunstwerk<br />

deutet er die Idee der vergleichenden Symbolforschung an,<br />

aus der später das Projekt eines »Symbolariums« hervorging.<br />

Als er 1904 mit einer Dissertation »Uber die Besonderheiten<br />

liehen Bewegung; <strong>im</strong> folgenden Vestnik) 135, S. 57. Florenskij spricht in<br />

diesem Text von sich selbst in der dritten Person.<br />

10 »Pis'ma P.A.Florenskogo k B.N.Bugaevu (A.Belomu)« (Briefe P.A.<br />

Florenskijs an B.N.Bugaev/A.Belyj), in: Vestnik 114, S. 158 (Brief aus<br />

Tiflis vom 18.6.1904)


flacher Kurven als Orte der Kontinuitätsdurchbrechung«<br />

sein Studium abschloß, stand ihm die Hochschullaufbahn<br />

offen, die Professoren Bugaev <strong>und</strong> Zukovskij hatten ihn für<br />

einen Mathematik-Lehrstuhl vorgeschlagen. Er lehnte ab, da<br />

er inzwischen andere Pläne verfolgte:<br />

Eine Synthese von Kirchlichkeit <strong>und</strong> weltlicher Kultur zu erreichen, mich<br />

ganz mit der Kirche zu vereinigen, jedoch ehrlich, ohne den geringsten<br />

Kompromiß, die ganze positive Lehre der Kirche <strong>und</strong> die wissenschaftlichphilosophische<br />

Weltanschauung zusammen mit der Kirche aufzunehmen -<br />

das stellt sich mir als eines der nächsten Ziele einer praktischen Tätigkeit<br />

dar. 11<br />

Im Frühjahr 1904 hatte er den <strong>im</strong> Ruhestand lebenden Bi-<br />

schof Antonij (Florensov) kennengelernt, dessen Rat er bald<br />

in allen wichtigen Lebensfragen einholte. Florenskij wollte<br />

zu diesem Zeitpunkt Mönch werden - gemeinsam mit An-<br />

drej Belyj übrigens. Bischof Antonij glaubte jedoch, bei ihm<br />

ein vorwiegend theoretisches Interesse an der Kirche festzu-<br />

stellen, <strong>und</strong> riet ihm, an der Geistlichen Akademie (Mos-<br />

kau/Sergiev Posad) zu studieren. An der Universität wurde<br />

der Entschluß des hochbegabten Mathematikers beinahe als<br />

Verrat aufgenommen. - Philosophie, Philologie, Archäolo-<br />

gie <strong>und</strong> Religionsgeschichte nennt Florenskij als Schwer-<br />

punkte seiner Studien. 1906 wurde er vorübergehend inhaf-<br />

tiert, nachdem er es gewagt hatte, in einer Predigt die Hin-<br />

richtung Leutnant Schmidts, eines Revolutionärs, heftig zu<br />

kritisieren. 1908 schloß er auch das Studium an der Geistli-<br />

chen Akademie mit einer Dissertation ab: »Uber die reli-<br />

giöse Wahrheit«.<br />

Nach zwei Probevorlesungen - »Die kosmologischen Anti-<br />

nomien Kants«, »Die allgemein-menschlichen Wurzeln des<br />

Idealismus« - wurde er <strong>im</strong> Herbst 1908 zum Dozenten er-<br />

11 Brief Florenskijs an seine Mutter vom 3.3.1904, zitiert nach 2urnal<br />

Moskovskoj Patriarchii (Zeitschrift der Moskauer Patriarchie), 10<br />

(.981), S.65.<br />

1 3


nannt <strong>und</strong> hielt Vorlesungen <strong>und</strong> Seminare am Lehrstuhl für<br />

Philosophiegeschichte, den er dann 1911 übernahm.<br />

Wenn er las, waren die Hörsäle überfüllt... Seine Rede strömte von innen<br />

her..., nicht um die Schönheit des Stils ging es ihr, vielmehr war sie schön<br />

durch ihre organische Einheit, wo Inhalt <strong>und</strong> Form zu etwas Ganzheitlichem<br />

verschmolzen. Es war ein magischer Zauber in seiner Rede. Man konnte ihr<br />

st<strong>und</strong>enlang lauschen, ohne zu ermüden. 12<br />

1910 heiratete Florenskij Anna Michajlovna Giacintova<br />

(1889-1973). Aus der Ehe gingen fünf Kinder hervor. Das<br />

häusliche Leben in Sergiev Posad (heute Zagorsk), in unmittelbarer<br />

Nachbarschaft des Klosters, war in den folgenden<br />

Jahrzehnten für Florenskij ein wesentlicher Bezugspunkt seiner<br />

Existenz. - 1911 empfing er die Priesterweihe.<br />

1914 trat Florenskij mit seinem theologischen Hauptwerk<br />

»Die Säule <strong>und</strong> die Gr<strong>und</strong>feste der Wahrheit. Versuch einer<br />

orthodoxen Theodizee in zwölf Briefen«, einer erweiterten<br />

Fassung der Dissertation, 1 ' ins Zentrum der theologischen<br />

Diskussion seiner Zeit. Diese Arbeit sprengt schon in ihrer<br />

Darbietung den Rahmen üblicher Wissenschaft: Emblemata<br />

begleiten den Text, der durch die Briefform einen persönlichen,<br />

oft bekenntnishaften Charakter trägt. Der Schriftsteller<br />

Ellis (Kobylinskij), ein Theoretiker des russischen Symbolismus,<br />

der später zum Katholizismus konvertierte, schreibt:<br />

Florenskijs Werk ist das Bedeutendste von allem, was auf dem Gebiete der<br />

russischen Mystik <strong>und</strong> Theologie, speziell der Sophiologie, entstanden ist.<br />

Vater P. Florenskij vereinigt eine f<strong>und</strong>amentale Gelehrsamkeit in der Theologie,<br />

Mystik, Kirchengeschichte <strong>und</strong> Ikonographie mit umfassenden Kennt-<br />

12 S. A. Volkov, zitiert nach F. I. UDELOV: »Ob o. Pavle Florenskom« (Über<br />

Vater Pavel Florenskij, 1882-1943), Paris 1972, S.9.<br />

13 » Stolp i utverzdenie istiny. Opyt pravoslavnoj feodicei v dvenadcati pis'mach<br />

svjasc. Pavla Florenskogo«, Moskau 1914 (<strong>im</strong> folgenden »Stolp«);<br />

deutsche Teilübersetzung in N. v. BUBNOFF/H. EHRENBERG (Hg.): »Östliches<br />

Christentum. Dokumente, Bd.2: Philosophie«, München 1925,<br />

S.28-194.<br />

14


nissen in der Mathematik, Philologie, Archäologie <strong>und</strong> Philosophie; als<br />

Schriftsteller besitzt er die Gaben der unbedingten Aufrichtigkeit <strong>und</strong> Originalität.<br />

14<br />

Die Wirkung des Buches reichte weit in die Kultur der Zeit<br />

hinein; stellvertretend seien nur Osip Mandel'stam 1 ' <strong>und</strong><br />

Maks<strong>im</strong>ilian Volosin genannt,' 6 die sich wie viele andere Zeitgenossen<br />

mit diesem Werk auseinandersetzten <strong>und</strong> wesentliche<br />

Impulse von ihm empfingen.<br />

Das Vorlesungsprogramm Florenskijs an der Geistlichen<br />

Akademie läßt erkennen, daß das spannungsvolle Verhältnis<br />

zwischen westlichem <strong>und</strong> östlichem Denken einen Brennpunkt<br />

seiner Weltanschauung darstellte. 17 Der Gegensatz<br />

zweier Arten des Philosophierens, deren Exponenten Kant<br />

<strong>und</strong> Piaton sind, ist auch der Ausgangspunkt seiner Kulturtypologie<br />

<strong>und</strong> damit gleichsam die Matrix seiner späteren<br />

kunsttheoretischen Schriften (»Die umgekehrte Perspektive«,<br />

»Die Ikonostase« u.a.). Piatons Philosophie, die noch<br />

in einem kultisch-religiösen Weltverständnis wurzele, bezeichnet<br />

Florenskij als Realismus, insofern sie dem Menschen<br />

14 »Vorbemerkung des Ubersetzers« (L.Kobylinskij [Ellis]) zu PAUL FLO-<br />

RENSKIJ: »Sophia. Aus dem XI.Kapitel des Werkes >Die Säule <strong>und</strong> die<br />

Gr<strong>und</strong>feste der Wahrheit««, in: »Ähren aus der Garbe«, Mainz 1926,<br />

S.72 (Text »Sophia« S. 77-118).<br />

15 Vgl. NADESHDA MANDELSTAM: »Das Jahrh<strong>und</strong>ert der Wölfe. Eine Autobiographie«,<br />

Frankfurt/M. 1973: »Als er [Osip Mandel'stam, U.W.]<br />

nach Kiew kam, hatte er Florenskijs >Säule <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>lage der Wahrheit«<br />

dabei. Offensichtlich beeindruckte ihn an diesem Buch, was dort über<br />

den Zweifel gesagt ist; denn er sprach oft vom Zweifel, ohne jedoch die<br />

Quelle zu nennen.«<br />

16 Maks<strong>im</strong>ilian Volosin nannte auf eine Zeitschriftenumfrage hin unter den<br />

sieben Büchern, von denen er sich nicht trennen würde, auch Florenskijs<br />

»Stolp«. Mitteilung von V. A. Nikitin; vgl. die unveröffentlichte Niederschrift<br />

seines für das Symposium in Bergamo (vgl. Anm. 19) vorgesehenen<br />

Referats: »>Ikonostas< P.A.Florenskogo« (P.A.Florenskijs »Ikonostase«),<br />

S. 26 f.<br />

17 Für das Studienjahr 1911/12 bei SILBERER: »Die Trinitätsidee«, S. 19.<br />

1 5


zeige, wie er am Sein der Ideen als dem eigentlich Realen teilhaben<br />

könne; platonisch ist nicht nur die mittelalterliche Philosophie,<br />

Piaton gilt Florenskij auch als Vater der russischen<br />

Philosophie <strong>und</strong> Theologie. Das westliche Denken seit der<br />

Renaissance unterzieht Florenski! einer gr<strong>und</strong>sätzlichen Kritik:<br />

Es befördere durch Subjektivismus <strong>und</strong> Individualismus<br />

die Ablösung von den geistigen Hierarchien, die allem Sein<br />

zugr<strong>und</strong>eliegen, <strong>und</strong> gipfele <strong>im</strong> »Illusionismus« Kants, der<br />

die Grenzen der Erkenntnis als Dogma festschreibe. Konsequent<br />

überträgt Florenskij diesen Dualismus auf Erscheinungen<br />

der Kultur:<br />

Das Leitthema der kulturhistorischen Anschauungen Florenskijs ist die Negation<br />

der Kultur als eines in Raum <strong>und</strong> Zeit kontinuierlichen Prozesses sowie<br />

die daraus resultierende Negation der Evolution <strong>und</strong> des Fortschritts der<br />

Kultur. Was das Leben einzelner Kulturen betrifft, so entwickelt Florenskij<br />

die Idee, daß sie rhythmisch einander ablösenden Kulturtypen untergeordnet<br />

sind, einer mittelalterlichen <strong>und</strong> einer Renaissance-Kultur. Der erste Typ<br />

ist charakterisiert durch Beschränkung, Objektivität, Konkretheit, Konzentration<br />

auf sich selbst, der zweite dagegen durch Zerstückelung, Subjektivität,<br />

Abstraktheit <strong>und</strong> Oberflächlichkeit. Die Renaissance-Kultur Europas<br />

hat-davon ist Florenskij überzeugt-um die Wende zum 20. Jahrh<strong>und</strong>ert ihr<br />

Dasein beendet, <strong>und</strong> seit den ersten Jahren des neuen Jahrh<strong>und</strong>erts sind auf<br />

allen Gebieten der Kultur erste Ke<strong>im</strong>e einer Kultur des anderen Typs zu<br />

beobachten. 15<br />

Nach dieser Auffassung ist der kulturelle Prozeß nichts anderes<br />

als eine »große Anamnese« (Averincev): 19 Der Zuwachs<br />

an Wissen besteht <strong>im</strong> zunehmenden Innewerden der Urbil-<br />

18 Zitiert nach IERODIAKON ANDRONIK (TRUBACEV): »Osnovnye certy licnosti«,<br />

S. 5 5. In Florenskijs Kulturtypologie zeigt sich ein deutlicher Einfluß<br />

des Slavophilentums; vgl. etwa IVAN KIREEVSKIJS »Brief an den Grafen<br />

Komarovskij (Uber das Wesen der europäischen Kultur <strong>und</strong> ihr Verhältnis<br />

zur russischen [1852])«, in: D. TSCHIZEWSKIJ/D. GROH (Hg.):<br />

»Europa <strong>und</strong> <strong>Rußland</strong>. Texte zum Problem des westeuropäischen <strong>und</strong><br />

russischen Selbstverständnisses«, Darmstadt 19J9, S.248-298.<br />

19 S.S. Averincev am 10.1.1988 in seiner Ansprache zur Eröffnung des internationalen<br />

Symposiums »Pavel Florenskij <strong>und</strong> die Kultur seiner Zeit«,<br />

16


der, der platonischen Ideen, die das Gedächtnis bewahrt,<br />

ohne sich dessen bewußt zu sein.<br />

Als 1918 die Geistliche Akademie geschlossen wurde <strong>und</strong><br />

auch alle Versuche, sie in anderer Form weiterzuführen, gescheitert<br />

waren, begann ein neuer Abschnitt <strong>im</strong> Leben Florenskifs.<br />

Zwar konnte er einige Jahre noch zu theologischen<br />

<strong>und</strong> philosophischen Fragen öffentlich Stellung nehmen,<br />

doch verlagerte sich seine Tätigkeit nun mehr auf andere Gebiete.<br />

Einen Schwerpunkt bildeten zunächst die Kunstwissenschaften<br />

<strong>im</strong> weiteren Sinn. Im Oktober 1918 wurde Florenskij<br />

zum wissenschaftlichen Sekretär einer Kommission<br />

ernannt, die mit der Erhaltung des Dreifaltigkeit-Sergius-<br />

Klosters in Sergiev Posad beauftragt war. Im Zusammenhang<br />

mit der Kampagne zur Bewahrung der Bauten <strong>und</strong> Kunstschätze<br />

des Klosters verfaßte er eine Anzahl detaillierter wissenschaftlicher<br />

Beschreibungen von Ikonen <strong>und</strong> anderen Altertümern.<br />

Von gr<strong>und</strong>legendem theoretischen Interesse sind<br />

insbesondere zwei Aufsätze dieser Zeit: In »Die kirchliche<br />

Liturgie als Synthese der Künste« betrachtet er Bauwerk, Liturgie,<br />

Ikone in ihrem funktionalen Zusammenhang als Gesamtkunstwerk<br />

<strong>und</strong> warnt davor, ihm einzelnes zu entnehmen,<br />

etwa indem man Ikonen <strong>im</strong> Museum aufstellt; schon aus<br />

dem einfachen Gr<strong>und</strong>, weil deren Farbigkeit nicht für elektrisches<br />

Licht ausgelegt ist. In dem zweiten bedeutenden Aufsatz,<br />

»Das Dreifaltigkeit-Sergius-Kloster <strong>und</strong> <strong>Rußland</strong>«, fordert<br />

Florenskij, das Kloster als geistiges Zentrum <strong>Rußland</strong>s<br />

anzuerkennen <strong>und</strong> zu einem »neuen Athen« umzugestalten.<br />

Hier wird deutlich, in welchem Maße sich sein Ideal an der<br />

Vergangenheit orientiert.<br />

Hätten indes die Zeitgenossen Florenskijs Arbeitsweise lediglich<br />

als anachronistisch <strong>und</strong> restaurativ empf<strong>und</strong>en, so<br />

das vom 10.-14.1.1988 in der Universität Bergamo stattfand. Zum Begriff<br />

der Anamnese vgl. Piatons »Menon«, 81.


wäre er wohl kaum an eine der damals führenden avantgardistischen<br />

Kunsthochschulen berufen worden. An den<br />

Moskauer Höheren künstlerisch-technischen Werkstätten<br />

(vchuTEMAS) wurde auf Betreiben des bekannten Graphikers<br />

<strong>und</strong> späteren Rektors der Hochschule, Vlad<strong>im</strong>ir Favorskij,<br />

für Florenskij ein Lehrstuhl für Raumanalyse in Kunstwerken<br />

geschaffen, den dieser von 1921 bis 1924 innehielt. Seine<br />

von zahlreichen Hörern besuchten Vorlesungen behandelten<br />

unter anderem die Neubewertung der Zentralperspektive der<br />

Renaissance, der er die »umgekehrte Perspektive« der mittelalterlichen<br />

<strong>und</strong> byzantinischen Kunst gegenüberstellte. Daß<br />

er hier <strong>und</strong> in anderen Studien die »Grammatik« von Kunstwerken<br />

als Zeichensystem beschrieb, in dem unterschiedliche<br />

Weltsichten zum Ausdruck kommen, führte seit den 60er<br />

Jahren zu einer lebhaften Rezeption seiner Schriften in den<br />

Kreisen der sowjetischen Semiotiker. Nicht zufällig erschien<br />

der erste Text von Florenskij in der udssR, »Die umgekehrte<br />

Perspektive«, nach einer mehr als 30jährigen Pause in der von<br />

Jurij Lotman herausgegebenen Zeitschrift Arbeiten über Zeichensysteme<br />

(Tartu 1967). Die Bewertung <strong>und</strong> Deutung der<br />

unterschiedlichen Zeichensysteme vollzog Florenskij jedoch<br />

<strong>im</strong>mer innerhalb der Frage nach dem Maß, mit dem eine kulturelle<br />

»Sprache« in der Lage ist, dem Betrachter den Weg in<br />

das Reich der <strong>Urbild</strong>er zu bahnen.<br />

Die Gegensätze, die damals innerhalb der Dozentenschaft<br />

der vchuTEMAS bestanden, hatten schließlich eine scharfe Polemik<br />

zur Folge, die der konstruktivistische, an der Produktionskunst<br />

orientierte Flügel gegen die Kunstauffassung der<br />

Gruppierung Favorskij/Florenskij richtete <strong>und</strong> die wahrscheinlich<br />

zum Austritt Florenskijs aus der Hochschule<br />

führte (1924). In der Zeitschrift LEF (Linke Front der Künste)<br />

erhoben Rodcenko, Popova u. a. den Vorwurf, hier würden<br />

weiterhin traditionelle Lehrmethoden propagiert, »neu« sei<br />

lediglich »die >mystische< Interpretation der künstlerischen<br />

18


Gesetze, die von einem Häuflein von Künstler-Mystikern<br />

unter Führung des Priesters Florenskij praktiziert wird.« 20<br />

Florenskij hatte zu Beginn der 20er Jahre in der aktuellen<br />

Kunstszene Stellung bezogen, als er sich einer Vereinigung<br />

von Künstlern <strong>und</strong> Schriftstellern anschloß, die aus der<br />

Gruppierung »Kunst ist Leben« hervorgegangen war <strong>und</strong><br />

sich <strong>im</strong> Umkreis der Zeitschrift Mäkovec 2 ' zusammenfand.<br />

Im ersten Heft, das 1922 erschien, wird Florenskij unter denen<br />

genannt, die »die Ideologie der Zeitschrift prägen«. In<br />

dem manifestartigen Artikel ״Unser Prolog« heißt es:<br />

Wir wissen, daß in jedem ganzheitlichen, objektiven Kunstwerk die Welt<br />

nicht eine grobe Masse unverb<strong>und</strong>ener Einzelheiten ist, sondern daß jedes<br />

Detail, jede Erscheinung durch eine große Verbindung, eine große Entsprechung<br />

bedingt wird. Die ewige Ordnung, die sich in allen Dingen widerspiegelt,<br />

erweist ihren Sinn als unendlich <strong>und</strong> unermeßlich, indem sie allein<br />

durch ihr Sein das religiöse Wesen des echten Künstlers beleuchtet. ... Wir<br />

sehen das Ende der analytischen Kunst, <strong>und</strong> unsere Aufgabe ist es, ihre zerstreuten<br />

Elemente in einer machtvollen Synthese zu sammeln.<br />

Auch wenn versichert wurde, daß die hier vereinten Künstler<br />

(Cekrygin, Cernysev, Zegin, Pestel' <strong>und</strong> andere) keine Polemik<br />

<strong>und</strong> keinen neuen Ismus suchten, wird deutlich, daß die<br />

Stoßrichtung der Gruppe gegen die »analytische« Avantgarde<br />

gerichtet war, der ein leitendes Ideal fehle. Das Programm<br />

zielte auf eine neue Auseinandersetzung mit der Tradition<br />

<strong>und</strong> mit der Realität; eine Versenkung insbesondere in<br />

die Kräfte der Natur sollte ihr »verborgenes Sein« zur Erscheinung<br />

bringen. 22 Dies schloß selbst ungegenständliche<br />

Malerei nicht aus - Liebe zur Wirklichkeit, zur »Expressivität<br />

des Lebens« war der Prüfstein des »realen Werks« -, doch<br />

20 »Razval VCIIUTEMASA« (Der Zusammenbruch der vchuTEMAS), in: LEF 4<br />

(1924), S. 27<br />

21 Mäkovec ist der Geburtsort des heiligen Sergij von Radonez.<br />

22 Die Autoren des Mäkovec haben sich wiederholt auf Goethe berufen,<br />

vgl. z.B. Cekrygin in einem Aufsatz in Mäkovec 2 (1922), S. 12.


lieben die Bilder der führenden »Mäkovcy« <strong>im</strong> figurativ-<br />

gegenständlichen Bereich. Deutlich wird diese Tendenz zu<br />

einem gemäßigt modernistischen Realismus auch darin, daß<br />

Einladungen zur Mitarbeit an Künstler wie Derain, Picasso,<br />

Vlaminck ergingen, nicht aber beispielsweise an Mondrian<br />

oder Klee. Zu den bekanntesten Schriftstellern, die in Mäko-<br />

vec veröffentlichten, zählen Pasternak, Aseev <strong>und</strong> Chlebni-<br />

kov. Die Gruppe bestand bis 1927.<br />

In dieser sehr produktiven Zeit, in der Florenskij auch an<br />

der »Ikonostase« arbeitete, entstanden außerdem sprachphi-<br />

losophische Schriften sowie das schon erwähnte Projekt ei-<br />

nes »Symbolariums«. Die geplante umfangreiche Enzyklo-<br />

pädie kam jedoch über Vorarbeiten nicht hinaus, lediglich<br />

die Einleitung <strong>und</strong> ein Artikel (»Der Punkt«) sind erhalten.<br />

23<br />

Das zweite Arbeitsgebiet Florenskijs in den Jahren nach der<br />

Revolution ergab sich aus seinen überragenden technisch-<br />

naturwissenschaftlichen Fähigkeiten, die er stets loyal in den<br />

Dienst seines Vaterlandes stellte. So arbeitete er bereits ab<br />

1920 als Spezialist für Elektrotechnik in der Staatlichen<br />

Kommission für die Elektrifizierung <strong>Rußland</strong>s (GOELRO)<br />

mit, die das nach dem Bürgerkrieg völlig darniederliegende<br />

Wirtschaftsleben <strong>Rußland</strong>s <strong>im</strong> Sinn der Leninschen Formel,<br />

Kommunismus sei Rätemacht plus Elektrifizierung des gan-<br />

zen Landes, ankurbeln sollte. 1921 trat er in die von Trotzkij<br />

geleitete Hauptverwaltung der elektrotechnischen Industrie<br />

be<strong>im</strong> Obersten Volkswirtschaftsrat (Glavelektro vsNch)<br />

ein. Hier <strong>und</strong> in anderen Institutionen, in denen er in den<br />

folgenden Jahren mitwirkte, war er als wissenschaftliche Ka-<br />

pazität lange vor den Verfolgungen geschützt, die sein Wer-<br />

23 »Pamjatniki kul'tury. Novye otkrytija. Ezegodnik 1982« (Kulturdenk-<br />

mäler. Neue Entdeckungen. Jahrbuch 1982), Leningrad 1984, S.99-<br />

11 5


degang <strong>und</strong> seine geistige Haltung geradezu provozieren<br />

mußten.<br />

Als er einmal durch das Institut ging, bemerkte Trotzks ir! einem Laboratorium<br />

des Kellergeschosses Florenskij, der sein übliches weißes Priestergewand<br />

trug.<br />

»Wer ist das?«<br />

»Professor Florenskij.«<br />

»Ah, Florenskij. ich kenne ihn!«<br />

Er trat zu ihm <strong>und</strong> lud ihn ein, am Ingenieurkongreß teilzunehmen.<br />

»Nur möglichst nicht in diesem Kostüm!«<br />

Florenskij antwortete, er habe die Priesterwürde nicht abgelegt <strong>und</strong> könne<br />

nicht Zivilkleidung tragen.<br />

»Das ist richtig, dann also in diesem Kostüm!«<br />

Auf dem Kongreß hielt Florenski! ein Referat. Als er zum Rednerpult hinaufging,<br />

hörte man erstaunte Ausrufe - ein Pope am Rednerpult!<br />

... Florenskijs Referat war, wie <strong>im</strong>mer, gehaltvoll <strong>und</strong> in der Form brillant.<br />

Als er endete, wurde applaudiert. 24<br />

Priestergewand <strong>und</strong> Brustkreuz soll Florenskij noch bis 1930<br />

in der Öffentlichkeit getragen haben.<br />

1924 publizierte er ein umfangreiches elektrotechnisches<br />

Standardwerk: »Nichtleiter <strong>und</strong> ihre technische Anwendung«.<br />

Im selben Jahr wurde er zum Professor für Physik<br />

ernannt. In der Folgezeit arbeitete er an verschiedenen Projekten<br />

<strong>und</strong> in wissenschaftlichen Kommissionen mit - mit<br />

Schwerpunkten in Materialk<strong>und</strong>e, Erschließung von Bodenschätzen<br />

u. a. - <strong>und</strong> war Redakteur der Technischen Enzyklopädie,<br />

für die er 127 Artikel verfaßte.<br />

1928 wurde er für einige Monate nach Niznij Novgorod<br />

(heute Gor'kij) verbannt, wo er aber seine Forschungen am<br />

Radio-Laboratorium fortsetzen konnte. Doch das innenpolitische<br />

Kl<strong>im</strong>a in der udssR verschärfte sich nun zunehmend.<br />

Stalin rief dazu auf, die Wachsamkeit gegenüber dem Klassenfeind<br />

<strong>im</strong> ganzen Land zu verstärken <strong>und</strong> den Klassen-<br />

24 L.2EGIN: »Vospominanija o P.A.Florenskom« (Erinnerungen an P.A.<br />

Florenskij), in: Vestnik 135, S.62f.


kämpf auch auf die Wissenschaften auszudehnen. Im Februar<br />

1933 wurde Florenskij verhaftet. Ein Hetzartikel gegen<br />

ihn, der <strong>im</strong> Mai desselben Jahres in der Parteizeitschrift Bol'sevik<br />

erschien, inkr<strong>im</strong>inierte v. a. die Schriften »Die Physik<br />

<strong>im</strong> Dienste der Mathematik« <strong>und</strong> »Imaginäre Größen in der<br />

Geometrie«. Letztere entstammte der Zeit seiner Mathematikstudien<br />

an der Moskauer Universität; die nun erweiterte<br />

Seminararbeit hatte Florenskij 1921 vor dem Allrussischen<br />

Ingenieurverband vorgetragen <strong>und</strong> 1922 anläßlich des Dante-<br />

Jubiläums mit einem Zusatz veröffentlicht, in dem er den<br />

Nachweis führte, daß das der »Göttlichen Komödie« zugr<strong>und</strong>eliegende<br />

Ptolemäische Weltbild durch die aktuelle naturwissenschaftliche<br />

Gr<strong>und</strong>lagenforschung rehabilitiert werde.<br />

In dem erwähnten Artikel hieß es:<br />

Diplomierte Lakaien des Popentums benutzen vor unserer Nase die Mathematik<br />

für die bestmaskierten Formen religiöser Propaganda, für die Propaganda<br />

des Idealismus. ... P.A.Florenskij ist nicht einfach ein gewöhnlicher<br />

Pope, er ist ein hochgelehrter Krieger der Schwarzh<strong>und</strong>erter-Orthodoxie,<br />

des Erzidealismus <strong>und</strong> der stockfinsteren Mystik. 2 '<br />

Die Behauptung, Florenskij verkünde <strong>im</strong> 20.Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

wiederum »die Wahrheit der Heiligen Inquisition«, klingt<br />

vor dem Hintergr<strong>und</strong> der anhebenden Repressionen besonders<br />

verlogen.<br />

In Kreisen der orthodoxen Kirche wird heute vermutet, daß<br />

sich Florenskij weigerte, dem christlichen Glauben abzuschwören,<br />

<strong>und</strong> deshalb <strong>im</strong> Juli 1933 zu zehn Jahren Lagerhaft<br />

verurteilt wurde. Dennoch setzte Florenskij <strong>im</strong> Lager seine<br />

intensive wissenschaftliche Tätigkeit fort. Zunächst arbeitete<br />

er in Sibirien an der Erforschung des Permafrost-Bodens. Im<br />

25 ERNEST KOL'MAN: »Protiv novejsich otkrovenij burzuaznogo mrakobesija«<br />

(Gegen die neuesten Entdeckungen des bürgerlichen Dunkelmännertums),<br />

in: Bol'sevik. Politiko-ekonomiceskij dvuchnedel'mk CK VKP<br />

(b) (Der Bolschewik. Politisch-ökonomische Zweiwochenschrift des ZK<br />

der RKP (B), S.91, 93<br />

22


Mai 1937 kam er in das auf einer Insel <strong>im</strong> Weißen Meer gelegene<br />

Soloveckij-Kloster, das in ein Straflager umgewandelt<br />

worden war; dort befaßte er sich u. a. mit der wirtschaftlichen<br />

Nutzung von Seetang.<br />

1937 schrieb er in dem einem Vermächtnis gleichkommenden<br />

Brief an seinen Sohn Kirill:<br />

Was habe ich das ganze Leben hindurch getan ? Ich habe die Welt als Ganzes<br />

betrachtet, als einheitliches Bild <strong>und</strong> einheitliche Realität, jedoch in jedem<br />

konkreten Moment, oder genauer, auf jeder Etappe des Lebens unter einem<br />

best<strong>im</strong>mten Blickwinkel. Ich habe die globalen Wechselbeziehungen <strong>im</strong><br />

Querschnitt der Welt in einer best<strong>im</strong>mten Richtung betrachtet, auf einer best<strong>im</strong>mten<br />

Ebene, <strong>und</strong> war bemüht, den Aufbau der Welt gemäß diesem<br />

Merkmal zu begreifen, das mich auf der jeweiligen Etappe beschäftigte. ...<br />

Ich arbeite stets an Einzelfällen, konzentriere mich aber auf die Manifestationen,<br />

die konkreten Erscheinungen des Allgemeinen in ihnen, d. h. ich richte<br />

das Augenmerk auf den platonisch-aristotelischen eidos (Goethes Urphänomen).<br />

26<br />

Dieser Brief ist eines der letzten Lebenszeugnisse Florenskijs.<br />

Ein Sondergericht des NKWD (Volkskommissariat des Inneren,<br />

Vorläufer des KGB) verurteilte Florenskij am 25.11.<br />

1937 zur »Höchststrafe« (Tod durch Erschießen). Das Todesurteil<br />

wurde am 8.12.1937 in Leningrad vollstreckt. 27<br />

26 Brief vom 21.3.1937, zitiert nach HAGEMEISTER: »Pavel Florenskij«,<br />

S.25; »Urphänomen« <strong>im</strong> Original deutsch.<br />

27 Florenskijs Familie richtete <strong>im</strong> Juni 1989 eine Anfrage an den KGB, die<br />

Umstände der Verurteilung <strong>und</strong> Hinrichtung Pavel Florenskijs betreffend.<br />

Bisher gehe<strong>im</strong>gehaltene Dokumente wurden daraufhin zugänglich<br />

gemacht. Vgl. IGUMEN ANDRONIK (TRUBACEV): »Ot legend k faktam«<br />

(Von Legenden zu Fakten), in: Literatumaja gazeta (Literaturzeitung),<br />

5 (3 1 · 1· 1 99 0 )־ S.7׳


Pavel Florenskijs >Ikonostase< <strong>im</strong><br />

zeitgeschichtlichen Umkreis<br />

1912 charakterisierte Kandinskij »die heutige Bewegung« in<br />

der Kunst über die Grenzen der unterschiedlichen Bestrebungen<br />

hinweg mit folgenden Worten:<br />

1. Das Zersetzen des seelenlos-materiellen Lebens des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts, das<br />

heißt das Fallen der für einzig fest gehaltenen Stützen des Materiellen, das<br />

Zerfallen <strong>und</strong> Sichauflösen der einzelnen Teile.<br />

2. Das Aufbauen des seelisch-geistigen Lebens des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts, welches<br />

wir miterleben <strong>und</strong> welches sich schon jetzt in starken, ausdrucksvollen <strong>und</strong><br />

best<strong>im</strong>mten Formen manifestiert <strong>und</strong> verkörpert. 28<br />

»Die Ikonostase« hat Teil an dieser Bewegung. Die Darstellung<br />

der Ikonenmalerei aus ihren ureigenen spirituellen Voraussetzungen,<br />

die den Inhalt der Schrift Florenskijs bildet, ist<br />

über weite Strecken zugleich eine Polemik gegen die Weltsicht<br />

der westlichen Malerei seit der Renaissance, die Florenskij<br />

zwar mit anderen Begriffen (vgl. die Ausführungen über<br />

Sensualismus <strong>und</strong> Rationalismus, z.B. S. n6ff.), jedoch<br />

nicht weniger scharf kritisierte, als dies in den Manifesten der<br />

zeitgenössischen Künstler geschah. Die »ausdrucksvollen<br />

<strong>und</strong> best<strong>im</strong>mten Formen« einer neuen, zukünftigen Kunst,<br />

von denen Kandinskij <strong>im</strong> zweiten Punkt spricht, sah Florenskij<br />

allerdings schon in der Ikonenmalerei verwirklicht, die<br />

ihm als höchste Form der Malerei, als auch in Zukunft anzustrebendes<br />

Ideal galt.<br />

Daß die Ikonenmalerei eine eigenständige, hochentwickelte<br />

Kunst ist, war in <strong>Rußland</strong> erst zu Beginn des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

ins Bewußtsein gedrungen, als <strong>im</strong> Verlauf von Restaurationsarbeiten<br />

die Leuchtkraft der Farben unter der dunklen<br />

28 Zitiert nach w. KANDINSKY: »Essays über Kunst <strong>und</strong> Künstler«, Bern<br />

1973, S.46; »Über die Formfrage« erschien zuerst in dem Almanach<br />

»Der Blaue Reiter«, München 1912.<br />

24


Schicht von Firnis <strong>und</strong> Staub <strong>und</strong> oft mehrfacher Übermalungen<br />

hervortrat. 1913 fanden die ersten großen Ikonen-Ausstellungen<br />

statt. Es war gerade die junge, progressive Malergeneration,<br />

bei der die Ikonen auf größtes Interesse stießen.<br />

Kaum ein russischer Künstler der Zeit, ob Natalija Goncarova<br />

- »Mein Weg führt mich zum Urquell sämtlicher Künste,<br />

nach Osten« 29 - oder Malevic - seine abstrakten Bilder<br />

bezeichnete er als »nackte gerahmte Ikonen« 30 - ob Tatlin 3 '<br />

oder Kandinskij, 32 der sich nicht auf sie berief. Diese Begegnung<br />

uralter Sakralkunst mit der Avantgarde ist dem Interesse<br />

an afrikanischer oder ozeanischer Kunst in Westeuropa<br />

etwa zur selben Zeit vergleichbar. Es bestätigte die Künstler<br />

auf ihrem Weg, daß die Ikone ohne die Regeln des malerischen<br />

Realismus auskam: Anstelle des homogenen, rational<br />

konstruierten, illusionistischen Bildraums verwirklichte sie<br />

eine »umgekehrte Perspektive«, die die Ich-Zentrierung des<br />

Künstlers wie des Betrachters aufhebt. Sie gibt nichts real<br />

Vorhandenes wieder, sie verweist oder <strong>im</strong>itiert nicht, vielmehr<br />

überbrückt sie die Differenz zwischen materiellem Zeichen<br />

<strong>und</strong> abwesendem Bezeichneten mittels ontologischer<br />

Teilhabe, die das Zeichen (Tafel, Umriß, Farbe etc.) selbst<br />

zur Wirklichkeit macht, zur gehe<strong>im</strong>nisvollen, durch göttliche<br />

Gnade bewirkten Gegenwart des Dargestellten.» Der Rückgriff<br />

auf diesen <strong>im</strong> Westen verschütteten Zeichenbegriff <strong>im</strong>-<br />

29 Zitiert nach: »Sieg über die Sonne. Aspekte russischer Kunst zu Beginn<br />

des 20.Jahrh<strong>und</strong>erts«, Ausstellungskatalog: Akademie der Künste, Berlin<br />

1983, S. i$3<br />

30 K.THOMAS: »Bis heute: Stilgeschichte der bildenden Kunst <strong>im</strong> 20.Jahrh<strong>und</strong>ert«,<br />

Köln 1971, S. 199<br />

31 Vgl. CH. LODDER: »Russian Constructivism«, New Häven - London<br />

1983, S.11<br />

32 L. SCHREYER: »Erinnerungen an Sturm <strong>und</strong> Bauhaus«, München 1966,<br />

S. 131<br />

33 Zu den geistesgeschichtlichen Gr<strong>und</strong>lagen des Bildbegriffs der Ikone vgl.<br />

N.THON: »Ikone <strong>und</strong> Liturgie«, Trier 1979, sowie p. CH. SCHÖNBORN:<br />

25


pulsierte die Avantgarde auf ihrer Suche nach einem neuen<br />

Verständnis von Bildlichkeit. Auch wenn die Zeichenstruktur<br />

der Ikone nicht mit der <strong>im</strong> 20. Jahrh<strong>und</strong>ert zum Thema<br />

erhobenen »Wirklichkeit des Bildes« 34 gleichzusetzen ist,<br />

schärfte sie doch den Blick für die Beschränkungen der Kulturepoche,<br />

die überw<strong>und</strong>en werden sollten.<br />

Die hier anzuknüpfende Frage, wie denn das »Neue« aussehen<br />

soll <strong>und</strong> auf welchen Wegen es zu erreichen ist, bezeichnet<br />

eine Grenze, über die hinaus die Standpunkte Florenskijs<br />

<strong>und</strong> der zeitgenössischen Avantgarde nicht mehr vergleichbar<br />

sind. Florenskijs Text versperrt sich einer Lesart, die ihn für<br />

einen fremden Diskurs unangemessen modernisieren will.<br />

Man denke nur an eine Formulierung wie die, in der die Kirche<br />

als »Säule <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>feste der Wahrheit« postuliert wird<br />

(S. 89). Andererseits wird man der Schrift auch nicht gerecht,<br />

wenn ihre Geltung von vornherein auf den kultischen<br />

Bereich beschränkt wird. Nicht nur, daß ihre Begründung<br />

des uns unvertrauten Bildbegriffs einen umfassenden<br />

Anspruch verfolgt, sie ist auch in ihrem Aufbau <strong>und</strong> ihrer<br />

Aussage keineswegs so monolithisch <strong>und</strong> monologisch, wie<br />

es die atheistisch-rationalistische Kritik nahelegt. 35 An der<br />

Art <strong>und</strong> Weise z.B., mit der Florenskij die Notwendigkeit<br />

des Kanons begründet (vgl. S. 86ff.), ist deutlich zu spüren,<br />

daß er die Autonomiebestrebungen der modernen Kunst in<br />

seine Überlegungen einbezieht <strong>und</strong> ihre Berechtigung gr<strong>und</strong>sätzlich<br />

anerkennt. Erinnert sei auch an den Zugang zum eigentlichen<br />

Thema - die Grenzstellung der Ikonostase zwi-<br />

»Die Christus-Ikone. Eine theologische Hinführung«, Schaffhausen<br />

1984.<br />

34 Im Sinn der Ausführungen von M. BOCKEMÜHL: »Die Wirklichkeit des<br />

Bildes. Bildrezeption als Bildproduktion. Rothko, Newmann, Raphael,<br />

Rembrandt«, Stuttgart 1985, insbes. S.8of.<br />

35 V. A. Nikitin hat auf diese Facette der Florenskij-Rezeption in der udssR<br />

hingewiesen; vgl. Anm. 16.<br />

26


sehen materieller <strong>und</strong> geistiger Wirklichkeit-, den Florenskij<br />

über die anthropologischen Urphänomene von Schlafen <strong>und</strong><br />

Wachen findet; er knüpft damit ausdrücklich an die eigene<br />

Erfahrung an <strong>und</strong> fordert den Leser unausgesprochen auf, dies<br />

gleichfalls zu tun. Diese thematische Ausweitung erinnert an<br />

C.G.Jungs Methode, seelische Phänomene mit kultur- <strong>und</strong><br />

geistesgeschichtlichen Parallelen zu beleuchten (»Amplifikation«).<br />

Wie Jung richtet auch Florenskij den Blick auf archetypische<br />

Vorgänge: Das Uberschreiten der Grenze zur geistigen<br />

Welt - in der Erfahrung des Mystikers ebenso wie in der<br />

künstlerischen Vision - <strong>und</strong> die dabei auftretende Umkehrung,<br />

ja Umstülpung des Bewußtseins ist ein solcher Archetypus,<br />

der den unmittelbaren Gegenstandsbereich der Darstellung<br />

wesentlich vertieft. Durch eine zweite Besonderheit<br />

unterläuft der Text die vorschnelle Festlegung. Auf S. rio<br />

werden wir überraschend mit einem Dialogpartner konfrontiert.<br />

Die Rede des Autors richtet sich nun an ein Gegenüber,<br />

er sucht ganz offensichtlich Ein- <strong>und</strong> Widerspruch, er will<br />

kritisch befragt werden. Und wenn der Leser weiß, daß<br />

Florenskij an anderer Stelle die platonischen Dialoge »dramatisierte<br />

Antinomien« nennt, 36 könnte er sich ermuntert fühlen,<br />

eine der Rollen auch einmal anders zu besetzen. Welchen<br />

Verlauf etwa nähme das Gespräch, wäre der Fragende nicht<br />

der kritisch-rationalistische Zeitgenosse - der bei Florenskij<br />

manchmal nur das Stichwort geben darf -, sondern z. B. einer,<br />

der ebenfalls das »Geistige in der Kunst« suchte, wenn<br />

auch auf anderen Wegen? 37 Natürlich sind das Spekulationen,<br />

36 »Stolp«, S. 156<br />

37 Ob eine Begegnung Florenskijs mit Kandinskij stattfand, dessen Schrift<br />

» Uber das Geistige in der Kunst« 1914 in einer gekürzten Fassung auch in<br />

<strong>Rußland</strong> veröffentlicht worden war, ist nicht bekannt. Denkbar wäre sie<br />

1921: Als Florenskij seine Professur an den vchuTEMAS antrat, beendete<br />

Kandinskij seine dortige Tätigkeit. Im Dezember 1921 verließ er <strong>Rußland</strong>.<br />

Zum Umfeld vgl. den Ausstellungskatalog »The Spiritual in Art«<br />

27


doch weist die Textstruktur darauf hin, daß Wahrheit in einem<br />

dialogischen Prozeß gef<strong>und</strong>en wird, der dem antinomischen<br />

Wesen der Wirklichkeit entspricht.<br />

Aufzugreifen wäre in einem solchen Gespräch auch eine der<br />

f<strong>und</strong>amentalen Kategorien, das »Antlitz« (lik). Florenskij<br />

führt aus, daß das Gesicht als natürliche Gegebenheit zur<br />

Maske werden kann, die die wahre Natur des Menschen verbirgt,<br />

daß es andererseits durch Askese, durch innere Umgestaltung<br />

Antlitz wird, »zur Erscheinung gebrachte geistige<br />

Wesenheit«; die Ikone macht den Menschen auf dieser Stufe<br />

seiner Entwicklung sichtbar. Es ist nun charakteristisch für<br />

Florenskijs Denkbewegung, daß er das Antlitz der Idee Piatons<br />

gleichsetzt - <strong>und</strong> es wäre zu fragen, ob eine Idee nach<br />

Piaton ohne Einbuße an Sein <strong>und</strong> Wahrheit sinnlich zur Erscheinung<br />

kommen kann -, an anderer Stelle aber das Antlitz<br />

als »Urphänomen« {pervojavlenie) bezeichnet, mit ausdrücklichem<br />

Bezug auf Goethe. 38<br />

Hier ist ein kleiner Exkurs nötig. Spuren einer intensiven<br />

Auseinandersetzung mit Goethe - <strong>und</strong> gerade mit dem Naturwissenschaftler<br />

Goethe - finden sich in Florenskijs Werk<br />

(dt.: »Das Geistige in der Kunst - abstrakte Malerei 1890-1985«, Stuttgart<br />

1988).<br />

38 »Wenn das Haus des Seligen Sergij das Gesicht <strong>Rußland</strong>s ist, zur Erscheinung<br />

gebracht durch die Meisterschaft hoher Kunst, so ist der Gründer<br />

[des Klosters, U.W.] sein <strong>Urbild</strong>, das <strong>Urbild</strong> dieses Bildes <strong>Rußland</strong>s, das<br />

Urphänomen (pervojavlenie) <strong>Rußland</strong>s, mit Goethe gesagt, oder, in unserer<br />

eigenen Terminologie, sein Antlitz...«: »Troice-Sergieva-Lavra i<br />

Rossija« (Das Dreifaltigkeit-Sergius-Kloster <strong>und</strong> <strong>Rußland</strong>), in: svjAää.<br />

PAVEL FLORENSKIJ, »Sobranie socinenij, I, Stat'i po iskusstvu« (Gesammelte<br />

Werkel, Aufsätze zur Kunst), Paris 1985, S.65f. - Florenskij<br />

spricht in der »Ikonostase« von der platonisch-aristotelischen Philosophie<br />

als Gr<strong>und</strong>lage der Diskussion zum Bilderstreit, vgl. S. 79. Interessant<br />

ist in diesem Zusammenhang folgende Stelle: »... die volkstümliche,<br />

kirchliche Vorstellung von den Schutzengeln kommt philosophischen<br />

Begriffen sehr nahe: der platonischen Idee, der aristotelischen Form bzw.<br />

eher der Entelechie...«; P.A.FLORENSKIJ: »Troice-Sergieva-Lavra«.<br />

28


an vielen Stellen. So ist die mehr phänomenologische Einleitung<br />

zum Aufsatz »H<strong>im</strong>mlische Zeichen (Eine Betrachtung<br />

zur Symbolik der Farben)«, 1922 <strong>im</strong> zweiten Heft der Zeitschrift<br />

Mäkovec veröffentlicht, nichts anderes als ein knappes<br />

Referat der Goetheschen Farbenlehre, insbesondere des Abschnitts<br />

»Dioptrische Farben der ersten Klasse«. Schon in<br />

»Die Säule <strong>und</strong> die Gr<strong>und</strong>feste der Wahrheit« hatte Florenskij<br />

in einem Exkurs über die Farbe Blau eingehend Goethes<br />

Farbenlehre gewürdigt. 3 ' Es verw<strong>und</strong>ert dann auch nicht,<br />

wenn wir in einem Brief vom April 1936 lesen:<br />

Der Geist der zeitgenössischen Physik, die in extremer Weise von der konkreten<br />

Erscheinung abstrahiert <strong>und</strong> die physische Gestalt durch analytische<br />

Formeln ersetzt, ist mir fremd. Ich bin ganz in dem Weltgefühl <strong>und</strong> dem<br />

Weltverständnis Goethes <strong>und</strong> Faradays. 40<br />

Wie f<strong>und</strong>amental das Goethesche Denken für Florenskij war,<br />

erweist sich auch in anderen Zusammenhängen. In dem Aufsatz<br />

»Namen« bezeichnet Florenskij den Eigennamen des<br />

Helden <strong>im</strong> literarischen Werk als »verbales Urphänomen«<br />

(slovesnoe pervojavlenie), 4 ' vergleichbar mit der »ganzen<br />

Fülle der formbildenden Intuition« der Pflanze: »In der<br />

Knospe ist die ganze Pflanze.« Goethes Wissenschaftsverständnis<br />

ist auch hier die Gr<strong>und</strong>lage seiner kritischen Einschätzung<br />

zeitgenössischer Denkformen. Erst wenn durch<br />

Umbildung des »inneren Lebens« das »gegenständliche Denken«<br />

zur Selbstverständlichkeit geworden sei, könne der »allgemeine<br />

Rationalismus der jüngsten Vergangenheit« über-<br />

39 »Stolp«, S.552-576<br />

40 Zitiert nach IERODIAKON ANDRONIK (TRUBACEV): »K too-letiju so dnja<br />

rozdenija svjascennika Pavla Florenskogo« (Zum 100.Geburtstag des<br />

Priesters Pavel Florenskij), in: Bogoslovskie trudy (Theologische Arbeiten)<br />

23 (1982), S.273f.<br />

41 »Imena« (Namen, 1923), veröffentlicht als Teil der Publikation »Pavel<br />

Florenskij o literature«, S. 146-176, hier S. 172.<br />

2 9


w<strong>und</strong>en werden. 42 Die Florenskijs Denken auszeichnende innere<br />

Beweglichkeit, die dem Leser mitunter auch fragmentarische<br />

<strong>und</strong> diskontinuierliche Gedankenreihen zumutet, hat<br />

zur Folge, daß er keine »Termini« <strong>im</strong> Sinn starrer Definitionen<br />

(Ab-Grenzungen) verwendet; vielmehr arbeitet er<br />

synthetisch, mit Amplifikationen, Metamorphosen eines Begriffs:<br />

lik (Antlitz), letztlich von den antiken Mysterien hergeleitet,<br />

43 ist eine solche Ur-Vorstellung, die in der Evolution<br />

des Denkens unterschiedlich gefaßt wird. <strong>Urbild</strong>, Idee, Entelechie,<br />

Urphänomen sind insofern unterschiedliche Aspekte,<br />

geschichtliche Hypostasen einer zentralen Erkenntniskategorie<br />

Florenskijs, des »konkreten Allgemeinen«, 44 das er in<br />

allen Erscheinungen suchte.<br />

Auf die »Ikonostase« übertragen, leuchtet die Gleichsetzung<br />

von Antlitz <strong>und</strong> Urphänomen ein - beide stehen zwischen<br />

Wahrnehmung <strong>und</strong> Idee. Schiller hielt bekanntlich der Goetheschen<br />

Urpflanze, einer »symbolischen Pflanze«, entgegen:<br />

»Das ist keine Erfahrung, das ist eine Idee«, was Goethe<br />

energisch bestritt; er sah die Idee gleichwohl »mit Augen«. 4 '<br />

Auch die Ikonostase markiert in der Darstellung Florenskijs<br />

eine Grenze, die Grenze zwischen H<strong>im</strong>mel <strong>und</strong> Erde, Ge-<br />

42 »Imena«, S. 176. - In der Forschung finden sich bisher kaum Hinweise<br />

auf die Beziehung Florenskijs zu Goethe; sie kann in diesem Rahmen nur<br />

angedeutet werden. Aufschlußreich war für mich besonders die Mitteilung<br />

Pavel Vasil'evic Florenskijs, des Enkels des Philosophen, daß es in<br />

der Familie Florenskijs stets einen ausgeprägten Goethe-Kult gegeben<br />

hat (Januar 1988 in Bergamo).<br />

43 Ausführlicher hat Florenskij diesen Zusammenhang in »Smysl idealizma«<br />

(Der Sinn des Idealismus), Sergiev Posad 1914, dargestellt <strong>und</strong><br />

begründet.<br />

44 »Imena«, S. 175<br />

45 Die Wiedergabe des Gesprächs zwischen Goethe <strong>und</strong> Schiller findet sich<br />

in Goethes Aufsatz »Glückliches Ereignis«, in: j. w. GOETHE: »Schriften<br />

zur Botanik <strong>und</strong> Wissenschaftslehre« (dtv-Gesamtausgabe Bd. 39),<br />

München 1975, S. 177.<br />


meinde <strong>und</strong> Altar, Sichtbarem <strong>und</strong> Unsichtbarem - sie ermöglicht<br />

aber zugleich den Übergang in der Wahrnehmung,<br />

die Begegnung von Sinnlichem <strong>und</strong> Übersinnlichem, sie gehört<br />

beiden Welten an. Wie Goethe wird Florenskij, der sich<br />

als Monist <strong>und</strong> Realist bezeichnete, des Geistes in der Materie<br />

ansichtig. Nicht umsonst weist er so nachdrücklich darauf<br />

hin, daß der Künstler schon mit der Wahl des Malgr<strong>und</strong>s <strong>und</strong><br />

der Stoffe, die er verarbeitet, weitreichende Entscheidungen<br />

trifft (S. lojii.). Der angemessene Umgang des Künstlers mit<br />

seinen Materialien ist geradezu ein Wahrheitskriterium für<br />

das, was er darstellt.<br />

Problematischer wird die angesprochene Beziehung, wenn<br />

das Urphänomen <strong>im</strong> Sinne Goethes als ein kreatives, bewegliches<br />

Prinzip der »produktiven Einbildungskraft« 46 betrachtet<br />

wird; müßte es nicht in dieser Eigenschaft die ontologische<br />

Rückbindung - »Wiedererinnerung« kanonisch festgelegter<br />

<strong>Urbild</strong>er - sprengen ? Das Urphänomen Goethes - in der Farbenlehre<br />

z.B. der Kampf von Licht <strong>und</strong> Finsternis - ist eine<br />

genetische Matrix möglicher Formen, eine Anleitung zur<br />

Metamorphose. Unter den Zeitgenossen Florenskijs scheint<br />

Paul Klee diesen Aspekt ganz bewußt aufzugreifen, wenn er<br />

sagt:<br />

Je tiefer er [d.h. der Künstler] schaut, desto leichter vermag er Gesichtspunkte<br />

von heute nach gestern zu spannen. Desto mehr prägt sich ihm an die<br />

Stelle des fertigen Naturbildes das allein wesentliche Bild der Schöpfung als<br />

Genesis ein.<br />

Er erlaubt sich dann auch den Gedanken, daß die Schöpfung heute kaum<br />

schon abgeschlossen sein könne, <strong>und</strong> dehnt damit jenes weltschöpferische<br />

Tun von rückwärts nach vorwärts: der Genesis Dauer verleihend.<br />

Er geht noch weiter.<br />

Er sagt sich, diesseits bleibend: es sah diese Welt anders aus <strong>und</strong> es wird diese<br />

Welt anders aussehen.<br />

46 Vgl. dazu M. BOCKEMÜHL: »Wirklichkeit des Bildes«, S.76{. <strong>und</strong> 204,<br />

Anm. 183.<br />

3 1


Nach jenseits tendierend aber meint er: auf anderen Sternen kann es wieder<br />

zu ganz anderen Formen gekommen sein. 47<br />

Abschließend sei noch darauf hingewiesen, daß sich »Die<br />

Ikonostase« nicht nur in den Zusammenhang der zeitgenössischen<br />

Kunstbewegungen einordnet, sondern auch politisch<br />

Stellung bezieht. Florenskijs prinzipielle Loyalität gegenüber<br />

der Sowjetmacht steht außer Frage, 48 doch kann der aufmerksamen<br />

Lektüre nicht entgehen, daß der Text gleichsam unter<br />

der Sachargumentation eine Reihe von Anspielungen auf die<br />

Zeitsituation birgt. Es finden sich Formulierungen, in denen<br />

persönliche Betroffenheit mitschwingt, Vorahnungen des eigenen<br />

Schicksals. Liest man etwa den gleich zu Beginn angeführten<br />

Traum aus der Französischen Revolution vor dem<br />

Hintergr<strong>und</strong> der realen Zeitumstände, so erhält er neben seiner<br />

Funktion, den Begriff der »umgekehrten Zeit« zu verdeutlichen,<br />

eine zusätzliche, unhe<strong>im</strong>liche <strong>und</strong> prophetische<br />

Bedeutung. Gibt es nicht hinreichend Parallelen zwischen<br />

den Revolutionen von 1789 <strong>und</strong> 1917, mußte die sinnlose<br />

Zerstörung von Kirchen <strong>und</strong> Kultbildern, das Einzäunen von<br />

Viehweiden mit Ikonostasen Florenskij nicht wie ein Alptraum<br />

vorkommen, aus dem er zu erwachen hoffte? Die Ausführungen<br />

über den Bilderstreit in Byzanz waren in diesem<br />

Sinn damals hochaktuell. Neben dem politisch-ideologisch<br />

motivierten Ikonoklasmus gab es ja noch den mehr ästhetischen<br />

in linken Gruppierungen der Avantgarde, die das Bild<br />

überhaupt als bürgerlichen Pl<strong>und</strong>er über Bord werfen <strong>und</strong> an<br />

seine Stelle die Agitations- <strong>und</strong> Produktionskunst <strong>im</strong> Dienst<br />

47 PAUL KLEE: »Das bildnerische Denken. Form- <strong>und</strong> Gestaltungslehre«,<br />

Bd. 1, Basel-Stuttgart 1981, S.92f. (die zitierte Stelle stammt aus einem<br />

Vortrag Klees aus dem Jahr 1924); ־«׳. HOFMANN: »Gr<strong>und</strong>lagen der modernen<br />

Kunst«, Stuttgart 1966, S.427f., hat auf die Beziehung Klees zu<br />

Goethe hingewiesen.<br />

48 Vgl. Florenskijs Brief an den Pariser Verleger Citron, in: »Kontekst«<br />

(Kontext) 1972, Moskau 1973, S. 345 f.<br />

32


des Proletariats setzen wollten. Ein Satz wie »Ikonen vernichten<br />

heißt, die Fenster zumauern« (S. 70), ist <strong>im</strong> Jahr 1922<br />

auch ein politisches Bekenntnis. Daß die offizielle Kunstpolitik<br />

schon wenige Jahre später mit der Proklamation des »Sozialistischen<br />

Realismus« auf krasse Weise ins 19.Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

zurückfiel, war nur eine weitere, tragisch-absurde Episode in<br />

der Geschichte der russischen Diskontinuitäten. - In dieser<br />

»Zeit der Wirren« (S. 131 f.) erforderte es nicht zuletzt großen<br />

persönlichen Mut <strong>und</strong> innere Sicherheit, den kirchlichen<br />

Begriff der Kunst - Realismus als Schauen der Wirklichkeit<br />

der <strong>Urbild</strong>er - erneut zu begründen <strong>und</strong> die Wahrheit der<br />

Ikone zu verteidigen. 49<br />

49 Daß das Werk Florenskijs heute unter den veränderten politischen Bedingungen<br />

in der UdSSR, aber auch <strong>im</strong> Westen zunehmend erforscht <strong>und</strong> als<br />

ausgesprochen aktuell empf<strong>und</strong>en wird, dokumentiert M. HAGEMEISTER:<br />

»P.A.Florenskijs > Wiederkehr*. Materialien zu einer Bibliographie<br />

(1985-1989)«, in: Ostkirchliche Studien, 2/3 (1990), S. 119-145. Vgl.<br />

auch R.GOLDT: »Aspekte der sowjetischen Idealismusdebatte. Wiederentdeckung<br />

<strong>und</strong> Wirkung der Ästhetik P.A. Florenskijs«, in: E.Reissner<br />

(Hg.): »Perestrojka <strong>und</strong> Literatur«, Berlin 1990, S. 121-165, sowie<br />

BOTHO STRAUSS: »Der Aufstand gegen die sek<strong>und</strong>äre Welt. Anmerkungen<br />

zu einer Ästhetik der Anwesenheit«, in: Die Zeit, Nr. 26(22.6.1990),<br />

S.57.<br />

33


Pavel Florenskij<br />

Die Ikonostase


IN ach den ersten Worten der Schöpfungsgeschichte schuf<br />

Gott »den H<strong>im</strong>mel <strong>und</strong> die Erde« (Gen. 1,1), <strong>und</strong> diese<br />

Zweiteilung galt stets als gr<strong>und</strong>legend. So nennen wir auch <strong>im</strong><br />

Glaubensbekenntnis Gott den » Schöpfer alles Sichtbaren <strong>und</strong><br />

Unsichtbaren«, den Schöpfer des Sichtbaren ebenso wie des<br />

Unsichtbaren. Diese beiden Welten - die sichtbare Welt <strong>und</strong><br />

die unsichtbare Welt - berühren sich. Doch ist der Unterschied<br />

zwischen ihnen so groß, daß die Frage nach der<br />

Grenze ihrer Berührung unumgänglich ist. Sie teilt sie, aber<br />

sie vereinigt sie doch auch. Wie ist sie zu verstehen?<br />

Hier wie auch in anderen Fragen der Metaphysik dient als<br />

Ausgangspunkt selbstverständlich das, was wir bereits in uns<br />

selbst wissen. Ja, das Leben unserer eigenen Seele gibt einen<br />

Anhaltspunkt für die Beurteilung dieser Grenze der Berührung<br />

zweier Welten, denn auch in uns selbst wechselt ein Leben<br />

<strong>im</strong> Sichtbaren mit einem Leben <strong>im</strong> Unsichtbaren, <strong>und</strong><br />

eben deshalb gibt es Zeiten - auch wenn sie kurz, auch wenn<br />

sie extrem kompr<strong>im</strong>iert sind, mitunter sogar zu einem Atom<br />

der Zeit -, zu denen sich die beiden Welten berühren, <strong>und</strong><br />

diese Berührung ist von uns selbst zu beobachten. In uns reißt<br />

die Hülle des Sichtbaren momentweise auf, <strong>und</strong> durch sie,<br />

durch den noch bewußt wahrnehmbaren Riß hindurch, weht<br />

ein unsichtbarer, jenseitiger Hauch: Diese <strong>und</strong> die andere<br />

Welt lösen sich ineinander auf, <strong>und</strong> unser Leben gerät in ein<br />

einziges Strömen, ähnlich dem, wenn über Glut heiße Luft<br />

aufsteigt.<br />

Der Schlaf - das ist die erste <strong>und</strong> einfachste Stufe des Lebens<br />

<strong>im</strong> Unsichtbaren, nämlich in dem Sinn, daß wir ganz <strong>und</strong> gar<br />

37


an ihn gewöhnt sind. Mag dies auch eine niedere Stufe sein,<br />

was wohl meist der Fall ist, so entrückt doch auch der Schlaf,<br />

selbst in seinem Rohzustand, der unbearbeitete Schlaf, die<br />

Seele ins Unsichtbare, <strong>und</strong> läßt sogar den Unsensibelsten unter<br />

uns ahnen, daß noch etwas anderes existiert außer dem,<br />

was wir ausschließlich für das Leben zu halten geneigt sind.<br />

Und wir wissen: Auf der Schwelle von Schlaf <strong>und</strong> Wachen,<br />

be<strong>im</strong> Durchschreiten des zwischen ihnen liegenden Gebietes,<br />

dieser Grenze ihrer Berührung, wird unsere Seele von Träumen<br />

umringt.<br />

Man muß nicht beweisen, was längst bewiesen ist: Der Tiefschlaf,<br />

der eigentliche Schlaf, d.h. der Schlaf als solcher, ist<br />

nicht von Träumen begleitet, <strong>und</strong> lediglich der halb schläfrige,<br />

halb wache Zustand, gerade die Grenze zwischen Schlaf<br />

<strong>und</strong> Wachen ist die Zeit, genauer gesagt die zeitliche Sphäre,<br />

in der die Traumbilder entstehen. Richtig ist wohl jene Deutung<br />

der Träume, nach der sie einem <strong>im</strong> strengen Wortsinn<br />

momentanen Übergang aus einer Sphäre des Seelenlebens in<br />

eine andere entsprechen <strong>und</strong> erst danach, in der Erinnerung,<br />

d.h. bei der Transposition ins Wachbewußtsein, sich in unsere,<br />

der sichtbaren Welt zugehörige Zeitreihe verwandeln,<br />

daß sie an sich aber ein eigenes »transzendentales« Zeitmaß<br />

haben, das mit dem Zeitmaß des Wachens nicht zu vergleichen<br />

ist. Wir wollen kurz den Beweis dafür in Erinnerung<br />

rufen.<br />

»Wenig geschlafen <strong>und</strong> viel gesehen« - so lautet die knappe<br />

Formel dieser Verdichtung der Traumbilder. Jeder weiß, daß<br />

man in einer nach äußerlicher Messung kurzen Zeit <strong>im</strong> Traum<br />

St<strong>und</strong>en, Monate, selbst Jahre <strong>und</strong> unter besonderen Umständen<br />

Jahrh<strong>und</strong>erte <strong>und</strong> Jahrtausende durchleben kann. In<br />

diesem Sinn zweifelt niemand daran, daß der Schlafende, indem<br />

er sich von der äußeren sichtbaren Welt abschließt <strong>und</strong><br />

bewußtseinsmäßig in ein anderes System übergeht, auch eines<br />

neuen Zeitmaßes teilhaftig wird, weshalb seine Zeit mit uner-<br />

38


hörter Schnelligkeit abläuft, verglichen mit der Zeit des Systems,<br />

das er verlassen hat. Während jedoch Übereinst<strong>im</strong>mung<br />

darüber herrscht - auch ohne Kenntnis der Relativitätstheorie<br />

-, daß in unterschiedlichen Systemen, zumindest hinsichtlich<br />

des zu untersuchenden Falles, eine je eigene Zeit<br />

fließt, mit eigener Geschwindigkeit <strong>und</strong> mit eigenem Maß, so<br />

wird nicht jeder, ja wohl nur wenige Menschen werden auf den<br />

Gedanken kommen, daß die Zeit mit unendlicher Geschwindigkeit<br />

fließen, sich sogar umstülpen <strong>und</strong> be<strong>im</strong> Durchgang<br />

durch eine unendliche Geschwindigkeit in umgekehrter<br />

Richtung bewegen kann. Und doch kann die Zeit tatsächlich<br />

momentan sein <strong>und</strong> sich von der Zukunft zur Vergangenheit<br />

umkehren, von den Folgen zu den Ursachen, den teleologischen<br />

Ursachen; dies tritt gerade dann auf, wenn unser Leben<br />

vom Sichtbaren ins Unsichtbare übergeht, vom Wirklichen<br />

ins Imaginäre. Den ersten Schritt in dieser Richtung, d.h. die<br />

Entdeckung der momentanen Zeit, tat der damals noch sehr<br />

junge Baron Carl Du Prel; dies war sein bedeutendster Schritt<br />

überhaupt. Doch das fehlende Verständnis für <strong>im</strong>aginäre<br />

Größen ließ ihn vor einer weiteren <strong>und</strong> noch bedeutenderen<br />

Entdeckung zurückscheuen, die zweifellos auf seinem Weg<br />

lag, vor der Anerkennung der umgekehrten Zeit.<br />

Die Überlegung verläuft, schematisch gesehen, etwa folgendermaßen.<br />

Allgemein bekannt sind Träume - jeder hat sie<br />

zweifellos oft erlebt, wenn auch nicht in dem uns beschäftigenden<br />

Sinn gedanklich erfaßt -, die von einer äußeren Ursache,<br />

genauer gesagt: anläßlich oder bei Gelegenheit dieses<br />

oder jenes äußeren Umstands, hervorgerufen werden. Das<br />

kann ein beliebiges Geräusch oder ein Ton sein, ein laut gesprochenes<br />

Wort, eine zu Boden gefallene Decke, ein plötzlich<br />

eindringender Geruch, ein Lichtstrahl, der die Augen<br />

trifft usw. - schwer zu sagen, was nicht alles Impuls für die<br />

sich entfaltende Tätigkeit der schöpferischen Phantasie sein<br />

kann. Vielleicht ginge man nicht zu weit, wenn man allen<br />

39


Träumen einen solchen Ursprung zuschriebe, was übrigens<br />

ihre objektive Bedeutung keineswegs untergräbt. Doch wird<br />

diese banale Feststellung, daß ein äußerer Umstand Anlaß eines<br />

Traums ist, sehr selten mit der eigentlichen Komposition<br />

des jeweiligen Traums in Zusammenhang gebracht. Wahrscheinlich<br />

wird diese fehlende Aufmerksamkeit für den Inhalt<br />

des Traums von der gängigen Ansicht genährt, der Traum<br />

sei etwas Unbedeutendes, das Analyse <strong>und</strong> Nachdenken<br />

nicht verdiene. Doch wie auch <strong>im</strong>mer - die Komposition von<br />

Träumen »ä propos«, ja, ich wage zu sagen überhaupt aller<br />

Träume, zumindest der allermeisten, baut auf einem solchen<br />

Schema auf.<br />

Die Traumphantasie präsentiert uns eine Reihe von Personen,<br />

Ortlichkeiten <strong>und</strong> Ereignissen, die zweckmäßig miteinander<br />

verkettet sind, d.h. natürlich nicht durch ein tieferes Verständnis<br />

der Ereignisse, die die Handlung des Traumdramas<br />

lenken, vielmehr <strong>im</strong> Sinn eines Pragmatismus: Wir haben ein<br />

klares Bewußtsein von der Verknüpfung, die von Ursachen,<br />

ursächlichen Ereignissen, die wir <strong>im</strong> Traum sehen, zu Folgen,<br />

resultierenden Ereignissen des Traums führt; die einzelnen<br />

Ereignisse, so absurd sie auch erscheinen, sind <strong>im</strong> Traum<br />

gleichwohl durch ursächliche Verknüpfungen miteinander<br />

verb<strong>und</strong>en, <strong>und</strong> der Traum entwickelt sich, wobei er eine best<strong>im</strong>mte<br />

Richtung n<strong>im</strong>mt <strong>und</strong> - aus der Perspektive des Träumenden<br />

- in verhängnisvoller Weise zu einem abschließenden<br />

Ereignis führt, das sich als Lösung <strong>und</strong> Abschluß des ganzen<br />

Systems aufeinanderfolgender Ursachen <strong>und</strong> Folgen erweist.<br />

Ein Traum wird durch ein Ereignis x abgeschlossen, das eintrat,<br />

weil vor ihm das Ereignis t eintrat, <strong>und</strong> t trat deswegen<br />

ein, weil vor ihm das Ereignis s war, s ging die Ursache rvoran<br />

usw., aufsteigend von Folgen zu Ursachen, vom Folgenden<br />

zum Vorhergehenden, von der Gegenwart zur Vergangenheit<br />

bis zu einem anfänglichen <strong>und</strong> normalerweise ganz unbedeutenden,<br />

durch nichts sich auszeichnenden Ereignis a - der Ur-<br />

40


sache alles dessen, was auf es folgte, so, wie es <strong>im</strong> Traum bewußt<br />

wird. Wir halten aber fest, daß die mit dem Tagesbewußtsein<br />

zu beobachtende äußere Ursache des ganzen<br />

Traums, der ganzen Komposition, ein für das geschlossene<br />

System des Schlafenden äußerliches Ereignis oder ein äußerlicher<br />

Umstand war. Wir wollen ihn £2 nennen.<br />

Jetzt erwacht der Schlafende, durch diese Ursache £2 nicht nur<br />

zu dem Traum veranlaßt, den er hatte, sondern durch sie auch<br />

aufgeweckt, wobei jedoch die Lösung des Traums x ihrem<br />

Inhalt nach mit der <strong>im</strong> Wachzustand erlebten Ursache des<br />

Traums Q übereinst<strong>im</strong>mt - oder doch fast übereinst<strong>im</strong>mt.<br />

Diese Übereinst<strong>im</strong>mung ist normalerweise so exakt, daß man<br />

nicht auf die Idee kommen wird, an der unmittelbaren Verknüpfung<br />

der Ereignisse x <strong>und</strong> der Ursache Q zu zweifeln:<br />

Die Lösung des Traums ist zweifellos die Umschreibung eines<br />

Ereignisses der äußeren Welt, das in die von allem Äußerlichen<br />

isolierte Welt des Schlafenden gewaltsam eingedrungen<br />

ist. Wenn ich träume, daß ein Schuß fällt, <strong>und</strong> es <strong>im</strong> Nachbarz<strong>im</strong>mer<br />

tatsächlich einen Schuß gab oder eine Tür zugeschlagen<br />

wurde - kann es da Zweifel geben, daß ein solcher Traum<br />

nicht zufällig ist? Natürlich ist der Schuß <strong>im</strong> Traum das geistige<br />

Echo auf den Schuß in der äußeren Welt. Wenn man<br />

will, stellen die beiden Schüsse die doppelte Wahrnehmung<br />

ein <strong>und</strong> desselben physischen Prozesses dar - mit dem schlafenden<br />

<strong>und</strong> dem wachenden Ohr. Wenn ich <strong>im</strong> Traum eine<br />

Anzahl wohlriechender Blüten erblicke, sobald man mir eine<br />

Parfümflasche unter die Nase hält, so würde niemand auf die<br />

Idee kommen, daß die beiden Düfte zufällig übereinst<strong>im</strong>men,<br />

der Blütenduft des Traums <strong>und</strong> das äußerlich gerochene Parfüm.<br />

Wenn sich mir <strong>im</strong> Traum jemand mit seinem ganzen Gewicht<br />

auf die Brust legt <strong>und</strong> drauf <strong>und</strong> dran ist, mich zu ersticken,<br />

<strong>und</strong> dieser auf mir Liegende, wenn ich vor Angst aufwache,<br />

sich als ein Kissen herausstellt, das mir auf die Brust<br />

gefallen ist, oder wenn mich <strong>im</strong> Schlaf ein H<strong>und</strong> gebissen hat,<br />

4i


<strong>und</strong> ich, durch die Empfindung dieses Bisses aufgewacht,<br />

entdecke, daß mich in Wirklichkeit ein durch das offene Fenster<br />

hereingeflogenes Insekt gestochen hat, so ist hier ebenso<br />

wie in unzähligen anderen ähnlichen Fällen die Übereinst<strong>im</strong>mung<br />

der Lösung x mit der Ursache des Traums Q durchaus<br />

nicht zufällig.<br />

Wir wiederholen: Ein <strong>und</strong> dasselbe Ereignis wird durch<br />

zweierlei Bewußtsein wahrgenommen, <strong>im</strong> Tagesbewußtsein<br />

als Q, <strong>im</strong> Nachtbewußtsein dagegen als x. Es hat den Anschein,<br />

als läge in dem Gesagten nichts besonderes. Dies wäre<br />

in der Tat der Fall, würde nicht das Ereignis x, das eine Folge<br />

von ßist, d.h. zu einer Reihe der äußeren Kausalität gehört,<br />

zur Tageskausalität, zugleich an einer anderen Kausalreihe<br />

teilhaben, der Kausalität des Nachtbewußtseins, <strong>und</strong> wäre es<br />

nicht auch Folge, jedoch keineswegs jener Ursache, sondern<br />

<strong>im</strong> Gegenteil einer ganzen Reihe von Ursachen <strong>und</strong> Folgen,<br />

die in fest verschweißter Kette zu einer anfänglichen Ursache<br />

a hinführen. Doch hat a offensichtlich vom Inhalt her mit der<br />

Ursache Q nichts gemein <strong>und</strong> konnte folglich nicht von ihr<br />

hervorgerufen werden. Aber gäbe es nicht a mit allen daraus<br />

hervorgehenden Folgen, so wäre auch der ganze Traum nicht<br />

vorhanden, d. h. es könnte keine Auflösung x geben, d. h. wir<br />

wären nicht aufgewacht, <strong>und</strong> folglich hätte auch die äußere<br />

Ursache £2 nicht unser Bewußtsein erreicht. Es gibt also keinen<br />

Zweifel: x ist die Spiegelung des Phänomens ß durch die<br />

Traumphantasie, doch ist x nicht ein deus ex machina ohne<br />

jeden Sinn, der Logik <strong>und</strong> dem Verlauf der Ereignisse <strong>im</strong><br />

Traum widersprechend, gewaltsam in die inneren Bilder sich<br />

hineindrängend <strong>und</strong> sie sinnlos unterbrechend, sondern bewirkt<br />

tatsächlich die Lösung der dramatischen Handlung.<br />

Der Ablauf in Träumen vollzieht sich keineswegs so, wie diejenigen<br />

es für das Leben annehmen, die kein Gefühl für die<br />

Vorsehung haben, wenn ein Eisenbahnunglück oder ein<br />

Schuß aus dem Hinterhalt eine sich entfaltende, vielverspre-<br />

42


chende Tätigkeit abbricht - vielmehr vollzieht er sich gerade<br />

so wie in einem erstklassigen Theaterstück, in dem das Ende<br />

deswegen eintritt, weil die Umstände, die es vorbereiten, zur<br />

Reife gekommen sind <strong>und</strong> der Sinn <strong>und</strong> die Geschlossenheit<br />

des ganzen Dramas zerstört würden, wenn die Lösung nicht<br />

einträte. In keiner Weise können wir, wenn wir berücksichtigen,<br />

daß alle Ereignisse des Traums fest <strong>und</strong> pragmatisch miteinander<br />

verknüpft sind, die Lösung x als selbständiges Ereignis<br />

betrachten, das einer Reihe anderer Ereignisse von außen<br />

aufgesetzt wird <strong>und</strong> aufgr<strong>und</strong> einer unbegreiflichen Zufälligkeit<br />

die innere Logik <strong>und</strong> die künstlerische Wahrheit des<br />

Traums in allen seinen Details nicht zerstört. Es gibt keinen<br />

Zweifel, die Träume des analysierten Typs sind ganzheitliche,<br />

in sich geschlossene Einheiten, in denen das Ende, die Lösung<br />

von Anfang an vorgesehen ist <strong>und</strong> darüber hinaus sowohl den<br />

Anfang - die Anlage - wie auch das Ganze insgesamt best<strong>im</strong>mt.<br />

Wenn wir nun bedenken, wie wenig bedeutsam die<br />

Anlage an sich ist, ohne die sie zum Abschluß bringenden<br />

Folgen, wie es allgemein für ein solide gebautes Theaterstück<br />

zutrifft, dann können wir mit vollem Recht behaupten, daß<br />

die ganze Komposition des Traums teleologisch ist: Alle<br />

seine Ereignisse entwickeln sich mit Blick auf die Lösung, zu<br />

dem Zweck, daß die Lösung nicht in der Luft hängt, daß sie<br />

nicht ein unglücklicher Zufall ist, sondern eine tiefgreifende<br />

pragmatische Motivierung hat.<br />

Wir wollen einige Aufzeichnungen solcher Träume anführen.<br />

Im folgenden drei Träume, die Reaktionen auf das Geräusch<br />

des Weckers darstellen; es handelt sich um eine Beobachtung<br />

von Hildebrandt:<br />

...ich gehe an einem Frühlingsmorgen spazieren <strong>und</strong> schlendre durch die<br />

grünenden Felder weiter bis zu einem benachbarten Dorfe. Dort sehe ich die<br />

Bewohner in Feierkleidern, das Gesangbuch unter dem Arme zahlreich der<br />

Kirche zuwandern. Richtig! Es ist ja Sonntag, <strong>und</strong> der Frühgottesdienst wird<br />

bald beginnen. Ich beschließe, an diesem Teil zu nehmen, zuvor aber, weil<br />

43


ich etwas echauffiert bin, auf dem die Kirche umgebenden Friedhofe mich<br />

abzukühlen. Während ich hier verschiedene Grabschriften lese, höre ich den<br />

Glöckner den Turm hinansteigen <strong>und</strong> sehe nun in der Höhe des letztern die<br />

kleine Dorfglocke, die das Zeichen zum Beginn der Andacht geben wird.<br />

Noch eine ganze Weile hängt sie bewegungslos da; dann fängt sie an, zu<br />

schwingen, <strong>und</strong> plötzlich ertönen ihre Schläge hell <strong>und</strong> durchdringend - so<br />

hell <strong>und</strong> durchdringend, daß sie meinem Schlafe ein Ende machen. Die Glokkentöne<br />

aber kommen von dem Wecker.<br />

Eine zweite Kombination. Es ist heller Wintertag; die Straßen sind hoch mit<br />

Schnee bedeckt. Ich habe meine Teilnahme an einer Schlittenfahrt zugesagt,<br />

muß aber lange warten, bis die Meldung erfolgt, der Schlitten stehe vor der<br />

Tür. Jetzt erfolgen die Vorbereitungen zum Einsteigen - der Pelz wird angelegt,<br />

der Fußsack hervorgeholt -, <strong>und</strong> endlich sitze ich auf meinem Platze.<br />

Aber noch verzögert sich die Abfahrt, bis die Zügel den harrenden Rossen<br />

das fühlbare Zeichen geben. Nun ziehen diese an; die kräftig geschüttelten<br />

Schellen beginnen ihre wohlbekannte Janitscharenmusik mit einer Mächtigkeit,<br />

die augenblicklich das Spinngewebe des Traumes zerreißt. Wieder ist's<br />

nichts andres, als der schrille Ton der Weckerglocke.<br />

Noch das dritte Beispiel. Ich sehe ein Küchenmädchen mit einigen Dutzend<br />

aufgetürmter Teller den Korridor entlang zum Speisez<strong>im</strong>mer schreiten. Die<br />

Porzellansäule in ihren Armen scheint mir in Gefahr, das Gleichgewicht zu<br />

verlieren. »N<strong>im</strong>m dich in acht!« warne ich, »die ganze Ladung wird zur<br />

Erde fallen!« Natürlich bleibt der obligate Widerspruch nicht aus: man sei<br />

dergleichen schon gewohnt usw., während dessen ich noch <strong>im</strong>mer mit Blikken<br />

der Besorgnis die Wandelnde begleite. Richtig - an der Türschwelle erfolgt<br />

ein Straucheln - das zerbrechliche Geschirr fällt <strong>und</strong> rasselt <strong>und</strong> prasselt<br />

in h<strong>und</strong>ert Scherben auf dem Fußboden umher. Aber - das endlos sich fortsetzende<br />

Getön ist doch, wie ich bald merke, kein eigentliches Rasseln, sondern<br />

ein richtiges Klingeln - <strong>und</strong> mit diesem Klingeln hat, wie nunmehr der<br />

Erwachende erkennt, nur der Wecker seine Schuldigkeit getan.<br />

Wir wollen nun Träume dieser Art analysieren.<br />

Wenn beispielsweise in einem Traum, der sich in allen Lehrbüchern<br />

der Psychologie findet, der Schlafende einen Zeitraum<br />

von mehr als einem Jahr während der Französischen<br />

Revolution durchlebt, bei ihrem allerersten Beginn zugegen<br />

ist, an ihr teiln<strong>im</strong>mt <strong>und</strong> dann, nach langen <strong>und</strong> verwickelten<br />

Abenteuern, verfolgt <strong>und</strong> gejagt, nach dem Terror <strong>und</strong> der<br />

Hinrichtung des Königs schließlich zusammen mit den Gi-<br />

44


ondisten ergriffen, ins Gefängnis geworfen <strong>und</strong> verhört<br />

wird, vor dem Revolutionstribunal steht, von ihm zur Todesstrafe<br />

verurteilt <strong>und</strong> dann auf einem Karren zur Hinrichtungsstätte<br />

gebracht <strong>und</strong> zum Schafott geführt wird, wenn<br />

sein Kopf auf dem Richtblock liegt <strong>und</strong> die kalte Schneide der<br />

Guillotine schon seinen Hals trifft, wenn er nun in furchtbarer<br />

Angst erwacht - wird man da etwa auf den Gedanken<br />

kommen, das letzte Ereignis - die Berührung des Messers der<br />

Guillotine am Hals - als etwas von allen übrigen Ereignissen<br />

Gesondertes anzusehen ? Und strebt nicht die ganze Entwicklung<br />

der Handlung - vom ersten Frühling der Revolution bis<br />

dahin, daß man den Träumenden aufs Schafott führt - in einem<br />

ununterbrochenen Ereignisstrom gerade auf diese abschließende<br />

kalte Berührung am Hals zu, auf das, was wir das<br />

Ereignis x nannten? Natürlich wäre eine solche Annahme<br />

ganz <strong>und</strong> gar unwahrscheinlich. Doch ist der, der all das<br />

träumte, was hier beschrieben wurde, davon aufgewacht, daß<br />

das Rückenteil des eisernen Bettes hochklappte <strong>und</strong> ihm mit<br />

voller Wucht gegen den nackten Hals schlug. Wenn uns keine<br />

Zweifel an der inneren Verknüpfung <strong>und</strong> Geschlossenheit des<br />

Traums von Beginn der Revolution (a) bis zur Berührung<br />

durch das Messer (x) kommen, so kann es erst recht keinen<br />

Zweifel daran geben, daß die Empfindung des kalten Messers<br />

<strong>im</strong> Traum (x) <strong>und</strong> der Schlag durch das kalte Eisen des Bettes<br />

gegen den Hals, als der Kopf auf dem Kissen lag (ß), ein <strong>und</strong><br />

dasselbe Phänomen sind, jedoch durch zwei verschiedene<br />

Bewußtseinsformen wahrgenommen. Und ich wiederhole,<br />

darin läge nichts besonderes, wenn der Schlag mit dem Eisen<br />

(ß) den Schlafenden geweckt <strong>und</strong> sich zugleich während des<br />

<strong>im</strong> allgemeinen kurzen Aufwachens in das symbolische Bild<br />

beispielsweise eben dieses Auftreffens des Guillotinemessers<br />

gekleidet, <strong>und</strong> wenn sich dieses Bild, amplifiziert durch Assoziationen<br />

zum Thema der Französischen Revolution, zu<br />

einem mehr oder weniger langen Traum entwickelt hätte.<br />

45


Aber die Sache verhält sich ja so, daß dieser Traum wie zahllose<br />

andere dieser Art gerade andersherum abläuft als wir es<br />

erwarten könnten, wenn wir von der Vorstellung der Kantschen<br />

Zeit ausgehen. Wir sagen: Die äußere Ursache (£2) des<br />

Traums, die ein Ganzes darstellt, ist der Schlag des Eisens<br />

gegen den Hals, <strong>und</strong> dieser Schlag wird unmittelbar in dem<br />

Bild des Guillotinemessers symbolisiert, das den Hals berührt.<br />

Folglich ist die geistige Ursache des ganzen Traums<br />

dieses Ereignis x. Folglich muß es <strong>im</strong> Tagesbewußtsein, nach<br />

dem Schema der Tagesaktualität, dem Ereignis a, das geistig<br />

aus dem Ereignis x hervorgeht, auch zeitlich vorausgehen.<br />

Anders ausgedrückt, das Ereignis x muß in der Zeit der sichtbaren<br />

Welt die Anlage des Traumdramas sein, das Ereignis a<br />

dagegen seine Lösung. Hier aber, in der Zeit der unsichtbaren<br />

Welt, geschieht es umgekehrt, <strong>und</strong> die Ursache x tritt nicht<br />

vor der ganzen Folge a auf, auch insgesamt nicht vor der ganzen<br />

Reihe ihrer Folgen b, c, d... r, s, t, sondern nach ihnen,<br />

indem sie die ganze Reihe zum Abschluß bringt <strong>und</strong> sie nicht<br />

als Wirkursache, sondern als Endursache best<strong>im</strong>mt - als xekog.<br />

Also eilt <strong>im</strong> Traum die Zeit - <strong>und</strong> zwar beschleunigt - der<br />

Gegenwart entgegen, gegen die Bewegung der Zeit des Wachbewußtseins.<br />

Sie ist umgestülpt, <strong>und</strong> folglich sind zugleich<br />

mit ihr auch alle konkreten Bilder umgestülpt. Das heißt<br />

aber, daß wir in das Gebiet des <strong>im</strong>aginären Raums übergewechselt<br />

sind. In dem Moment wird dasselbe Phänomen, das<br />

von hier aus - vom Gebiet des wirklichen Raums - als wirkliches<br />

wahrgenommen wird, von dort aus - vom Gebiet des<br />

<strong>im</strong>aginären Raums - selbst als <strong>im</strong>aginär gesehen, d. h. v. a. als<br />

in teleologischer Zeit ablaufend, als Ziel, als Gegenstand von<br />

Bestrebungen. Und andersherum, das, was von hieraus gesehen<br />

ein Ziel ist, <strong>im</strong> Sinn unserer Unterschätzung der Ziele, ist<br />

ein zwar verborgenes, doch energieloses Ideal, von dort aus<br />

aber wird es mit anderem Bewußtsein als lebendige Energie,<br />

4 6


die die Wirklichkeit formt, als schöpferische Form des Lebens<br />

erfaßt. So ist allgemein die innere Zeit des organischen<br />

Lebens beschaffen, die in ihrem Verlauf von den Folgen auf<br />

die Ziel-Ursachen gerichtet ist. Aber diese Zeit dringt gewöhnlich<br />

nur <strong>und</strong>eutlich ins Bewußtsein.<br />

Ein mir nahestehender Mensch, der um verstorbene Verwandte<br />

trauerte, sah sich selbst einmal <strong>im</strong> Traum auf einem<br />

Friedhof Spazierengehen. Die andere Welt erschien ihm dunkel<br />

<strong>und</strong> finster; aber die Toten erklärten ihm, wie falsch dieser<br />

Gedanke sei - vielleicht sah er es auch selbst in irgendeiner<br />

Form, ich erinnere mich nicht mehr genau: Unmittelbar unter<br />

der Erdoberfläche wächst, jedoch in umgekehrter Richtung,<br />

mit den Wurzeln nach oben, mit den Blättern dagegen<br />

nach unten, dasselbe grüne, saftige Gras wie auf dem Friedhof,<br />

ja, es ist noch viel grüner <strong>und</strong> saftiger, dieselben Bäume,<br />

auch sie mit den Wipfeln nach unten <strong>und</strong> den Wurzeln nach<br />

oben, es singen dieselben Vögel, derselbe Azur breitet sich<br />

dort aus, <strong>und</strong> es strahlt dieselbe Sonne - all das ist lichter <strong>und</strong><br />

schöner als unsere diesseitige Welt.<br />

Erkennen wir nicht in dieser umgekehrten Welt, in diesem<br />

ontologisch spiegelbildlichen Reflex der Welt das Gebiet des<br />

Imaginären - obwohl dieses Imaginäre für diejenigen, die<br />

sich selbst umgestülpt, die sich umgedreht haben, wenn sie<br />

das geistige Zentrum der Welt erreichen, ja das eigentlich<br />

Reale ist, ebenso real wie sie selbst ? Ja, dieses Reale ist seinem<br />

Wesen nach nicht irgendetwas völlig anderes als die Realität<br />

dieser, unserer Welt, denn die wohlgeschaffene Schöpfung<br />

Gottes ist eins, es ist dasselbe Sein, von der anderen Seite aus<br />

betrachtet durch diejenigen, die auf die andere Seite übergewechselt<br />

sind. Es sind dies die Antlitze <strong>und</strong> geistigen Bildnisse<br />

der Dinge, die derjenige zu sehen vermag, der in sich<br />

sein ursprüngliches Antlitz zur Erscheinung gebracht hat, das<br />

Bild Gottes, auf griechisch die Idee: Die selbst durch die Idee<br />

erleuchtet sind, schauen die Ideen des Seienden, bringen<br />

47


durch sich selbst <strong>und</strong> durch ihre Vermittlung der Welt, dieser<br />

unserer Welt die Ideen einer höheren Welt zur Erscheinung.<br />

Die Träume sind also diejenigen Bilder, die die sichtbare Welt<br />

von der unsichtbaren Welt trennen, die diese Welten trennen<br />

<strong>und</strong> sie zugleich vereinen. Durch diesen Grenzort der Traumbilder<br />

wird ihr Verhältnis sowohl zu dieser als auch zu jener<br />

Welt konstituiert. Im Verhältnis zu den gewöhnlichen Bildern<br />

der sichtbaren Welt, <strong>im</strong> Verhältnis zu dem, was wir<br />

»Wirklichkeit« nennen, ist der Traum »nur Traum«, ein<br />

Nichts, nihil visihile, ja, nihil, freilich ein sichtbares Nichts,<br />

freilich etwas, das gesehen, betrachtet werden kann <strong>und</strong> sich<br />

dadurch den Bildern dieser »Wirklichkeit« annähert. Aber<br />

seine Zeit, <strong>und</strong> d.h. seine gr<strong>und</strong>legende Charakteristik, ist<br />

umgekehrt strukturiert <strong>im</strong> Verhältnis zu der Zeit, auf der die<br />

sichtbare Welt beruht. Und deswegen ist der Traum, obschon<br />

sichtbar, durch <strong>und</strong> durch teleologisch, oder symbolisch. Er<br />

ist gesättigt mit dem Sinn einer anderen Welt, er ist der nahezu<br />

reine Sinn einer anderen Welt, unsichtbar, ungegenständlich,<br />

unvergänglich, obschon sichtbar <strong>und</strong> gleichsam gegenständlich<br />

zur Erscheinung gebracht. Er ist nahezu reiner Sinn, eingeschlossen<br />

in eine überaus feine Hülle, <strong>und</strong> deswegen fast<br />

gänzlich Erscheinung einer anderen, jener Welt. Der Traum<br />

ist die gemeinsame Grenze einer Reihe niederer Zustände <strong>und</strong><br />

einer Reihe höherer Erfahrungen, die Grenze, wo das Diesseitige<br />

feiner <strong>und</strong> das Jenseitige dichter wird. Sinkt man in den<br />

Schlaf, so werden <strong>im</strong> Traum <strong>und</strong> als Traum die niedersten<br />

Erfahrungen der höheren Welt <strong>und</strong> die höchsten Erfahrungen<br />

der niederen Welt symbolisiert: das letzte Aufblitzen von Erfahrungen<br />

einer anderen Wirklichkeit, obschon sich bereits<br />

die Eindrücke der hiesigen Wirklichkeit andeuten. Das ist der<br />

Gr<strong>und</strong>, weshalb die abendlichen Träume vor dem Einschlafen<br />

vor allem psychophysische Bedeutung haben, sie offenbaren,<br />

was sich in der Seele an Tageseindrücken angesammelt<br />

hat, während die vormorgendlichen Träume vorzugsweise<br />

48


mystisch sind, ist die Seele doch erfüllt von dem nächtlichen<br />

Bewußtsein, durch die Erfahrung der Nacht weitgehend gereinigt<br />

<strong>und</strong> reingewaschen von aller Empirie, soweit sie, diese<br />

individuelle Seele, in ihrem gegebenen Zustand fähig ist, von<br />

den Leidenschaften der Welt frei zu sein.<br />

Der Traum bezeichnet den Ubergang von einer Sphäre in eine<br />

andere <strong>und</strong> ist ein Symbol. Wofür? Vom Höheren her ein<br />

Symbol des Niederen, <strong>und</strong> vom Niederen her ein Symbol<br />

des Höheren. Jetzt ist verständlich, daß ein Traum entstehen<br />

kann, wenn das Bewußtsein gleichzeitig beider Ufer des Lebens<br />

inne ist, wenn auch mit unterschiedlichem Grad an Klarheit.<br />

Allgemein gesagt kommt dies be<strong>im</strong> Übersetzen von einem<br />

Ufer zum anderen vor, <strong>und</strong> möglicherweise auch noch<br />

dann, wenn das Bewußtsein nahe der Grenze verharrt <strong>und</strong><br />

ihm die doppelte Wahrnehmung nicht völlig fremd ist, d. h.<br />

<strong>im</strong> Zustand leichten Schlafs oder schläfrigen Wachens. Alles<br />

Bedeutsame geschieht in den meisten Fällen entweder vermittels<br />

des Traums oder »in feinem Schlaf« oder schließlich in<br />

unvermutet eintretenden Momenten, in denen man vom Bewußtsein<br />

der äußeren Wirklichkeit losgerissen wird. Gewiß<br />

sind auch andere Erscheinungen der unsichtbaren Welt möglich,<br />

aber für sie bedarf es eines mächtigen Schlags gegen unser<br />

Wesen, der uns uns selbst entrückt, oder aber der Lockerung,<br />

des »Dämmerzustands« eines Bewußtseins, das unentwegt<br />

an der Grenze der Welten umherirrt, aber nicht das Vermögen<br />

<strong>und</strong> die Kraft besitzt, in eine der beiden Welten einzutauchen.<br />

Was über den Traum gesagt wurde, muß mit geringfügigen<br />

Änderungen für jeden Übergang von Sphäre zu Sphäre wiederholt<br />

werden. So wird <strong>im</strong> künstlerischen Schaffen die Seele<br />

der niederen Welt entrückt <strong>und</strong> steigt in eine höhere Welt auf.<br />

Dort nährt sie sich ohne Bilder in der Betrachtung des Wesens<br />

der höheren Welt, erfühlt die Noumena der Dinge <strong>und</strong> steigt,<br />

wenn sie gesättigt ist, schwanger mit Wissen, wieder in die<br />

49


niedere Welt hinab. Und hier, auf diesem Weg nach unten,<br />

wird an der Grenze, wo sie in das Niedere eintritt, das, was<br />

sie geistig errungen hat, in symbolische Bilder gekleidet, in<br />

eben jene Bilder, die ein Kunstwerk ergeben, wenn man sie<br />

fixiert. Denn die Kunst ist verdichteter Traum.<br />

Hier jedoch, <strong>im</strong> künstlerischen Sich-Losreißen vom Wachbewußtsein,<br />

gibt es zwei Momente, ebenso wie es zwei Arten<br />

von Bildern gibt: den Ubergang über die Grenze der Welten,<br />

der dem Aufstieg oder Eintritt ins Höhere entspricht, <strong>und</strong><br />

den Übergang des Abstiegs nach unten. Die Bilder des ersten<br />

- das sind die abgeworfenen Kleider der Tageshast, der Bodensatz<br />

der Seele, für den in der anderen Welt kein Platz ist<br />

(überhaupt sind dies die geistig unharmonischen Elemente<br />

unseres Wesens), während die Bilder des Abstiegs die an der<br />

Grenze der Welten sich herauskristallisierende Erfahrung des<br />

mystischen Lebens darstellen. Der Künstler irrt sich <strong>und</strong><br />

führt in die Irre, wenn er unter dem Vorwand der Kunst alles<br />

das gibt, was in ihm entsteht bei der ihn erhebenden Inspiration,<br />

sofern dies nur die Bilder des Aufstiegs sind. Wir brauchen<br />

seine vormorgendlichen Träume, die die Kühle des ewigen<br />

Azurs bringen, während jenes andere Psychologismus ist<br />

<strong>und</strong> Rohstoff, wie stark sie auch wirken <strong>und</strong> wie raffiniert<br />

<strong>und</strong> geschmackvoll sie ausgearbeitet sein mögen. Wenn man<br />

sich in sie vertieft, so sind sie am Kriterium der Zeit leicht<br />

auseinanderzuhalten: Die Kunst des Abstiegs, so unzusammenhängend<br />

sie motiviert sein mag, ist ausgesprochen teleologisch,<br />

ist ein Kristall der Zeit in einem <strong>im</strong>aginären Raum; <strong>im</strong><br />

Gegensatz dazu ist die Kunst des Aufstiegs selbst bei starker<br />

Verknüpfung der Motivierungen mechanisch strukturiert,<br />

entsprechend der Zeit, von der sie ausgegangen ist. Von der<br />

Wirklichkeit ins Imaginäre gehend, gibt der Naturalismus ein<br />

<strong>im</strong>aginäres Bild des Wirklichen, ein banales Ebenbild des alltäglichen<br />

Lebens; die umgekehrte Kunst aber, der Symbolismus,<br />

verkörpert in wirklichen Bildern eine andere Erfah-<br />


ung, <strong>und</strong> dadurch wird das, was er gibt, zu einer höheren<br />

Wirklichkeit.<br />

Dasselbe gilt auch in der Mystik. Das allgemeine Gesetz ist<br />

überall das gleiche: Die Seele wird dem Sichtbaren entrückt,<br />

verliert es aus den Augen <strong>und</strong> wird davongetragen in das Gebiet<br />

des Unsichtbaren - dies ist ein dionysisches Sprengen der<br />

Fesseln des Sichtbaren. Und wenn sie sich dann in die Höhe<br />

emporgeschwungen hat, ins Unsichtbare, steigt sie wieder<br />

hinab zum Sichtbaren, <strong>und</strong> dann entstehen vor ihr auch schon<br />

die symbolischen Bilder der unsichtbaren Welt, die Antlitze<br />

der Dinge, die Ideen - das ist die apollinische Vision der geistigen<br />

Welt. Es ist verführerisch, statt der Ideen die Phantasievorstellungen,<br />

die die Seele umringen, die sie verwirren <strong>und</strong><br />

locken, wenn sich vor ihr der Weg in eine andere Welt eröffnet,<br />

für ein Geistiges, für geistige Bilder zu halten. Da versuchen<br />

Geister dieser Welt, das Bewußtsein in ihrer Welt zurückzuhalten.<br />

Angrenzend an die jenseitige Welt gleichen sie,<br />

obschon von hiesiger Natur, den Wesen <strong>und</strong> Realitäten der<br />

geistigen Welt; geometrisch <strong>und</strong> physikalisch gesprochen begeben<br />

wir uns bei der Annäherung an die Grenze dieser Welt<br />

in Existenzbedingungen, die zwar in kontinuierlicher Weise<br />

neu sind, sich jedoch sehr von den gewöhnlichen Bedingungen<br />

der Alltäglichkeit unterscheiden. Und darin liegt die<br />

größte geistige Gefahr der Annäherung an die Grenze der<br />

Welt: wenn der Wunsch infolge weltlicher Leidenschaften<br />

oder Unvermögen nicht da ist, wenn die geistige Vernunft<br />

fehlt - die eigene oder eine fremde, die eines Führers - oder<br />

schließlich aus Kraftlosigkeit, wenn der geistige Organismus<br />

noch nicht reif ist für einen solchen Übergang. Die Gefahr<br />

liegt in Betrug <strong>und</strong> Selbstbetrug, die den Reisenden an der<br />

Grenze der Welt umringen. Die Welt klammert sich an ihren<br />

Knecht, sie klebt an ihm, sie legt Netze aus <strong>und</strong> lockt mit<br />

einem vorgeblich erreichten Ausgang in das Geistesgebiet;<br />

die Geister <strong>und</strong> Kräfte, die diesen Ausgang bewachen, sind<br />

5i


keineswegs die »Hüter der Schwellen«, d. h. es sind nicht die<br />

guten Schutzmächte der verheißenen Gebiete, nicht die Wesen<br />

der geistigen Welt, sondern die Helfershelfer des »Fürsten<br />

der Luftmacht«, Blender <strong>und</strong> Verführer, die die Seelen<br />

an der Grenze der Welten zurückhalten. Der nüchterne Tag<br />

ist, wenn er unsere Seele in seiner Macht hält, allzu offenk<strong>und</strong>ig<br />

von dem geistigen, d. h. jenseitigen Gebiet unterschieden,<br />

als daß er sich anmaßen könnte, uns zu verführen, <strong>und</strong> seine<br />

Dinglichkeit ist uns als schweres, jedoch nützliches Joch bewußt,<br />

als wohltuende Erdenschwere, die unsere Bewegung<br />

einengt <strong>und</strong> uns zugleich Halt gibt, die das Ungestüm unseres<br />

Willens zur guten ebenso wie zur schlechten Selbstbest<strong>im</strong>mung<br />

bremst, die überhaupt den einzigen Augenblick der<br />

ewigen, d.h. für alle Zeiten zu vollziehenden engelhaften<br />

Selbstbest<strong>im</strong>mung in dieser oder jener Richtung auf die Zeit<br />

unseres Lebens ausdehnt <strong>und</strong> das Leben, unser Erdenleben,<br />

nicht zu einem Dahinvegetieren macht, das passiv nur alle<br />

vorgegebenen Möglichkeiten zur Erscheinung bringt, sondern<br />

zur Tat eines echten Selbsterbauens, zur Kunst, unser<br />

Wesen zu formen <strong>und</strong> zu prägen. Dieses unser Los oder unser<br />

Schicksal, ειμαρμένη, μοίρα, d.h. das, was von oben über uns<br />

ausgesprochen ist, das uns zugesprochene Urteil, das fatum<br />

von/an - das Los unserer Schwäche <strong>und</strong> unserer Vortrefflichkeit,<br />

die Gabe gottgleichen Schöpfertums - sind Zeit <strong>und</strong><br />

Raum. Sie verführen uns nicht. Auch die Geistigkeit verführt<br />

uns nicht, die Welt der Engel, wenn die Seele von Angesicht<br />

zu Angesicht vor ihr steht. Aber zwischen ihnen, an der<br />

Grenze des Hiesigen, konzentrieren sich die Verführungen<br />

<strong>und</strong> Verlockungen: Das sind die Gespenster, die Tasso in der<br />

Beschreibung des verzauberten Waldes darstellt. Wenn jemand<br />

geistige Standhaftigkeit besitzt <strong>und</strong> durch sie hindurch<br />

geht, ohne sich zu fürchten <strong>und</strong> ohne sich ihren Verführungen<br />

zu beugen, dann haben sie keine Gewalt über die Seele,<br />

dann erweisen sie sich als Schatten der sinnlichen Welt, als<br />

51


ihre Traumgelüste, die in ihrem Realitätsgehalt nichtig sind.<br />

Aber es genügt schon, wenn der Glaube an Gott nicht wirklich<br />

stark ist, wenn der Mensch von seinen Leidenschaften<br />

<strong>und</strong> Vorlieben umgarnt ist - es genügt schon, nach diesen Gespenstern<br />

Ausschau zu halten, <strong>und</strong> sie erhalten von der Seele<br />

dessen, der dies tut, einen Zustrom an Realität, sie werden<br />

stark <strong>und</strong> verdichten sich, sie saugen sich an der Seele fest <strong>und</strong><br />

werden umso realer, je schwächer die Seele wird, die sie an<br />

sich gezogen hat; dann ist es schwierig, sehr schwierig - ja fast<br />

unmöglich, wenn nicht eine geistige Kraft von außen eingreift-,<br />

sich aus diesen elementaren Sümpfen <strong>und</strong> Morasten<br />

zu befreien, die sich dort ausdehnen, wo man die Welt verläßt.<br />

Diese Falle wird in der Sprache der Asketen als geistige<br />

Verlockung bezeichnet <strong>und</strong> galt zu allen Zeiten als der bedrückendste<br />

Zustand, in den ein Mensch geraten kann. Bei<br />

jeglicher Sünde versetzt die von ihr geforderte Handlung den<br />

Sünder notwendig in best<strong>im</strong>mte Beziehungen zum äußeren<br />

Sein, zu dessen objektiven Eigenschaften <strong>und</strong> Gesetzen, <strong>und</strong><br />

der gewöhnliche Sünder hat, wenn er in seinem Bestreben,<br />

den Bau der Gottesschöpfung zu zerstören, mit Natur <strong>und</strong><br />

Menschheit zusammenprallt, eben dadurch Anhaltspunkte,<br />

um zu sich zu kommen <strong>und</strong> Reue zu zeigen; bereuen - fieravoeiv-<br />

heißt ja, die Form der Gedanken, des tiefsten Gedankens<br />

unseres Wesens, zu ändern. Ganz anders ist es, wenn<br />

man einer Verlockung verfällt: Hier sucht sich die Selbstverführung,<br />

die durch diese oder jene Leidenschaft genährt wird<br />

- am häufigsten <strong>und</strong> am gefährlichsten durch den Stolz -,<br />

keine äußerliche Befriedigung, sondern sie richtet sich senkrecht<br />

zur sinnlichen Welt aus - oder besser gesagt, sie meint<br />

dies zu tun. Da sie keinerlei Befriedigung erhält, denn gerade<br />

vor dem Verlassen des Sinnlichen halten die Hüter der Grenzen<br />

dieser Welt sie mit Hilfe ihrer eigenen Leidenschaften zurück,<br />

ist die stets ruhelose Seele, die schon zu Lebzeiten <strong>im</strong><br />

Höllenfeuer zu brennen beginnt, in sich selbst abgeschlossen<br />

53


<strong>und</strong> hat deshalb keine Gelegenheit, mit dem einzigen zusammenzustoßen,<br />

das sie zu Bewußtsein bringen könnte, so<br />

schmerzhaft es auch ist - mit der objektiven Welt. Die verlokkenden<br />

Bilder wühlen die Leidenschaften auf; die Gefahr<br />

liegt jedoch nicht in der Leidenschaft als solcher, sondern in<br />

ihrer Bewertung, darin, daß man sie für etwas hält, das dem,<br />

was sie in Wahrheit ist, direkt entgegengesetzt ist. Und während<br />

gewöhnlich die Leidenschaft als Schwäche erkannt wird,<br />

als Gefahr <strong>und</strong> Sünde, <strong>und</strong> folglich demütig macht, wird die<br />

verlockende Leidenschaft als erreichte Geistigkeit gewertet,<br />

d.h. als Kraft, Rettung <strong>und</strong> Heiligkeit, so daß, wenn sich <strong>im</strong><br />

gewöhnlichen Fall die Anstrengungen auf die Befreiung von<br />

der Knechtung durch die Leidenschaft richten - mögen sie<br />

auch matt <strong>und</strong> ergebnislos sein -, sie hier, bei der Verlockung,<br />

alle Bemühungen, angespornt von Ehrgeiz <strong>und</strong> Sinnlichkeit<br />

<strong>und</strong> anderen Leidenschaften, insbesondere aber genährt von<br />

Stolz, sich mit ganzer Kraft darauf richten, die Fesseln fester<br />

anzuziehen, die zunächst ganz locker waren. Wenn ein gewöhnlicher<br />

Sünder sündigt, weiß er, daß er sich von Gott<br />

entfernt <strong>und</strong> Ihn erzürnt; die Seele aber, die der Verlockung<br />

erliegt, geht von Gott fort in der Meinung, sie gehe zu Ihm,<br />

<strong>und</strong> sie erzürnt Ihn, während sie Ihn zu erfreuen glaubt. All<br />

das rührt aber daher, daß die Bilder des Aufstiegs mit den<br />

Bildern des Abstiegs verwechselt werden. Die Sache ist die,<br />

daß eine Vision, die an der Grenze zwischen sichtbarer <strong>und</strong><br />

unsichtbarer Welt entsteht, Abwesenheit der Realität der hiesigen<br />

Welt sein kann, d. h. ein unverständliches Zeichen unserer<br />

eigenen Leere, denn Leidenschaft ist Abwesenheit objektiven<br />

Seins in der Seele; <strong>und</strong> dann quartieren sich in der leeren,<br />

aufgeräumten Stube Masken der Realität ein, die sich<br />

ganz von der Realität losgesagt haben. Andererseits kann eine<br />

Vision auch Anwesenheit der Realität sein, der höheren Realität<br />

der geistigen Welt. Auch die Selbstreinigung kann einen<br />

doppelten Sinn <strong>und</strong> deshalb eine doppelte Bedeutung für uns<br />

54


haben: Wenn die innere Aufgeräumtheit an sich gewertet<br />

wird, als ein Etwas, wie <strong>im</strong> pharisäerhaften Selbstbewußtsein,<br />

so ist auch Selbstzufriedenheit unvermeidlich; da aber die<br />

Seele in Wirklichkeit leer ist, ja sogar leerer als zuvor, befreit<br />

vom Pl<strong>und</strong>er der Alltagssorgen, quartiert die Natur, die keine<br />

geistige Leere duldet, in diese Stube der Seele die Wesen ein,<br />

die den Kräften einer solchen Selbstreinigung am nächsten<br />

stehen - Kräften, die in ihrer Wurzel eigennützig <strong>und</strong> unrein<br />

sind, so anständig sie auch wirken mögen. Von eben dieser<br />

pharisäerhaften, d.h. nicht in Gott vollzogenen Askese<br />

spricht der Erlöser in dem Gleichnis von der gekehrten Stube<br />

(Matth. 12,43-45, Luk. 11,24-25).<br />

Umgekehrt können ähnliche Wirkungen auch einem direkt<br />

entgegengesetzten Selbstbewußtsein entspringen: Im ersten<br />

Fall versichert der Mensch sich <strong>und</strong> anderen, daß er selbst, <strong>im</strong><br />

tiefsten Inneren, in Wirklichkeit gut ist <strong>und</strong> daß das Straucheln<br />

<strong>und</strong> die Versündigungen irgendwie zufällig, phänomenal,<br />

gegen das Wesen der Sache geschehen sind <strong>und</strong> noch geschehen,<br />

daß man sich nur reinigen, sich geistig ein wenig<br />

aufpolieren müsse; in diesem Fall, da man seine Sündhaftigkeit<br />

nicht empfindet, die Sündhaftigkeit des Willens an der<br />

Wurzel, ist ein Handeln außerhalb Gottes aus eigenen Kräften<br />

<strong>und</strong> folglich Selbstzufriedenheit unvermeidlich. Wenn<br />

man sich aber seiner Sündhaftigkeit bewußt ist, denkt man<br />

überhaupt nicht darüber nach, wie man aussieht, ob man beispielsweise<br />

vor sich selbst geistig glattgekämmt ist; die Seele<br />

hungert <strong>und</strong> dürstet, sie erbebt <strong>im</strong> Bewußtsein des drohenden<br />

Untergangs, so sie ohne Gott bliebe; <strong>und</strong> der Gegenstand ihrer<br />

Sorgen ist keineswegs sie selbst, sondern das Objektive,<br />

das Objektivste - Gott; sie will sich auch nicht einer reinen<br />

Stube vor sich selbst rühmen, weinend erbittet sie einen Besuch<br />

dieser Stube, auch wenn sie nur in Eile aufgeräumt ist,<br />

durch Den, Der mit einem Wort aus jeglicher Hütte Paläste<br />

errichten kann. Also erscheint, wenn unser inneres Leben<br />

55


diese Richtung hat, die Vision nicht dann, wenn wir uns bemühen,<br />

durch eigene Anstrengung das uns gegebene Maß geistigen<br />

Wachstums zu übertreffen <strong>und</strong> die Grenzen des uns<br />

Zugänglichen zu verlassen, sondern dann, wenn unsere Seele<br />

sich auf gehe<strong>im</strong>nisvolle <strong>und</strong> unbegreifliche Weise bereits in<br />

einer anderen unsichtbaren Welt aufgehalten hat, erhoben<br />

dorthin durch die höchsten Kräfte; wie das »Zeichen des<br />

B<strong>und</strong>es«, wie der Regenbogen offenbart sich, wenn dieser<br />

segenspendende Regen niedergegangen ist, die h<strong>im</strong>mlische<br />

Erscheinung, das H<strong>im</strong>melsbild zur Erinnerung <strong>und</strong> zur Einbindung<br />

der geschenkten, unsichtbaren Gabe in das Tagesbewußtsein,<br />

in das ganze Leben, als Botschaft <strong>und</strong> Offenbarung<br />

der Ewigkeit. Diese Vision ist objektiver als die irdischen Objektivitäten,<br />

gewichtiger <strong>und</strong> realer; sie ist Anhalt des irdischen<br />

Schöpfertums, der Kristall, um den herum <strong>und</strong> nach<br />

dessen kristallischen Gesetzen sich die irdische Erfahrung<br />

herauskristallisiert, indem sie ganz <strong>und</strong> gar, bis in ihren innersten<br />

Bau hinein Symbol der geistigen Welt wird.<br />

Der ontologische Gegensatz der beiden Arten von Visionen -<br />

der Vision aus Mangel <strong>und</strong> der Vision aus Fülle - wird vielleicht<br />

am besten charakterisiert durch eine Gegenüberstellung<br />

der Wörter Maske <strong>und</strong> Antlitz. Es gibt aber auch noch<br />

das Wort Gesicht. Mit ihm wollen wir beginnen.<br />

Ein Gesicht ist das, was wir in der Tageserfahrung sehen, das,<br />

worin die Realitäten der hiesigen Welt für uns in Erscheinung<br />

treten; das Wort Gesicht läßt sich ja, ohne der Sprache Gewalt<br />

anzutun, nicht nur auf den Menschen, sondern auch auf andere<br />

Wesen <strong>und</strong> Realitäten anwenden, wenn man eine best<strong>im</strong>mte<br />

Beziehung zu ihnen hat, wie wir zum Beispiel vom<br />

Gesicht der Natur usw. sprechen. Man kann sagen, das Gesicht<br />

ist beinahe ein Synonym des Wortes Erscheinung, der<br />

Erscheinung aber namentlich für das Tagesbewußtsein. Ein<br />

Gesicht entbehrt nicht der Realität <strong>und</strong> Objektivität, doch ist<br />

die Grenze des Subjektiven <strong>im</strong> Gesicht <strong>und</strong> des Objektiven<br />

56


für unser Bewußtsein nicht deutlich gegeben, <strong>und</strong> infolge dieser<br />

Verschwommenheit wissen wir, die wir von der Realität<br />

des von uns Wahrgenommenen vollkommen überzeugt sind,<br />

nicht - oder jedenfalls nicht genau - was am Wahrgenommenen<br />

eigentlich real ist. Mit anderen Worten: Die Realität ist in<br />

der Wahrnehmung eines Gesichts anwesend, jedoch verdeckt,<br />

indem sie mit der Erkenntnis organisch einsickert <strong>und</strong><br />

unterbewußt die Gr<strong>und</strong>lage für die weiteren Erkenntnisprozesse<br />

bildet. Ferner kann man sagen, daß das Gesicht die rohe<br />

Natur ist, an der ein Porträtist arbeitet, die aber noch nicht<br />

künstlerisch verarbeitet ist. In der künstlerischen Durcharbeitung<br />

<strong>im</strong> buchstäblichen Sinn des Wortes entsteht ein<br />

künstlerisches Bild, ein Porträt, als typische - jedoch nicht<br />

ideale - Formung der Wahrnehmung: Es ist die »Retusche«<br />

einiger gr<strong>und</strong>legender Wahrnehmungslinien, eines der möglichen<br />

Schemata, denen das konkrete Gesicht unterworfen<br />

wird, doch kommt das Schema als solches in dem Gesicht<br />

selbst nicht stärker zum Ausdruck als in anderen <strong>und</strong> ist in<br />

diesem Sinn in Relation zu dem Gesicht etwas Äußerliches<br />

<strong>und</strong> weniger die Ontologie desjenigen best<strong>im</strong>mend, dessen<br />

Gesicht der Künstler abgebildet hat, als vielmehr die Erkenntnis-Organisation<br />

des Künstlers selbst, das Medium des<br />

Künstlers. Im Gegensatz dazu ist das Antlitz namentlich die<br />

zur Erscheinung gebrachte Ontologie. In der Bibel wird das<br />

Bild Gottes vom Ebenbild Gottes unterschieden; die kirchliche<br />

Uberlieferung hat ja schon vor langer Zeit geklärt, daß<br />

unter ersterem etwas Aktuelles zu verstehen ist - ein ontologisches<br />

Geschenk Gottes, die geistige Gr<strong>und</strong>lage jedes Menschen<br />

als solchen -, unter dem zweiten dagegen eine Potenz,<br />

die Fähigkeit zu geistiger Vollkommenheit, die Kraft, die empirische<br />

Persönlichkeit, in ihrem ganzen Bestand, zu Gottes<br />

Ebenbild zu formen, d.h. die Möglichkeit, das Bild Gottes,<br />

unser verborgenes Erbe, <strong>im</strong> Leben in der Persönlichkeit zu<br />

verkörpern <strong>und</strong> es so <strong>im</strong> Gesicht zur Erscheinung zu bringen.<br />

57


Dann bekommt das Gesicht eine Klarheit in seinem geistigen<br />

Bau, anders als das einfache Gesicht; aber <strong>im</strong> Unterschied<br />

zum künstlerischen Porträt nicht kraft ihm äußerer Motive -<br />

etwa kompositorischer, architektonischer, charakterologischer<br />

usw. - <strong>und</strong> nicht in einer Abbildung, sondern in seiner<br />

materiellen Wirklichkeit selbst <strong>und</strong> in Harmonie mit den tiefsten<br />

Aufgaben seines eigenen Wesens. Alles Zufällige, von<br />

Ursachen, die diesem Wesen äußerlich sind, Bedingte, überhaupt<br />

alles in einem Gesicht, was nicht eigentlich Gesicht ist,<br />

wird hier durch die göttliche Energie verdrängt, die wie eine<br />

Quelle hervorsprudelt, die eine massive Materieschicht<br />

durchstoßen hat: das Gesicht ist zum Antlitz geworden. Das<br />

Antlitz ist das <strong>im</strong> Gesicht verwirklichte Ebenbild Gottes.<br />

Wenn vor uns das Ebenbild Gottes steht, sagen wir zu Recht:<br />

Das ist das Bild Gottes. Und Bild Gottes heißt auch: der<br />

durch dieses Bild Dargestellte, sein <strong>Urbild</strong>. Das Antlitz an<br />

sich ist dadurch, daß es betrachtet werden kann, das Zeugnis<br />

dieses <strong>Urbild</strong>s; <strong>und</strong> diejenigen, die ihr Gesicht zu einem Antlitz<br />

umgebildet haben, tun die Gehe<strong>im</strong>nisse der unsichtbaren<br />

Welt ohne Worte k<strong>und</strong>, allein durch ihr Aussehen. Wenn wir<br />

uns daran erinnern, daß Antlitz auf Griechisch Idee heißt -<br />

είδος, ιδέα - <strong>und</strong> daß das Wort Idee von Piaton namentlich<br />

in diesem Sinn des Antlitzes gebraucht wurde - der zur Erscheinung<br />

gebrachten geistigen Wesenheit, des zu betrachtenden<br />

ewigen Sinns, der h<strong>im</strong>mlischen Schönheit einer best<strong>im</strong>mten<br />

Wirklichkeit, ihres höheren <strong>Urbild</strong>s, eines Strahls<br />

vom Quell aller Bilder - <strong>und</strong> sich seither in die Philosophie, in<br />

die Theologie <strong>und</strong> sogar in die Alltagssprache hinein ausgebreitet<br />

hat, so wird uns, wenn wir uns von der Idee wieder<br />

dem Antlitz zuwenden, seine Bedeutung ganz <strong>und</strong> gar durchsichtig.<br />

Den völligen Gegensatz zum Antlitz bildet das Wort Maske.<br />

Die ursprüngliche Bedeutung dieses Wortes [licina] ist<br />

Maske, Larve, etwas einem Gesicht Ähnliches, etwas, das<br />

58


einem Gesicht gleicht, sich als Gesicht ausgibt <strong>und</strong> für ein<br />

solches gehalten wird, jedoch innen leer ist, sowohl <strong>im</strong> Sinn<br />

physischer Materialität als auch <strong>im</strong> Sinn metaphysischer Substantialität.<br />

Das Gesicht ist die Erscheinung einer Realität,<br />

wir werten es als zwischen Erkennendem <strong>und</strong> Erkanntem<br />

vermittelnd, als Enthüllung der Wesenheit des Erkannten für<br />

unseren Blick <strong>und</strong> unsere geistige Anschauung. Außerhalb<br />

dieser seiner Funktion, d. h. außerhalb dessen, daß es uns äußere<br />

Realität offenbart, hätte ein Gesicht keinen Sinn. Sein<br />

Sinn wird jedoch negativ, wenn es, statt uns das Bild Gottes<br />

zu offenbaren, nicht nur in dieser Richtung nichts gibt, sondern<br />

uns sogar betrügt, indem es fälschlich etwas Nichtexistentes<br />

anzeigt. Dann ist es Maske. Wir wollen, wenn wir<br />

dieses Wort hier benutzen, die uralte, sakrale Best<strong>im</strong>mung<br />

der Masken <strong>und</strong> den entsprechenden Wortsinn - larva, persona,<br />

πρόσωπον usw. - nicht berücksichtigen, waren die<br />

Masken damals doch alles andere als Masken in unserem Verständnis<br />

- sie waren vielmehr eine Art Ikone. Als aber das<br />

Sakrale in Verfall geriet <strong>und</strong> seine Autorität einbüßte <strong>und</strong> die<br />

geheiligten Kultgegenstände profaniert wurden, entstand irgendwann<br />

- aus dieser Blasphemie hinsichtlich der antiken<br />

Religion - die Maske <strong>im</strong> heutigen Sinn, d. h. ein Betrug durch<br />

etwas, das in Wirklichkeit nicht existiert, eine mystische<br />

Usurpation, die noch <strong>im</strong> frivolsten Zusammenhang den Beigeschmack<br />

von etwas Furchtbarem hat.<br />

Es ist kennzeichnend, daß das Wort larva schon bei den Römern<br />

die Bedeutung des astralen Leichnams annahm, eines<br />

»leeren« - inanis, substanzlosen Klischees, das vom Toten<br />

zurückbleibt, d.h. einer dunklen, vampirischen Macht, die<br />

sich zur Unterstützung ihrer Kräfte <strong>und</strong> zur Belebung frisches<br />

Blut <strong>und</strong> ein lebendiges Gesicht sucht, das diese astrale<br />

Maske umhüllen könnte, indem sie sich festsaugt <strong>und</strong> dieses<br />

Gesicht für ihre eigene Wesenheit ausgibt. Es ist bemerkenswert,<br />

daß in den unterschiedlichsten Lehren schon in der Ter-<br />

59


minologie ein einheitliches Merkmal zum Ausdruck gebracht<br />

wird - die falsche Realität dieser astralen Reste: u.a. heißen<br />

sie in der Kabbala »Klippoth« (Schale), in der Theosophie<br />

»Hüllen«. Aufmerksamkeit verdient auch, daß diese Kernlosigkeit<br />

der Hüllen, die Leere einer falschen Realität in der<br />

Volksweisheit stets als Eigenschaft des Unreinen <strong>und</strong> Bösen<br />

galt. Das ist der Gr<strong>und</strong> dafür, daß sowohl in deutschen Uberlieferungen<br />

als auch in russischen Märchen der Teufel innen<br />

leer, trogförmig oder hohl ist, ihm fehlt das Rückgrat <strong>und</strong><br />

damit die Gr<strong>und</strong>lage körperlicher Stabilität. Teufel sind falsche<br />

Körper <strong>und</strong> folglich falsche Wesen; <strong>im</strong> Gegensatz dazu<br />

wurde der Gott des Prinzips der Realität <strong>und</strong> des Heils, der<br />

Gott Osiris in Ägypten durch das Djed-Symbol abgebildet,<br />

als dessen Gr<strong>und</strong>bedeutung das schematisch dargestellte<br />

Rückgrat des Osiris gilt. Das Böse <strong>und</strong> Unreine ist des Rückgrats,<br />

d.h. der Substantialität beraubt, das Gute dagegen ist<br />

real, <strong>und</strong> sein Rückgrat ist die eigentliche Gr<strong>und</strong>lage seines<br />

Seins. Und damit eine solche Auslegung nicht willkürlich<br />

erscheint, sei an E.Mach erinnert: Er negiert einen realen<br />

Kern der Persönlichkeit, ihre Substanz; gleichwohl hat die<br />

Menschheit eine Vorstellung von ihr, <strong>und</strong> folglich muß der<br />

gewissenhafte Forscher auf diesem oder jenem Weg die psychologische<br />

Gr<strong>und</strong>lage einer solchen Vorstellung finden.<br />

Mach findet sie gerade in dem Teil des menschlichen Körpers,<br />

der seiner äußeren Erfahrung unzugänglich ist: Dieser dem<br />

Sehvermögen transzendente Teil, wie er meint, ist nichts anderes<br />

als der Rücken, genauer: das Rückgrat. Wie wir sehen,<br />

führte der ehrliche Positivismus diesen Erzpositivisten an den<br />

Ausgangspunkt der deutschen Psychologie - zu den W<strong>und</strong>ererzählungen<br />

des Cäsarius von Heisterbach.<br />

Uberhaupt besitzt das Böse <strong>und</strong> Unreine keine echte Realität,<br />

denn nur das Gute <strong>und</strong> das, was es bewirkt, ist real. Wenn das<br />

mittelalterliche Denken den Teufel den »Affen Gottes«<br />

nannte <strong>und</strong> der Versucher die ersten Menschen mit der Idee<br />

60


verführte, »ihr werdet sein wie die Götter«, d. h. Götter nicht<br />

dem Wesen nach, sondern nur ihr trügerischer Anschein, so<br />

kann man generell die Sünde als Affen bezeichnen, als Maske,<br />

als Anschein der Realität, ihrer Kraft <strong>und</strong> ihres Wesens beraubt.<br />

Das Wesen des Menschen aber ist das Bild Gottes, <strong>und</strong><br />

deshalb dient die Sünde, die die ganze »Hütte« (so der Apostel)<br />

der Persönlichkeit durchdringt, nicht nur nicht dem äußeren<br />

Ausdruck des Wesens der Persönlichkeit, sondern, <strong>im</strong><br />

Gegenteil, sie verdeckt dieses Wesen. Die Erscheinung der<br />

Persönlichkeit spaltet sich von ihrem wesenhaften Kern ab<br />

<strong>und</strong> wird, wenn sie sich abgetrennt hat, zur Hülle. Die Erscheinung<br />

- dieses Licht, mit dem das Erkannte in den Erkennenden<br />

eintritt - wird dann zur Finsternis, die das Erkannte<br />

von dem Erkennenden trennt <strong>und</strong> isoliert; dies gilt auch für<br />

das Erkannte, das als Erkennendes von sich selbst getrennt<br />

wird: Aus der volkstümlichen, Platonischen, kirchlichen<br />

»Erscheinung« <strong>im</strong> Sinn eines Aufzeigens oder Offenbarens<br />

der Realität ist eine Kantsche, positivistische, illusionistische<br />

»Erscheinung« geworden. Es wäre ein großer Fehler zu sagen,<br />

die Kantsche Erscheinung existiere nicht <strong>und</strong> der Terminus<br />

sei sinnlos, wie es ein noch größerer Fehler wäre, die<br />

Existenz der Platonischen Erscheinung <strong>und</strong> den Sinn des entsprechenden<br />

Terminus zu negieren. Beides bezieht sich<br />

jedoch auf unterschiedliche geistige Phasen des Seins, <strong>und</strong><br />

während der Piatonismus, insbesondere das kirchliche Weltverständnis,<br />

das Gute <strong>und</strong> Heilige meint, bezieht sich das<br />

Kantsche Weltverständnis auf das Böse <strong>und</strong> Sündige; freilich<br />

haben beide Gedankenrichtungen ihren je eigenen Untersuchungsgegenstand.<br />

Indem die Sünde die Erscheinung vom Wesen abtrennt, trägt<br />

sie in das Antlitz - die reinste Offenbarung des Bildes Gottes<br />

- äußerliche, diesem geistigen Prinzip fremde Züge <strong>und</strong> verdunkelt<br />

dadurch das Licht Gottes: Das Gesicht ist Licht, mit<br />

Finsternis vermischt, es ist Körper, der an manchen Stellen<br />

61


von W<strong>und</strong>en zerfressen ist, die seine w<strong>und</strong>erbaren Formen<br />

entstellen. In dem Maße, wie die Sünde eine Persönlichkeit<br />

beherrscht <strong>und</strong> das Gesicht nicht mehr Fenster ist, aus dem<br />

Gottes Licht strahlt, <strong>und</strong> <strong>im</strong>mer deutlicher schmutzige Flekken<br />

auf seinen eigenen Scheiben zeigt, spaltet sich das Gesicht<br />

von der Persönlichkeit, ihrem schöpferischen Prinzip, es verliert<br />

das Leben <strong>und</strong> erstarrt zu einer von Leidenschaften beherrschten<br />

Maske. Die von Dostojevskij hervorragend erfaßte<br />

Maske Stavrogins - die steinerne Maske anstelle des Gesichts<br />

das ist eine der Stufen dieses Zerfalls der Persönlichkeit.<br />

Und weiter, wenn das Gesicht Maske geworden ist, können<br />

wir nach Kant nichts mehr über das Noumenon in Erfahrung<br />

bringen <strong>und</strong> haben mit den Positivisten keinen Gr<strong>und</strong>, seine<br />

Existenz zu behaupten. Wenn - nach den Worten des Apostels<br />

- »das Gewissen gebrandmarkt ist« <strong>und</strong> nichts, nicht ein<br />

einziger Strahl vom Bilde Gottes die zur Erscheinung kommende<br />

Oberfläche der Persönlichkeit erreicht, dann können<br />

wir nicht wissen, ob nicht das Gericht Gottes schon stattgef<strong>und</strong>en<br />

hat <strong>und</strong> von Dem, der uns das Unterpfand der Gottesebenbildlichkeit<br />

anvertraut hat, Sein Bild bereits entfernt<br />

worden ist. Vielleicht nicht, vielleicht wird unter einer<br />

Schicht dunkler Asche noch ein Talent bewahrt - vielleicht<br />

aber doch, so daß die Persönlichkeit schon lange dem gleicht,<br />

der kein Rückgrat hat. Umgekehrt läßt ein hoher geistiger<br />

Aufstieg das Gesicht als lichtes Antlitz erstrahlen, jegliche<br />

Finsternis, alles noch nicht vollends zum Ausdruck Gekommene,<br />

<strong>im</strong> Gesicht Unausgeprägte vertreibend, <strong>und</strong> dann wird<br />

das Gesicht zum künstlerischen Porträt seiner selbst, zum<br />

idealen Porträt, aus lebendigem Material geformt durch<br />

die höchste der Künste, die »Kunst der Künste«. Das Asketentum<br />

ist eine solche Kunst; auch der Asket bezeugt <strong>und</strong><br />

beweist die Wahrheit - die Wahrheit der Realität, die echte<br />

Realität nicht durch seine Worte, sondern durch sich<br />

selbst, zusammen mit Worten, die seine eigenen sind, aber<br />

6 2


nicht abstrakt, nicht durch abstrakte Argumentation. Dieser<br />

Umstand ist dem Gesicht des Asketen eingeschrieben. »So<br />

soll euer Licht vor den Menschen leuchten, damit sie ihre guten<br />

Werke sehen <strong>und</strong> euren Vater, der in den H<strong>im</strong>meln ist,<br />

preisen.« (Matth. 5,16) »Eure guten Werke« - das sind keineswegs<br />

»gute Werke« in der üblichen Wortbedeutung, das<br />

ist nicht Philanthropie <strong>und</strong> Moralismus, sondern »υμών τά<br />

καλά έργα«, d.h. es sind schöne Werke, lichte <strong>und</strong> harmonische<br />

Äußerungen der geistigen Persönlichkeit, <strong>und</strong> vor allem<br />

ein lichtes, schönes Gesicht, in dessen Schönheit sich das »innere<br />

Licht« des Menschen nach außen verbreitet; <strong>und</strong> dann<br />

werden die von der Unwiderstehlichkeit dieses Lichts besiegten<br />

»Menschen« den H<strong>im</strong>mlischen Vater preisen, Dessen<br />

Bild auf Erden so licht ist. In Übereinst<strong>im</strong>mung damit leuchtete<br />

so schon der erste Zeuge des Werkes Christi - der erste<br />

Märtyrer: »Und alle, die <strong>im</strong> Hohen Rate saßen, blickten ihn<br />

an <strong>und</strong> sahen sein Angesicht wie das Angesicht eines Engels.«<br />

(Apostelgeschichte 6,15) Vom ersten der Zeugen bis zu dem,<br />

den manche aus irgendwelchen Gründen zum »letzten« erklärt<br />

haben, dem Ehrwürdigen Seraph<strong>im</strong>, besitzen wir unzählige<br />

Zeugnisse für den Göttlichen Glanz der Asketen-<br />

Antlitze, dafür, daß sie aufleuchteten wie die Sonnenscheibe;<br />

jeder, der mit den Trägern segenbringenden Lebens in Berührung<br />

gekommen ist, mußte mit eigenen Augen zumindest die<br />

Ke<strong>im</strong>e dieser Licht-Verwandlung des Gesichts zum Antlitz<br />

sehen. Es ist schwerlich nötig, auf dem Gedanken zu bestehen,<br />

daß sich in der Kirche der ganze Mensch, d.h. der Leib<br />

des Menschen umbildet <strong>und</strong> verwandelt, denn der Kern des<br />

menschlichen Wesens - das Bild Gottes - bedarf nicht der<br />

Verwandlung, er ist selbst Licht <strong>und</strong> Reinheit - <strong>im</strong> Gegenteil,<br />

als schöpferische Form wandelt er selbst die ganze empirische<br />

Persönlichkeit um, die ganze Konstitution des Menschen,<br />

seinen Leib. Darauf bezieht sich ein Wort Gottes, das unter<br />

vielen anderen die Richtung der Askese angibt:<br />

63


Ich ermahne euch nun, ihr Brüder, be<strong>im</strong> Erbarmen Gottes, eure Leiber als<br />

ein lebendiges, heiliges, Gott wohlgefälliges Opfer hinzugeben: das sei euer<br />

Logos-Gottesdienst. Und richtet euch nicht nach dieser Welt, sondern wandelt<br />

euch um durch die Erneuerung des Sinnes, damit ihr zu prüfen vermögt,<br />

was der Wille Gottes ist: das Gute <strong>und</strong> das Wohlgefällige <strong>und</strong> Vollkommene.<br />

Denn kraft der mir verliehenen Gnade sage ich jedem, der unter euch ist, daß<br />

er den Sinn nicht höher richten soll, als zu sinnen sich geziemt, sondern<br />

darauf sinnen soll, besonnen zu sein, so wie Gott jedem ein Maß an Glauben<br />

zugeteilt hat. (Römer 12,1-3)<br />

Der Apostel mahnt also die römischen Christen, ihre Leiber<br />

Gott hinzugeben oder zu opfern; die Opferung des Leibes ist<br />

ein Logos-Dienst, d.h. ein Dienst, der die Gabe des Logos<br />

besitzt oder fähig ist, die Wahrheit zu bezeugen. Der Christ<br />

spricht durch seinen Leib. Ferner erklärt der Apostel, was es<br />

eigentlich heißt, seinen Leib zu opfern. Es bezeichnet dies<br />

selbstverständlich nicht ein äußerliches Martyrium, z.B. Folter<br />

oder Tod an sich, <strong>und</strong> sei es nur aus dem Gr<strong>und</strong>, daß man<br />

für ein solches Opfer zur Hinrichtung verurteilte Christenleiber<br />

darbringt - es hängt ja nicht von dem Christen ab, ob er<br />

seinen Leib in diesem Sinn opfert oder nicht. Auf das, worauf<br />

es ankommt, verweist der Apostel auch mit den Worten:<br />

»Richtet euch nicht nach dieser Welt«, d. h. vermeidet es, mit<br />

dieser Welt dasselbe Schema, dasselbe Gesetz des Seins zu<br />

haben, das der hiesigen Welt eigen ist, in ihrem jetzigen Zustand<br />

- das ist negativ; positiv dagegen: »sondern wandelt<br />

euch um« oder bildet euch um, ändert die Form des Seins, das<br />

Gesetz, die schöpferische Form. Worin aber kommt der<br />

Wechsel der Form, des geistigen Baus des Leibes zum Ausdruck,<br />

wie wird aus einem Schema dieser Welt etwas Umgewandeltes?<br />

Der Apostel sagt: »Wandelt euch um durch die<br />

Erneuerung des Sinnes«, <strong>und</strong> einigen Abschriften zufolge<br />

wird »eures« ergänzt; die Umwandlung des Leibes wird<br />

durch die Erneuerung des Sinnes erreicht, der der Mittelpunkt<br />

des ganzen Wesens ist. Das Zeichen aber, daß dieser<br />

erneuerte Sinn erreicht ist, ist die Prüfung des Willens Gottes.<br />

.64


Mit anderen Worten: Seinen Leib opfern heißt, geistige Sensibilität<br />

in der Erkenntnis des guten <strong>und</strong> vollkommenen Willens<br />

Gottes zu erlangen. Dieser These der Heiligkeit steht jedoch<br />

eine Antithese gegenüber, ist es doch natürlich, daß man<br />

<strong>im</strong> Bestreben, Gottes Willen zu erfassen, aus eigenen Kräften<br />

über ihn zu philosophieren beginnt <strong>und</strong> die echte Berührung<br />

mit dem H<strong>im</strong>mel durch abstrakte Überlegung ersetzt. Gott<br />

hat jedem sein eigenes Maß an Glauben, d.h. »die Aufdekkung<br />

der unsichtbaren Dinge«, zugeteilt. Und ein ges<strong>und</strong>er<br />

Gedanke kann nur innerhalb der Grenzen dieses Glaubens<br />

bestehen, während ein Überschreiten dieser Grenzen Entstellung<br />

bedeutete. Der Apostel bringt aphoristisch seinen<br />

Gedanken in den kaum zu übersetzenden Worten zum Ausdruck<br />

: » μή ύπερφρονειν παρ' ö δει φρονείν, άλλά φρονεΐν εις<br />

το σωφρονείν«, wobei er dem allgemeinen Begriff φρονείν die<br />

Begriffe ύπερφρονειν <strong>und</strong> σωφρονείν entgegensetzte. Der erste<br />

dieser beiden Pole entspricht der Übereinst<strong>im</strong>mung des<br />

Leibes mit dieser Welt, weshalb sich die Maske abspaltet; der<br />

zweite entspricht der Umwandlung, man kann ergänzen »<strong>im</strong><br />

Sinn der zukünftigen Welt«, <strong>und</strong> dann beginnt aus dem Leib<br />

das Antlitz zu leuchten.<br />

Die Kirche ist der Weg des Aufstiegs ins Höhere. Dies gilt in<br />

der Zeit: Der Gottesdienst, diese innere Bewegung, innere<br />

Gliederung der Kirche, führt auf der vierten Koordinate, der<br />

der Tiefe, nach oben. Aber auch <strong>im</strong> Raum: Die Organisation<br />

der Kirche, die von den äußeren Hüllen zum zentralen Kern<br />

führt, hat dieselbe Bedeutung. Genauer gesagt ist dies nicht<br />

dasselbe <strong>im</strong> Sinn eines ebenso Beschaffenen, sondern buchstäblich,<br />

numerisch dasselbe, obwohl es in bezug auf andere<br />

Koordinaten betrachtet wird. Der räumliche Kern der Kirche<br />

deutet sich über die Hüllen an: Hof, Vorhalle, die Kirche<br />

selbst, Altar, Bischofsthron, Altardecke, Kelch, die Heiligen<br />

Sakramente, Christus, Gottvater. Die Kirche ist, wie oben<br />

dargelegt, eine Jakobsleiter, <strong>und</strong> sie führt vom Sichtbaren<br />

.65


hinauf ins Unsichtbare; aber schon der Altar als Ganzes ist<br />

ein Ort des Unsichtbaren, ein von der Welt getrenntes Gebiet,<br />

ein Raum, der nicht von dieser Welt ist. Der ganze Altar<br />

ist H<strong>im</strong>mel: ein geistiger, geistig erfaßbarer Ort, τόπος<br />

νοερός, ja sogar τόπος νοητός, mit einem »überh<strong>im</strong>mlischen,<br />

geistigen Altar«. Entsprechend den unterschiedlichen symbolischen<br />

Bedeutungen der Kirche bezeichnet <strong>und</strong> ist der Altar<br />

Unterschiedliches, <strong>im</strong>mer aber steht es in einer Beziehung<br />

der Unzugänglichkeit, Transzendenz zur Kirche selbst.<br />

Wenn die Kirche nach Symeon von Thessaloniki in christologischer<br />

Auslegung Christus Den Gottesmenschen bezeichnet,<br />

so bedeutet der Altar die unsichtbare Gottheit, Sein<br />

Göttliches Wesen, die Kirche selbst dagegen das sichtbare,<br />

menschliche Wesen. Wenn die allgemeine Auslegung anthropologisch<br />

ist, so bezeichnet ihr zufolge der Altar die menschliche<br />

Seele <strong>und</strong> die Kirche selbst den Leib. Folgt man der<br />

theologischen Auslegung der Kirche, so ist <strong>im</strong> Altar, wie der<br />

Heilige von Thessaloniki zeigt, das Gehe<strong>im</strong>nis der ihrem Wesen<br />

nach nicht zu erfassenden Dreifaltigkeit zu sehen, in der<br />

Kirche dagegen ihr in der Welt erkennbarer Plan <strong>und</strong> ihre<br />

Kräfte. Die kosmologische Erklärung schließlich, auch sie<br />

von Symeon, sieht <strong>im</strong> Altar das Symbol des H<strong>im</strong>mels, in der<br />

Kirche selbst das Symbol der Erde. Es ist klar, daß die ontologische<br />

Bedeutung des Altars als unsichtbare Welt durch die<br />

Vielfalt dieser Auslegungen nur bestätigt wird.<br />

Aber das Unsichtbare ist eben dadurch, daß es unsichtbar ist,<br />

dem sinnlichen Blick nicht zugänglich; auch der Altar als<br />

Noumenon wäre für geistig blinde Augen nicht existent - genauso<br />

wie die Säulen, das Strömen <strong>und</strong> die Vorhänge von<br />

Weihrauch dem Betasten nicht zugänglich sind -, wenn er<br />

nicht durch Zeichen kenntlich gemacht wäre, die sinnlich erfahrbar<br />

sind <strong>und</strong> ihrerseits die unsichtbare Welt einbeziehen.<br />

Eine Abgrenzung des Altars ist notwendig, damit er uns nicht<br />

als Nichts erscheint; aber diese Abgrenzung ist möglich nur<br />

.66


durch die Realitäten einer doppelten Fähigkeit der Wahrnehmung.<br />

Wenn sie nur geistig wären, so blieben sie unserer<br />

Schwäche unzugänglich, <strong>und</strong> um unser Bewußtsein davon<br />

stünde es nicht besser. Lägen sie aber lediglich in der sichtbaren<br />

Welt, dann könnten sie nicht die Grenze zum Unsichtbaren<br />

markieren, ja sie wüßten nicht, wo sie sich befinden.<br />

H<strong>im</strong>mel <strong>und</strong> Erde, Höheres <strong>und</strong> Niederes, Altar <strong>und</strong> Kirche<br />

können nur durch sichtbare Zeugen der unsichtbaren Welt<br />

voneinander getrennt werden, durch lebendige Symbole der<br />

Vereinigung beider - durch die heiligen Geschöpfe. Sie sind es<br />

- zu schauen <strong>im</strong> Sichtbaren, frei von Übereinst<strong>im</strong>mung mit<br />

dieser Welt -, die ihren Leib umgewandelt, ihren Sinn erneuert<br />

haben <strong>und</strong> dann »hoch über der Vermischung mit der<br />

Welt« weilen, <strong>im</strong> Unsichtbaren. Deshalb sind sie auch Zeugen<br />

für das Unsichtbare - Zeugen durch sich selbst, allein<br />

durch ihr Aussehen, durch ihr Antlitz. Sie leben mit uns, sie<br />

sind offen für den Umgang, offener sogar als wir selbst; sie<br />

sind keine irdischen Gespenster, sondern stehen fest auf der<br />

Erde, sie sind ganz <strong>und</strong> gar nicht abstrakt oder blutlos. Aber<br />

sie sind nicht dumpf hierauf beschränkt, auf die Erde - <strong>und</strong><br />

das gilt nicht nur für sie; sie sind Ideen, lebendige Ideen der<br />

unsichtbaren Welt. Sie sind Zeugen, so kann man sagen, an<br />

der Grenze des Sichtbaren zum Unsichtbaren, symbolische<br />

Bilder der Visionen be<strong>im</strong> Übergang von einem Bewußtsein zu<br />

einem anderen. Sie sind die lebendige Seele der Menschheit,<br />

die durch sie in eine höhere Welt aufgestiegen ist. Wenn sie<br />

be<strong>im</strong> Übergang die gespenstischen Träumereien abgelegt <strong>und</strong><br />

die andere Welt wahrgenommen haben, verwandeln sie sich<br />

bei der Rückkehr in Engelsbilder der Engelswelt. Es ist ja<br />

kein Zufall, daß <strong>im</strong> Volk seit altersher diese Zeugen, die uns<br />

das Unsichtbare durch ihre Engelsantlitze nah <strong>und</strong> zugänglich<br />

machen, Engel <strong>im</strong> Fleisch genannt werden. So bilden sich<br />

wellenförmige Wolken an der Grenze von Luftströmungen<br />

unterschiedlicher Höhe <strong>und</strong> unterschiedlicher Richtung, an<br />

.67


der Berührungsfläche übereinander fließender Schichten des<br />

Luftozeans; <strong>und</strong> deshalb können die Winde, die sie bilden,<br />

sie nicht wegtragen, <strong>und</strong> die luftigen Hügelketten bleiben unbewegt<br />

von der heftigen Bewegung der Luftströme. Und<br />

ebenso der Nebel, der einen Berggipfel einhüllt: rings um den<br />

Berg toben Stürme, aber die Nebeldecke rührt sich nicht.<br />

Solch ein Nebel bildet sich an der Grenze des Sichtbaren zum<br />

Unsichtbaren. Er verschleiert, was dem schwachen Sehvermögen<br />

unzugänglich ist, er weist jedoch auch darauf hin, daß<br />

etwas da ist, das hoch über der Welt steht. Wenn wir offene<br />

geistige Augen haben <strong>und</strong> sie zu Gottes Thron emporheben,<br />

schauen wir h<strong>im</strong>mlische Visionen - die Wolke, die den Sinai<br />

umhüllt -, das Gehe<strong>im</strong>nis der Anwesenheit Gottes <strong>und</strong> das,<br />

was das Gehe<strong>im</strong>nis verhüllt <strong>und</strong> doch bekanntmacht <strong>und</strong> verkündet.<br />

Das ist die »Wolke von Zeugen« (Hebräer 12,1),<br />

von Heiligen. Sie umgeben den Altar; aus ihnen, aus »lebendigen<br />

Steinen« ist die lebendige Mauer der Ikonostase<br />

erbaut, denn sie sind gleichzeitig in zwei Welten <strong>und</strong> vereinigen<br />

in sich das hiesige <strong>und</strong> das dortige Leben. Und indem sie<br />

dem entzückten Blick erscheinen, bezeugen die Heiligen das<br />

gehe<strong>im</strong>nisvolle Wirken Gottes, bezeugen es durch ihre Antlitze:<br />

die geistige Vision ist symbolisch, <strong>und</strong> die empirische<br />

Schale ist bei ihnen ganz von h<strong>im</strong>mlischem Licht durchdrungen.<br />

Die Altarschranke, die die beiden Welten teilt, ist die Ikonostase.<br />

Man könnte auch die Ziegel, die Steine, die Tafeln als<br />

Ikonostase bezeichnen. Die Ikonostase ist die Grenze zwischen<br />

sichtbarer <strong>und</strong> unsichtbarer Welt, <strong>und</strong> die Altarschranke<br />

wird realisiert, wird dem Bewußtsein zugänglich<br />

gemacht durch die festgefügte Reihe der Heiligen, durch die<br />

Wolke von Zeugen, die den Thron Gottes umgeben, die<br />

Sphäre h<strong>im</strong>mlischen Ruhms, <strong>und</strong> das Gehe<strong>im</strong>nis verkünden.<br />

Die Ikonostase ist eine Vision. Die Ikonostase ist eine Erscheinung<br />

der Heiligen <strong>und</strong> der Engel, eine Angelophanie,<br />

.68


eine Erscheinung der h<strong>im</strong>mlischen Zeugen, <strong>und</strong> vor allem der<br />

Muttergottes <strong>und</strong> Christi Selbst <strong>im</strong> Fleisch - der Zeugen, die<br />

verkünden, was jenseits des Fleisches ist. Die Ikonostase - das<br />

sind die Heiligen selbst. Und wenn alle in der Kirche Betenden<br />

genügend durchgeistigt wären, wenn das Auge aller<br />

Gläubigen <strong>und</strong> Betenden unentwegt sehend wäre, so gäbe es<br />

in der Kirche keine andere Ikonostase als Seine vor Gott<br />

Selbst stehenden Zeugen, die durch ihre Antlitze <strong>und</strong> durch<br />

ihre Worte Seine schreckliche <strong>und</strong> herrliche Anwesenheit verkünden.<br />

Da das geistige Auge der Betenden schwach ist, muß die Kirche<br />

in Fürsorge um sie der geistigen Schlaffheit Abhilfe schaffen:<br />

Sie muß diese hellen, klaren <strong>und</strong> lichten Visionen markieren,<br />

stofflich befestigen, ihre Spur durch Farbe binden.<br />

Aber diese Krücke der Geistigkeit, die stoffliche Ikonostase,<br />

verbirgt nichts vor den Gläubigen - keine interessanten <strong>und</strong><br />

pikanten Gehe<strong>im</strong>nisse, wie es sich manche in Ignoranz <strong>und</strong><br />

Selbstliebe vorgestellt haben -, <strong>im</strong> Gegenteil, sie weist ihnen,<br />

den Halbblinden, die Gehe<strong>im</strong>nisse des Altars, eröffnet ihnen,<br />

den Lahmen <strong>und</strong> Krüppeln, den Zugang in eine andere Welt,<br />

die ihnen aufgr<strong>und</strong> ihrer eigenen Geistesträgheit verschlossen<br />

ist, schreit ihnen vom H<strong>im</strong>melreich in die tauben Ohren, da<br />

sich erwiesen hat, daß die Rede in gewöhnlicher Lautstärke<br />

nicht zu ihnen dringt. Natürlich ist dieser Schrei all der feinen<br />

<strong>und</strong> reichen Ausdrucksmittel beraubt, die die ruhige Rede besitzt;<br />

aber wer trägt denn die Schuld, wenn letztere nicht nur<br />

nicht geschätzt, sondern nicht einmal bemerkt wird, <strong>und</strong> was<br />

bleibt dann anderes als ein Schrei? Entfernt die stoffliche<br />

Ikonostase, <strong>und</strong> es wird auch der Altar als solcher aus dem<br />

Bewußtsein der Menge gänzlich verschwinden, er wird sich<br />

hinter einer massiven Wand verbergen. Doch die stoffliche<br />

Ikonostase ersetzt nicht die Ikonostase der lebendigen Zeugen<br />

<strong>und</strong> wird nicht statt ihrer aufgerichtet, sondern lediglich<br />

als Hinweis auf sie, um die Aufmerksamkeit der Betenden<br />

.69


darauf zu konzentrieren. Es ist eine notwendige Bedingung<br />

für die Entwicklung des geistigen Sehens, daß die Aufmerksamkeit<br />

eine Richtung bekommt. Bildlich gesprochen ist die<br />

Kirche ohne die stoffliche Ikonostase vom Altar durch eine<br />

geschlossene Wand getrennt; die Ikonostase aber schlägt Fenster<br />

in die Wand, <strong>und</strong> durch ihre Scheiben sehen wir - zumindest<br />

können wir sehen -, was hinter ihnen vorgeht, wir sehen<br />

die lebendigen Zeugen Gottes. Ikonen vernichten heißt, die<br />

Fenster zuzumauern; andererseits auch, die Scheiben herauszunehmen,<br />

die das geistige Licht für diejenigen mildern, die<br />

fähig sind, es überhaupt unmittelbar zu sehen, bildlich gesprochen:<br />

<strong>im</strong> durchsichtigen luftleeren Raum - das heißt,<br />

Äther zu atmen <strong>und</strong> <strong>im</strong> Licht des Ruhmes Gottes leben zu<br />

lernen -; wenn dies eintritt, so hebt sich mit der Aufhebung<br />

dieser Welt, mit der Aufhebung selbst des Glaubens <strong>und</strong> der<br />

Hoffnung, mit dem Schauen des ewigen Ruhmes Gottes in<br />

reiner Liebe die Ikonostase selbst auf.<br />

So muß man für den unerfahrenen Schüler Farbe in die Blutgefäße<br />

injizieren, um ihn zuerst auf ihre Wege <strong>und</strong> Richtungen<br />

aufmerksam zu machen; so muß ein Anfänger in der<br />

Geometrie die Linien <strong>und</strong> Flächen, auf denen das Hauptgewicht<br />

der Argumentation liegt, durch die Stärke <strong>und</strong> Art des<br />

Strichs, sogar durch Farbe hervorheben; so malt ein Lehrer<br />

zu Beginn der ethischen Erziehung durch anschauliche Beispiele<br />

von Krankheiten, Unglücksfällen <strong>und</strong> körperlichen<br />

Leiden die Folgen der Laster aus. Wenn aber die Aufmerksamkeit<br />

geübt ist <strong>und</strong> nicht durch den äußeren Eindruck dazu<br />

geführt wird, sich auf ein best<strong>im</strong>mtes Objekt zu konzentrieren,<br />

wenn sie aus sich heraus fähig ist, aus dem Lärm der sinnlichen<br />

Eindrücke ein Merkmal oder ein Objekt herauszugreifen,<br />

obwohl es sich unter anderen frappierenden, jedoch für<br />

das Verständnis nicht erforderlichen Dingen verliert, so entfällt<br />

die Notwendigkeit sinnlicher Stützen für die Aufmerksamkeit.<br />

Und <strong>im</strong> Gebiet des übersinnlichen Schauens ist es<br />


nicht anders: Die geistige Welt, das Unsichtbare ist nicht irgendwo<br />

fern von uns, sondern umgibt uns; <strong>und</strong> wir sind wie<br />

auf dem Gr<strong>und</strong> eines Ozeans, wir ertrinken in einem Ozean<br />

segenbringenden Lichts. Da freilich das geistige Auge nicht<br />

daran gewöhnt ist, da es noch nicht reif ist, bemerken wir<br />

dieses lichte Reich nicht, oftmals ahnen wir nichts von seiner<br />

Existenz, <strong>und</strong> nur mit dem Herzen empfinden wir vage den<br />

allgemeinen Charakter der um uns sich ereignenden geistigen<br />

Strömungen. Als Christus den Blindgeborenen heilte, sah<br />

dieser die umhergehenden Menschen zuerst als Bäume - das<br />

ist die erste Ausformung der h<strong>im</strong>mlischen Visionen. Wir aber<br />

sehen die Engel, die umherfliegen, weder als Bäume noch als<br />

Schatten eines fernen Vogels, der zwischen uns <strong>und</strong> die Sonne<br />

geraten ist, obwohl Sensiblere manchmal schon die mächtigen<br />

Flügelschläge der Engel bemerken, wenn auch nur als<br />

zartesten Hauch. Die Ikone ist dasselbe wie eine h<strong>im</strong>mlische<br />

Vision, <strong>und</strong> doch nicht dasselbe: eine Linie, die die Vision<br />

umreißt. Die Vision ist keine Ikone: sie ist an <strong>und</strong> für sich<br />

real; aber die Ikone, die in Umrissen mit einem geistigen Bild<br />

übereinst<strong>im</strong>mt, ist in unserem Bewußtsein dieses Bild, <strong>und</strong><br />

außerhalb dieses Bildes - ohne es, an ihm vorbei, an sich - ist<br />

sie nicht Bild, nicht Ikone, sondern ein Brett. Ebenso ist ein<br />

Fenster in dem Maß Fenster, als sich hinter ihm die Lichtregion<br />

erstreckt, <strong>und</strong> dann ist schon das Fenster, das uns das<br />

Licht übermittelt, Licht - es ist nicht »ähnlich« dem Licht,<br />

wird nicht in subjektiver Assoziation mit der subjektiv gedachten<br />

Vorstellung vom Licht verknüpft, sondern es ist das<br />

Licht selbst, in seiner ontologischen Identität, dasselbe Licht,<br />

unteilbar in sich <strong>und</strong> unteilbar von der Sonne, das <strong>im</strong> äußeren<br />

Raum leuchtet. An <strong>und</strong> für sich jedoch, d.h. außerhalb der<br />

Beziehung zum Licht, außerhalb seiner Funktion, ist ein Fenster,<br />

wenn es keine Wirkung hat, tot <strong>und</strong> kein Fenster: unabhängig<br />

vom Licht ist es Holz <strong>und</strong> Glas. Ein einfacher Gedanke;<br />

fast <strong>im</strong>mer jedoch bleibt man irgendwo in der Mitte<br />

7i


stehen, während es doch richtiger wäre, entweder nicht bis<br />

zur Mitte zu gehen oder über sie hinauszugehen: Das gewöhnliche<br />

Verständnis des Symbols, nach dem es, obschon<br />

partiell bedingt, etwas Wahres ist, das sich selbst genügt, ist<br />

von Gr<strong>und</strong> auf falsch, da ein Symbol entweder mehr ist als das<br />

oder weniger. Wenn ein Symbol, das einen Zweck verfolgt,<br />

seinen Zweck erreicht, so ist es real von diesem Zweck nicht<br />

zu trennen - von der höchsten Realität, die durch es zur Erscheinung<br />

gebracht wird; wenn es aber keine Realität zur Erscheinung<br />

bringt, so heißt das, es erreicht den Zweck nicht,<br />

folglich ist in ihm keine zweckmäßige Form zu erkennen, <strong>und</strong><br />

das heißt auch: da es einer solchen entbehrt, ist es nicht Symbol,<br />

nicht Instrument des Geistes, sondern lediglich sinnliches<br />

Material. Wir wiederholen: Es gibt kein Fenster an sich,<br />

denn dem Begriff des Fensters wie auch jedem anderen Instrument<br />

der Kultur ist die Zweckmäßigkeit konstitutiv; was<br />

nicht zweckmäßig ist, ist auch keine Erscheinung der Kultur.<br />

Folglich ist das Fenster entweder Licht oder es ist Holz <strong>und</strong><br />

Glas, niemals jedoch ist es einfach Fenster. So sind auch die<br />

Ikonen nach der Definition des heiligen Dionysios Areopagita<br />

»sichtbare Abbildungen gehe<strong>im</strong>nisvoller <strong>und</strong> übernatürlicher<br />

Anblicke«. Und die Ikone ist stets entweder mehr als<br />

sie selbst, wenn sie h<strong>im</strong>mlische Vision ist, oder weniger,<br />

wenn sie einem Bewußtsein nicht die übersinnliche Welt offenbart<br />

<strong>und</strong> nur als bemaltes Brett bezeichnet werden kann.<br />

Von Gr<strong>und</strong> auf falsch ist jene moderne Richtung, derzufolge<br />

die Ikonenmalerei als antike Kunst, als Malerei anzusehen ist,<br />

<strong>und</strong> sie ist vor allem deshalb falsch, weil hier der Malerei allgemein<br />

eine eigene Kraft abgesprochen wird: Auch die Malerei<br />

ist ganz allgemein entweder mehr oder weniger als sie<br />

selbst. Jede Malerei hat den Zweck, den Betrachter über das<br />

Gebiet der sinnlich wahrnehmbaren Farben <strong>und</strong> der Leinwand<br />

hinaus in eine Realität zu führen; so gesehen teilt das<br />

Gemälde mit allen Symbolen deren gr<strong>und</strong>legende ontologi-<br />

.72


sehe Charakteristik - das zu sein, was sie symbolisieren.<br />

Wenn aber der Maler seinen Zweck nicht erreicht hat - ob<br />

allgemein oder <strong>im</strong> Hinblick auf einen best<strong>im</strong>mten Betrachter<br />

— <strong>und</strong> das Werk nirgendwohin, nicht über sich selbst hinizwführt,<br />

so kann man es auch nicht als Kunstwerk bezeichnen;<br />

wir sprechen dann von Gekleckse, von Mißlingen u.ä.<br />

Nun hat eine Ikone den Zweck, das Bewußtsein in die geistige<br />

Welt zu führen, »gehe<strong>im</strong>nisvolle <strong>und</strong> übernatürliche Anblicke«<br />

zu zeigen. Wenn dieser Zweck nach der Einschätzung<br />

oder genauer nach dem Gefühl dessen, der sie betrachtet,<br />

überhaupt nicht erreicht wird, wenn keine noch so entfernte<br />

Empfindung einer anderen Realität geweckt wird - wie schon<br />

von fern der Jodgeruch der Algen das Meer ankündigt -, was<br />

läßt sich dann anderes von der Ikone sagen, als daß sie nicht<br />

zu den Werken der Kultur zählt <strong>und</strong> lediglich materiellen<br />

oder bestenfalls archäologischen Wert besitzt.<br />

»Und wie sie uns damals erschienen ist«, schreibt der Ehrwürdige<br />

Iosif Volockij über die Ikone der Heiligen Dreifaltigkeit<br />

des Ehrwürdigen Andrej Rublev, »so mußte sie auch<br />

jetzt von uns dargestellt <strong>und</strong> gemalt werden. Und dank einer<br />

solchen Darstellung erklingt das dre<strong>im</strong>al heilige Lied der<br />

Dre<strong>im</strong>al Heiligen <strong>und</strong> Wesenseinen <strong>und</strong> Lebenschaffenden<br />

Dreifaltigkeit auf der Erde; durch unendliches Verlangen,<br />

durch maßlose Liebe, durch den Geist, der sich von diesem<br />

dinglichen Bildnis zu jenem urbildlichen <strong>und</strong> unergründlichen<br />

Ebenbild erhebt, fliegen Sinn <strong>und</strong> Gedanke auf zu Göttlichem<br />

Verlangen <strong>und</strong> zu Göttlicher Liebe; auch ist es kein<br />

Ding, das da steht, sondern der Anblick <strong>und</strong> das Bildnis ihrer<br />

Schönheiten: denn die Verehrung der Ikone geht auf das <strong>Urbild</strong>liche<br />

über, <strong>und</strong> wir werden nicht nur heute vom Heiligen<br />

Geist erleuchtet <strong>und</strong> erhellt, sondern wir werden in der künftigen<br />

Zeit großen <strong>und</strong> unsagbaren Lohn erhalten, wenn die<br />

Körper der Heiligen stärker als das Sonnenlicht strahlen werden<br />

- wir, die wir dank der Abbildung der Ikone in Liebe das<br />

.73


einige Wesen der Gottheit in drei bildlichen Gestalten küssen<br />

<strong>und</strong> verehren, indem wir zu jenem reinen Göttlichen Ebenbild<br />

der Heiligen <strong>und</strong> Lebenspendenden Dreifaltigkeit mit<br />

Vater, Sohn <strong>und</strong> Heiligem Geist beten <strong>und</strong> unserem Gott<br />

Dank emporsenden.«<br />

So begriffen diejenigen die Ikonenmalerei, die sie anleiteten<br />

<strong>und</strong> ausführten - als Mittel übersinnlicher Erkenntnis; dies ist<br />

das Ziel. Nach einer der Best<strong>im</strong>mungen des Siebten Ökumenischen<br />

Konzils »kommt dem Maler lediglich die technische<br />

Seite der Angelegenheit zu, während die Anordnung selbst<br />

(öidta^ig, d.h. Aufbau, Komposition, ja mehr noch, allgemein<br />

die künstlerische Form) offenk<strong>und</strong>ig von den heiligen<br />

Vätern abhängig war«. Dieser wesentliche Hinweis bezeugt<br />

nicht eine antikünstlerische doktrinäre Normierung der Ikonenmalerei<br />

durch Vorstellungen <strong>und</strong> Regeln, die der Ikonenmalerei<br />

selbst äußerlich sind, nicht eine Ikonenzensur, sondern<br />

er bezeugt, wen die Kirche als wahre Ikonenmaler anerkannt<br />

hat <strong>und</strong> anerkennt - die heiligen Väter. Sie sind es, die<br />

Kunst schaffen, denn sie schauen das, was auf der Ikone abzubilden<br />

ist. Wie kann denn derjenige eine Ikone malen, der<br />

nicht nur das <strong>Urbild</strong> oder, in der Sprache der Malerei ausgedrückt,<br />

das Modell nicht vor sich hat, sondern es auch nie<br />

gesehen hat? Wenn der Künstler sogar <strong>im</strong> Bereich des Sinnlichen,<br />

den er von Kindheit an ständig beobachtet, ein Modell<br />

sucht, obwohl er die entsprechenden Gegenstände unzählige<br />

Male gesehen hat - ist es da nicht eine außerordentliche<br />

Frechheit, daß Menschen die übersinnliche Welt abbilden<br />

wollen, die sie überhaupt nicht gesehen haben, wo doch die<br />

übersinnliche Welt selbst von den Heiligen nur mit Unterbrechungen<br />

<strong>und</strong> in singulären Augenblicken in voller Deutlichkeit<br />

geschaut wird?<br />

Die religiöse Malerei des Westens war seit der Renaissance<br />

eine einzige künstlerische Unwahrheit, <strong>und</strong> die Künstler, die,<br />

während sie in Worten Ähnlichkeit <strong>und</strong> Treue gegenüber der<br />

.74


abgebildeten Wirklichkeit verkündeten, keinerlei Berührung<br />

mit der Wirklichkeit hatten, die abzubilden sie sich anmaßten<br />

<strong>und</strong> die sie abzubilden wagten, hielten es nicht für nötig, wenigstens<br />

den dürftigen Hinweisen der Uberlieferung der Ikonenmalerei<br />

Gehör zu schenken, d. h. dem Wissen von der geistigen<br />

Welt, das die katholische Kirche ihnen mitteilte. Die<br />

Ikonenmalerei dagegen ist ein Festhalten h<strong>im</strong>mlischer Bilder,<br />

ein Verdichten der wie Rauch um den Thron aufsteigenden<br />

lebendigen Wolke von Zeugen auf einem Brett. Die Ikonen<br />

markieren diese von Bedeutung durchdrungenen Antlitze,<br />

diese übersinnlichen Ideen stofflich <strong>und</strong> machen die Visionen<br />

zugänglich, zugänglich nahezu für alle. Die Zeugen dieser<br />

Zeugen, die Ikonenmaler, geben uns Bilder, eiöreixöveg,<br />

ihrer Visionen. Die Ikonen bezeugen durch ihre künstlerische<br />

Form unmittelbar <strong>und</strong> anschaulich die Realität dieser<br />

Form: sie sprechen, aber mit Linien <strong>und</strong> Farben. Es ist dies<br />

der mit Farben geschriebene Name Gottes; denn was ist das<br />

Bild Gottes, das geistige Licht von einem heiligen Antlitz anderes<br />

als der einer heiligen Persönlichkeit eingezeichnete<br />

Name Gottes? Ähnlich wie der Zeuge — ein Märtyrer, ein<br />

Heiliger -, obwohl er spricht, doch nicht sich selbst bezeugt,<br />

sondern den Herrn, <strong>und</strong> nicht sich selbst, sondern Ihn zur<br />

Erscheinung bringt, so bezeugen auch diese Zeugen der Zeugen,<br />

die Ikonenmaler, nicht ihre Kunst des Ikonenmalens,<br />

d.h. nicht sich selbst, sondern die Heiligen, die Zeugen des<br />

Herrn, durch sie aber den Herrn Selbst.<br />

Von allen philosophischen Beweisen der Existenz Gottes<br />

klingt gerade der am überzeugendsten, der in den Lehrbüchern<br />

nicht einmal erwähnt wird; er läßt sich als Schlußfolgerung<br />

etwa so konstruieren: »Es gibt die Dreifaltigkeit Rublevs,<br />

folglich gibt es Gott.«<br />

In den Abbildungen der Ikonenmaler sehen wir selbst - sogar<br />

wir selbst - die gnadenvollen <strong>und</strong> durchlichteten Antlitze der<br />

Heiligen, in ihnen aber, in diesen Antlitzen, das zur Erschei-<br />

.75


nung gebrachte Bild Gottes <strong>und</strong> Gott Selbst. Und wie die<br />

Samariter sagen wir zu den Ikonenmalern: Wir glauben nicht<br />

allein deswegen, weil ihr durch die von euch gemalten Ikonen<br />

die Heiligkeit der Heiligen bezeugt, sondern wir selbst vernehmen<br />

das von ihnen durch das Werk eures Pinsels ausgehende<br />

Eigenzeugnis der Heiligen - nicht durch Worte, sondern<br />

durch ihre Antlitze. Wir selbst vernehmen die überaus<br />

süße St<strong>im</strong>me des Gotteswortes, des Wahren Zeugen, die<br />

St<strong>im</strong>me, die mit ihrem übersinnlichen Laut das ganze Wesen<br />

der Heiligen durchdringt <strong>und</strong> es zu vollkommener Harmonie<br />

führt. Aber nicht ihr habt diese Bilder geschaffen, nicht ihr<br />

habt diese lebendigen Ideen unseren erfreuten Augen zur Erscheinung<br />

gebracht - sie selbst haben sich unserem Schauen<br />

gezeigt; ihr aber habt lediglich die Hindernisse beseitigt, die<br />

uns ihr Licht verhüllen. Ihr habt uns geholfen, die Schuppen<br />

zu entfernen, die die geistigen Augen bedeckten. Und durch<br />

eure Hilfe sehen wir jetzt - nicht mehr eure Meisterschaft,<br />

sondern das voll-reale Sein der Antlitze selbst. Ich betrachte<br />

eine Ikone <strong>und</strong> sage in mir: »Siehe-das ist Sie Selbst« - nicht<br />

Ihre Abbildung, sondern Sie Selbst, die durch die Kunst der<br />

Ikonenmalerei, mit ihrer Hilfe zu schauen ist. Wie durch ein<br />

Fenster sehe ich die Gottesmutter, die Gottesmutter Selbst,<br />

zu Ihr Selbst bete ich, von Angesicht zu Angesicht, <strong>und</strong> keineswegs<br />

zu ihrer Abbildung. Ja, in meinem Bewußtsein gibt<br />

es eine solche Abbildung nicht·. Es gibt ein Brett mit Farben<br />

<strong>und</strong> es gibt die Mutter des Herrn Selbst. Ein Fenster ist ein<br />

Fenster, <strong>und</strong> das Brett der Ikone ist Brett, Farben, Firnis.<br />

Aber jenseits des Fensters ist die Gottesmutter Selbst zu<br />

schauen; jenseits des Fensters - die Vision der Reinsten Jungfrau.<br />

Der Ikonenmaler hat mir Sie gezeigt, ja, aber er hat Sie<br />

nicht geschaffen; er hat den Vorhang geöffnet, <strong>und</strong> Sie, die<br />

hinter dem Vorhang ist, steht als objektive Realität nicht nur<br />

vor mir, sondern ebenso auch vor ihm, von ihm wird Sie entdeckt,<br />

ihm erscheint Sie, aber Sie ist nicht von ihm erdacht,<br />

.76


<strong>und</strong> sei es in einem Anflug höchster Inspiration. Eine Ikone<br />

ist entweder unterzubewerten, in der gängigen positivistischen,<br />

halbherzigen Anerkennung, oder überzubewerten,<br />

keinesfalls aber sollte man bei ihrer psychologischen, assoziativen<br />

Bedeutung, d.h. bei ihrem Abbildungscharakter stehenbleiben.<br />

Jede Abbildung offenbart aufgr<strong>und</strong> ihres notwendigen<br />

Symbolcharakters ihren geistigen Inhalt nur dadurch,<br />

daß wir geistig »vom Bild zum <strong>Urbild</strong>« aufsteigen,<br />

d.h. das <strong>Urbild</strong> selbst, ontologisch gesehen, berühren; dann,<br />

<strong>und</strong> nur dann, füllt sich das sinnliche Zeichen mit Lebenssäften<br />

<strong>und</strong> wird eben dadurch, untrennbar von seinem <strong>Urbild</strong>,<br />

mehr als eine »Darstellung«, es ist die erste Welle oder eine<br />

der ersten Wellen, die von der Realität ausgehen. Und alle<br />

anderen Möglichkeiten, unserem Geist die Realität selbst zur<br />

Erscheinung zu bringen, sind ebenfalls Wellen, die von ihr<br />

ausgehen; auch wenn wir mit ihr <strong>im</strong> Leben kommunizieren:<br />

wir kommunizieren ja stets mit der Energie einer Wesenheit,<br />

<strong>und</strong> über die Energie mit der Wesenheit selbst, nicht aber unmittelbar<br />

mit letzterer. Und da die Ikone Erscheinung, Energie,<br />

Licht einer geistigen Wesenheit, genauer gesagt, da sie<br />

eine Gnade Gottes ist, ist sie mehr als das, wofür sie ein Denken<br />

halten möchte, das sich selbst »Nüchternheit« bescheinigt<br />

- oder sie besitzt, wenn diese Berührung mit der geistigen<br />

Wesenheit nicht stattgef<strong>und</strong>en hat, überhaupt keine Bedeutung<br />

für die Erkenntnis.<br />

Damit stehen wir unmittelbar vor dem Terminus <strong>und</strong> Begriff<br />

der Erinnerung, der in den ikonoklastischen Auseinandersetzungen<br />

ständig zur Anwendung kam.<br />

Die Verteidiger der Ikonen berufen sich unzählige Male auf<br />

die erinnernde Bedeutung der Ikonen: Ikonen - so sagen die<br />

heiligen Väter <strong>und</strong> mit ihren Worten das Siebte Ökumenische<br />

Konzil - erinnern die Betenden an ihre <strong>Urbild</strong>er, <strong>und</strong> wenn<br />

die Gläubigen die Ikonen betrachten, »erheben sie den Geist<br />

von den Bildern zu den <strong>Urbild</strong>ern«. So die fest etablierte<br />

.77


theologische Terminologie. Heute beruft man sich nicht selten<br />

auf diese Ausdrücke, aber man deutet sie <strong>im</strong> allgemeinen<br />

in subjektiv-psychologischem Sinn <strong>und</strong> von Gr<strong>und</strong> auf<br />

falsch, wobei man die Idee der heiligen Väter entstellt <strong>und</strong><br />

unter dem Anschein, die Ikonen zu verteidigen, den Ikonoklasmus<br />

eigenhändig wiederherstellt, <strong>und</strong> das auch noch grob<br />

<strong>und</strong> uneingeschränkt; <strong>und</strong> um wieviel besonnener, subtiler<br />

<strong>und</strong> behutsamer, gedanklich komplexer war jener alte Ikonoklasmus,<br />

über den die kirchliche Lehre triumphierte, <strong>im</strong> Vergleich<br />

zu den heutigen Wiederholungen desselben Themas <strong>im</strong><br />

Zusammenhang mit den Einwänden gegen die Protestanten<br />

<strong>und</strong> den Rationalismus. Die Ikonoklasten haben ja keineswegs<br />

die Möglichkeit <strong>und</strong> Nützlichkeit religiöser Malerei negiert,<br />

der die Ikonen heute gleichgestellt werden; die Ikonoklasten<br />

verwiesen, modern ausgedrückt, gerade auf die subjektiv-assoziative<br />

Bedeutung der Ikonen, negierten aber ihre<br />

ontologische Verbindung mit den <strong>Urbild</strong>ern, <strong>und</strong> in dem Moment<br />

mußte die ganze Ikonenverehrung - das Küssen <strong>und</strong><br />

Anbeten der Ikonen, das Abbrennen von Weihrauch vor<br />

ihnen, das Entzünden von Kerzen <strong>und</strong> Lampen u.ä., d.h.<br />

eine Verehrung, die sich auf »Darstellungen«, bezog, die<br />

außerhalb der <strong>Urbild</strong>er selbst stehen <strong>und</strong> mit ihnen nichts<br />

zu tun haben, auf Doppelgänger dessen, was verehrt werden<br />

sollte - als verbrecherische Götzenverehrung gewertet werden.<br />

Wenn die Ikonen tatsächlich »Darstellungen« sind, so<br />

ist es absurd <strong>und</strong> sündhaft, diesen pädagogischen Hilfsmitteln<br />

eine »Ehre« zu erweisen, die einzig <strong>und</strong> allein Gott gebührt,<br />

<strong>und</strong> es ist ganz unverständlich, was der uralte Glaube<br />

der Kirche an ein Aufsteigen zu den <strong>Urbild</strong>ern, an die Ehre,<br />

die dem Bild zu erweisen ist, eigentlich bedeutet. Damals<br />

aber, in der Epoche des Bilderstreits, wußten die Menschen,<br />

um was sie sich eigentlich stritten <strong>und</strong> worin sie nicht einig<br />

waren: Es gab Ikonodulen <strong>und</strong> Ikonoklasten. Heute vertreten<br />

auch die Ikonodulen ikonoklastische Lehren, sie wissen<br />

.78


selbst nicht, ob sie die Ikonen eigentlich verteidigen oder ob<br />

sie sie <strong>im</strong> Gegenteil verwerfen. Man vergißt nämlich, daß die<br />

Auseinandersetzungen um die Ikonen <strong>im</strong> 9.Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

stattfanden, <strong>und</strong> nicht zehn Jahrh<strong>und</strong>erte später, in Byzanz<br />

<strong>und</strong> nicht in England, auf dem Boden der platonisch-aristotelischen<br />

Philosophie <strong>und</strong> nicht der Philosophie von Hume,<br />

Mill, Bacon. Die heutigen Verteidiger der Ikonen haben der<br />

ökumenischen Terminologie der heiligen Väter den Inhalt des<br />

englischen Sensualismus <strong>und</strong> der sensualistischen Philosophie<br />

anstelle der ontologischen Bedeutung untergeschoben,<br />

von der jene, basierend auf dem antiken Idealismus, ausgingen,<br />

<strong>und</strong> den Sieg verspielt, der einst über die Ikonoklasten<br />

errungen worden war.<br />

Was also bedeuten in den Konzilsbeschlüssen die Begriffe <strong>Urbild</strong><br />

<strong>und</strong> Bild, Erinnerung, Geist usw. ?<br />

Die Ikone erinnert in der beschriebenen Weise an das <strong>Urbild</strong>,<br />

d. h. sie weckt <strong>im</strong> Bewußtsein eine geistige Vision: Bei einem,<br />

der diese Vision klar <strong>und</strong> bewußt geschaut hat, ist diese neue,<br />

sek<strong>und</strong>äre Vision durch die Ikone selbst klar <strong>und</strong> bewußt. Bei<br />

anderen dagegen weckt die Ikone eine tief unter dem Bewußtsein<br />

schlummernde Wahrnehmung des Geistigen, Übersinnlichen,<br />

bestätigt aber nicht einfach, daß es diese Wahrnehmung<br />

gibt, sondern veranlaßt eine eigene Erfahrung dieser<br />

Art oder bringt sie dem Bewußtsein nahe. In der Blütezeit der<br />

Gebete der großen Asketen waren die Ikonen oftmals nicht<br />

nur Fenster, durch die die auf ihnen abgebildeten Personen zu<br />

sehen waren, sondern eine Tür, durch die diese Personen in<br />

die sinnliche Welt eintraten. Gerade aus Ikonen stiegen die<br />

Heiligen am häufigsten herab, wenn sie den Betenden <strong>und</strong><br />

Gläubigen erschienen.<br />

In geringerem, doch <strong>im</strong> Wesen diesen Fällen verwandtem<br />

Maß haben aber viele Menschen, die durchaus keine Asketen<br />

waren, ähnliche Erscheinungen erlebt: Ich meine das heftige,<br />

die Seele durchdringende Gefühl der Realität der geistigen<br />

.79


Welt, das wie ein Schlag, wie eine brennende W<strong>und</strong>e wohl<br />

jeden trifft, der eines der heiligsten Werke der Ikonenkunst<br />

erblickt. Hier bleibt auch nicht der geringste, durch die Ikone<br />

eröffnete Raum für Gedanken an Subjektivität, so lebendig,<br />

so unstreitig objektiv <strong>und</strong> eigenständig steht sie vor dem<br />

Blick, vor dem geistigen <strong>und</strong> körperlichen Blick gleichermaßen.<br />

Als lichte, Licht verströmende Vision offenbart sich die<br />

Ikone. Und wie <strong>im</strong>mer sie liegt oder steht, nichts anderes läßt<br />

sich über diese Vision sagen als: Sie erhebt sich. Man ist sich<br />

bewußt, daß sie ihre ganze Umgebung übersteigt, da sie in<br />

einem anderen, eigenen Raum <strong>und</strong> in der Ewigkeit weilt. Vor<br />

ihr verstummen die brennenden Leidenschaften <strong>und</strong> die Betriebsamkeit<br />

der Welt, sie wird als überweltlich, die Welt qualitativ<br />

übertreffend erkannt, aus ihrem Bereich heraus hier<br />

wirkend, unter uns. Unzweifelhaft existiert es, dieses Werk<br />

des Pinsels; aber es ist unbegreiflich, daß es existieren kann,<br />

<strong>und</strong> man glaubt den eigenen Augen nicht, wenn es diese allüberwindende,<br />

sieghafte Schönheit bezeugt. Solcher Art ist<br />

die Wirkung der Dreifaltigkeit Rublevs, solcher Art ist der<br />

unvergleichliche Eindruck der Gottesmutter von Vlad<strong>im</strong>ir.<br />

Aber dennoch dürfen diese <strong>und</strong> andere einzigartige Werke<br />

der Ikonenmalerei, die wie ein Blitzschlag selbst das stumpfeste<br />

Auge treffen, nicht völlig isoliert von den übrigen betrachtet<br />

werden. Indem sie gr<strong>und</strong>sätzlich die ikonographischen<br />

Formen der Ikonen höchsten Ranges wahren - so wollen wir<br />

es vorab formulieren -, bergen alle Ikonen in sich die Möglichkeit<br />

dieser geistigen Offenbarung, wenn auch unter einer<br />

mehr oder weniger <strong>und</strong>urchdringlichen Hülle. Es kommt<br />

aber die St<strong>und</strong>e, da der geistige Zustand dessen, der die Ikone<br />

betrachtet, ihm die Kraft gibt, ihr geistiges Wesen selbst<br />

durch die Hülle hindurch zu fühlen, die ihre Formen entstellt,<br />

da die Ikone zu leben beginnt <strong>und</strong> ihr Werk vollbringt -<br />

das Zeugnis der höheren Welt.<br />

.80


Mutter Gottes, mit dem Gebet<br />

vor Deinem hell scheinenden Bild<br />

bitte ich heute nicht um Errettung, nicht vor der Schlacht,<br />

nicht mit Dankbarkeit oder Reue,<br />

Nicht um meine verödete Seele,<br />

die Seele eines Wanderers in verwaister Welt;<br />

nein, ich will ein unschuldiges Mädchen<br />

der warmherzigen Beschützerin der kalten Welt anvertrauen<br />

- so regte es sich in der unruhigen <strong>und</strong> aufgewühlten Seele<br />

Lermontovs als Offenbarung der Gottesmutter-Ikone. Und<br />

nicht allein das Gedicht beglaubigt die kirchliche Lehre, daß<br />

alle Ikonen w<strong>und</strong>ertätig sind, d. h. Fenster in die Ewigkeit<br />

sein können, obwohl das nicht für jede konkrete Ikone gelten<br />

muß. Das Erschienen-Sein der Ikonen verweist <strong>im</strong> eigentlichen<br />

Wortsinn auf die von den Ikonen ausgehenden Erscheinungen<br />

- die Gnadenzeichen, die durch sie erschienen sind.<br />

Und die Heilung der Seele durch die Berührung der geistigen<br />

Welt mittels einer Ikone ist vor allem <strong>und</strong> notwendigerweise<br />

eine Erscheinung w<strong>und</strong>ertätiger Hilfe.<br />

Die Ikone wird also als Faktum göttlicher Wirklichkeit erkannt.<br />

Eine Ikone kann von hoher oder geringer Meisterschaft<br />

sein, doch liegt ihr unbedingt eine echte Wahrnehmung<br />

des Jenseitigen, eine echte geistige Erfahrung zugr<strong>und</strong>e.<br />

Diese Erfahrung kann in der jeweiligen Ikone erstmals festgehalten<br />

werden, so daß sie die erstmals verkündete Offenbarung<br />

der vorangegangenen Erfahrung ist. Eine solche ersterschienene<br />

oder urbildliche Ikone - so nennt man sie - wird als<br />

Pr<strong>im</strong>ärquelle betrachtet, sie entspricht dem echten Manuskript<br />

dessen, der von einer faktisch geschehenen Offenbarung<br />

berichtet. Es kann auch Kopien dieser Ikone geben, die<br />

ihre Formen mehr oder weniger genau wiedergeben. Ihr geistiger<br />

Inhalt ist aber nicht irgendwie neu <strong>im</strong> Vergleich mit<br />

dem Original <strong>und</strong> nicht »ein solcher« wie be<strong>im</strong> Original, sondern<br />

derselbe, auch wenn er vielleicht durch glanzlose Hüllen<br />

8!


<strong>und</strong> trübe Medien gezeigt wird. Dabei sind - gerade deshalb,<br />

weil er nicht »ein solcher« ist, sondern derselbe - Wiederholungen<br />

der Ikone möglich, mit Abwandlungen, Varianten eines<br />

gr<strong>und</strong>legenden Typus.<br />

Wenn der Ikonenmaler selbst nicht in der Lage war, zu erleben,<br />

was er darstellt, wenn er, angeregt durch das Original,<br />

mit der Realität des Dargestellten selbst nicht in Berührung<br />

gekommen ist, wird er sich bemühen, sofern er gewissenhaft<br />

ist, auf seiner Kopie die äußeren Merkmale des Originals<br />

möglichst genau wiederzugeben, vermag aber, wie es in solchen<br />

Fällen häufig vorkommt, die Ikone nicht als Ganzes zu<br />

erfassen, verliert sich in Linien <strong>und</strong> Flecken <strong>und</strong> gibt das Wesentliche<br />

nicht deutlich wieder. Wenn sich ihm andererseits<br />

durch das Original die auf ihm abgebildete geistige Realität<br />

offenbart <strong>und</strong> er sie zwar sek<strong>und</strong>är, aber deutlich genug erblickt<br />

hat, so tauchen natürlich in der lebendigen Realität des<br />

lebendigen Menschen eigene Gesichtspunkte auf, <strong>und</strong> er wird<br />

sich nicht mit kalligraphischer Treue an das Original halten.<br />

In einem Manuskript, das ein schon früher beschriebenes<br />

Land beschreibt, treten nicht nur eine eigene Handschrift,<br />

sondern auch eigene Ausdrücke auf, obwohl es <strong>im</strong> Kern<br />

zweifellos dieselbe Beschreibung desselben Landes ist. Und<br />

diese Differenz mehrerer Wiederholungen ein <strong>und</strong> derselben<br />

ersterschienenen Ikone verweist keineswegs auf die Subjektivität<br />

des Dargestellten, auf die Willkür des Ikonenmalers, sondern<br />

<strong>im</strong> Gegenteil gerade auf die lebendige Realität, die, auch<br />

wenn sie sie selbst bleibt, unterschiedlich in Erscheinung treten<br />

kann, je nach den Umständen des geistigen Lebens, das<br />

auch der Ikonenmaler wahrn<strong>im</strong>mt. Wenn man sklavische Kopien,<br />

rein mechanische Reproduktionen beiseite läßt, so ist der<br />

Unterschied zwischen ersterschienener Ikone <strong>und</strong> Wiederholung<br />

in etwa derselbe wie zwischen der Beschreibung eines neu<br />

entdeckten Landes <strong>und</strong> den Eindrücken eines Reisenden, der<br />

es aufgr<strong>und</strong> der Hinweise, die er mitgeteilt bekam, besucht<br />

.82


hat: So wichtig die erste Beschreibung, historisch gesehen,<br />

gewesen sein mag - letztere kann sowohl umfassender als<br />

auch genauer sein. So ist es auch in der Ikonenmalerei, wo die<br />

Wiederholungen sich bisweilen als besonders wertvoll erwiesen<br />

<strong>und</strong> durch außergewöhnliche Zeichen hervorgehoben<br />

wurden, zum Zeugnis ihrer metaphysischen Wahrhaftigkeit<br />

<strong>und</strong> höchsten Entsprechung mit dem Abgebildeten.<br />

Aber in jedem Fall liegt der Ikone eine geistige Erfahrung zugr<strong>und</strong>e.<br />

Entsprechend können die Ikonen je nach der Quelle,<br />

aus der sie hervorgegangen sind, in vier Klassen unterteilt<br />

werden: i) biblische Ikonen, die sich auf die Realität stützen,<br />

die durch Gottes Wort gegeben wurde; 2) Porträtikonen, die<br />

sich auf die eigene Erfahrung <strong>und</strong> das Gedächtnis eines Ikonenmalers<br />

stützen, eines Zeitgenossen der von ihm abgebildeten<br />

Personen <strong>und</strong> Ereignisse, die er nicht nur als äußerlich-faktische,<br />

sondern auch als geistige, durchlichtete sehen<br />

durfte; 3) nach der Überlieferung gemalte Ikonen, die sich<br />

auf mündlich oder schriftlich mitgeteilte fremde geistige Erfahrung<br />

stützen, die in der Vergangenheit liegt; 4) schließlich<br />

erschienene Ikonen, die auf der Gr<strong>und</strong>lage eigener geistiger<br />

Erfahrung des Ikonenmalers, nach einer Vision oder einem<br />

gehe<strong>im</strong>nisvollen Traum, gemalt wurden. Es hieß, »die Ikonen<br />

können unterteilt werden« in die oben angegebenen<br />

Klassen; aber angesichts der abstrakten Klarheit dieser Einteilung<br />

ist nur die letzte Gruppe praktikabel, <strong>und</strong> wenn best<strong>im</strong>mte<br />

Ikonen unstrittig erschienene sind, so gilt dies in einem<br />

gewissen Maß auch für die anderen, selbst für biblische<br />

Ikonen: Die historische Faktizität mancher Ereignisse - dasselbe<br />

gilt für Personen - schließt nicht aus, daß sie in der<br />

Ewigkeit weilen, <strong>und</strong> deshalb besteht auch die Möglichkeit,<br />

sie zu schauen, wenn sich das Bewußtsein über die Zeit erhebt.<br />

Alle Ikonen sind erschienene. Und wenn von einer<br />

Ikone mit Porträtcharakter die Rede ist, so muß sich ja auch<br />

ein solches Werk, um Ikone zu werden, auf eine Vision stüt-<br />

.83


zen, beispielsweise auf eine Vision des Lichts, <strong>und</strong> sei es eines<br />

lebendigen Menschen, so daß sie keinen unmittelbaren Gegensatz<br />

zu den erschienenen Ikonen darstellt. Und was die<br />

Ikonen nach der Überlieferung betrifft, so reicht eine abstrakte<br />

Beschreibung für ein ikonenmalerisch-künstlerisches<br />

Bild nicht aus; deshalb ist es auch hier unumgänglich, mit den<br />

eigenen Augen etwas zu sehen.<br />

Nicht nur in der Ostkirche, in den Zeiten ihrer inneren Festigkeit,<br />

war dieses Verständnis der Ikonen, daß sie nach Visionen<br />

gemalt werden, gr<strong>und</strong>legend - selbst <strong>im</strong> Westen <strong>und</strong><br />

zudem in Zeiten, die der mystischen Schau am fernsten standen,<br />

lebte insgehe<strong>im</strong> der Glaube an das Erschienen-Sein der<br />

Ikonen als Norm der Ikonenmalerei; <strong>und</strong> das, was als wahrhaft<br />

ehrfurchtheischend <strong>und</strong> verehrungswürdig galt <strong>und</strong> gilt,<br />

wurde nicht von der Erde, sondern aus h<strong>im</strong>mlischer Quelle<br />

abgeleitet. Ein verblüffendes Beispiel dafür ist Raphael. In<br />

einem Brief an seinen Fre<strong>und</strong> Baidassare Castiglione hinterließ<br />

er einige rätselhafte Worte, deren Lösung sich in den Manuskripten<br />

Donato d'Angelo Bramantes findet. »Da man so<br />

wenig schöne weibliche Bildungen sieht, so halte ich mich an<br />

ein gewisses Bild <strong>im</strong> Geiste, welches in meine Seele kommt.«<br />

Was heißt dieses »kommt in meine Seele«? Hier die entsprechende<br />

Mitteilung Bramantes:<br />

Zu meinem eigenen Vergnügen, <strong>und</strong> um es mir genau aufzubewahren, will<br />

ich hier einen w<strong>und</strong>erbaren Vorfall aufzeichnen, welchen der teure Raffael,<br />

mein Fre<strong>und</strong>, mir unter dem Siegel der Verschwiegenheit vertraut hat. Als ich<br />

ihm vor einiger Zeit meine Bew<strong>und</strong>erung wegen seiner über alles schön gemalten<br />

Madonnen <strong>und</strong> Heiligen Familien aus vollem Herzen zu erkennen<br />

gab <strong>und</strong> mit recht vielen Bitten in ihn drang, mir doch zu sagen, von woher er<br />

denn in aller Welt die unvergleichliche Schönheit, die rührenden Mienen <strong>und</strong><br />

den unübertrefflichen Ausdruck in seinen Bildern der Heiligen Jungfrau entlehnt<br />

habe; so ward er, nachdem er mich eine Zeitlang mit seiner ihm eigenen<br />

jünglinghaften Schamhaftigkeit <strong>und</strong> Verschlossenheit hingehalten hatte, endlich<br />

sehr bewegt, fiel mir mit Tränen um den Hals <strong>und</strong> entdeckte mir sein<br />

Gehe<strong>im</strong>nis. Er erzählte mir, wie er von seiner zarten Kindheit an <strong>im</strong>mer ein<br />

.84


esondres heiliges Gefühl für die Mutter Gottes in sich getragen habe, so<br />

daß ihm zuweilen schon be<strong>im</strong> lauten Aussprechen ihres Namens ganz wehmütig<br />

zumute geworden sei. Nachher, da sein Sinn sich auf das Malen gerichtet<br />

habe, sei es <strong>im</strong>mer sein höchster Wunsch gewesen, die Jungfrau Maria<br />

recht in ihrer h<strong>im</strong>mlischen Vollkommenheit zu malen; aber er habe es<br />

sich noch <strong>im</strong>mer nicht getraut. In Gedanken habe sein Gemüt beständig an<br />

ihrem Bilde, Tag <strong>und</strong> Nacht, gearbeitet; allein er habe es sich gar nicht zu<br />

seiner Befriedigung vollenden können; es sei ihm <strong>im</strong>mer gewesen, als wenn<br />

seine Phantasie <strong>im</strong> Finstern arbeitete. Und doch wäre es zuweilen wie ein<br />

h<strong>im</strong>mlischer Lichtstrahl in seine Seele gefallen, so daß er die Bildung in hellen<br />

Zügen, wie er sie gewollt, vor sich gesehen hätte; <strong>und</strong> doch wäre das<br />

<strong>im</strong>mer nur ein Augenblick gewesen, <strong>und</strong> er habe die Bildung in seinem Gemüte<br />

nicht festhalten können. So sei seine Seele in beständiger Unruhe herumgetrieben;<br />

er habe die Züge <strong>im</strong>mer nur umherschweifend erblickt, <strong>und</strong><br />

seine dunkle Ahndung hätte sich nie in ein klares Bild auflösen wollen.<br />

Endlich habe er sich nicht mehr halten können <strong>und</strong> mit zitternder Hand ein<br />

Gemälde der Heiligen Jungfrau angefangen; <strong>und</strong> während der Arbeit sei<br />

sein Inneres <strong>im</strong>mer mehr erhitzt worden. Einst, in der Nacht, da er, wie es<br />

ihm schon oft geschehen sei, <strong>im</strong> Traume zur Jungfrau gebetet habe, sei er,<br />

heftig bedrängt, auf einmal aus dem Schlafe aufgefahren. In der finsteren<br />

Nacht sei sein Auge von einem hellen Schein an der Wand, seinem Lager<br />

gegenüber, angezogen worden, <strong>und</strong> da er recht zugesehen, so sei er gewahr<br />

worden, daß sein Bild der Madonna, das, noch unvollendet, an der Wand<br />

gehangen, von dem mildesten Licht strahle <strong>und</strong> ein ganz vollkommenes <strong>und</strong><br />

wirklich lebendiges Bild geworden sei. Die Göttlichkeit in diesem Bilde<br />

habe ihn so überwältigt, daß er in helle Tränen ausgebrochen sei. Es habe<br />

ihn mit den Augen auf eine unbeschreiblich rührende Weise angesehen <strong>und</strong><br />

habe in jedem Augenblick geschienen, als wolle es sich bewegen; <strong>und</strong> es<br />

habe ihn gedünkt, als bewege es sich auch wirklich. Was das w<strong>und</strong>erbarste<br />

gewesen, so sei es ihm vorgekommen, als wäre dies Bild nun gerade das,<br />

was er <strong>im</strong>mer gesucht, obwohl er <strong>im</strong>mer nur eine dunkle <strong>und</strong> verwirrte<br />

Ahndung davon gehabt. Wie er wieder eingeschlafen sei, wisse er sich<br />

durchaus nicht zu erinnern. Am andern Morgen sei er wie neugeboren aufgestanden;<br />

die Erscheinung sei seinem Gemüt <strong>und</strong> seinen Sinnen auf ewig<br />

fest eingeprägt geblieben, <strong>und</strong> nun sei es ihm gelungen, die Mutter Gottes<br />

<strong>im</strong>mer so, wie sie seiner Seele vorgeschwebt habe, abzubilden, <strong>und</strong> er habe<br />

<strong>im</strong>mer selbst vor seinen Bildern eine gewisse Ehrfurcht gefühlt. - Das erzählte<br />

mir mein Fre<strong>und</strong>, mein teurer Raffael, <strong>und</strong> es ist mir dieses W<strong>und</strong>er<br />

so wichtig <strong>und</strong> merkwürdig gewesen, daß ich es für mich, zu meiner Ergötzung<br />

niedergeschrieben habe.<br />

.85


So erklären sich die Worte Raphaels von dem verborgenen<br />

Bild, das manchmal seine Seele besuchte.<br />

Die Ikone als Beglaubigung <strong>und</strong> Proklamation, als Verkündigung<br />

der geistigen Welt durch Farben, ist ihrem eigentlichen<br />

Wesen nach selbstverständlich das Werk dessen, der diese<br />

Welt als heilige sieht, <strong>und</strong> deshalb kommt die Ikonenkunst in<br />

Entsprechung zu dem, was man in weltlicher Sprache als<br />

Kunst bezeichnet, niemand anderem zu als den heiligen Vätern.<br />

Das kirchliche Bewußtsein, das besonders deutlich in<br />

dem bekannten Beschluß des Siebten Ökumenischen Konzils<br />

zum Ausdruck kommt, hält es nicht einmal für nötig, die Ikonenmaler<br />

in diesem eigentlichen <strong>und</strong> höchsten Wortsinn von<br />

der Schar der heiligen Väter zu unterscheiden, vielmehr stellt<br />

es ihnen die Ikonenmaler <strong>im</strong> niedrigen Sinn gegenüber - Kopisten,<br />

meist einfach Handwerker, Meister des Ikonenhandwerks,<br />

oder Ikonniki, wie man sie bei uns in <strong>Rußland</strong> nannte,<br />

die als Schmierer galten, wenn sie ihr Handwerk nachlässig<br />

betrieben; doch indem wir all diese Termini anführen, erklären<br />

wir den Konzilsbeschluß durch das russische Kirchenleben,<br />

leiten sie aber nicht von ihm ab. In den Konzilsakten<br />

wird klar gesagt, daß Ikonen nicht durch den Einfall - έφενρεσις-,<br />

eigentlich die Erfindung, des Malers geschaffen werden,<br />

sondern kraft des unzerstörbaren Gesetzes <strong>und</strong> der<br />

Uberlieferung - ϋεσμοϋεσία και παράδοσις - der Ökumenischen<br />

Kirche, daß es nicht Sache des Ikonenmalers, sondern<br />

der heiligen Väter ist, zu erfinden <strong>und</strong> vorzuschreiben; ihnen<br />

kommt auch das unverbrüchliche Recht der Komposition zu<br />

- διάταξις-, dem Ikonenmaler lediglich die Ausführung, die<br />

Technik - τέχνη.<br />

Seit den fernsten Zeiten der christlichen Antike hat sich die<br />

Anschauung eingebürgert, daß die Ikone ein Gegenstand ist,<br />

der keiner willkürlichen Änderung unterliegt; diese Anschauung<br />

hat sich <strong>im</strong> Lauf der Geschichte gefestigt <strong>und</strong> wurde<br />

besonders nachdrücklich bei uns in <strong>Rußland</strong> in den kirchli-<br />

.86


chen Best<strong>im</strong>mungen des 16. <strong>und</strong> 17.Jahrh<strong>und</strong>erts zum Ausdruck<br />

gebracht. Sie ist durch zahlreiche Handbücher der<br />

Ikonenmalerei in Wort <strong>und</strong> Bild beglaubigt, die durch ihr<br />

bloßes Dasein die Dauerhaftigkeit der Ikonentradition beweisen<br />

<strong>und</strong> in ihren wichtigsten Abschnitten <strong>und</strong> in den<br />

gr<strong>und</strong>legenden Formen auf älteste Zeiten zurückgehen, auf<br />

die ersten Jahrh<strong>und</strong>erte der Kirche - in Teilen <strong>und</strong> Elementen<br />

wurzeln sie nicht selten <strong>im</strong> <strong>und</strong>urchdringlichen Dunkel<br />

der vorchristlichen Geschichte. Verständlich sind die Warnungen<br />

der Handbücher an den Ikonenmeister, daß derjenige,<br />

der es untern<strong>im</strong>mt, Ikonen nicht nach der Uberlieferung,<br />

sondern aus eigener Erfindung zu malen, der ewigen<br />

Marter verfalle.<br />

In diesen Normen des kirchlichen Bewußtseins sehen weltliche<br />

Historiker <strong>und</strong> positivistische Theologen den der Kirche<br />

eigenen Konservativismus, ein greisenhaftes Festhalten an gewohnten<br />

Formen <strong>und</strong> Verfahren, weil die kirchliche Kunst<br />

ausgetrocknet sei - sie werten solche Normen als Hindernisse<br />

für aufkommende Versuche einer neuen kirchlichen Kunst.<br />

Dieses fehlende Verständnis für den kirchlichen Konservativismus<br />

ist zugleich ein fehlendes Verständnis für künstlerisches<br />

Schaffen. Letzteres wurde vom Kanon niemals behindert,<br />

<strong>und</strong> die schwierigen kanonischen Formen waren in allen<br />

Zweigen der Kunst <strong>im</strong>mer nur der Prüfstein, an dem die<br />

Stümper zu Bruch gingen <strong>und</strong> die wahren Begabungen geschliffen<br />

wurden. Indem die kanonische Form den Künstler<br />

auf die von der Menschheit erreichte Höhe erhebt, setzt sie<br />

seine schöpferische Energie zu neuen Errungenschaften frei,<br />

zu schöpferischen Höhenflügen, <strong>und</strong> befreit von der Notwendigkeit,<br />

Gemeinplätze eigenschöpferisch zu wiederholen<br />

: Die Anforderungen der kanonischen Form oder genauer<br />

das Geschenk der kanonischen Form, das die Menschheit<br />

dem Künstler macht, sind Befreiung, nicht Einengung. Der<br />

Künstler, der sich aus Ignoranz vorstellt, er werde ohne ka-<br />

.87


nonische Form etwas Großes schaffen, gleicht einem Fußgänger,<br />

der meint, der feste Boden störe ihn <strong>und</strong> er komme in der<br />

Luft schwebend weiter als auf der Erde. Tatsächlich greift der<br />

Künstler, der die vollkommene Form über Bord geworfen hat,<br />

unbewußt nach Resten <strong>und</strong> Bruchstücken von Formen, sie<br />

sind jedoch zufällig <strong>und</strong> unvollkommen, <strong>und</strong> für diese unbewußten<br />

Reminiszenzen bemüht er dann das Epitheton des<br />

»Schöpfertums«. Umgekehrt will der wahre Künstler nicht<br />

sein Eigenes, koste es, was es wolle, sondern das Schöne, das<br />

Objektiv-Schöne, d. h. die künstlerisch verkörperte Wahrheit<br />

der Dinge, <strong>und</strong> die nebensächliche egoistische Frage, ob er als<br />

erster oder als h<strong>und</strong>ertster von der Wahrheit spricht, beschäftigt<br />

ihn überhaupt nicht. Wenn es nur die Wahrheit ist! - der<br />

Wert des Werkes ist dann von selbst gesichert. Jeder, der sich<br />

mit der Frage befaßt, ob er nach der Wahrheit lebt oder nicht,<br />

nicht aber, ob sein Leben dem des Nachbarn gleicht, lebt für<br />

sich selbst die Wahrheit <strong>und</strong> ist überzeugt, daß ein aufrichtiges<br />

Leben für die Wahrheit notwendig individuell <strong>und</strong> seinem Wesen<br />

nach ganz <strong>und</strong> gar unwiederholbar ist, daß es nur <strong>im</strong> Strom<br />

der Menschheitsgeschichte wahrhaftig sein kann, nicht aber<br />

als vorsätzlich ausgedachtes. Und ebenso ist es <strong>im</strong> künstlerischen<br />

Leben: Auch der Künstler findet, indem er sich auf<br />

menschheitliche Kanones stützt, die hier oder andernorts gef<strong>und</strong>en<br />

wurden, durch sie <strong>und</strong> in ihnen die Kraft, die ursprünglich<br />

geschaute Wirklichkeit zu verkörpern, <strong>und</strong> er hat die feste<br />

Gewißheit, daß sein Werk, wenn es frei ist, sich nicht als Verdoppelung<br />

eines fremden Werkes erweist - obschon ihn nicht<br />

die Übereinst<strong>im</strong>mung mit irgendjemandem beschäftigt, sondern<br />

die Wahrhaftigkeit des Dargestellten. Das Annehmen des<br />

Kanons ist die Empfindung, mit der Menschheit verb<strong>und</strong>en zu<br />

sein, <strong>und</strong> das Bewußtsein, daß sie nicht vergebens gelebt hat<br />

<strong>und</strong> nicht ohne Wahrheit war, daß sie ihr eigenes Verständnis<br />

der Wahrheit, überprüft <strong>und</strong> geläutert durch das Konzil der<br />

Völker <strong>und</strong> Generationen, <strong>im</strong> Kanon festgehalten hat.<br />

.88


Die naheliegendste Aufgabe besteht darin, den Sinn des Kanons<br />

zu verstehen, von innen her in den Kanon als konzentrierte<br />

Vernunft der Menschheit einzudringen <strong>und</strong>, indem<br />

man sich durch geistige Anstrengung auf die höchste Ebene<br />

des Erreichten erhebt, für sich zu best<strong>im</strong>men, wie mir, dem<br />

individuellen Künstler, die Wahrheit der Dinge erscheint;<br />

wohlbekannt ist die Tatsache, daß diese Anstrengung, die eigene<br />

individuelle Vernunft in menschheitliche Formen zu fassen,<br />

die Quelle des Schöpfertums eröffnet. Dagegen beläßt<br />

die schwächliche <strong>und</strong> egoistische Flucht vor den menschheitlichen<br />

Formen den Künstler auf einem Niveau, das unter dem<br />

Erreichten liegt, <strong>und</strong> in diesem Sinn wird er keineswegs persönlich,<br />

sondern bleibt nur zufällig <strong>und</strong> unbewußt; bildlich<br />

gesprochen: Statt der Feder den Finger ins Tintenfaß zu tauchen<br />

<strong>und</strong> auf diese Art irgendwelche Verse zu schreiben, läßt<br />

weder auf individuelle Eigenart noch auf besondere Inspiration<br />

schließen. Je schwieriger <strong>und</strong> je weiter von der Alltäglichkeit<br />

entfernt der Gegenstand der Kunst ist, desto mehr<br />

muß man sich auf einen künstlerischen Kanon der entsprechenden<br />

Art stützen - sowohl aufgr<strong>und</strong> der Verantwortlichkeit<br />

einer solchen Kunst als auch deshalb, weil die hier geforderte<br />

Erfahrung schwer zugänglich ist.<br />

Hinsichtlich der geistigen Welt sucht die stets lebendige <strong>und</strong><br />

schöpferische Kirche keineswegs, die alten Formen als solche<br />

zu verteidigen, sie bringt sie auch nicht in Gegensatz zu den<br />

neuen Formen als solchen. Das kirchliche Kunstverständnis<br />

war, ist <strong>und</strong> wird eines sein - Realismus. Das bedeutet: die<br />

Kirche, »die Säule <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>feste der Wahrheit«, fordert<br />

nur eines - die Wahrheit. Ob es Wahrheit in alten oder in<br />

neuen Formen ist, danach fragt die Kirche nicht, sie fordert<br />

stets nur die Beglaubigung, daß etwas wahr ist, <strong>und</strong> wenn die<br />

Beglaubigung vorliegt, so segnet sie es <strong>und</strong> verleibt es ihrer<br />

Schatzkammer der Wahrheit ein - wenn nicht, weist sie es<br />

zurück.<br />

.89


Wenn hinsichtlich des analysierten Falls der bereits gef<strong>und</strong>ene<br />

<strong>und</strong> ökumenisch überprüfte menschheitliche Kunstkanon<br />

befolgt wird, so besteht die formale Garantie, daß die<br />

fragliche Ikone entweder einfach das wiedergibt, was bereits<br />

als Wahrheit anerkannt ist, oder darüber hinaus noch etwas<br />

offenbart, was gleichfalls wahr ist; wenn aber der Kanon<br />

nicht befolgt wird, so ist dies entweder unterhalb des Zulässigen<br />

oder es bedarf als Neuentdeckung in jedem Fall der Überprüfung.<br />

Und dann muß der Künstler begreifen, was er tut,<br />

<strong>und</strong> zu einer Antwort bereit sein. So kommt die ökumenische<br />

Vernunft der Kirche nicht umhin, Vrubel', Vasnecov, Nesterov<br />

<strong>und</strong> andere neue Ikonenmaler zu fragen, ob sie sich sicher<br />

sind, nicht irgendetwas darzustellen, was sie sich vorstellen<br />

<strong>und</strong> ausdenken, sondern eine tatsächlich existierende Realität,<br />

<strong>und</strong> über diese Realität entweder die Wahrheit gesprochen<br />

<strong>und</strong> insofern eine Reihe ersterschienener Ikonen gegeben<br />

zu haben - die, nebenbei gesagt, quantitativ alles übertreffen<br />

würden, was die heiligen Ikonenmaler <strong>im</strong> Verlauf der<br />

ganzen Kirchengeschichte geschaut haben - oder die Unwahrheit.<br />

Hier geht es nicht darum, ob eine Frau schlecht<br />

oder gut dargestellt wurde, um so mehr, als dieses »schlecht«<br />

oder »gut« in bedeutendem Maß von der Absicht des Künstlers<br />

best<strong>im</strong>mt wird, sondern darum, ob dies tatsächlich die<br />

Gottesmutter ist. Wenn aber diese Künstler zumindest innerlich,<br />

für sich, die Selbstidentität der dargestellten Person nicht<br />

glaubhaft machen können, wenn es jemand anderes ist, findet<br />

dann hier nicht ein gewaltiger geistiger Aufruhr <strong>und</strong> Aufstand<br />

statt, <strong>und</strong> hat dann nicht der Künstler mit dem Pinsel die Unwahrheit<br />

über die Gottesmutter gesprochen? Daß die zeitgenössischen<br />

Künstler ein Modell suchen, wenn sie die geheiligten<br />

Darstellungen malen, ist selbst schon der Beweis, daß sie<br />

das von ihnen dargestellte nichtirdische Bild nicht deutlich<br />

sehen - hätten sie es aber klar vor Augen, so wäre jegliches<br />

fremde Bild, ein Bild, das zudem noch einer anderen Ord-<br />

.90


nung, einer anderen Welt angehört, ein Hindernis, nicht aber<br />

eine Hilfe für das geistige Schauen. Es kommt einem so vor,<br />

als ob die meisten Künstler, da sie nicht deutlich oder <strong>und</strong>eutlich,<br />

sondern einfach nichts sehen, das äußere Bild in Ubereinst<strong>im</strong>mung<br />

mit halbbewußten Erinnerungen an Gottesmutter-Ikonen<br />

leicht abgewandelt haben, wobei sie die festgesetzte<br />

Wahrheit mit dem eigenen Eingriff vermischen <strong>und</strong><br />

es wagen - wissend, was sie tun -, den Namen der Gottesmutter<br />

auf das Werk zu schreiben. Wenn sie aber die Wahrhaftigkeit<br />

ihrer Darstellung nicht glaubhaft machen können<br />

<strong>und</strong> innerlich nicht einmal selbst davon überzeugt sind, heißt<br />

das nicht, daß sie beanspruchen, etwas Zweifelhaftes zu bezeugen,<br />

daß sie das überaus verantwortungsvolle Werk der<br />

heiligen Väter auf sich nehmen <strong>und</strong>, da sie keine solchen sind,<br />

zu Usurpatoren werden <strong>und</strong> sogar falsches Zeugnis ablegen ?<br />

Wenn ein schriftstellernder Theologe das Leben der Gottesmutter<br />

darstellen würde, ohne sich an die kirchliche Überlieferung<br />

zu halten, hätte der Leser da nicht das Recht, ihn nach<br />

seinen Quellen zu fragen? Erhielte er aber keine befriedigende<br />

Antwort, würde er den Theologen nicht zu Recht der<br />

Unwahrheit bezichtigen? Aber der Ikonen malende Theologe<br />

hält, wenn er die Gottesmutter malt, eine solche Unwahrheit<br />

aus irgendeinem Gr<strong>und</strong> für sein Privileg. Und während<br />

man nie auf den Gedanken gekommen ist, Renans Roman,<br />

wie wertvoll er als Roman auch sein mag, statt des Evangeliums<br />

in der Kirche zu lesen, stehen Gemälde, die dieselbe<br />

Bedeutung haben wie »Vie de Jésus«, nicht nur einfach in der<br />

Kirche, sondern beanspruchen auch alle Kulthandlungen, die<br />

den Ikonen erwiesen werden. Indessen sind gerade die Ikonen<br />

eine Verkündigung der Wahrheit an jeden, selbst an den<br />

Analphabeten, während theologische Schriften nur wenigen<br />

zugänglich sind <strong>und</strong> deshalb weniger Verantwortung tragen ;<br />

so manche zeitgenössische Ikone ist ein in der Kirche vor dem<br />

ganzen Volk verkündetes, schreiendes falsches Zeugnis.<br />

.91


Die Künstler der Renaissance, die durch den Kanon in keiner<br />

Weise geb<strong>und</strong>en waren, arbeiteten stets mit einem sehr engen<br />

Kreis gr<strong>und</strong>legender ikonographischer Themen, obwohl niemand<br />

sie dazu nötigte - in einigen Aspekten folgten sie sogar<br />

der kirchlichen Uberlieferung; dies zeigt, in welchem Maß<br />

der Künstler das Bedürfnis nach einer Norm empfindet. Und<br />

wie geringfügig die kirchliche Norm den Ikonenmaler einschränkt,<br />

selbst wenn man sie aufs strengste befolgt, das zeigt<br />

deutlich ein Vergleich alter Ikonen gleichen Themas, ja derselben<br />

Vorzeichnung: Man wird keine zwei Ikonen finden,<br />

die identisch sind, <strong>und</strong> die Ähnlichkeit, die man be<strong>im</strong> ersten<br />

Betrachten feststellt, bestärkt nur die vollkommene Eigenart<br />

des individuellen Zugangs jeder einzelnen Ikone. In welcher<br />

Art ein neues Schaffen, das von der Berührung mit einer<br />

neuen Erfahrung der h<strong>im</strong>mlischen Sakramente ausgeht, in<br />

den schon geoffenbarten kanonischen Formen Platz findet -<br />

wie in einem gemachten Nest -, das zeigt ferner die Dreifaltigkeit<br />

von Rublev. Dieses Sujet der drei Engel an der Tafel<br />

existierte seit den ältesten Zeiten in der kirchlichen Kunst <strong>und</strong><br />

war kanonisch festgelegt. In diesem Sinn hat der Ehrwürdige<br />

Andrej Rublev nichts Neues erdacht, <strong>und</strong> wenn man sie äußerlich,<br />

archäologisch wertet, so steht seine Ikone der Dreifaltigkeit<br />

in einer langen Reihe ihr vorangehender - beginnend<br />

mit dem 4. bis 6. Jahrh<strong>und</strong>ert - <strong>und</strong> ihr folgender Darstellungen<br />

der urväterlichen Gastfre<strong>und</strong>schaft. Diese Darstellungen<br />

waren ihrem archäologischen Sinn nach Ikonen,<br />

die eine Vita illustrierten, nämlich die des Urvaters Abraham,<br />

<strong>und</strong> in dieser Eigenschaft zusätzlich eine Präfiguration der<br />

kommenden Offenbarung der Heiligen Dreifaltigkeit. Eigentlich<br />

aber war die trinitarische Bedeutung dieser Ikonen in<br />

derselben Weise präfigurativ wie die Bedeutung des Zugs der<br />

Juden durch das Rote Meer - Präfiguration der Taufe - oder<br />

des brennenden Dornbuschs - Präfiguration der Gottesmutter<br />

-: Man mag letztere Darstellung, selbst die vollkommen-<br />

.92


ste, noch so genau betrachten, man wird doch keine sichtbare<br />

Anspielung auf die Heilige Jungfrau finden. Genauso konnte<br />

auch das Erscheinen der Wanderer bei Abraham nur in abstrakter<br />

Weise den Gedanken zum Dogma der Dreifaltigkeit<br />

führen, stellte aber an sich das Schauen der Heiligen Dreifaltigkeit<br />

nicht dar.<br />

Im 14. Jahrh<strong>und</strong>ert wurde diesem Dogma aus unterschiedlichen<br />

Gründen die besondere Aufmerksamkeit der Ökumenischen<br />

Kirche zuteil, es erhielt eine präzise Formulierung.<br />

Vollender dieses Werks wurde der »Verehrer der Heiligen<br />

Dreifaltigkeit«, der Ehrwürdige Sergij von Radonez, der das<br />

Mittelalter krönte. Er erfaßte den h<strong>im</strong>mlischen Azur, die ungetrübte<br />

jenseitige Welt, die in den Schoß der ewigen vollkommenen<br />

Liebe verströmt, als Gegenstand des Schauens,<br />

als Gebot der Verkörperung <strong>im</strong> ganzen Leben, als F<strong>und</strong>ament<br />

des kirchlichen, persönlichen, staatlichen, gesellschaftlichen<br />

Baus. Er sah das Bild dieser Liebe in die kanonischen Formen<br />

der Gotteserscheinung <strong>im</strong> Hain Mamre gelegt. Diese seine<br />

Erfahrung - eine neue Erfahrung, eine neue Vision der geistigen<br />

Welt - nahm von ihm der Ehrwürdige Andrej Rublev<br />

entgegen, geführt von dem Ehrwürdigen Nikon: So malte er,<br />

»dem Vater Sergij zum Lob«, die Ikone der Dreifaltigkeit.<br />

Heute ist sie nicht mehr eine der Darstellungen aus einer Heiligenvita,<br />

ihre Beziehung zum Hain Mamre ist nur noch Rud<strong>im</strong>ent.<br />

Diese Ikone zeigt in einer eindrucksvollen Vision die<br />

Heilige Dreifaltigkeit Selbst - eine neue Offenbarung, wenn<br />

auch unter der Hülle alter <strong>und</strong> zweifellos weniger bedeutender<br />

Formen. Aber diese alten Formen beeinträchtigten die<br />

neue Offenbarung gerade aus dem Gr<strong>und</strong> nicht, weil sie nicht<br />

erf<strong>und</strong>en waren, sondern eine echte Wirklichkeit zum Ausdruck<br />

brachten, <strong>und</strong> auch die neue klarere <strong>und</strong> bewußtere<br />

Offenbarung nichts subjektiv Erdachtes war, sondern eine<br />

Offenbarung eben dieser Wirklichkeit. Kann es denn wirklich<br />

erstaunen, wenn in dem Umriß einer Vision, die einst als<br />

.93


Schatten einer künftigen Wahrheit gesehen, aber seinerzeit<br />

nicht bis in die später bewußt gewordene Tiefe verstanden<br />

wurde, dieselbe Vision, fest umhüllt von ihr, vollständig<br />

Platz findet, genauer gesagt: die Vision derselben Realität,<br />

aber nach tausendjähriger geistiger Arbeit der Menschheit geschaut,<br />

als sich in einem begnadeten Geist die erforderlichen<br />

Organe des Verständnisses entwickelt hatten? In diesem Augenblick<br />

entfielen auch die historischen Einzelheiten der Komposition<br />

von selbst, <strong>und</strong> die Ikone Rublevs, genauer des Ehrwürdigen<br />

Sergij, die alte <strong>und</strong> die neue zugleich, die ersterschienene<br />

<strong>und</strong> die Wiederholung, wurde zu einem neuen Kanon,<br />

einem neuen Paradigma, das vom Bewußtsein der Kirche<br />

bestätigt <strong>und</strong> durch das H<strong>und</strong>ert-Kapitel-Konzil <strong>und</strong> andere<br />

russische Konzile als Norm festgelegt wurde.<br />

Je ontologischer eine geistige Erkenntnis ist, um so unstrittiger<br />

wird sie als etwas längst Bekanntes, längst vom Bewußtsein<br />

der Menschheit Erwartetes aufgenommen. Und sie ist<br />

ja tatsächlich eine freudige K<strong>und</strong>e aus vertrauten Tiefen des<br />

Seins, eine vergessene, aber insgehe<strong>im</strong> gehegte Erinnerung an<br />

die geistige He<strong>im</strong>at. Tatsächlich nehmen wir ja, wenn wir eine<br />

Offenbarung bekommen von einem, der in diese He<strong>im</strong>at eingedrungen<br />

ist, diese nicht von außen wahr, sondern wir erinnern<br />

uns an sie: Die Ikone ist die Erinnerung an ein höheres<br />

<strong>Urbild</strong>. Aus diesem Gr<strong>und</strong> kleidet sich ein oberflächliches<br />

<strong>und</strong> auf krummen Wegen erreichtes Eindringen in die geistige<br />

Welt in ungewöhnliche, rätselhaft komponierte Formen, eine<br />

Art Rebus der geistigen Welt; die darstellende Kunst steht an<br />

der Grenze zur verbalen Erzählung, aber ohne die verbale<br />

Klarheit. Das Symbol degeneriert dann <strong>im</strong> Extremfall zur Allegorie.<br />

Das heißt nicht, daß ein solches allegorisiertes Symbol<br />

auch <strong>im</strong> Bewußtsein seines Erfinders unbedingt eine Abstraktion<br />

war. Seine kontemplative Anschaulichkeit <strong>und</strong> der<br />

direkte Übergang zum Bezeichneten mittels des Symbols sind<br />

jedoch nur wenigen zugänglich, <strong>und</strong> in diesem Sinn, als Er-<br />

.94


scheinung einer Abspaltung von der Menschheit, werden solche<br />

Symbole in Gegensatz zu den echten Symbolen <strong>und</strong> den<br />

konziliarischen Zeichen gebracht, <strong>und</strong> werden ferner, wenn<br />

sie über diese gestellt werden, leicht zu Quellen der Häresie,<br />

d.h. einer Absonderung, auf Lateinisch: einer Sekte.<br />

Seit dem Ende des 16. Jahrh<strong>und</strong>erts schleicht sich zusammen<br />

mit dem allgemeinen Niveauverlust des kirchlichen Lebens<br />

dieser Geist des Allegorismus in die russische Ikonenmalerei<br />

ein, die Kehrseite einer ontologischen Banalisierung <strong>und</strong><br />

Schwerfälligkeit, die sich nur noch mit Mühe über das sinnliche<br />

Gebiet erhebt. Die Unfähigkeit, das Jenseitige ganz deutlich<br />

zu sehen, möchte der Ikonenmaler durch die Komplexität<br />

theologischer Konstruktionen kompensieren; so vereinigen<br />

sich in der Ikone theologischer Rationalismus <strong>und</strong> die<br />

Typik diesseitiger Bilder; jener degeneriert in der Folge zu<br />

abstrakten Schemata, die bedingt zum Ausdruck kommen in<br />

den Verfallserscheinungen letzterer, in Sinnlichkeit <strong>und</strong> weltlicher<br />

Frivolität. Das ist das traurige Ende <strong>im</strong> iS.Jahrh<strong>und</strong>ert,<br />

das um so freudloser ist, als gerade in <strong>Rußland</strong> die darstellende<br />

Kunst einen in der Weltgeschichte einzigartigen<br />

Gipfel innehatte.<br />

Die russische Ikonenmalerei des 14. <strong>und</strong> 1 J.Jahrh<strong>und</strong>erts erreichte<br />

eine Vollkommenheit der Darstellung, die in der Geschichte<br />

der Weltkunst nicht ihresgleichen hat; in einem best<strong>im</strong>mten<br />

Sinn läßt sich ihr nur die griechische Skulptur an die<br />

Seite stellen - auch sie eine Verkörperung geistiger Bilder,<br />

auch sie nach leuchtendem Aufstieg durch Rationalismus <strong>und</strong><br />

Sinnlichkeit zerfallen. Und da, auf diesem ihrem Gipfel, offenbart<br />

die Ikonenmalerei, die nicht einen Hauch von Allegorismus<br />

kennt, dem Geist ihre lichten Visionen einer ursprünglichen<br />

Reinheit in so unmittelbar wahrnehmbaren Formen,<br />

daß man sie als wahrhaft menschheitliche Kanones anerkennt;<br />

<strong>und</strong> weil diese Formen in erster Linie Offenbarungen<br />

des Lebens in Christus sind, reinste Erscheinung des eigent-<br />

.95


lieh kirchlichen Schöpfertums, sind sie als Urformen das heiligste<br />

Vermächtnis der Menschheit. Wir erkennen in ihnen<br />

in Teilen <strong>und</strong> vereinzelt, was die antiken Kulturen entdeckt<br />

hatten: Züge des Zeus <strong>im</strong> Christus Pantokrator, Züge der<br />

Athene <strong>und</strong> der Isis in der Gottesmutter usw., so daß »die<br />

Weisheit aus ihren Werken gerechtfertigt« wird. Ja, die geistigen<br />

Visionen, diese Werke der durch die ganze Weltgeschichte<br />

vorbereiteten antiken Weisheit zeigten durch ihre<br />

wesenhafte Wahrheit, daß die Weisheit in ihren Ahnungen<br />

<strong>und</strong> Anspielungen Recht hatte. Man kann sagen, je ontologischer<br />

eine Vision, desto menschheitlicher die Form, durch die<br />

sie zum Ausdruck kommt, ähnlich wie die geheiligten Worte,<br />

die die größten Gehe<strong>im</strong>nisse betreffen, die einfachsten sind:<br />

Vater <strong>und</strong> Sohn, Geburt, das verfaulende <strong>und</strong> sprießende<br />

Korn, Braut <strong>und</strong> Bräutigam, Brot <strong>und</strong> Wein, das Wehen des<br />

Windes, die Sonne mit ihrem Licht usw. Die kanonische<br />

Form ist die natürlichste Form, wie sie sich einfacher nicht<br />

denken läßt, während Abweichungen von den kanonischen<br />

Formen einschränkend <strong>und</strong> künstlich sind - wie würden die<br />

freien Künstler aufschreien, würden irgendwelche Darstellungsformen,<br />

die einer von ihnen fand, zur Norm erhoben!<br />

Leicht atmet es sich <strong>im</strong> Gegensatz dazu in den kanonischen<br />

Formen: Sie entwöhnen des Zufälligen, des <strong>im</strong> Werk die Bewegungen<br />

Behindernden. Je sicherer <strong>und</strong> fester der Kanon,<br />

um so tiefer <strong>und</strong> reiner drückt er ein menschheitliches geistiges<br />

Bedürfnis aus: das Kanonische ist kirchlich, das Kirchliche<br />

ökumenisch, das Ökumenische aber menschheitlich.<br />

Und deshalb offenbart die Reinigung der Seele durch Askese,<br />

die alles Subjektive <strong>und</strong> Zufällige beseitigt, dem Asketen die<br />

ewige ursprüngliche Wahrheit der menschlichen Natur, der<br />

nach Christus geschaffenen Menschheit, d.h. der absoluten<br />

Gr<strong>und</strong>pfeiler der Kreatur; der Asket findet in der Tiefe des<br />

eigenen Geistes das, was <strong>im</strong> Verlauf der Geschichte zuvor<br />

schon zum Ausdruck gekommen war <strong>und</strong> zum Ausdruck<br />

.96


ι Pavel Florenskij zu Ende der Gymnasialzeit, Tiflis 1899


3 Michail Novoselov <strong>und</strong> Pavel Florenskij, 1913


Виды Сергк'векаге посада<br />

Долгая у лила<br />

4, 5 Ansichten von Stadt <strong>und</strong> Dreifaltigkeit-Sergius-<br />

Kloster in Sergiev Posad (Zagorsk), zeitgenössische<br />

Postkarten (um 1910)


MAKOBED;<br />

>KyPHAJl HCKyCCTB<br />

№ 2<br />

l·.<br />

MOCKB A — !922<br />

t o.u;rK|»wi*»t, .1, H - ״ · . ״״, ״<br />

II T> 3 «-׳ii « : II, .VTITT>KO.!T,i-KHÜ,<br />

Ilit'ÖJIIM. J". lit,tii)I|ji׳H, B. ll.II.HIIA,<br />

I IC«.<br />

.1. iltiTiiii. II. ;{«m.it.nni, K. 3«·-<br />

«. B. Iii·«-״·.״,. «'. I'״«,«ii).<br />

<strong>im</strong>»». B 'i>׳k|«.ii׳iiH, H. , i. puhi<br />

nie», A. IIII'B'II'IIKI»,<br />

6 Titelseite des 2.Heftes von »Mäkovec, Zeitschrift der<br />

Künste «(19 22), mit einer Zeichnung von Vasilij Cekry gin<br />

(Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Berlin)


7 Pavel Florenskij mit seiner Tochter Marija, 1926


8 Pavel Florenskij um 1928


9 Pavel Florenskij in der Verbannung in Niznij Novgorod<br />

(Gor'kij), 1928


11 Wohnhaus Florenskijs während der 20er <strong>und</strong> 30er Jahre<br />

in der ulica Pionerskaja 19 in Zagorsk (Aufnahme von<br />

Michael Hagemeister 1988)<br />

12 Pavel Florenskij mit seiner Familie, um 1930


Pavel Florenskij mit Frau <strong>und</strong> Sohn nach der Beerdigung<br />

Raisas, der Schwester Florenskijs, 1932


!4 Pavel Florenskij 1932


kommen mußte. Aus seiner Tiefe sieht der Asket auch <strong>im</strong><br />

Getriebe des Tages die Schönheit des Sternenh<strong>im</strong>mels.<br />

Mir kommt hier aus irgendeinem Gr<strong>und</strong> der Starez Amvrosij<br />

aus Optina mit seiner Ikone in den Sinn, der Ikone der<br />

Gottesmutter, »die das Getreide wachsen läßt«, von einem<br />

Künstler gemalt, der den Pinsel mit naturalistischer Fertigkeit,<br />

wenn auch nicht sehr sensibel handhabte. Aus der kleinen<br />

Zelle eines Provinzklosters <strong>im</strong> Gouvernement Kaluga<br />

gibt ein einfacher, bescheidener Greis in völligem Gegensatz<br />

zur ganzen St<strong>im</strong>mung der kirchlichen Intelligenz, <strong>im</strong> Gegensatz<br />

zum Synod einen ungewöhnlichen Anstoß, die Gute<br />

Göttin zu malen: Denn was ist die Gottesmutter, »die das<br />

Getreide wachsen läßt«, anderes als eine Vision der Gottesmutter<br />

in dem Bild, in der kanonischen Form der Mutter des<br />

Korns - der Demeter? Jenseits der geistlosen malerischen<br />

Verfahren der achtziger Jahre beginnt man gefühlsmäßig, gerade<br />

diese gehe<strong>im</strong>nisvolle Vision zu begreifen, das Ja der Kirche<br />

zu dem antiken Bild der segenbringenden Demeter, in<br />

dem die Griechen einen Teil ihrer Ahnungen der Gottesmutter<br />

zusammenfaßten.<br />

Im eigentlichen <strong>und</strong> genauen Wortsinn können nur Heilige<br />

Ikonenmaler sein, <strong>und</strong> vielleicht waren die meisten Heiligen<br />

in dem Sinn künstlerisch tätig, daß sie mit ihrer geistigen Erfahrung<br />

den Ikonenmalern die Hände führten, die in technischer<br />

Hinsicht erfahren genug waren, die h<strong>im</strong>mlischen Visionen<br />

verkörpern, <strong>und</strong> gebildet genug, die Ratschläge eines segenbringenden<br />

Lehrers aufnehmen zu können. Die Möglichkeit<br />

einer solchen Zusammenarbeit kann nicht erstaunen: In<br />

früheren Zeiten, als die Menschen in stärkerem Zusammenhalt<br />

<strong>und</strong> größerer Gemeinschaftlichkeit lebten, wurde kulturelle<br />

Arbeit durchweg gemeinsam vollbracht; Beispiele dafür<br />

sind die Malerateliers <strong>und</strong> Arteli, die sich um einen großen<br />

Meister bildeten, selbst noch zu Zeiten, als die Individualität<br />

<strong>im</strong>mer machtvoller hervortrat. Im Mittelalter, als die Men-<br />

.97


sehen bewußtseinsmäßig zusammengeschweißt waren <strong>und</strong><br />

unter der Führung eines anerkannten geistigen Führers standen,<br />

war die gemeinschaftliche Organisation des Ikonenmalens<br />

besonders ausgeprägt. Wenn sogar das Evangelium <strong>und</strong><br />

andere Heilige Bücher unter Anleitung entstanden - das Markus-Evangelium<br />

unter der des Apostels Petrus, das Lukas-<br />

Evangelium <strong>und</strong> die Apostelgeschichte unter der des Apostels<br />

Paulus -, kann es da verw<strong>und</strong>ern, wenn die Techniker des<br />

Pinsels, der Offenbarung der ewigen Schönheit untenan, die<br />

ihnen von den Heiligen verkündet wurde, sie auf den Ikonen<br />

darstellten, beaufsichtigt <strong>und</strong> überprüft von den Heiligen?<br />

Doch nicht <strong>im</strong>mer war die Technik des Pinsels demjenigen<br />

nicht geläufig, der die h<strong>im</strong>mlischen Ideen selbst schaute -<br />

durch die ganze Geschichte der christlichen Kirche zieht sich<br />

wie ein goldener Faden die Tradition der <strong>im</strong> eigentlichen Sinn<br />

heiligen Ikonenmalerei. Beginnend mit den ersten Zeugen des<br />

fleischgewordenen Wortes <strong>und</strong> weiter durch alle Jahrh<strong>und</strong>erte<br />

treten <strong>im</strong>mer wieder Heilige auf, die selbst Ikonenmaler<br />

sind, <strong>und</strong> Ikonenmaler, die selbst Heilige sind. Uns ist eine<br />

Liste - ohne Anspruch auf Vollständigkeit - all dieser heiligen<br />

Ikonniki bekannt, angeführt von dem Evangelisten Lukas.<br />

Solchen Ikonenmalern <strong>und</strong> ihresgleichen obliegt das Schöpfertum<br />

in der Ikonenmalerei, ihnen obliegen die neuen Ikonen,<br />

die ersterschienenen. Darüber hinaus muß aber das erneut<br />

erschienene Zeugnis der geistigen Welt vervielfältigt<br />

werden. Und ebenso wie das Wort vom Geistigen der Abschreiber<br />

bedarf, bedarf die Gestalt des Geistigen der Ikonenmaler,<br />

die es wiederholen, der Kopisten. Es ist nicht erforderlich,<br />

daß sie mit Adlerblick in den H<strong>im</strong>mel schauen; sie dürfen<br />

der Geistigkeit aber auch nicht so fernstehen, daß sie nicht<br />

fühlen, wie wichtig <strong>und</strong> verantwortungsvoll ihr Werk als<br />

Zeugnis oder genauer: als Mitwirkung am Zeugnis ist. Diese<br />

Ikonniki sind nicht Handwerker, die um des Erwerbs willen<br />

Ikonen malen, aber genauso etwas ganz anderes malen könn-<br />

.98


ten, nicht Techniker ihrer Arbeit, die <strong>im</strong> übrigen der Kirche<br />

angehören — oder vielleicht auch nicht -, sondern sie sind Träger<br />

eines besonderen kirchlichen Amtes. Sie haben <strong>im</strong> Bewußtsein<br />

der Kirche einen best<strong>im</strong>mten Rang innerhalb der<br />

heiligen Organisation des Kultes, sie nehmen einen best<strong>im</strong>mten<br />

Platz in der Theokratie ein <strong>und</strong> werden von den Mitgliedern<br />

der Kirche ausdrücklich als Ikonenmaler anerkannt. Ihr<br />

Platz ist zwischen Altfirdienern <strong>und</strong> gewöhnlichen Laien. Ihnen<br />

ist ein besondere: Leben vorgeschrieben, ein halb mönchisches<br />

Verhalten, <strong>und</strong> sie unterstehen der besonderen Aufsicht<br />

des Metropoliten, des örtlichen Bischofs <strong>und</strong> der ausdrücklich<br />

bestellten Ikonen-Altesten. Die Kirche hält die<br />

Ikonenmaler in hohen Ehren, sie ist bemüht, diesem kirchlichen<br />

Rang verschiedene Vergünstigungen zukommen zu lassen,<br />

in einigen Fällen sogar außergewöhnliche Belohnungen,<br />

wie beispielsweise <strong>im</strong> 18.Jahrh<strong>und</strong>ert die unerhörte Verleihung<br />

des Adelstitels an S<strong>im</strong>on Usakov. Andererseits hält es<br />

die Kirche für nötig, nicht nur ihre Arbeit zu überwachen,<br />

sondern auch sie selbst.<br />

Die Ikonenmaler sind keine einfachen Menschen: Sie nehmen,<br />

verglichen mit anderen Laien, die höchste Stellung ein.<br />

Sie müssen demütig <strong>und</strong> bescheiden sein, seelische wie auch<br />

körperliche Reinheit wahren, regelmäßig fasten <strong>und</strong> beten<br />

<strong>und</strong> sich häufig mit dem geistlichen Vater beraten. Solche<br />

Ikonenmaler werden von den Bischöfen behütet <strong>und</strong> »mehr<br />

als einfache Menschen« geehrt. Wenn andererseits ein Ikonenmaler<br />

die genannten Forderungen nicht einhält, so sagt er<br />

sich von seinem Werk los <strong>und</strong> ist <strong>im</strong> künftigen Leben zu ewigen<br />

Martern verurteilt. Aber dies sind die obligatorischen<br />

Anforderungen; tatsächlich haben die Ikonenmaler höhere<br />

Anforderungen an sich selbst gestellt, durch die sie <strong>im</strong> eigentlichen<br />

Sinn zu Asketen wurden.<br />

Nicht »der Ordnung halber«, wie man so sagt, hält die Kirche<br />

es für nötig, dem Ikonenmaler die Einsicht zu vermitteln,<br />

.99


daß sein Werk ein erhabener <strong>und</strong> heiliger Dienst ist: Sie ist<br />

bemüht, den Faden der Zeugenaussagen nicht abreißen zu<br />

lassen, der sich ununterbrochen von Christus, dem Erstzeugen<br />

selbst, bis in den innersten Kern der kirchlichen Verkörperung<br />

spannt. Die Arterie, die den Leib der Kirche mit<br />

h<strong>im</strong>mlischer Flüssigkeit nährt, darf nirgendwo verunreinigt<br />

werden, <strong>und</strong> die kirchlichen Regeln sind darauf gerichtet, das<br />

freie Strömen der Gnade vom Haupt der Kirche bis zum<br />

kleinsten Organ zu sichern. Gewiß, je weiter sich der Strom<br />

des Zeugenbluts verzweigt, um so weniger gefährlich für das<br />

Leben des ganzen Leibes der Kirche wird die Verunreinigung<br />

eines Kapillargefäßes. Dennoch soll noch jede kopierte Ikone,<br />

wie sie zu Millionen von den Ikonenmalern reproduziert<br />

werden, die echte Realität einer anderen Welt möglichst lebendig<br />

bezeugen, <strong>und</strong> wenn ihr Zeugnis <strong>und</strong>eutlich oder gar<br />

verworren, möglicherweise sogar falsch ist, so muß dies einer<br />

oder vielen christlichen Seelen einen nicht wieder gut zu machenden<br />

Schaden zufügen, wie andererseits ihre geistige<br />

Wahrhaftigkeit den Menschen helfen, sie stärken wird.<br />

Ikonen müssen in Ubereinst<strong>im</strong>mung mit den beglaubigten<br />

Bildern des geistigen Seins gemalt werden, »nach Bild, Ebenbild<br />

<strong>und</strong> Wesen«. Andernfalls kann die Kirche nicht sicher<br />

sein, ob nicht dieses oder jenes ihrer Organe abstirbt. In diesem<br />

Sinn ist die genaue Aufsicht über die Ikone verständlich,<br />

die die Bestätigung bzw. die Ablehnung von nicht dem Kanon<br />

entsprechenden Ikonen durch die ausdrücklich für diese<br />

Angelegenheit eingesetzten Ältesten einschließt. Eine Ikone<br />

wird eigentlich erst dann zur Ikone, wenn die Kirche die Entsprechung<br />

zwischen dargestelltem Bild <strong>und</strong> darzustellendem<br />

<strong>Urbild</strong> anerkannt hat oder, anders ausgedrückt, das Bild benannt<br />

hat. Das Recht der Benennung, d.h. der Bestätigung<br />

der Selbstidentität der auf der Ikone dargestellten Person,<br />

kommt ausschließlich der Kirche zu, <strong>und</strong> wenn es sich ein Ikonenmaler<br />

erlaubt, eine Aufschrift auf die Ikone zu setzen,<br />

IOO


ohne die nach der kirchlichen Lehre die Darstellung keine<br />

Ikone ist, so entspricht dies <strong>im</strong> Kern der Unterzeichnung eines<br />

offiziellen Dokuments für eine andere Person <strong>im</strong> bürgerlichen<br />

Leben. Für mich wird das Amt der Ikonen-Ältesten<br />

dadurch gekrönt, daß sie die Ikonen <strong>im</strong> Auftrag des Bischofs<br />

mit dem Namen der Heiligen beschriften: Die auf vielen Ikonen<br />

erhaltenen aufgetriebenen Metallplättchen mit nachlässiger,<br />

in Eile in Ruß oder Öl geschriebener Aufschrift des Namens<br />

des Heiligen stammen eindeutig nicht von dem Ikonenmaler<br />

selbst <strong>und</strong> wirken wie die Unterschrift eines Vorgesetzten<br />

auf amtlichen Schriftstücken, die ein Sekretär oder Schreiber<br />

geschrieben hat. Natürlich wird man davon ausgehen,<br />

daß dies tatsächlich die Bestätigung oder Beglaubigung der<br />

Ikonen durch die Ikonen-Aufsicht ist.<br />

Es reicht aber nicht aus, die Ikonen nachträglich zu überprüfen.<br />

Wenn sie wirklich ein anschauliches Zeugnis der Ewigkeit<br />

sind, wie kann dann ein solches Zeugnis von einem Menschen<br />

stammen, der der Geistigkeit in seinem Wesen fern<br />

steht? Das ist der Gr<strong>und</strong>, warum die Kirche fürchtet, daß die<br />

Ganzheit des Kultus zerbricht, wenn der Ikonenmaler sich<br />

nicht an eine best<strong>im</strong>mte Lebens-Ordnung hält. So entstehen<br />

die Anforderungen, die an das persönliche Leben des Ikonenmalers<br />

gestellt werden. Besonders nachdrücklich wurden sie<br />

gerade zu dem Zeitpunkt ausgesprochen, als die Ikonenmalerei<br />

ihren höchsten Punkt schon erreicht hatte, <strong>im</strong> 43.Kapitel<br />

der Beschlüsse des H<strong>und</strong>ert-Kapitel-Konzils.<br />

Die Best<strong>im</strong>mung des Konzils lautet folgendermaßen:<br />

In der Residenzstadt Moskau <strong>und</strong> in allen übrigen Städten sollen nach dem<br />

Beschluß des Zaren der Metropolit, die Erzbischöfe <strong>und</strong> Bischöfe die verschiedenen<br />

Kirchenordnungen überwachen, besonders aber die heiligen Ikonen<br />

<strong>und</strong> die Ikonenmaler <strong>und</strong> die übrigen Kirchenordnungen, entsprechend<br />

dem heiligen Kanon; ferner sollen sie best<strong>im</strong>men, wie der Maler leben muß,<br />

daß er Sorgfalt wende auf die Gestalt der fleischlichen Darstellung Gottes des<br />

Herrn sowie unseres Erlösers Jesus Christus, seiner Reinsten Mutter, der<br />

.IOI


h<strong>im</strong>mlischen Mächte <strong>und</strong> aller Heiligen, die Gott zu allen Zeiten wohlgefällig<br />

waren.<br />

Der Maler soll demütig, bescheiden <strong>und</strong> gottesfürchtig sein, er meide Geschwätz,<br />

Späße, Hader, Neid, Trunksucht, Raub <strong>und</strong> Totschlag, insbesondere<br />

richte er seine ganze Sorge darauf, seelisch <strong>und</strong> körperlich rein zu bleiben<br />

; vermag er dies aber nicht ganz <strong>und</strong> gar, soll er nach dem Gesetz heiraten<br />

<strong>und</strong> die Ehe schließen. Er soll oftmals zum Beichtvater gehen <strong>und</strong> ihm alles<br />

k<strong>und</strong>tun <strong>und</strong> nach seiner Unterweisung <strong>und</strong> Lehre in Fasten <strong>und</strong> Gebet <strong>und</strong><br />

Enthaltsamkeit mit demütigem Sinn leben, ohne jeglichen Sch<strong>im</strong>pf <strong>und</strong> ohne<br />

Ungebührlichkeit. Mit größter Sorgfalt soll er das Bild unseres Herrn Jesus<br />

Christus, seiner Reinsten Gottesmutter, der heiligen Propheten, Apostel,<br />

Märtyrer <strong>und</strong> Märtyrerinnen, der ehrwürdigen Frauen <strong>und</strong> Metropoliten<br />

<strong>und</strong> der ehrwürdigen Väter nach Bild <strong>und</strong> Ebenbild <strong>und</strong> Wesen malen, wobei<br />

er auf das Bild der alten Meister schaue <strong>und</strong> nach guten Vorbildern anzeichne.<br />

Und wenn die heutigen Meister-Maler geloben, daß sie so leben <strong>und</strong> alle<br />

Gebote befolgen <strong>und</strong> Sorgfalt auf das Gotteswerk wenden werden, so wird<br />

auch der Zar solchen Malern gewogen sein, <strong>und</strong> der Metropolit wird für sie<br />

Sorge tragen <strong>und</strong> sie höher ehren als einfache Menschen.<br />

Sie sollen Schüler aufnehmen <strong>und</strong> sie in allem beaufsichtigen, sie jedwede<br />

Gottesfurcht <strong>und</strong> Reinheit lehren <strong>und</strong> sie zum Beichtvater führen. Die Väter<br />

aber weisen sie nach den von den Metropoliten überlieferten Regeln an, wie<br />

ein Christ ohne Sch<strong>im</strong>pf <strong>und</strong> Ungebührlichkeit zu leben <strong>und</strong> mit Aufmerksamkeit<br />

von ihren Meistern zu lernen. Und wenn Gott einem eine solche<br />

Fertigkeit offenbart <strong>und</strong> der Meister ihn zum Metropoliten führt, wird der<br />

Metropolit, nachdem er geprüft hat, ob der Schüler nach Bild <strong>und</strong> Ebenbild<br />

malt, <strong>und</strong> nachdem er in Erfahrung gebracht hat, ob er in Reinheit <strong>und</strong><br />

Frömmigkeit nach den Geboten <strong>und</strong> ohne jedwede Ungebührlichkeit lebt,<br />

<strong>und</strong> ihn gesegnet hat, ihn unterweisen, auch fürderhin fromm zu leben <strong>und</strong><br />

an diesem Werk mit Eifer festzuhalten, <strong>und</strong> der Schüler wird von ihm - wie<br />

sein Lehrer- mehr Ehre empfangen als einfache Menschen. Danach wird der<br />

Metropolit den Meister anweisen, daß er Bruder, Sohn <strong>und</strong> Nahestehende<br />

nicht begünstige. Wem Gott nicht diese Fähigkeit gibt, der wird schlecht<br />

malen oder nach einem falschen Gebot leben. Würde der Meister aber sagen,<br />

dieser sei geschickt <strong>und</strong> in allem würdig, <strong>und</strong> das Werk eines anderen, nicht<br />

seines, zeigen, so wird der Metropolit einen solchen Meister nach der Untersuchung<br />

mit dem vorgesehenen Verbot belegen, damit andere die Furcht ankomme<br />

<strong>und</strong> sie nicht wagen, ebensolches zu tun; jener Schüler aber darf<br />

nichts mehr mit der Ikonenmalerei zu tun haben. Wenn Gott einem Schüler<br />

die Ikonenmalerei geoffenbart hat <strong>und</strong> dieser nach dem rechten Gebot lebt,<br />

der Meister ihn aber aus Neid verungl<strong>im</strong>pft, damit er nicht dieselbe Ehre<br />

102


empfange wie er, wird der Metropolit nach der Untersuchung diesen Meister<br />

mit dem vorgesehenen Verbot belegen, dem Schüler aber wird jegliche Ehre<br />

zuteil. Wenn einer dieser Maler das Talent verbirgt, das Gott ihm gegeben<br />

hat, <strong>und</strong> er die Schüler nicht wirklich lehrt, so wird er von Gott zu ewiger<br />

Marter verurteilt. Wenn einer dieser Meister-Maler oder Schüler nicht nach<br />

dem rechten Gebot, in Trunkenheit <strong>und</strong> Unreinheit <strong>und</strong> jedweder Ungebührlichkeit<br />

lebt, sollen die Metropoliten ihn mit dem Verbot belegen, ihn<br />

von der Ikonenmalerei entfernen <strong>und</strong> ihm befehlen, sich nicht damit zu befassen,<br />

so sie die Worte fürchten, die gesprochen sind: > Verflucht sei, wer des<br />

Herrn Werk lässig tut.<<br />

Diejenigen, die bis jetzt Ikonen gemalt haben, ohne es gelernt zu haben, nach<br />

eigenem Gutdünken <strong>und</strong> Geschmack <strong>und</strong> nicht nach dem Bild, deren Ikonen<br />

wird man an einfache, unwissende Leute auf dem Lande billig verkaufen;<br />

dann wird man sie mit dem Verbot belegen, damit sie bei fähigen Meistern<br />

lernen.<br />

Der, dem es Gott gegeben hat, nach Bild <strong>und</strong> Ebenbild zu malen, möge<br />

malen; doch der, dem es Gott nicht gegeben hat, soll sich gänzlich von dem<br />

Werk fernhalten, daß Gottes Name nicht durch eine solche Malerei verungl<strong>im</strong>pft<br />

werde. Wer sich von diesem Werk fernhält, der wird vom Zorn des<br />

Zaren bestraft <strong>und</strong> verurteilt. Und wenn sie dann sagen: Das ist unser Lebensunterhalt,<br />

unser Broterwerb, so soll man auf diese Rede nicht hören,<br />

denn sie verkünden es aus Nichtwissen <strong>und</strong> glauben sich nicht sündig. Nicht<br />

alle Menschen können Ikonenmaler sein; viele <strong>und</strong> unterschiedliche Handwerke<br />

hat Gott verliehen, durch die die Menschen sich nähren <strong>und</strong> leben<br />

können, außer der Ikonenmalerei; das Bild Gottes darf nicht dem Tadel <strong>und</strong><br />

der Verleumdung überlassen werden.<br />

Die Erzbischöfe <strong>und</strong> Bischöfe sollen in allen Städten <strong>und</strong> Dörfern <strong>und</strong> in den<br />

Klöstern ihrer Gebiete die Ikonenmeister prüfen <strong>und</strong> ihre Werke persönlich<br />

überwachen. Und sie sollen, wenn sie, jeder in seinem Gebiet, die wirklichen<br />

Meister-Maler ausgewählt haben, diese anweisen, alle Ikonenmaler zu überwachen,<br />

damit es unter ihnen keine ungeschickten <strong>und</strong> ungebührlichen Maler<br />

gebe. Die Erzbischöfe <strong>und</strong> Bischöfe überwachen diese Maler, die so angewiesen<br />

sind, <strong>und</strong> befassen sich in aller Strenge mit dieser Angelegenheit; sie<br />

achten <strong>und</strong> ehren diese Maler mehr als einfache Menschen. Würdenträger<br />

<strong>und</strong> einfache Menschen sollen die Ikonenmaler in jeder Hinsicht achten <strong>und</strong><br />

sie ehren ob der ehrwürdigen Bildkraft der Ikonen. Und auch dafür sollen die<br />

Metropoliten große Sorge <strong>und</strong> Achtsamkeit aufwenden, daß die geschickten<br />

Ikonniki <strong>und</strong> ihre Schüler nach den alten Vorbildern malen <strong>und</strong> die Gottheit<br />

nicht nach eigener Phantasie <strong>und</strong> Mutmaßung malen. Christus unser Gott ist<br />

<strong>im</strong> Fleisch umschrieben, die Gottheit aber nicht...<br />

.103


Diese Vorstellung vom erhabenen Dienst des Ikonenmalers<br />

hegte keineswegs nur eine best<strong>im</strong>mte Zeit <strong>und</strong> eine Landeskirche.<br />

Insbesondere die ikonenmalerische Uberlieferung der<br />

Östlichen Kirchen, die in speziellen Leitfäden zur Ikonenmalerei<br />

festgehalten ist, legt dem Ikonenmaler folgendes nahe -<br />

selbst bei scheinbar so niederen Arbeiten wie dem Abwaschen<br />

alter Ikonen, um sie besser betrachten zu können:<br />

»Aber tu dein Werk nicht einfach so <strong>und</strong> wie es dir in den Sinn<br />

kommt, sondern mit Gottesfurcht <strong>und</strong> Andacht: denn dein<br />

Werk sei gottgefällig« usw.<br />

Die berühmte »Hermeneia oder Anleitung zur Malkunst«,<br />

kompiliert von dem Priestermönch <strong>und</strong> Ikonenmaler Dionysios<br />

von Phourna-Agrapha, der die Überlieferungen der Panselinos-Schule<br />

sammelte <strong>und</strong> darlegte, beginnt mit einer Einleitung,<br />

in der der Autor sein Gefühl der geistigen Verantwortung<br />

k<strong>und</strong>tut, das ihn veranlaßt hat, den vorliegenden<br />

Leitfaden zu erstellen. Der Leitfaden selbst gibt genaue Anleitungen<br />

zum gesamten Prozeß des Ikonenmalens, beginnend<br />

mit dem Durchpausen der Vorzeichnungen, der Herstellung<br />

von Kohle, Le<strong>im</strong> <strong>und</strong> Gips, dem Gipsen der Ikonen,<br />

der Verstärkung der Ränder auf den Ikonen, dem Gipsen der<br />

Ikonostase, der Bereitung der Pol<strong>im</strong>ente, dem Vergolden der<br />

Ikone <strong>und</strong> der Ikonostase, der Herstellung des Sankirs, der<br />

Ockerschichten, der Podrumjanka, der Verzierung der Kleidung<br />

u.a.m., der Herstellung der verschiedenen Farben,<br />

Hinweisen auf die Proportionen des menschlichen Körpers,<br />

detaillierten Anleitungen zur Technik der Wandmalerei, Anleitungen,<br />

wie man Ikonen restauriert u.ä.; dann folgt das<br />

Handbuch der Ikonenmalerei, in dem detailliert erzählt wird,<br />

wie die Darstellungen der alttestamentlichen Geschichte<br />

komponiert werden, einschließlich der griechischen Philosophen;<br />

weiter dasselbe zum Neuen Testament, einschließlich<br />

der Gleichnisse, die durch die Apokalypse besonders<br />

hervorgehoben werden; dann zu den Muttergottesfesten,<br />

.104


zum Akathist, den Aposteln <strong>und</strong> den übrigen Heiligen, zu<br />

den Festtagen der Kirchengeschichte, zu den Martyrien <strong>und</strong><br />

den erbaulichen Darstellungen; <strong>und</strong> schließlich Hinweise auf<br />

die Kirchenmalerei als Ganzes, d.h. welcher Gegenstand an<br />

welchem Ort der Kirche in Zusammenhang mit ihrer Architektur<br />

dargestellt werden soll. Die Anleitung wird von dogmatischen<br />

Erläuterungen zum Ikonenmalen abgeschlossen,<br />

der Darlegung der uralten Uberlieferungen, wie das Gesicht<br />

des Erlösers <strong>und</strong> das Gesicht der Gottesmutter aussieht, wie<br />

die segnende Hand dargestellt wird <strong>und</strong> welche Aufschrift<br />

dieser oder jener heiligen Darstellung zukommt. Das Buch<br />

endet schließlich mit einem kurzen Gebet des Verfassers:<br />

Dank sei Gott, dem Vollbringer der guten Werke! Als ich dieses Buch vollendete,<br />

sprach ich: Ruhm sei Dir, Herr! <strong>und</strong> wieder sprach ich: Ruhm sei Dir,<br />

mein Herr! <strong>und</strong> sprach zum dritten Mal: Ruhm sei dem Gott aller Wesen!<br />

So weit die harmonische Komposition der mit hoher Autorität<br />

ausgestatteten »Hermeneia.« Aber empfindet man nicht<br />

aufgr<strong>und</strong> der ganzen Anlage des Buches, daß ihm irgendetwas<br />

fehlt, daß die ganze Anleitung zur Ikonenmalerei in der<br />

Luft hängt, daß sie nicht in sich geschlossen <strong>und</strong> eng mit der<br />

Organisation des Kultus verknüpft ist, solange nicht das Gebet<br />

als notwendige Bedingung Bestandteil der Technik der<br />

Ikonenmalerei wird ? Und in der Tat, das wäre so, hätten wir<br />

nicht, um den Gedanken zu verdeutlichen, den Anfang der<br />

»Hermeneia« übergangen, mit dem die Belehrung eigentlich<br />

beginnt. Hier die »vorbereitenden Anleitungen für jeden, der<br />

die Malerei erlernen will«:<br />

Wer die Malerei erlernen will, soll einen ersten Anfang machen <strong>und</strong> sich<br />

einige Zeit darin üben, ohne jegliche Maße zu zeichnen, bis er darin Fertigkeit<br />

erlangt hat. Dann soll ein Gebet zu dem Herrn Jesus Christus vor der<br />

Ikone der Hodigitria für ihn gesprochen werden. Nach dem »Gebenedeit sei<br />

unser Gott«, »Dem H<strong>im</strong>melskönig« u.a., nach der Gottesmutterhymne<br />

»Stumm sind die Lippen der Ruchlosen« <strong>und</strong> dem Troparion auf die Verklärung<br />

des Herrn soll der Priester, wenn er sein Haupt mit dem Kreuz bezeichnet<br />

hat, ausrufen: »Lassetuns beten zum Herrn«, <strong>und</strong> dieses Gebet verlesen:<br />

.105


»Herr Jesus Christus, unser Gott, der Du dem Wesen der Gottheit gemäß<br />

nicht zu umschreiben bist <strong>und</strong> der Du zur Rettung der Menschen am Jüngsten<br />

Tage aus der Jungfrau <strong>und</strong> Gottesgebärerin Maria auf unaussprechliche<br />

Weise Dich verkörpert hast <strong>und</strong> der Du erlaubst, <strong>im</strong> Fleisch umschrieben zu<br />

werden, der Du das heilige Bild Deines allerreinsten Antlitzes auf dem heiligen<br />

Tuch als Abdruck hinterlassen <strong>und</strong> durch dieses die Krankheit des Für־<br />

sten Abgar geheilt <strong>und</strong> seine Seele erhellt hast, damit er unseren wahren Gott<br />

erkenne, der Du durch den Heiligen Geist Deinen Göttlichen Apostel Lukas<br />

verständig gemacht hast, das Bild Deiner Allerreinsten Mutter zu malen, die<br />

Dich als Kind in ihren Armen hält <strong>und</strong> spricht: >Die Gnade des durch Mich<br />

Geborenen sei um Meinetwillen auch mit diesem Bild !< Du, Herrscher, Gott<br />

aller Wesen, erleuchte <strong>und</strong> mache verständig Seele, Herz <strong>und</strong> Geist Deines<br />

Knechts (es folgt der Name), <strong>und</strong> führe seine Hände, damit er rein <strong>und</strong> vortrefflich<br />

Dein Erdenleben darstelle, Deine Allerreinste Mutter <strong>und</strong> alle Heiligen,<br />

zu Deinem Ruhme, zum Schmuck <strong>und</strong> zur Zierde Deiner heiligen Kirche,<br />

zur Vergebung der Sünden all derer, die die heiligen Ikonen geistig verehren<br />

<strong>und</strong> sie andächtig küssen <strong>und</strong> die Verehrung auf das <strong>Urbild</strong> übertragen.<br />

Erlöse ihn aber von jeglicher teuflischen Versuchung, wenn er in Deinen<br />

Geboten fortschreitet, durch die Gebete Deiner Allerreinsten Mutter, des<br />

heiligen berühmten Apostels <strong>und</strong> Evangelisten Lukas <strong>und</strong> aller Heiligen.<br />

Amen.« Inbrünstige Ektenie <strong>und</strong> Entlassung. Nach dem Beten soll er beginnen,<br />

die genauen Maße <strong>und</strong> Umrisse der heiligen Antlitze zu zeichnen, <strong>und</strong><br />

er soll sich lange <strong>und</strong> sorgfältig damit befassen. Dann wird er mit Gottes<br />

Hilfe sein Werk sehr gut begreifen, wie es mich die Erfahrung mit meinen<br />

Schülern gelehrt hat. Nachdem der Lehrer seinen Wunsch k<strong>und</strong>getan hat,<br />

»allen Künstlerkollegen, den Brüdern in Christus«, die er bittet, für ihn zu<br />

beten, Nutzen zu bringen, richtet er sein Wort »in großer Liebe« an den<br />

Schüler: »Wisse also, lernbegieriger Schüler, wenn du dich mit dieser Kunst<br />

beschäftigen willst, daß du dich bemühen mußt, einen erfahrenen Lehrer zu<br />

finden, den du bald schätzen wirst, wenn er dich so lehrt, wie ich es zuvor<br />

gesagt habe.«<br />

Zuvor war aber fast ausschließlich vom Gebet die Rede, <strong>und</strong><br />

folglich sieht Dionysios, womit er die allgemeine St<strong>im</strong>mung<br />

der Ikonenmaler zum Ausdruck bringt, das Unterpfand des<br />

Erfolgs der Belehrung in der Gebetsandacht. Dies war die<br />

Atmosphäre der Kunst des Ikonenmalens noch in der ersten<br />

Hälfte des 18.Jahrh<strong>und</strong>erts, als die Verweltlichung des ganzen<br />

Lebens, auch des kirchlichen Lebens, schon sehr deutlich<br />

io 6


geworden war. Ein andächtiger Geist <strong>und</strong> eine besondere Gest<strong>im</strong>mtheit<br />

leben bis heute <strong>im</strong> Milieu der Ikonenmaler, die<br />

ganze Dörfer bilden <strong>und</strong> seit Jahrh<strong>und</strong>erten von Generation<br />

zu Generation sowohl das geistige Selbstverständnis, Arbeiter<br />

an einem heiligen Werk zu sein, als auch die halbarkanen<br />

Verfahren der Ikonenmalerei <strong>und</strong> anderer mit ihr verknüpfter<br />

Arbeitsprozesse vom Vater auf den Sohn weitergeben. Es ist<br />

eine abgeschlossene, herausgehobene Welt der Zeugen. Und<br />

trotzdem sie bis heute so erhalten ist, ist es schwer, sich das<br />

geisterfüllte Milieu auch nur vorzustellen, von dem die Zeugenschaft<br />

der h<strong>im</strong>mlischen Schönheit ausging <strong>und</strong> sich über<br />

den Leib der Kirche verbreitete - die Antike, in der das ganze<br />

Leben auf geistigen Elementen gründete <strong>und</strong> sich um die<br />

unerschütterliche Achse der Heiligen Sakramente Christi<br />

drehte.<br />

Weder die Formen der Ikonenmalerei noch die Ikonenmaler<br />

selbst sind in der Organisation des Kultus zufällig. Man kann<br />

nicht sagen, der Kultus bediene sich äußerlich der Formen<br />

wie der Maler, als ihm fremder Kräfte. Es ist ja gerade der<br />

Kultus, der die heiligen Antlitze offenbart, er ist es auch, der<br />

die Ikonenmaler erzieht <strong>und</strong> führt. Aber dann liegt der Gedanke<br />

nahe, daß die heiligen Bilder von diesen Dienern der<br />

Kirche nicht durch beliebige, der Metaphysik des Kultus äußerliche<br />

Verfahren <strong>und</strong> auch nicht durch beliebige, nicht aus<br />

dem heiligen Zweck hervorgehende stoffliche Mittel verkörpert<br />

werden. Weder die Technik der Ikonenmalerei noch die<br />

hierbei verwendeten Materialien können in Hinsicht auf den<br />

Kultus zufällig sein - es ist nicht denkbar, daß sie sich auf dem<br />

historischen Weg der Kirche zufällig eingef<strong>und</strong>en haben, daß<br />

sie durch andere Verfahren <strong>und</strong> andere Materialien reibungslos<br />

- <strong>und</strong> gar noch erfolgreich - hätten ersetzt werden können.<br />

Beide sind in der Kunst ihrem Wesen nach mit der künstlerischen<br />

Absicht verknüpft; die Meinung, sie seien relativ<br />

<strong>und</strong> willkürlich <strong>und</strong> aus Gründen in das Werk geraten, die<br />

.107


seinem künstlerischen Wesenskern äußerlich sind, trifft nicht<br />

zu. Und in höchstem Maß gilt dies für die Kunst, in der es<br />

überhaupt nichts Zufälliges, Subjektives, Willkürlich-Launisches<br />

gibt, da sie die geistige Natur der Menschheit zur Erscheinung<br />

bringt. Die Sphäre dieser Kunst ist in einem unvergleichlich<br />

höheren Grad in sich geschlossen als jede andere,<br />

<strong>und</strong> nichts Fremdes, kein »fremdes Feuer« kann auf diesen<br />

geheiligten Altar gestellt werden. Schwer vorstellbar, selbst<br />

<strong>im</strong> Rahmen einer formal-ästhetischen Untersuchung, daß es<br />

keine Rolle spielen sollte, womit, worauf <strong>und</strong> mit welchen<br />

Verfahren eine Ikone gemalt wird. Das tritt aber noch viel<br />

deutlicher hervor, wenn sich die Aufmerksamkeit auf das geistige<br />

Wesen der Ikone richtet. Schon in den Verfahren der<br />

Ikonenmalerei, in ihrer Technik, in den verwendeten Stoffen,<br />

in der Machart der Ikone kommt die Metaphysik zum Ausdruck,<br />

die der Ikone Leben <strong>und</strong> Existenz gibt. Schon die<br />

Stofflichkeit, die Stoffe selbst, die in den unterschiedlichen<br />

Kunstgattungen oder Kunstarten verwendet werden, sind ja<br />

symbolisch, <strong>und</strong> jeder Stoff hat eine eigene, konkret-metaphysische<br />

Charakteristik, durch die er zu diesem oder jenem<br />

Sein in Beziehung steht. Wir wollen aber jetzt die symbolische<br />

Charakteristik beiseite lassen <strong>und</strong> die Frage unter dem<br />

Gesichtspunkt der äußeren, oberflächlichsten Erfahrung untersuchen,<br />

freilich in der Uberzeugung, daß es nichts Äußeres<br />

gibt, das nicht Erscheinung eines Inneren wäre.<br />

In der Konsistenz der Farbe also, darin, wie sie auf die entsprechende<br />

Oberfläche aufgetragen wird, <strong>im</strong> mechanischen<br />

<strong>und</strong> physischen Aufbau der Oberfläche selbst, <strong>im</strong> chemischen<br />

<strong>und</strong> physischen Charakter des Stoffes, der die Farben<br />

bindet, in der Zusammensetzung <strong>und</strong> Konsistenz ihrer Lösungsmittel<br />

wie auch der Farben selbst, in den Lacken <strong>und</strong><br />

sonstigen Fixativa des gemalten Werks <strong>und</strong> in seinen übrigen<br />

»materiellen Elementen« kommt ja unmittelbar die Metaphysik<br />

zum Ausdruck, eine tiefwurzelnde Weltempfindung,<br />

.108


die der schöpferische Wille des Künstlers durch das jeweilige<br />

Werk als Ganzes auszudrücken bestrebt ist. Und selbst wenn<br />

dieser Wille in dem instinktiven Gebrauch gerade dieser »materiellen<br />

Elemente« unterbewußt wirkte, wie der Künstler<br />

auch unterbewußt diese oder jene Formen heranzieht, so<br />

spricht dies nicht gegen den metaphysischen Charakter des<br />

künstlerischen Schaffens, <strong>im</strong> Gegenteil, es läßt uns sogar in<br />

ihm etwas sehen, das rationaler Willkür fernsteht, eine Fortsetzung<br />

der bildenden Tätigkeit der Gr<strong>und</strong>kräfte des Organismus,<br />

die <strong>im</strong> Körper selbst künstlerisch weben. Diese Wahl<br />

der Stoffe, diese »Auswahl der materiellen Elemente« des<br />

Werks vollzieht sich nicht in individueller Willkür, nicht einmal<br />

durch das innere Verständnis <strong>und</strong> die Sensibilität des<br />

einzelnen Künstlers, sondern durch die Vernunft der Geschichte,<br />

die kollektive Vernunft der Völker <strong>und</strong> Zeiten, die<br />

auch den ganzen Stil der Werke einer Epoche prägt. Es ist<br />

vielleicht sogar richtig zu sagen, daß der Stil <strong>und</strong> das materielle<br />

Element eines Kunstwerks als zwei einander überschneidende<br />

Kreise vorzustellen sind, wobei das materielle<br />

Element des Werks in einer best<strong>im</strong>mten Hinsicht das Weltgefühl<br />

der Epoche sogar deutlicher ausdrückt als der Stil in seiner<br />

Eigenschaft als allgemeiner Charakter der bevorzugten<br />

Formen.<br />

Leuchtet es nicht unmittelbar ein, daß Töne der Instrumentalmusik<br />

an sich, selbst Orgeltöne, unabhängig von der Komposition,<br />

<strong>im</strong> orthodoxen Gottesdienst nicht zu ertragen wären?<br />

Das sagt einem unmittelbar der Geschmack, <strong>und</strong> ungeachtet<br />

theoretischer Überlegungen paßt es mit dem ganzen<br />

Stil des Gottesdienstes <strong>im</strong> Bewußtsein nicht zusammen, es<br />

zerstört die geschlossene Einheit des Gottesdienstes, selbst<br />

wenn man ihn einfach als Kunstphänomen oder als Synthese<br />

der Künste betrachtet. Leuchtet es nicht unmittelbar ein, daß<br />

diese Töne als solche allzu weit entfernt sind von der Klarheit,<br />

von der »Vernunftgemäßheit«, vom Logos-Charakter, vom<br />

.109


geistigen Gottesdienst der Orthodoxen Kirche, als daß sie ihrer<br />

Tonkunst als Materie dienen könnten? Empfindet man<br />

nicht unmittelbar den Ton der Orgel als allzu saftig, allzu gedehnt,<br />

allzu fremd der Durchsichtigkeit <strong>und</strong> dem Kristallinen,<br />

allzu sehr verknüpft mit einem unerhellten Untergr<strong>und</strong><br />

der menschlichen Ousia in ihrem konkreten Zustand, in ihrer<br />

Naturform, als daß sie in orthodoxen Kirchen verwendet<br />

werden könnte? Ich werte ja dabei überhaupt nicht, sondern<br />

betrachte lediglich die stilistische Einheit - ob man sie akzeptiert<br />

oder verwirft, ist nicht meine Angelegenheit -, <strong>und</strong> zwar<br />

<strong>im</strong>mer als ganze.<br />

»Du sprichst vom Ton, wolltest aber eigentlich von der Stofflichkeit<br />

der bildenden Künste sprechen, du hattest sogar begonnen<br />

damit. Du erinnerst dich, in unserem Gespräch sollte<br />

es eigentlich um Ikonenmalerei gehen.«<br />

»Du hast völlig recht; es ist aber kein Zufall, daß ich auf den<br />

Ton gekommen bin. Erlaube, daß ich das zuende führe, <strong>und</strong><br />

du wirst sogleich verstehen, warum mein Gedanke diesen Seitenweg<br />

gegangen ist. Also, über die Orgel.<br />

Dies ist ein Musikinstrument, wesenhaft mit einer historischen<br />

Epoche verknüpft, die aus dem hervorging, was wir als<br />

Kultur der Renaissance bezeichnen. Wenn man vom Katholizismus<br />

spricht, vergißt man gewöhnlich, daß die westliche<br />

Kirche vor der Renaissance <strong>und</strong> nach der Rennaissance zwei<br />

völlig verschiedene Dinge sind, daß die westliche Kirche in<br />

der Renaissance eine schwere Krankheit durchgemacht hat,<br />

aus der sie mit großen Verlusten <strong>und</strong> mit dem Ergebnis hervorgegangen<br />

ist - obwohl sie eine gewisse Immunität erlangte-,<br />

daß der eigentliche Bau des geistigen Lebens entstellt<br />

wurde; <strong>und</strong> es ist noch sehr die Frage, wie sich die mittelalterlichen<br />

Träger der katholischen Idee zum Nachrenaissance-<br />

Katholizismus gestellt hätten. Die westeuropäische Kultur ist<br />

also das Produkt eines wiedergeborenen Katholizismus - <strong>im</strong><br />

Bereich des Tons erhielt sie durch die Orgel ihren Ausdruck;<br />

I 10


nicht zufällig sahen die zweite Hälfte des 17. <strong>und</strong> die erste<br />

Hälfte des 18.Jahrh<strong>und</strong>erts - die Zeit, die das innere Wesen<br />

der Renaissance-Kultur am deutlichsten zum Ausdruck<br />

brachte, es eigentlich offenbarte - eine Blüte des Orgelbaus.<br />

Mir geht es nicht darum, eine Analogie herzustellen, nein, ich<br />

möchtc eine viel tiefer angelegte Verbindung behaupten...«<br />

»Eine Verbindung zwischen Orgel <strong>und</strong> Ölfarbe?«<br />

»Du hast es erraten. Schon die Konsistenz der Ölfarbe hat<br />

eine innere Verwandtschaft mit dem ölig-dichten Ton der Orgel,<br />

<strong>und</strong> der fette Pinselstrich <strong>und</strong> die Saftigkeit der Farben<br />

der Ölmalerei sind mit der Saftigkeit der Orgelmusik innerlich<br />

verknüpft. Sowohl diese Farben als auch diese Töne sind<br />

irdisch, fleischlich. Historisch gesehen entwickelte sich die<br />

Ölmalerei ja gerade in der Zeit, als in der Musik die Kunst des<br />

Orgelbaus <strong>und</strong> -spiels Fortschritte machte. Zweifellos gehen<br />

hier zwei verwandte materielle Elemente aus einer metaphysischen<br />

Wurzel hervor, weshalb sie auch beide dem Ausdruck<br />

ein <strong>und</strong> desselben Weltempfindens zugr<strong>und</strong>egelegt wurden,<br />

wenn auch in verschiedenen Bereichen.«<br />

»Ich möchte aber noch einen Versuch machen, das Gespräch<br />

in best<strong>im</strong>mtere Bahnen zu lenken, die der darstellenden Künste.<br />

Du hast, scheint mir, den Gedanken geäußert, daß das<br />

gesamte Material Bedeutung hat, darunter auch die Beschaffenheit<br />

der Fläche, generell der Oberfläche, auf die die Farbe<br />

aufgetragen wird. Ich habe den Eindruck, daß es nicht ganz<br />

leicht ist, ein Beispiel dafür zu finden. Mir scheint, sobald<br />

diese Fläche unter der Darstellung nicht mehr zu sehen ist,<br />

kann sie auch keine Beziehung zum Geist der Kunst der jeweiligen<br />

Zeit mehr haben <strong>und</strong> kann deswegen mehr oder weniger<br />

willkürlich durch eine beliebige andere Fläche ersetzt<br />

werden, solange die Farbe auf ihr hält <strong>und</strong> nicht abbröckelt<br />

<strong>und</strong> dann verwischt wird. Offensichtlich hat sie nur technische,<br />

nicht aber stilistische Bedeutung.«<br />

»Nein, das trifft keineswegs zu. Die Eigenart der Oberfläche<br />

.122


edingt ganz wesentlich das Verfahren des Farbauftrags <strong>und</strong><br />

sogar die Wahl der Farbe selbst. Nicht jede Farbe läßt sich auf<br />

jede Oberfläche auftragen: Mit Öl wird man nicht auf Papier<br />

malen, mit Aquarell nicht auf Metall u. ä. Aber nicht allein<br />

das. Der Charakter des Pinselstrichs wird von der Beschaffenheit<br />

der Oberfläche wesentlich geprägt <strong>und</strong> erhält in Abhängigkeit<br />

von ihr diese oder jene Faktur. Und andererseits<br />

tritt mittels der Faktur des Pinselstrichs, der Struktur der<br />

Farboberfläche die Oberfläche des Gr<strong>und</strong>es des Werks nach<br />

außen; <strong>und</strong> nicht allein, daß sie hervortritt: sie gelangt dadurch<br />

sogar stärker zur Erscheinung als vor dem Farbauftrag.<br />

Die Eigenschaften der Oberfläche schlummern, solange sie<br />

entblößt ist; durch die aufgetragenen Farben erwachen sie.<br />

Ebenso enthüllt die Kleidung den Körperbau, indem sie ihn<br />

verhüllt, <strong>und</strong> bringt durch ihre Falten Unebenheiten der Körperoberfläche<br />

ans Licht, die bei direkter Betrachtung seiner<br />

Oberfläche unbemerkt bleiben. Ob eine Oberfläche hart oder<br />

weich, elastisch oder schlaff, glatt oder rauh ist, ob ihre Unebenheiten<br />

nach einem best<strong>im</strong>mten Gesetz angeordnet sind,<br />

ob sie die Farbe aufsaugt oder abweist usw., usw. - all diese<br />

<strong>und</strong> ähnliche Eigenschaften der Oberfläche eines Werks werden<br />

gleichsam vergrößert, verstärkt an die Faktur des Werks<br />

weitergegeben <strong>und</strong> schaffen sich damit dynamische Äquivalente,<br />

d. h. sie geben ihre verborgene, passive Untätigkeit auf,<br />

werden zu Kraftquellen <strong>und</strong> bemächtigen sich der Umgebung.<br />

Genauso wie das unsichtbare Kraftfeld eines Magneten<br />

mithilfe von Eisenspänen sichtbar gemacht wird, so wird die<br />

Struktur, die Festigkeit einer Oberfläche durch die auf die<br />

Oberfläche aufgetragene Farbe dynamisch zur Erscheinung<br />

gebracht, <strong>und</strong> zwar um so deutlicher, je vollkommener ein<br />

Werk der darstellenden Kunst ist. Je schärfer der Geist ist, der<br />

in den Fingern <strong>und</strong> <strong>im</strong> Arm des Künstlers sitzt, um so schärfer<br />

begreift dieser Geist - ohne daß der Kopf davon weiß - das<br />

metaphysische Wesen dieser Kräfteverhältnisse der Darstel-<br />

112


lungsfläche, um so tiefer durchdringt er sich mit diesem Wesen,<br />

wobei er in ihr, wenn er das Material entsprechend den<br />

Aufgaben des Stils richtig gewählt hat, seine eigene geistige<br />

Organisation, seinen eigenen metaphysischen Stil erkennt.<br />

Durchdrungen von der Struktur der Oberfläche, wird sie<br />

vom Geist der Hand durch die Faktur seines Pinselstrichs zur<br />

Erscheinung gebracht. Das ist der Fall, wenn sich das Material<br />

<strong>und</strong> das Anliegen des Künstlers stilistisch entsprechen;<br />

bei einer durch die Natur der Dinge innerlich vorherbest<strong>im</strong>mten<br />

Nichtentsprechung aber wird der Künstler, wenn<br />

er sich mit dieser Oberfläche befaßt, durch den Geist der Finger<br />

von ihr zurückgestoßen, sie paßt dann nicht, ist ihm<br />

fremd.<br />

Die Metaphysik der Darstellungsfläche...«<br />

»Entschuldige, ich möchte dir mit einer Frage Einhalt gebieten.<br />

Du siehst also in der auf einen Rahmen gespannten Leinwand<br />

der Renaissance-Kunst etwas, das dem Geist der Kunst<br />

selbst entspricht? Denn historisch gesehen hat sich ja offensichtlich<br />

die Leinwand zusammen mit der Orgelmusik <strong>und</strong><br />

der Ölfarbe verbreitet.«<br />

»Läßt es sich denn anders... - ich sage nicht: denken, nein,<br />

stärker -, läßt es sich denn anders fühlen ? Denn der Charakter<br />

der Bewegung, mit der die Farbe aufgetragen wird, dieser<br />

Charakter oftmals wiederholter Bewegungen ist verknüpft<br />

mit dem inneren Leben. Und wenn er dem inneren Leben<br />

nicht entspricht, wenn er ihm widerspricht, so muß er verändert<br />

werden - wenn auch nicht bei dem einzelnen Künstler,<br />

so doch in der Kunst eines Volkes, der Völker, der Geschichte.<br />

Kann man sich vorstellen, daß jahrzehnte- <strong>und</strong> jahrh<strong>und</strong>ertelang<br />

Tausende <strong>und</strong> Zehntausende von Künstlern das<br />

ganze Leben hindurch Bewegungen vollzogen haben, deren<br />

Rhythmus nicht mit dem Rhythmus ihrer Seele übereinst<strong>im</strong>men<br />

? Es ist klar: Entweder vermag die Darstellungsfläche aus<br />

sich nur Rhythmen eines best<strong>im</strong>mten Typs hervorzubringen<br />

.113


- dann wird sie den Künstler individuell oder historisch besiegen,<br />

<strong>und</strong> er wird nicht zu dem, was er seinem geistigen<br />

Bau nach ist; oder der Künstler beharrt <strong>im</strong> entgegengesetzten<br />

Fall, auch dies entweder individuell oder historisch, auf<br />

seinem eigenen Rhythmus - dann wird er gezwungen sein,<br />

sich eine neue Fläche mit neuen Eigenschaften zu suchen,<br />

die in ihren Rhythmen seinen Rhythmen entspricht. Der<br />

Künstler muß sich entweder unterordnen, oder er muß sich<br />

in der Welt die passende Fläche suchen: Es liegt nicht in seiner<br />

Macht, die Metaphysik einer existierenden Fläche zu<br />

verändern.<br />

Nun zur Leinwand. Die elastische <strong>und</strong> nachgiebige,<br />

schwankende, der menschlichen Berührung nicht standhaltende<br />

Oberfläche der aufgespannten Leinwand macht die<br />

Darstellungsfläche in dynamischer Hinsicht der Hand des<br />

Künstlers gleichberechtigt. Er kämpft mit ihr wie >mit seinesgleichen


lautes Zeugnis dieser Bilder als sinnlichem Sein, <strong>und</strong> zwar so,<br />

daß sie selbst nicht auf unbeweglichem Stein fixiert werden,<br />

sondern auf schwankender Oberfläche, die das Schwanken<br />

alles Irdischen anschaulich ausdrückt. Der Künstler der Renaissance<br />

<strong>und</strong> der ganzen von ihr ausgehenden Kultur denkt<br />

über das hier Gesagte vielleicht nicht einmal nach. Er denkt<br />

nicht einmal darüber nach; seine Finger aber <strong>und</strong> seine Hand,<br />

sie denken - mit dem kollektiven Geist, dem Geist der Kultur<br />

selbst sie denken sogar in besonderem Maß über die Bedingtheit<br />

alles Seienden nach, über die Notwendigkeit, zum<br />

Ausdruck zu bringen, daß die ontologische Geistigkeit der<br />

Dinge in der Weltanschauung der Epoche durch ihre phänomenologische<br />

Sinnlichkeit ersetzt wird, <strong>und</strong> darüber, daß es<br />

folglich dem Menschen, der sich selbst als nichtontologisch,<br />

bedingt <strong>und</strong> phänomenal einschätzt, zukommt, in dieser Welt<br />

metaphysischer Illusionen Gesetze zu erlassen.<br />

Die Perspektive ist die unumgängliche Manifestation eines<br />

solchen Selbstbewußtseins; hier ist jedoch nicht der Ort, über<br />

sie zu sprechen. Die in dieser Weltanschauung charakteristische<br />

Verbindung von sinnlicher Klarheit mit ontologischer<br />

Unsicherheit des Seins drückt sich darin aus, daß die Kunst<br />

ein saftiges Schwanken anstrebt. Ölfarbe <strong>und</strong> aufgespannte<br />

Leinwand ließen diese Bestrebung in technischer Hinsicht<br />

ahnen.«<br />

»Folglich siehst du auch in der Kunst der Gravüre eine Verbindung<br />

mit dem Geist der Zeit? Die Gravüre entwickelte<br />

sich ja auf dem Boden des Protestantismus. Und die hervorragendsten,<br />

schöpferischsten Graphiker waren Vertreter<br />

des Protestantismus in seinen verschiedenen Varianten.<br />

Deutschland, England - mit diesen Ländern sind Gravüre,<br />

Radierung <strong>und</strong> ähnliche Kunstgattungen in erster Linie verknüpft.<br />

Aber gab es tatsächlich keine Gravüre auf dem Boden des Katholizismus?<br />

Diese Frage stelle ich übrigens nicht so sehr dir<br />

.5


als vielmehr mir selbst; gr<strong>und</strong>sätzlich bin ich mit dir einverstanden.«<br />

»Natürlich gab es sie. Es ist aber bemerkenswert, daß <strong>im</strong> Katholizismus<br />

die Gravüre u.ä. eindeutig nicht graphisch sein<br />

will, <strong>und</strong> in diesem Fall ist die Aufgabenstellung eindeutig<br />

nicht die der Gravüre, sondern die der Ölmalerei. Die katholische<br />

Gravüre mit ihren fetten Strichen, die den Pinselstrich<br />

der Ölmalerei <strong>im</strong>itieren, die versuchen, die Druckfarbe nicht<br />

linear, sondern in Flächen aufzutragen, ist ihrem Wesen nach<br />

eine Art Ölmalerei, nicht echte Gravüre: Dort dient die<br />

Druckfarbe zur Unterscheidung von Stellen der Oberfläche,<br />

hat aber keine Farbe, während eine Fläche, wenn nicht Farbigkeit,<br />

so doch etwas ihr Analoges hat. Die echte Gravürelinie<br />

ist eine abstrakte Linie, sie hat weder Ausdehnung noch<br />

Farbe. Im Gegensatz zum Strich der Ölmalerei, der versucht,<br />

sich zum sinnlichen Doppelgänger, wenn nicht des dargestellten<br />

Gegenstands, so wenigstens eines Stückchens seiner<br />

Oberfläche zu machen, will sich die Gravürelinie vom Beigeschmack<br />

sinnlichen Gegebenseins völlig fre<strong>im</strong>achen. Wenn<br />

die Ölmalerei eine Manifestation der Sinnlichkeit ist, so stützt<br />

sich die Gravüre auf Rationalität, weil sie das Bild der Gegenstände<br />

aus Elementen konstruiert, die mit den Elementen des<br />

Gegenstandes nichts gemeinsam haben, aus Kombinationen<br />

rationaler >Ja< <strong>und</strong> >Nein


fekte Gravüre. Dagegen gibt es in der Gravüre, die in der<br />

Atmosphäre des Katholizismus entstand, stets den Versuch,<br />

sich zwischen >Ja< <strong>und</strong> >Nein< durchzulavieren, indem sinnliche<br />

Elemente eingebracht werden. Insofern bin ich gern bereit,<br />

eine innere Verwandtschaft der echten Gravüre mit dem<br />

inneren Wesen des Protestantismus anzuerkennen. Ich wiederhole,<br />

es gibt einen inneren Parallelismus zwischen dem<br />

Verstand, der <strong>im</strong> Protestantismus vorherrscht, <strong>und</strong> der Linearität<br />

der Darstellungsmittel der Gravüre, genauso wie es<br />

einen inneren Parallelismus zwischen der <strong>im</strong> Katholizismus<br />

kultivierten >Einbildungskraft< (in der asketischen Terminologie)<br />

<strong>und</strong> dem fetten Pinselstrich bzw. -fleck in der Ölmalerei<br />

gibt. Ersterer will seinen Gegenstand schematisieren, indem<br />

er ihn mit einzelnen Teilungsakten rekonstruiert, die<br />

nicht nur keine Farbigkeit, sondern auch keine Zweid<strong>im</strong>ensionalität<br />

besitzen. Die Gravüre ist, ich wiederhole es, die<br />

Neuschöpfung eines Bildes aus Elementen, die ganz anders<br />

sind als das, was das Bild in der sinnlichen Wahrnehmung<br />

ausmacht -, <strong>und</strong> zwar so, daß das Bild durch <strong>und</strong> durch rational<br />

verständlich wird, in jeder Einzelheit, daß sein ganzer<br />

Bau, bis in die Schatten hinein, d. h. in das, was bekanntlich<br />

nicht ausschließlich aus dem Wesen des Bildes hervorgeht,<br />

sondern auch aus seinen Beziehungen zur äußeren Umgebung,<br />

so also, daß es ganz in eine Reihe von Segmenten zerlegt<br />

wird, in eine Reihe von Determinationen des räumlichen<br />

Bereichs, <strong>und</strong> daß es in diesem Bild nichts gibt als diese rationalen<br />

Akte <strong>und</strong> ihre Wechselbeziehungen.<br />

In der deutschen idealistischen Philosophie, insbesondere der<br />

Kantschen, hat die Philosophiegeschichte schon lange die<br />

reinste Verflüchtigung des Raumes erkannt. Aber sehen sich<br />

denn Kant, Fichte, Hegel, Cohen, Rickert, Husserl vor eine<br />

andere Aufgabe gestellt als eine Gravüre Dürers ? Im Gegenteil<br />

- ich komme auf den Gegensatz zwischen dem Strich der<br />

Gravüre <strong>und</strong> dem Strich der Ölmalerei zurück -, der Strich<br />

.7


der Ölmalerei will nicht den Gegenstand rekonstruieren,<br />

sondern <strong>im</strong>itieren, er will sich an seine Stelle setzen, er will<br />

ihn nicht rationalisieren, sondern sensualisieren, sinnlich<br />

noch stärker auf die Einbildungskraft wirken lassen als die<br />

Wirklichkeit. Der Pinselstrich möchte die Grenzen der Darstellungsfläche<br />

verlassen, sich in unmittelbar der Sinnlichkeit<br />

gegebene Farbmaterie verwandeln, in ein farbiges Relief, in<br />

eine bemalte Statue - kurz, er möchte das Bild <strong>im</strong>itieren, sich<br />

an seine Stelle setzen, nicht als symbolischer, sondern als empirischer<br />

Faktor ins Leben treten. Die modisch gekleideten<br />

bemalten Statuen der katholischen Madonnen sind das Extrem,<br />

zu dem das Wesen der Ölmalerei tendiert. In bezug auf<br />

die Gravüre wäre es, wollte man den Gedanken ein wenig<br />

karikierend zuspitzen, nicht ganz unzutreffend, als ihr Extrem<br />

die gedruckte geometrische Zeichnung oder sogar die<br />

Differentialgleichung anzuführen.«<br />

»Ich sehe aber <strong>im</strong>mer noch nicht, was sich <strong>im</strong> Geist dieser<br />

Überlegungen zur Darstellungsfläche der Gravürekunst sagen<br />

ließe. Sie kommt mir hier zufällig vor, nicht mit dem eigentlichen<br />

Arbeitsprozeß des Meisters verknüpft. Gewiß<br />

wird man be<strong>im</strong> Öl nicht irgendeinen beliebigen Malgr<strong>und</strong><br />

verwenden, <strong>und</strong> die mechanischen Eigenschaften der Bildfläche<br />

werden sich notwendig <strong>im</strong> Charakter der Arbeit widerspiegeln.<br />

In der Gravürekunst ist es aber keineswegs so. Eine<br />

Gravüre kann ja, grob gesagt, auf jede beliebige Oberfläche<br />

gedruckt werden, der Charakter des Drucks ändert sich deswegen<br />

kaum; ob Papier (eine der zahllosen Sorten), ob Seide,<br />

Knochen, Holz, Pergament, Stein, selbst Metall - all das<br />

spielt <strong>im</strong> künstlerischen Aufbau der Gravüre kaum eine<br />

Rolle. Nicht allein dies, auch die Farbe ist mehr oder weniger<br />

unwichtig, sie ist ersetzbar; möglich sind hier, wenn nicht<br />

unterschiedliche Konsistenzen, so jedenfalls unterschiedliche<br />

Farben. Gerade diese Relativität der beiden hauptsächlichen<br />

materiellen Elemente der Gravüredarstellung - Fläche <strong>und</strong><br />

.118


Farbe - macht mich unsicher, ob du mit deinen Ausführungen<br />

Recht hast, obwohl ich mir, wie du gerade sehen konntest,<br />

deine Denkweise zu eigen gemacht habe ...«<br />

»Und mir scheint, es ist genau umgekehrt: Du führst deine<br />

eigenen, richtig begonnenen Gedanken nur nicht zu Ende.<br />

Denn in dieser Willkür der Farbe <strong>und</strong> der Darstellungsfläche<br />

der Gravüre liegt dieselbe Vertauschung, derselbe Betrug wie<br />

in der protestantischen Proklamation der Gewissensfreiheit<br />

<strong>und</strong> in der protestantischen Verleugnung der kirchlichen -<br />

was sage ich kirchlichen? -, der menschheitlichen, menschlichen<br />

Überlieferung.<br />

Was bietet uns ein Druck ? - Ein Blatt Papier: das Instabilste,<br />

das sich vorstellen läßt - es zerknittert <strong>und</strong> reißt, wird feucht,<br />

in der Nähe von Feuer geht es in Flammen auf, es sch<strong>im</strong>melt,<br />

es läßt sich nicht einmal reinigen: ein Symbol der Vergänglichkeit.<br />

Und darauf, auf dem Instabilsten: die Striche der<br />

Gravüre! Man fragt sich, sind diese Striche als solche auf Papier<br />

möglich? Nein, selbstverständlich nicht: dies sind Linien,<br />

die durch ihr Aussehen zeigen, daß sie auf einer extrem<br />

harten Oberfläche gezogen wurden, die aber von der Spitze<br />

des Stichels oder der Nadel gleichwohl beherrscht, gekratzt,<br />

aufgerissen wird. Be<strong>im</strong> Druck widerspricht der Charakter<br />

der Striche den Eigenschaften der Oberfläche, auf die sie aufgebracht<br />

werden; dieser Widerspruch läßt uns die wahren Eigenschaften<br />

des Papiers vergessen <strong>und</strong> in ihm etwas extrem<br />

Festes sehen. In ästhetischer Hinsicht veranschlagen wir die<br />

Zuverlässigkeit des Papiers, seine Festigkeit wesentlich höher,<br />

als dies tatsächlich der Fall ist. Und der Umstand, daß<br />

diese Striche keine Vertiefung haben, läßt annehmen, daß das<br />

Vermögen des Graveurs sehr viel größer ist als in Wirklichkeit,<br />

wenn wir sehen, daß seine Hand sogar auf einem so festen<br />

Stoff, der ihm nicht nachgegeben hat, selbst fest geblieben<br />

ist, daß sie nicht zitterte. Es entsteht der Eindruck, als ob<br />

der Graveur keine stoffliche Veränderung einbringt, sondern<br />

.119


die <strong>im</strong> Sinne Kants >reine< rekonstruierende Tätigkeit der<br />

Formbildung manifestiert, <strong>und</strong> als ließe sich diese ganz frei,<br />

auf jeder beliebigen Oberfläche wahrnehmen - auch das <strong>im</strong><br />

Geiste Kants. Ferner entsteht der Eindruck, diese formbildende<br />

Tätigkeit passe auf alles <strong>und</strong> werde daher von jeder beliebigen<br />

Oberfläche ganz ungemindert wiedergegeben. Es<br />

scheint, als stehe dieses Formbilden über den Beschränkungen<br />

durch die Bedingungen des Bereichs, in dem die Form gebildet<br />

wird, d.h. als sei es rein <strong>und</strong> überlasse einem damit die völlige<br />

Freiheit, ja Willkür in der Wahl der individuellen Eigenschaften<br />

der Oberfläche. Aber gerade das ist eine Täuschung. Es<br />

beginnt damit, daß wir als Gravüre etwas bezeichnen, was gar<br />

nicht graviert, geritzt ist. Eigentlich ist die Gravüre das Klischee<br />

aus Holz oder Metall; wir haben in der Benennung dieses<br />

Klischee durch den Abzug ersetzt <strong>und</strong> sprechen von der Gravüre,<br />

obwohl wir den Abzug meinen. Diese Verwechslung ist<br />

aber keineswegs zufällig. Nur vom Klischee her begreift man,<br />

daß die Faktur der Arbeit nicht Willkür des Stechers ist, sondern<br />

notwendige Folge von Eigenschaften der Darstellungsfläche<br />

- <strong>im</strong> Klischee gibt es nicht die Täuschungen der ästhetischen<br />

Wahrnehmung, auf die wir oben hingewiesen haben.<br />

Auch historisch war es so. Die Kunst der Gravüre war ja ursprünglich<br />

namentlich eine Schneide- bzw. Schnitzkunst auf<br />

Metall <strong>und</strong> Holz, teilweise auf Stein, keineswegs aber eine<br />

Druckkunst; <strong>und</strong> der Kunstgegenstand war damals ein Ding<br />

mit einer in es eingeschnittenen Darstellung, keineswegs aber<br />

ein Blatt Papier. Der Ursprung unserer Gravüre ist technisch:<br />

Man bestrich das Geschnittene mit Farbe, zog die Darstellung<br />

auf Papier ab - das Ergebnis war ein Druck. Dieses Drucken<br />

war aber noch keineswegs der Abschluß des künstlerischen<br />

Vorgangs wie bei uns, wo der Druck die Sache selbst ist <strong>und</strong> das<br />

Klischee ihn lediglich vorbereitet: Man druckte ausschließlich,<br />

um eine exakte Kopie der Zeichnung festzuhalten, um die<br />

Möglichkeit zu haben, den geschnittenen Gegenstand später<br />

.120


zu replizieren. In diesem Sinn fotografieren heute Holzbildhauer,<br />

z.B. die berühmten Chrustacevs aus Sergiev Posad,<br />

Vater <strong>und</strong> Sohn, ihre bedeutenderen Arbeiten, bevor sie sie<br />

dem Auftraggeber aushändigen.«<br />

»Ja, das Verhältnis von Gravüre <strong>und</strong> Abdruck ist verkehrt<br />

worden: Ursprünglich war das Geschnittene, das Klischee<br />

nach unserem Verständnis, ein Kunstwerk, wiederholbar<br />

zwar, aber stets schöpferisch, während der Abdruck als Reproduktionsmatrize<br />

diente. Dann aber wurde der Abdruck<br />

zum mechanisch vervielfältigten Werk, zum eigentlichen<br />

Werk, <strong>und</strong> in der Gravüre sah man lediglich die Reproduktionsmatrize,<br />

die, abgesehen vom Drucker, niemanden etwas<br />

angeht <strong>und</strong> die niemand zu Gesicht bekommt.<br />

Um unsere gemeinsamen Überlegungen zu verdeutlichen,<br />

ließe sich folgende Tabelle der Entstehung der Gravüre aufstellen<br />

:<br />

Die tesserae hospitales der Antike oder das, was man damals<br />

als >Symbole< bezeichnete - ein zerbrochener Gegenstand,<br />

dessen Hälften zum Beweis des geschlossenen B<strong>und</strong>es aufgehoben<br />

wurden.<br />

I<br />

Die zerbrochene Münze der Geliebten u.a. (wie z.B. in<br />

W.Scotts >Braut von Lammermoor


Das Siegel <strong>und</strong> sein erhabener Abdruck auf Wachs, Siegellack<br />

oder Blei.<br />

Das Siegel <strong>und</strong> sein Abdruck durch Ruß oder Farbe.<br />

I<br />

Das Schneiden bzw. Schnitzen in Metall oder Holz zur Verzierung.<br />

I<br />

Probedrucke durch Farbe, um die Zeichnung einer Schnitzarbeit<br />

festzuhalten.<br />

Die autarken Abzüge (Drucke) sowie Metallstich <strong>und</strong> Holzschnitt<br />

als Zweige der druckgraphischen Kunst.«<br />

»So ist es. Um aber auf unsere Erörterung zurückzukommen<br />

: Worin besteht denn, präziser gefaßt, die Verbindung<br />

von Gravüre <strong>und</strong> Protestantismus? Darin, daß diese Willkür<br />

in der Wahl der Darstellungsfläche, d.h. des Papiers, <strong>und</strong> des<br />

Darstellungsstoffs, d.h. der Farbe, dem protestantischen Individualismus,<br />

der protestantischen Freiheit oder genauer:<br />

Willkür entspricht; <strong>und</strong> auf dem willkürlich genommenen<br />

Material entwirft sozusagen die reine Vernunft ihre durch<br />

<strong>und</strong> durch rationalen, von jeglicher Sinnlichkeit freien Konstrukte<br />

der Wirklichkeit — ob einer religiösen oder natürlichen<br />

Wirklichkeit, spielt hier keine Rolle. Auf dem willkürlich<br />

gewählten Material breiten sich Schemen aus, die nichts<br />

mit ihm gemein haben, <strong>und</strong> diese Vernunft versklavt, indem<br />

sie ihre Freiheit als Selbstbest<strong>im</strong>mung verkauft, die Freiheit<br />

all dessen, was außer ihr ist - sich selbst best<strong>im</strong>mend, tritt<br />

sie die Selbstbest<strong>im</strong>mung der Welt mit Füßen, <strong>und</strong> während<br />

sie ihr Gesetz proklamiert, hält sie es nicht für notwendig,<br />

das Gesetz der Kreatur wenigstens anzuhören, durch das<br />

sie als wahrhaft reale lebt. Der protestantische Individualismus<br />

ist der mechanische Abzug des eigenen Klischees, das<br />

.122


sich inhaltslos aus reinen >Ja< <strong>und</strong> >Nein< aufbaut, über das<br />

ganze Sein. Aber diese Freiheit der Wahl ist in Wirklichkeit<br />

nur eine scheinbare Freiheit: Nicht daß die Tätigkeit der geistigen<br />

<strong>und</strong> vernünftigen Belehrung auf jegliche Individualität<br />

angewendet wird (in dieser Flexibilität ihrer Anwendung,<br />

einer Durchführung entsprechend der jeweiligen Realität,<br />

läge ja echte, d.h. schöpferische Freiheit) - vielmehr mißachtet<br />

sie jegliche Individualität, hat sie doch <strong>im</strong> voraus ein<br />

Klischee erstellt, das jeder Seele überzustülpen ist, ohne den<br />

Hauch einer Differenzierung. Die protestantische Freiheit<br />

ist ein Versuch der Gewaltanwendung mit Hilfe von Worten<br />

über Freiheit, angest<strong>im</strong>mt auf der Walze eines Phonographen<br />

...«<br />

»Und das Instrument?«<br />

»Du willst sagen: Als Projektion welcher inneren Fähigkeit,<br />

angewendet durch den protestantischen Geist, haben Stichel<br />

<strong>und</strong> Nadel der Gravüre zu gelten?«<br />

»Gewiß.«<br />

»Der Verstand ist die spezifische Fähigkeit, die vom Protestantismus<br />

angewendet oder besser gesagt: als solche proklamiert<br />

wird. Für andere: der Verstand unter dem Anschein der<br />

Vernunft. Und für sich selbst: die Einbildungskraft, noch hitziger<br />

als <strong>im</strong> Katholizismus, geistig erhitzt <strong>und</strong> verlockend,<br />

die mit einem unvergleichlich ontologischeren Standpunkt<br />

kämpft, als sie es zugeben will, <strong>und</strong> ganz allgemein einem<br />

ontologischeren als <strong>im</strong> Katholizismus.«<br />

»Aber worin besteht denn diese >geistige Erhitzung< der Einbildungskraft,<br />

wie du dich ausgedrückt hast?«<br />

»Wie, worin? Bemerkst du denn nicht den ungestümen Flug<br />

der Phantasie, der die philosophischen Systeme auf dem Boden<br />

des Protestantismus hervorgebracht hat? Ob Böhme<br />

oder Husserl, die ihrer geistigen Struktur nach einander so<br />

fern zu stehen scheinen - generell erbauen die protestantischen<br />

Philosophen sämtlich ihre Luftschlösser aus Nichts,<br />

.123


um sie dann zu Stahl zu härten <strong>und</strong> dem lebendigen Leib der<br />

Welt als Fessel anzulegen. Selbst der trockene Hegel schreibt<br />

ja in intellektueller Raserei, berauscht; <strong>und</strong> James' Behauptung,<br />

daß die Welt <strong>im</strong> Lachgas-Rausch auf Hegeische Art<br />

wahrgenommen <strong>und</strong> gedacht wird, ist alles andere als ein<br />

Scherz. Der protestantische Gedanke - das ist ein Rausch für<br />

die eigene Person, der die gewaltsame Nüchternheit predigt.«<br />

»Es ist aber an der Zeit, zu unserem Ausgangspunkt zurückzukehren.<br />

Wir sprachen ja über Ölmalerei <strong>und</strong> Gravüre keineswegs<br />

um ihrer selbst willen. Worin also besteht in technischer<br />

Hinsicht die innere Verknüpfung der Ikonenmalerei<br />

mit ihren geistigen Aufgaben?«<br />

»Ja, kurz gesagt, die Ikonenmalerei ist die Metaphysik des<br />

Seins - keine absolute Metaphysik, sondern eine konkrete.<br />

Während die Ölmalerei am besten befähigt ist, das sinnliche<br />

Vorhandensein der Welt wiederzugeben, die Gravüre entsprechend<br />

ihr verstandesmäßiges Schema, besteht die Ikonenmalerei<br />

als anschauliche Erscheinung des metaphysischen<br />

Wesens dessen, was sie abbildet. Und während die<br />

malerischen Verfahren <strong>und</strong> die graphischen Verfahren der<br />

Gravüre namentlich aufgr<strong>und</strong> entsprechender Erfordernisse<br />

der Kultur ausgearbeitet wurden <strong>und</strong> Konzentrate entsprechender<br />

Bemühungen darstellen, gebildet aus dem Geist der<br />

Kultur ihrer Zeit, so werden die technischen Verfahren der<br />

Ikonenmalerei von dem Erfordernis best<strong>im</strong>mt, das konkrete<br />

metaphysische Wesen der Welt auszudrücken. In der Ikonenmalerei<br />

wird nichts Zufälliges festgehalten, nicht nur<br />

nichts empirisch Zufälliges, sondern auch nichts metaphysisch<br />

Zufälliges, wenn ein solcher, <strong>im</strong> Gr<strong>und</strong>e völlig konkreter<br />

<strong>und</strong> notwendiger Ausdruck das Ohr nicht allzusehr<br />

schmerzt.<br />

So darf man die Sündhaftigkeit <strong>und</strong> Vergänglichkeit der Welt<br />

nicht als etwas empirisch Zufälliges ansehen, denn sie verderben<br />

<strong>im</strong>merfort die Welt. Aber metaphysisch, d.h. hin-<br />

.124


sichtlich des geistigen Wesens der Gottgeschaffenen Welt,<br />

sind Sündhaftigkeit <strong>und</strong> Vergänglichkeit nicht notwendig, sie<br />

müßten nicht existieren, <strong>und</strong> in ihnen gibt sich nicht das Wesen<br />

der Welt, sondern ihr gegenwärtiger Zustand zu erkennen.<br />

Der Ikonenmalerei kommt es nicht zu, diesen Zustand<br />

auszudrücken, der die wahre Natur der Dinge verdunkelt:<br />

Ihr Gegenstand ist die eigentliche Natur, die Gottgeschaffene<br />

Welt in ihrer überweltlichen Schönheit. Das auf der Ikone<br />

Dargestellte, alles, in allen Einzelheiten, ist nicht zufällig - es<br />

ist Bild oder Abbild - fJitiOTO^der urbildlichen Welt, h<strong>im</strong>mlischer,<br />

allerhöchster Wesenheiten.«<br />

»Auch wenn dieser Gedanke gr<strong>und</strong>sätzlich akzeptabel ist,<br />

muß man ihn nicht doch eingrenzen, indem man sagt: ><strong>im</strong><br />

großen <strong>und</strong> ganzen*, ><strong>im</strong> wesentlichen* o.ä.? Auch Piaton<br />

stellte sich ja die Frage, ob die >Idee eines Haares< existiere,<br />

eines ganz unbedeutenden, kleinen Haares. Und wenn die<br />

Ikone das Schema der Idee zur Erscheinung bringt, ist das<br />

dann nicht mit Blick auf den allgemeinen Sinn der Ikone<br />

zu verstehen, während anatomische, architektonische, lebensweltliche<br />

<strong>und</strong> andere Einzelheiten als äußerliche <strong>und</strong> zufällige<br />

Darstellungsmittel in bezug auf die Idee zu werten<br />

sind? Hat also beispielsweise die Kleidung auf den Ikonen<br />

tatsächlich etwas Metaphysisches, wird sie nicht vielmehr aus<br />

Gründen des Anstands <strong>und</strong> der Schönheit gemalt, weil sie<br />

zahlreiche <strong>und</strong> starke Farbflecken ergibt? Ich bin der Meinung,<br />

daß in der Ikone sogar ein schlichtweg dekoratives Moment<br />

eine Rolle spielt <strong>und</strong> einige Details <strong>und</strong> Verfahren der<br />

Ikone nicht nur keine metaphysische, sondern nicht einmal<br />

eine naturalistische Bedeutung haben: der N<strong>im</strong>bus, die Razdelka,<br />

d.h. die Goldschraffur der Kleider, vor allem des Erlösers.<br />

Hat deiner Meinung nach auch dieses Gold eine Entsprechung<br />

<strong>im</strong> Dargestellten? Mir scheint, dies galt einfach als<br />

schön <strong>und</strong> erfreulich - <strong>und</strong> schön ist es ja tatsächlich -, <strong>und</strong><br />

eine Kirche, die mit solchen Ikonen geschmückt ist, erfreut<br />

. 12 5


den Blick, besonders zusammen mit farbigen Lämpchen <strong>und</strong><br />

vielen Kerzen.«<br />

»Mit Leibniz zu sprechen: Du hast recht in deinen Positionen<br />

<strong>und</strong> unrecht in deinen Negationen. Aber wir wollen jetzt<br />

nicht über Billigkeit sprechen, sondern über das Gegenteil.<br />

Nun denn, zunächst die allgemeine Frage nach dem Sinn. Ich<br />

bin sicher, daß du über Metaphysik ebenso konkret denkst<br />

wie ich <strong>und</strong> in den Ideen dieselben anschaulich zu betrachtenden<br />

Antlitze der Dinge siehst, lebendige Erscheinungen der<br />

geistigen Welt, wie wir alle; ich fürchte aber, daß dich, wenn<br />

es um die Anwendung dieser Gedanken in best<strong>im</strong>mten Einzelfällen<br />

geht, Feigheit überkommt <strong>und</strong> du mit dem Bein in<br />

der Luft verharrst <strong>und</strong> dich nicht entschließt, den begonnenen,<br />

ja vollzogenen Schritt zu beenden, es aber auch nicht für<br />

richtig hältst, zur abstrakten Metaphysik zurückzukehren,<br />

zur Idee als einem Sinn, der nicht anschaulich sein kann. Indessen<br />

darf man hier nicht irgendwelche Zwischenrichtungen<br />

<strong>im</strong> Verständnis suchen, es kann sie auch gar nicht geben.<br />

Ein lebendiger Organismus ist ganzheitlich, <strong>und</strong> in ihm kann<br />

es nichts geben, was nicht durch die Lebenskräfte organisiert<br />

wäre; <strong>und</strong> wenn es nur das geringste Nichtlebendige gäbe,<br />

<strong>und</strong> wäre es noch so klein, so würde auch die Ganzheit des<br />

Organismus zerstört. Er existiert nur als anschaulich sich<br />

selbst offenbarende Lebenskraft oder formbildende Idee;<br />

oder er existiert überhaupt nicht, <strong>und</strong> noch das Wort Organismus<br />

müßte aus dem Wortschatz gestrichen werden. Ganz<br />

genau so verhält es sich mit dem Organismus des Kunstwerks:<br />

Gäbe es in ihm etwas Zufälliges, so würde dies bezeugen,<br />

daß das Werk sich nicht in allen seinen Teilen verkörpert<br />

hat, daß es noch nicht ganz aus dem Boden herausgewachsen<br />

<strong>und</strong> an manchen Stellen noch von Klumpen toter Erde bedeckt<br />

ist. Das konkret zur Erscheinung gebrachte metaphysische<br />

Wesen muß durch <strong>und</strong> durch anschaulich zur Erscheinung<br />

gebracht werden, <strong>und</strong> seine Erscheinung (<strong>und</strong> die Ikone<br />

.126


gilt als eine solche) muß in allen Einzelheiten, wenn sie ein<br />

einziges Ganzes ist, anschaulich sein: Ließe sich irgendetwas<br />

auf der Ikone nur vom abstrakten Sinn her begreifen, oder<br />

wäre es nur äußeres Detail naturalistischen oder dekorativen<br />

Charakters, so würde es die Erscheinung als Ganzes zerstören,<br />

<strong>und</strong> die Ikone wäre nicht Ikone.<br />

Bei dieser Gelegenheit fällt mir die Erörterung eines Theologen<br />

über die Auferstehung der Körper ein, in der der Versuch<br />

gemacht wird, die Organe einzuteilen in solche, die in der<br />

zukünftigen Zeit notwendig, <strong>und</strong> solche, die nicht notwendig<br />

sind, wobei nur erstere auferstehen, letztere aber nicht: Insbesondere<br />

die Verdauungsorgane würden nicht auferstehen.<br />

Durch solche Behauptungen wird aber die lebendige, innerlich<br />

verb<strong>und</strong>ene Einheit des Körpers völlig zerstört. Wenn<br />

man schon gewissenhaft über die Auferstehung des Körpers<br />

sprechen will: Wie wird er denn rein äußerlich aussehen,<br />

wenn alles >unnötige< entfernt ist - muß man sich den zukünftigen<br />

Körper etwa als mit Äther vollgepumpte Hautblase vorstellen?<br />

Wenn man den Körper naturalistisch denkt, so vermag<br />

er auf keine Art <strong>und</strong> in nichts durch sich selbst, den metaphysischen<br />

Bau des geistigen Organismus zur Erscheinung<br />

zu bringen, <strong>und</strong> dann ist er in der zukünftigen Zeit unnötig -<br />

als ganzer <strong>und</strong> in seinen Teilen: Alle Organe verdienten es<br />

dann, abgeschnitten zu werden, <strong>und</strong> erbten als >Fleisch <strong>und</strong><br />

Blut< nicht das Reich Gottes.<br />

Wenn umgekehrt der Körper symbolisch gedacht wird, so<br />

bringt er als ganzer, in allen seinen Einzelheiten, die geistige<br />

Idee der menschlichen Persönlichkeit anschaulich zur Erscheinung,<br />

<strong>und</strong> dann werden alle Organe nach gehe<strong>im</strong>nisvoller<br />

Umwandlung als Zeugen des Geistes auferstehen, denn<br />

keines unter ihnen, das notwendig ist <strong>im</strong> ganzen Bestand des<br />

Organismus, vermag, ohne die anderen zu leben <strong>und</strong> zu wirken,<br />

<strong>und</strong> dient seinerseits notwendig allen anderen; auf der<br />

Ebene des geistigen Sinns dient es der Erscheinung der Idee,<br />

.127


<strong>und</strong> ohne es n<strong>im</strong>mt die Erscheinung der Idee Schaden. Die<br />

Ikone ist ein Bild der zukünftigen Zeit; sie ermöglicht es (auf<br />

welche Weise, darauf werden wir nicht eingehen), die Zeit zu<br />

überspringen <strong>und</strong> - wenn auch schwankende - Bilder der zukünftigen<br />

Zeit zu erblicken, >wie be<strong>im</strong> Wahrsagen mit dem<br />

Spiegeh. Diese Bilder sind durch <strong>und</strong> durch konkret, <strong>und</strong> von<br />

der Zufälligkeit einiger ihrer Teile zu sprechen, heißt das Wesen<br />

des Symbolischen gründlich zu verkennen. Denn wenn<br />

man schon diese oder jene Einzelheit als zufällig erachtet, so<br />

gibt es keinen Gr<strong>und</strong>, dasselbe nicht auch in bezug auf andere<br />

Einzelheiten zu tun, ähnlich wie in der oben erwähnten Erörterung<br />

über die auferstandenen Leiber.«<br />

»Aber gibt es tatsächlich in keiner einzigen Ikone je etwas<br />

Zufälliges?«<br />

»Das habe ich nicht gesagt. Im Gegenteil, Zufälliges kommt<br />

sehr oft <strong>und</strong> in großer Zahl vor. Aber als zufällig kann sich<strong>und</strong><br />

das trifft sogar meistens zu - nicht Zweitrangiges <strong>und</strong><br />

Minderes - Piatons >HaarWeisheit des Fleisches« hineinzutragen.<br />

Das Zufällige auf der Ikone ist nicht das Zufällige der Ikone,<br />

sondern das ihres Kopisten <strong>und</strong> ihrer Wiederholung. Und es<br />

ist klar, je entscheidender irgendein Teil der Ikonendarstellung<br />

ist <strong>und</strong> je mehr Durchdringung er folglich fordert, desto<br />

leichter kann die Ikone entstellt werden - durch zufällige Linien<br />

<strong>und</strong> metaphysisch nicht berechtigte Farbflecken, die in<br />

bezug auf das geistige Wesen einer Ikone dasselbe sind wie die<br />

Dreckspritzer von einer vorbeifahrenden Kutsche am Fensterglas,<br />

d.h. sie verhindern einfach, in die Ferne zu sehen,<br />

.128


<strong>und</strong> lassen kein Licht ins Z<strong>im</strong>mer. Mögen solche Entstellungen<br />

der Ikone dem Blick noch so sehr schmeicheln, sie sind<br />

nicht mehr als schmutzige Flecken; sie können sich aber<br />

schließlich in solchem Maße ansammeln, daß das geistige Wesen<br />

der Ikone unsichtbar wird; freilich folgt daraus nicht, daß<br />

diese oder jene Art Einzelheit - nicht aufgr<strong>und</strong> ihrer Ausführung,<br />

ihrer »Malweise«, sondern an sich, als solche - unzugänglich<br />

<strong>und</strong> folglich zufällig wäre <strong>und</strong> nichts Geistiges ausdrückte.<br />

«<br />

»Und die Kleidung?«<br />

»Die Kleidung? Nur Rozanov versichert irgendwo, in der<br />

zukünftigen Zeit würden alle nackt sein, <strong>und</strong> als feindselige<br />

Geste gegenüber der Kirche <strong>und</strong> der Idee der Auferstehung<br />

als solcher zeigt er unerwartet einen Anfall von Schamhaftigkeit,<br />

in deren Namen er das Dogma der Auferstehung negiert.<br />

Die Kirche aber, wie dir bekannt ist, lehrt uns gerade<br />

das Gegenteil, <strong>und</strong> der Apostel Paulus drückt nur die Befürchtung<br />

aus, daß diejenigen von uns, deren Körper <strong>im</strong> Läuterungsfeuer<br />

verbrennen werden, nackt dastünden (i. Kor. 3,<br />

13). Wenn Rozanov Gr<strong>und</strong> zur Annahme hat, daß seine persönlichen<br />

Kleider so leicht brennen, so ist es seine Sache, sich<br />

um etwas Haltbareres zu bemühen - er sollte sich deshalb<br />

aber nicht über eine angebliche >universelle Entblößung* empören.<br />

Wie auch <strong>im</strong>mer: Auf den Ikonen werden diejenigen<br />

abgebildet, deren Werke bekanntlich <strong>im</strong> Feuer der Prüfung<br />

unversehrt bleiben, die nur ergraut <strong>und</strong> schön geworden sind<br />

von den letzten Spuren irdischer Zufälligkeiten. Sie werden<br />

gewiß nicht nackt dastehen. Mit einem etwas blumigen, aber<br />

sehr exakten Ausdruck kann man ihre Kleidung als Gewebe<br />

aus ihren asketischen Werken bezeichnen; das ist keine Metapher,<br />

sondern Ausdruck des Gedankens, daß die Heiligen<br />

durch geistige Askese an ihrem Körper neue Gewebe lichter<br />

Organe entwickelt haben als einen dem Körper nächsten Bereich<br />

geistiger Energien; in der anschaulichen Wahrnehmung<br />

.129


wird diese Ausweitung des Körpers durch die Kleidung symbolisiert.<br />

>Fleisch <strong>und</strong> Blut werden das Reich Gottes nich<br />

erbenhalb


alterlichen <strong>Rußland</strong> zum Moskauer Renaissance-Zarentum<br />

begreifen: Uber der Ikonenmalerei der zweiten Hälfte des<br />

16. Jahrh<strong>und</strong>erts schwebt bereits die Zeit der Wirren als geistige<br />

Krankheit der russischen Gesellschaft. Aber die Ges<strong>und</strong>ung<br />

<strong>im</strong> 17. Jahrh<strong>und</strong>ert war lediglich eine Restauration, eine<br />

Reparatur - ein neues Leben begannen die Russen mit dem<br />

Barock. Wir erblicken hier neben den zeremoniellen Posen<br />

<strong>und</strong> den absichtlich archaisierenden, auf 14. Jahrh<strong>und</strong>ert stilisierten<br />

Falten feiste, für Geistiges <strong>und</strong>urchdringliche Gesichter<br />

<strong>und</strong> Figuren sowie naturalistische, uninspirierte Falten.<br />

Übrigens wurde diese restaurative Archaisierung, wie jede<br />

andere, durch die offensichtlicheren Bestrebungen des 17.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts sehr bald bewußt aufgehoben. Als hätten sie die<br />

höfisch-zeremonielle Erstarrung vergessen, beginnen die Figuren<br />

zu tanzen, die Falten werden r<strong>und</strong>er, biegen sich <strong>im</strong>mer<br />

mehr, geraten in Unordnung <strong>und</strong> streben <strong>im</strong>mer eindeutiger<br />

der >Natur< zu, d.h. der Sichtbarkeit des Sinnlichen,<br />

statt als Symbol des Übersinnlichen zu dienen: Die Hefe einer<br />

neuen Zeit bringt <strong>Rußland</strong> in Gärung. Auch die Petrinischen<br />

Reformen, ein erneuter geistiger Umschwung in negative<br />

Richtung, hätte man ihrem Wesen nach aus den Falten der<br />

Ikonenmalerei vorhersagen können. Noch etwas später blähen<br />

sich die Kleider auf, die Falten bekommen den Charakter<br />

eleganter Sittenlosigkeit <strong>und</strong> raffinierter Sinnlichkeit, sie r<strong>und</strong>en<br />

sich <strong>im</strong> Geist des Rokoko <strong>und</strong> geben von der Natur nur<br />

das Zufällige <strong>und</strong> Äußerliche wieder: Die geistige Weltanschauung<br />

verfällt, <strong>und</strong> selbst das unerfahrene Auge erkennt in<br />

den Erscheinungsformen der Ikonenmalerei die kommende<br />

Revolution. Ich will diese Phänomene nicht weiter analysieren<br />

- lediglich auf eine erneute Restauration möchte ich noch<br />

verweisen, auf die Heilige Allianz mit einem sinnlichen <strong>und</strong><br />

unges<strong>und</strong>en Mystizismus, ferner auf die geistige Erziehung<br />

von Staats wegen, mit ihrer gesitteten Ikonenmalerei, der<br />

aber der Funke der Inspiration fehlt, einer Ikonenmalerei in<br />

.132


einer Art Kompromißstil sämtlicher Jahrh<strong>und</strong>erte, einem<br />

Stil, der <strong>im</strong> Kern rationalistisch, jedoch vorsichtig ist, <strong>und</strong> aus<br />

Vorsicht die mystischen Elemente nicht leugnet, aber so weit<br />

wie möglich beschneidet <strong>und</strong> zu konventionellen Zeichen des<br />

»Vernünftigen*, >GutenEwigen< macht...«<br />

»Natürlich liegt der Gedanke nahe, daß die Falten für den<br />

geistigen Gehalt der Ikone nicht gleichgültig sind. Aber<br />

gleichwohl bleibt eine realistische Reihe von Verfahren der<br />

Ikonenmalerei unerklärt. Die Falten können in ihrer Eigenart,<br />

wie <strong>im</strong>mer sie aussieht, etwas Geistiges ausdrücken, sofern<br />

überhaupt Falten vorhanden sind. Aber die goldenen<br />

Razdelki, z.B. die Goldschraffur oder die Goldstreifen auf<br />

der Kleidung, sie haben keine Entsprechung; es fällt schwer,<br />

in ihnen etwas anderes zu sehen als einen Dekor, der nichts<br />

ausdrückt, es sei denn den subjektiven Eifer des Ikonenmalers.«<br />

»Im Gegenteil, der Asist, von dem du sprichst, d.h. der in<br />

einer besonderen Anordnung von Strichen, manchmal in<br />

Streifen aufgeklebte Goldfilm, ist einer der überzeugendsten<br />

Beweise für die konkret metaphysische Bedeutung der Ikonenmalerei.<br />

Deshalb ist verständlich, daß sein - oberflächlich<br />

betrachtet - einförmiger Charakter sich entscheidend, <strong>und</strong> sei<br />

es in der Feinstruktur - beinahe histologisch -, mit dem ikonenmalerischen<br />

Stil verändert: Dieses überaus feine Netz ist<br />

eine besonders ausdrucksvolle Krönung der ontologischen<br />

Beschaffenheit der Ikone.«<br />

»Aber wozu denn in einer Darstellung das Gold, das keine<br />

Entsprechung hat, abgesehen vielleicht vom Gold in Form<br />

goldener Verzierungen? Ist denn nicht offenk<strong>und</strong>ig, daß es<br />

aufgr<strong>und</strong> der Natur seines Glanzes inkommensurabel ist, daß<br />

es in keine Beziehung zu den Farben gebracht werden kann?<br />

Nicht ohne Gr<strong>und</strong> hat doch nahezu die gesamte Malerei auf<br />

den Gebrauch von Gold verzichtet, selbst in Form der pulverisierten<br />

Goldfarbe, die den übrigen Farben viel weniger<br />

.133


fremd ist. Schau: Selbst goldene, überhaupt metallische Gegenstände<br />

werden nicht mit Goldfarbe dargestellt, <strong>und</strong> in den<br />

seltenen Fällen, wo man sie in Gold ausführt, ist es meist abstoßend;<br />

die Goldbemalung liegt dann auf dem Bild wie ein<br />

zufällig angeklebtes Stück vergoldeter Oberfläche, so daß<br />

man es abwischen möchte.«<br />

»Genau so ist es. Doch durch deinen Hinweis wird dieses <strong>im</strong><br />

Repertoire der ikonenmalerischen Uberlieferung obligatorische<br />

Verfahren - be<strong>im</strong> Asist <strong>und</strong> in anderen Fällen der Verwendung<br />

von Gold (aber nur in der Ikonenmalerei, namentlich<br />

dort, nicht generell in der Malerei) - nur erklärt, keineswegs<br />

verworfen. Übrigens bedurfte es, als ich die Berechtigung<br />

deiner Überlegungen zugab, einer kleinen Korrektur<br />

des oben Gesagten: Außer Gold ist in der Ikonenmalerei -<br />

extrem selten freilich - bei der Razdelka <strong>und</strong> in einigen anderen<br />

Fällen auch Silber verwendet worden. Aber Silber war<br />

unüblich. Mit dieser Tatsache aus der Geschichte der Technik<br />

der Ikonenmalerei ist zu beginnen. Du mußt bedenken, daß<br />

Silber gegen die Tradition der Ikonenmalerei in die Ikone eingebracht<br />

wurde; es verdient Aufmerksamkeit, daß eine ungewöhnlich<br />

elegante, datierte Ikone von unzweifelhaft höfischem<br />

Ursprung neben Gold auch Silber zeigt, doch ist der<br />

Eindruck eher der von raffiniertem Luxus, um so mehr, als<br />

die silberne Razdelka auf das Schultertuch der Gottesmutter<br />

aufgetragen ist, wo kein Asist hingehört, <strong>und</strong> gegen dessen<br />

symbolische Bedeutung. Man muß hier von einem maßlosen<br />

Eifer entweder des Auftraggebers oder des Ausführenden bei<br />

der Ausstattung einer Geschenkikone ausgehen, die höchstwahrscheinlich<br />

für eine Hochzeit best<strong>im</strong>mt war. Die Anleitungen<br />

<strong>und</strong> Handbücher der Ikonenmalerei sehen jedenfalls<br />

kein Silber auf der Ikone vor, nicht einmal ausnahmsweise,<br />

während Gold in der sozusagen kanonischen Ikone obligatorisch<br />

ist. Freilich ist gerade Silber (anders als Gold, wie du<br />

richtig bemerkt hast) nicht ganz so inkommensurabel <strong>und</strong><br />

.134


den Farben unvergleichbar, es hat eine gewisse Verwandtschaft<br />

mit Blaugrau <strong>und</strong> partiell mit Weiß.<br />

Dazu kommt: In der Ikonenmalerei der Blütezeit, in der vollkommenen<br />

Ikonenmalerei, war nur Blattgold erlaubt, d.h.<br />

Gold, das den vollen Metallglanz entfaltet <strong>und</strong> ganz anders<br />

geartet ist als Farbe; aber in dem Maß, wie in die Ikonenmalerei<br />

das naturalistische Element eindrang, das Element dieser<br />

Welt, wurde das Blattgold durch angerührtes Gold ersetzt,<br />

d. h. durch Gold, das als feinstes Pulver matt ist <strong>und</strong> der Farbe<br />

näherkommt.<br />

Und ferner: Du sagst, goldene <strong>und</strong> allgemein metallische Gegenstände<br />

werden in der Malerei nicht mit Gold gemalt. Aber<br />

kennst du tatsächlich in der Ikonenmalerei auch nur ein einziges<br />

Beispiel dafür, daß Gold durch Gold oder allgemein Metall<br />

durch Metall dargestellt wird? Nicht wahr, wenn Gold überhaupt<br />

zugelassen ist, warum dann nicht zum >ErschließenMöge der Betrachter<br />

nicht danach forschen, was das Gold darstellt: Gold<br />

ist ungegenständlichbeinahe so< hat in solchen Fällen<br />

dasselbe Gewicht wie >es ist überhaupt nicht so


der Ikonenmalerei besteht darin, das Gold in angemessener<br />

Entfernung von den Farben zu halten <strong>und</strong> dadurch, daß sie<br />

seinen metallischen Glanz in vollem Maß offenbart, die Unvergleichbarkeit<br />

von Gold <strong>und</strong> Farbe so zuzuspitzen, daß<br />

kein Zweifel mehr aufkommen kann. Die gelungene Ikone<br />

erreicht dies; in ihrem Gold ist keine Spur von Trübung,<br />

Stofflichkeit, Verschmutzung. Dieses Gold ist reines, unvermischtes<br />

Licht, <strong>und</strong> man wird es nicht in die Reihe der Farben<br />

einordnen, bei denen man wahrn<strong>im</strong>mt, daß sie Licht reflektieren:<br />

Farben <strong>und</strong> Gold gelten visuell als verschiedenen<br />

Seinsbereichen zugehörig.<br />

Gold hat keine Farbe, obwohl es durchaus einen Ton hat. Es<br />

ist abstrahiert, es ist in einem best<strong>im</strong>mten Sinn dem Strich der<br />

Gravüre analog, steht aber in einer polaren Spannung zu ihm.<br />

Ein weißer Strich in der Gravüre ist weiß, er ist nicht abstrahiert<br />

<strong>und</strong> stellt sich in die Reihe der anderen Farben; deshalb<br />

kann er nicht als Positiv gelten, wie es einem abstrakten Negativ<br />

tatsächlich entspricht - dem schwarzen Strich. Das Positiv<br />

des letzteren ist der goldene Asist, das reine Licht, <strong>im</strong><br />

Gegensatz zu dessen einfacher Abwesenheit, dem Netz der<br />

Striche in der Gravüre. Das eine wie das andere ist abstrakt,<br />

d. h. nichtsinnlich, völlig von Psychologismus gereinigt, <strong>und</strong><br />

gehört folglich in die Sphäre der Vernunft. Doch ungeachtet<br />

der tiefreichenden Entsprechung der beiden Netze von Strichen,<br />

des schwarzen der Gravüre <strong>und</strong> des goldenen der<br />

Ikone, trennt sie der Abgr<strong>und</strong>, der zwischen >Nein< <strong>und</strong> >Ja<<br />

liegt: Der goldene Strich ist Anwesenheit der Realität, der<br />

Strich der Gravüre ihre Abwesenheit.«<br />

»Aber was für eine Realität, d.h. nicht welche selbständige,<br />

sondern welche darstellende Realität kann der Asist sein, sofern<br />

das Gold (<strong>und</strong> das räumst du ein) keine Entsprechung<br />

hat?«<br />

»Ich habe doch nicht gesagt, daß das Gold keine Entsprechung<br />

hat. Es ging ja, du erinnerst dich, um die Inkommen-<br />

.136


surabilität von Gold <strong>und</strong> Farben; folglich beschränkt sich<br />

der Bereich dessen, was dem Gold nicht entspricht, gerade<br />

auf das, was der Farbe entspricht. Aber das, was nicht der<br />

Farbe entspräche, muß verständlicherweise in sich ein anderes<br />

Darstellungsmittel suchen als das Licht. Wenn das Weltverständnis<br />

naturalistisch ist <strong>und</strong> aller Inhalt der Erfahrung<br />

als homogen, sinnlich angesehen wird, so wird eine Zweiteilung<br />

der Darstellungsmittel verurteilt <strong>und</strong> als schreiende<br />

Lüge abgelehnt: Wenn die Welt nur sichtbare Welt ist, muß<br />

auch das Darstellungsmittel in sich gleichförmig <strong>und</strong> ebenfalls<br />

sinnlich sein. Das gilt für die westliche Malerei, die ihrem<br />

Wesen gemäß das Ubersinnliche aus ihrer Erfahrung<br />

ausschließt <strong>und</strong> deshalb nicht nur das Gold als Darstellungsmittel<br />

aussondert, sondern auch vor ihm zurückschreckt,<br />

weil das Gold die Einheit des geistigen Stils des Bildes zerstört.<br />

Wenn es dennoch eingebracht wird, so in grob-materialistischer<br />

Weise, als nackte Metall-Imitation, <strong>und</strong> dann<br />

sieht es aus wie aufgeklebte Zeitungsfetzen <strong>und</strong> Fotografien<br />

oder die auf Bilder linker Richtungen der jüngsten Vergangenheit<br />

aufgenagelten Sardinenbüchsen. In solchen Fällen<br />

kann das Gold nicht als Darstellungsmittel angesehen werden<br />

<strong>und</strong> ist <strong>im</strong> Bildinventar lediglich Dmg in seiner natürlichen<br />

Beschaffenheit.«<br />

»Du gehst also davon aus, daß das Gold des Asist, analog dem<br />

Strich der Gravüre, die Aufgabe hat, das Dargestellte unter<br />

Umgehung seines anschaulichen Vorhandenseins zu rekonstruieren,<br />

daß es die Form des Seins der dargestellten Wirklichkeit<br />

übermitteln will?«<br />

»Wir leiden nicht an dem protestantisch-kantschen Hochmut,<br />

der von Gott nur deshalb nicht den vollen Saft <strong>und</strong> das<br />

Leben der Welt annehmen will, weil sie uns gegeben, geschenkt<br />

ist, geschaffen für uns, nicht von uns. Und wozu sollten<br />

wir die Welt rational rekonstruieren in dem Aspekt (selbst<br />

wenn das möglich wäre), der durch die Gnade Gottes mit<br />

.137


unseren körperlichen Organen geschaut, d. h. mit der ganzen<br />

Fülle unseres Wesens wahrgenommen wird? In dieser Hinsicht<br />

leugnen wir nicht die Wahrheit der Farben, die katholische<br />

Wahrheit, obwohl bei geistiger Nüchternheit die Farben<br />

sich selbst vergeistigen <strong>und</strong>, das Irdische verlassend, Edelsteinen<br />

<strong>im</strong>mer ähnlicher werden: verdichteten Planetenstrahlen.<br />

Aber es gibt nicht nur eine sichtbare Welt - <strong>und</strong> sei es für den<br />

vergeistigten Blick -, sondern auch eine unsichtbare, die<br />

Göttliche Gnade, die wie geschmolzenes Metall in vergöttlichter<br />

Realität dahinströmt. Diese Welt ist der Sinnlichkeit<br />

unzugänglich, sie wird mit dem Geist erfaßt (wir gebrauchen<br />

dieses Wort natürlich in seiner uralten, kirchlichen Bedeutung).<br />

In diesem Sinne könnte man von der Konstruktion<br />

oder Rekonstruktion einer geistigen Realität sprechen. Es<br />

gibt jedoch einen schroffen Gegensatz zwischen dieser Rekonstruktion<br />

<strong>und</strong> derjenigen des Protestantismus. Auf der<br />

Ikone wird, wie generell in der kirchlichen Kultur, konstruiert,<br />

was der sinnlichen Erfahrung nicht gegeben ist <strong>und</strong> was<br />

wir uns folglich, wenn auch schematisch, anschaulich vorstellen<br />

müssen, während die protestantische Kultur, die die unsichtbare<br />

Welt nicht einmal erwähnt, das dem Menschen in<br />

direkter Erfahrung Gegebene in ein Schema verwandelt; wir<br />

ergänzen notwendigerweise die Erkenntnis der unsichtbaren<br />

Welt, fügen teils das Wissen der unsichtbaren Welt hinzu,<br />

während in der protestantischen Kultur der Mensch sich nach<br />

Kräften müht, aus sich selbst hervorzubringen, was ohnehin<br />

vor seinen Augen ist. Und zudem wird diese kirchliche Konstruktion<br />

nicht ohne geistige Realität verwirklicht - in der<br />

Konstruktion verströmt das Licht selbst, d.h. die geistige<br />

Realität in der Natur. Gold, Metall, Sonne haben ja deswegen<br />

keine Farbe, weil sie nahezu identisch sind mit dem Sonnenlicht.<br />

Das ist der Gr<strong>und</strong>, warum der Hinweis von V. M. Vasnecov,<br />

den ich wiederholt von ihm hörte, daß man den H<strong>im</strong>mel<br />

mit keiner Farbe, sondern nur mit Gold darstellen dürfe,<br />

138<br />

eine tiefe Wahrheit enthält. Je mehr man sich in den H<strong>im</strong>mel<br />

versenkt, besonders <strong>im</strong> Umkreis der Sonne, desto mehr festigt<br />

sich der Gedanke, daß nicht helles Blau sein charakteristisches<br />

Merkmal ist, sondern das strahlende Licht, die Sättigung<br />

des Raums mit Licht, <strong>und</strong> daß diese Lichttiefe nur mit<br />

Gold wiedergegeben werden kann; Farbe kommt einem<br />

dagegen schmutzig, flach, <strong>und</strong>urchsichtig vor. Aus reinstem<br />

Licht also konstruiert der Ikonenmaler, aber er konstruiert<br />

nicht, was ihm zufällig begegnet, sondern nur das Unsichtbare,<br />

geistig Erfaßbare, das in unserem Erfahrungsbestand -<br />

wenn auch nicht sinnlich - Anwesende, das in der Darstellung<br />

deswegen gr<strong>und</strong>sätzlich von Darstellungen des Sinnlichen<br />

getrennt werden muß. Und analog dazu geschieht es<br />

auch in anderen Zweigen der kirchlichen Kultur, insbesondere<br />

in der Weltanschauung, wo sich das Dogma als goldene<br />

Formel der unsichtbaren Welt mit den farbigen Formeln der<br />

sichtbaren Welt, die der Wissenschaft <strong>und</strong> der Philosophie<br />

angehören, vereint, aber nicht vermischt. Im Gegensatz dazu<br />

wollen sowohl das protestantische Denken als auch die protestantische<br />

Graphik die wahre Realität nicht aus dem Licht<br />

konstruieren, sondern aus der Abwesenheit der Realität, aus<br />

Finsternis, aus Nichts (es mag genügen, an die Cohen-Schule<br />

zu erinnern).«<br />

»Folglich n<strong>im</strong>mst du an, daß durch die Razdelka, durch die<br />

goldenen Striche des Asist die Metaphysik des auf der Darstellung<br />

Abgeteilten gegeben wird? Der ontologische Bau der<br />

Kleidung, wenn Kleider, Bücher, Sessel, Sockel u. ä. abgeteilt<br />

werden? Ich verstehe dich so, daß du in den Linien der Razdelka<br />

unsichtbare, aber irgendwie durch uns erkennbare <strong>und</strong><br />

dann zu einem sinnlichen Bild sich entfaltende Urkräfte<br />

siehst, die durch ihre Wechselwirkung das ontologische Skelett<br />

des Dings bilden. Dann könnte man tatsächlich von der<br />

Razdelka als von den Kraftlinien des Feldes sprechen, das das<br />

Ding formt. Insofern könnten dies mit dem Geist erfaßbare,<br />

139


aber sinnlich dem Sehvermögen nicht zugängliche Druck<strong>und</strong><br />

Zuglinien sein; speziell auf der Kleidung könnten dann<br />

die Linien der Razdelka ein System potentieller Falten zeigen,<br />

d.h. von Linien, entlang denen das Gewebe der Kleidung<br />

Falten werfen würde, wenn für eine Faltenbildung Raum<br />

wäre.«<br />

»Kraftlinien, Kraftfeld - das ist treffend <strong>und</strong> in einem best<strong>im</strong>mten<br />

Sinn richtig. In der Tat, verlangte man von einem<br />

Künstler, einen Magneten darzustellen, <strong>und</strong> begnügte er sich<br />

mit der Wiedergabe des Sichtbaren (ich spreche jetzt natürlich<br />

vom Sichtbaren <strong>und</strong> Unsichtbaren nicht <strong>im</strong> höchsten<br />

dogmatischen Sinn, sondern mehr lebensweltlich <strong>und</strong> grob),<br />

so würde er nicht einen Magnet, sondern ein Stück Stahl darstellen;<br />

das Wesentliche am Magneten, das Kraftfeld, käme,<br />

weil unsichtbar, nicht zur Darstellung, es würde nicht einmal<br />

darauf hingewiesen, obwohl es in unserer Vorstellung von einem<br />

Magneten zweifellos präsent ist. Nicht nur das: Wenn<br />

wir vom Magneten sprechen, verstehen wir darunter ein<br />

Kraftfeld, zu dem wir uns in Gedanken ein Stück Stahl vorstellen,<br />

nicht umgekehrt ein Stück Stahl <strong>und</strong> sek<strong>und</strong>är die mit<br />

ihm verknüpften Kräfte. Wenn aber der Künstler andererseits<br />

unter Benutzung beispielsweise eines Lehrbuchs der Physik<br />

auch das Kraftfeld als ein Ding zeichnen würde, visuell dem<br />

eigentlichen Magneten, dem Stahl gleichrangig, so würde er<br />

in der Darstellung Ding <strong>und</strong> Kraft, Sichtbares <strong>und</strong> Unsichtbares<br />

vermischen <strong>und</strong> erstens die Unwahrheit über das Ding<br />

sagen, zweitens die Kraft der ihr eigenen Natur berauben, der<br />

Fähigkeit zu wirken, sowie der Unsichtbarkeit: das ergäbe in<br />

der Darstellung zwei Dinge, aber keinen Magneten. Es ist<br />

klar, daß in der Darstellung eines Magneten Feld <strong>und</strong> Stahl<br />

wiedergegeben werden müssen, jedoch so, daß die Wiedergabe<br />

des einen <strong>und</strong> die Wiedergabe des anderen inkommensurabel<br />

<strong>und</strong> auf unterschiedliche Ebenen bezogen bleiben. Dabei<br />

muß der Stahl durch Farbe wiedergegeben werden, das<br />

.140


Kraftfeld abstrakt, damit nicht eine eigentlich unmögliche<br />

Motivierung dafür erforderlich wird, warum das Kraftfeld<br />

gerade durch diese Farbe vertreten wird <strong>und</strong> nicht durch eine<br />

andere. Ich möchte es nicht übernehmen, einem Künstler zu<br />

zeigen, wie denn eine solche unvermischte Vereinigung<br />

zweier Ebenen zu bewerkstelligen wäre, aber ich bin der festen<br />

Überzeugung, daß die darstellende Kunst dazu in der<br />

Lage ist. Im Extrem aber ist eine solch unvermischte Vereinigung<br />

die Darstellung der unsichtbaren Seite des Sichtbaren,<br />

der >unsichtbaren< <strong>im</strong> höchsten <strong>und</strong> letzten Wortsinn, d.h.<br />

der Göttlichen Energie, die durchdringt, was dem Auge sichtbar<br />

ist. Das eigentlich Unsichtbare, diese Energie, ist ja die<br />

mächtigste Kraft, wenn du so willst, das wirklichste Kraftfeld.<br />

Aber in dem Maß, wie die Unsichtbarkeit der Kraft Gottes<br />

die Unsichtbarkeit der Magnetkraft übertrifft, d. h. in dem<br />

Maß, wie jene in ontologischer Hinsicht dieser unendlich<br />

überlegen ist, übertrifft sie alle irdischen Kräfte in ihrer Wirksamkeit.<br />

Gleichnishaft kann man sagen: Die Form des Sichtbaren<br />

wird durch diese unsichtbaren Linien <strong>und</strong> Wege des<br />

Göttlichen Lichts gebildet.«<br />

»Mir scheint aber, du wolltest über mein >nicht so< sprechen,<br />

sprichst jedoch über das >so


tiert werden, weil schon die Fragestellung des Kultus diese<br />

Unterscheidung voraussetzt <strong>und</strong> ohne eine solche Unterscheidung<br />

die Frage gar nicht erst auftreten kann. Ahnlich<br />

wie es eine Offenbarung der Natur oder eine Offenbarung<br />

Gottes in der Natur gibt, aber auch die Offenbarung Gottes<br />

in einem unmittelbaren Sinn, so gibt es auch die Kraft Gottes<br />

— obwohl jede Kraft von Gott kommt - in einer besonderen<br />

Bedeutung. Ich wollte dir auch darin widersprechen, daß die<br />

Razdelka durch das Gold auf den Ikonen nicht den metaphysischen<br />

Bau der natürlichen Ordnung ausdrückt, obwohl<br />

auch er göttlich ist - vielmehr gehört sie zur unmittelbaren<br />

Manifestation der Energie Gottes. Du mußt beachten: Durch<br />

das Gold auf den Ikonen wird nicht irgendetwas Beliebiges<br />

abgeteilt, sondern nur, was eine direkte Beziehung zur Kraft<br />

Gottes hat - nicht zu einer metaphysischen, nicht einmal zu<br />

einer geheiligt-metaphysischen, sondern zu einer solchen<br />

Realität, die sich auf die unmittelbare Erscheinung der Gnade<br />

Gottes bezieht.<br />

Wenn wir die seltenen - zufälligen <strong>und</strong> willkürlichen - Abweichungen<br />

von der kirchlichen Uberlieferung außer acht<br />

lassen, so wird der Asist hauptsächlich auf die Kleidung des<br />

Erlösers (als Kind oder Erwachsener) aufgetragen, ferner auf<br />

die Darstellung des Evangeliums sowohl in der Hand des Erlösers<br />

wie der Heiligen, auf den Thron des Erlösers, auf die<br />

Sessel der Engel in der Darstellung der Heiligen Dreifaltigkeit,<br />

auf die Sockel des Erlösers <strong>und</strong> der Engel, wenn sie die<br />

Heilige Dreifaltigkeit darstellen; selten taucht er auf antiken<br />

Ikonen auf, d. h. nur auf solchen, die von höchster geistiger<br />

Bedeutung sind, außerdem selten beispielsweise auf dem Altar.<br />

Jedenfalls bezieht sich das Gold eindeutig auf das geistige<br />

Gold - das h<strong>im</strong>mlische Licht Gottes.<br />

Auf den späten Ikonen ist Gold, jedoch angerührtes <strong>und</strong> farbähnliches<br />

Gold, für die Aufhellung der Kleider der Heiligen<br />

<strong>und</strong> anderer Dinge zugelassen; aber auch hier bezeichnet es<br />

.142


den Abglanz der h<strong>im</strong>mlischen Gnade, obwohl es in dogmatischer<br />

Hinsicht <strong>und</strong> aufgr<strong>und</strong> der ikonenmalerischen Tradition<br />

als zweifelhaft gilt, ob ein persönliches Merkmal Gottes,<br />

selbst in abgeschwächter Form, auf den Heiligen übertragen<br />

werden kann. Der Asist, die entschiedenste Anwendung des<br />

Goldes, ist also Ausdruck nicht allgemein einer Kräfteontologie,<br />

sondern einer Ontologie Göttlicher Kräfte, der übersinnlichen<br />

Form, die das Sichtbare durchdringt. Brokat, besonders<br />

antiker, aus einzelnen Goldfäden gewebter Brokat,<br />

ist seiner geistigen Bedeutung nach das materielle Bild dieser<br />

Durchdringung des gereinigten Körpers der Welt mit dem<br />

Göttlichen Licht...«<br />

»Durch meine Fragen habe ich unser Gespräch doch auf einen<br />

Seitenpfad gelenkt <strong>und</strong> möchte deshalb, da ich eine gewisse<br />

Verwirrung verschuldet habe, die unangenehme Pflicht<br />

auf mich nehmen, uns zur Ordnung zu rufen. Was gerade<br />

gesagt wurde, bezieht sich auf ein Detail der ikonenmalerischen<br />

Technik, es ging aber darum, den allgemeinen Verlauf<br />

des Malens einer Ikone als Ausdruck kirchlicher Kultur zu<br />

begreifen. Nach den Erläuterungen zur katholischen Malerei<br />

<strong>und</strong> zur protestantischen Gravüre läßt sich natürlich eine best<strong>im</strong>mte<br />

geistige Ordnung auch in der Technik der Ikonenmalerei<br />

vorhersehen, die irgendwie mit der kirchlichen Kultur<br />

verknüpft ist; es wäre aber überzeugender, käme diese<br />

Verknüpfung bereits <strong>im</strong> Malprozeß der Ikone zum Vorschein.<br />

Hältst du das für möglich?«<br />

»Selbstverständlich. Und zum Beweis dafür, daß die Verfahren<br />

der Ikonenmalerei nicht zufällig sind, erlaube mir den<br />

Hinweis, daß wir sie <strong>im</strong> Verlauf der gesamten Kirchengeschichte<br />

antreffen <strong>und</strong> daß die kirchliche Kunst die Überlieferung<br />

der Techniken der Ikonenmalerei, die ins tiefste Altertum<br />

zurückreichen, treu gehütet hat. In diesen Darstellungsverfahren<br />

sehe ich eindeutig die Gr<strong>und</strong>lagen einer menschheitlichen<br />

Metaphysik <strong>und</strong> einer menschheitlichen Gnoseo-<br />

. 1 43


logie, die natürliche Art, die Welt zu sehen <strong>und</strong> zu verstehen,<br />

<strong>im</strong> Gegensatz zur künstlichen westlichen, wie sie in den Verfahren<br />

der westlichen Kunst zum Ausdruck kommt. N<strong>im</strong>m<br />

die Zeugnisse aus dem 5. <strong>und</strong> 6.Jahrh<strong>und</strong>ert, die eindeutig<br />

beweisen, daß die damaligen <strong>und</strong> die spätesten Verfahren der<br />

traditionellen Ikonenmalerei identisch sind. In der Erörterung<br />

der urbildlichen Bedeutung des Zugs der Juden durch<br />

das Rote Meer kommt dem heiligen Johannes Chrysostomus<br />

die Idee, die Begriffe des Bildes - τύπος-<strong>und</strong> der Wahrheitάλήΰεια<br />

- zu vergleichen, d. h. die Abbilder der Wirklichkeit<br />

<strong>und</strong> die Wirklichkeit selbst. >Aber was sagst du, dies (d.h. der<br />

Zug durch das Rote Meer) konnte das <strong>Urbild</strong> des Wahren<br />

(d. h. der Taufe) sein ? Wenn du erfährst, was Bild ist <strong>und</strong> was<br />

Wahrheit, werde ich dir auch dafür eine Erklärung geben.<br />

Was ist denn Schatten <strong>und</strong> was Wahrheit? Wir wollen über die<br />

Darstellung sprechen, die die Maler malen (wir merken an,<br />

daß gute Ikonenmaler sowohl bei uns als auch in Griechenland<br />

»Lebensschreiber«, Sographen oder Isographen genannt<br />

wurden). Du hast häufig gesehen, wie auf die Darstellung des<br />

Kaisers, die mit dunkler (κνάνεος- eigentlich dunkelblauer,<br />

der Farbe des Nachth<strong>im</strong>mels) Farbe gemalt ist, der Ikonenmaler<br />

anschließend weiße Linien aufträgt (γραμμή) <strong>und</strong> damit<br />

den Kaiser darstellt, den Kaiserthron, Pferde, vor ihm<br />

stehende Menschen, Lanzenträger, gefesselte <strong>und</strong> zu Boden<br />

geworfene Feinde. Wenn du aber diese Umrisse auf einmal<br />

siehst, erkennst <strong>und</strong> verstehst du nicht alles; aber daß ein<br />

Mensch gezeichnet wird <strong>und</strong> ein Pferd, ist nicht klar...


Wirklichkeit angleichen würde, paßt nicht zur kirchlichen<br />

Ontologie; noch weniger paßt das ephemere Papier, das den<br />

Kupferstich etwas <strong>im</strong> Scherz überw<strong>und</strong>enen extrem Festem<br />

angleicht. In der Malerei wird die Darstellungsfläche zu etwas<br />

Bedingtem herabgesetzt, in der Gravüre maßen sich Verstand<br />

<strong>und</strong> Hand des Künstlers einen Aufschwung in die Sphäre des<br />

Unbedingten an. Die kirchliche Kunst sucht sich eine extrem<br />

stabile Oberfläche, <strong>und</strong> zwar eine, die nicht >so tut, als ob


ung. Das sorgfältig ausgewählte, gut durchgetrocknete<br />

Brett, das auf der Vorderseite eine von einem Rahmen, den<br />

Rändern, umgebene Vertiefung hat, das Kästchen, wird gegen<br />

mögliches Verziehen durch querlaufende Einschubleisten gesichert.<br />

Man gr<strong>und</strong>iert das Brett in sieben aufeinanderfolgenden<br />

Arbeitsgängen: Zunächst ritzt man die Vorderseite<br />

kreuzweise mit einem spitzen Gegenstand, einer Ahle oder<br />

einem Nagel, dann le<strong>im</strong>t man sie mit gut gekochtem flüssigem<br />

Le<strong>im</strong> ab, anschließend, wenn sie gut durchgetrocknet ist,<br />

klebt man das Gewebe auf, d.h. Leinwand oder Mull, einen<br />

locker gewebten Hanfstoff, zu welchem Zweck die Tafel nun<br />

mit dickerem Le<strong>im</strong> bestrichen wird; das gut geglättete Gewebe<br />

wird erneut mit Le<strong>im</strong> überzogen. Nach 24 St<strong>und</strong>en<br />

wird das Brett geweißt, Weißer wird aufgetragen - eine gut<br />

vermischte Flüssigkeit aus Le<strong>im</strong> <strong>und</strong> Kreide. Wenn der Weißer<br />

getrocknet ist, wird das Brett <strong>im</strong> Verlauf von drei bis vier<br />

Tagen gr<strong>und</strong>iert, wobei die Gr<strong>und</strong>ierung sechs- bis siebenmal<br />

durchgeführt wird; der Gr<strong>und</strong> besteht aus Weißer, dem kochend<br />

heißes Wasser, etwas Firnis, d. h. gekochtes Ol, sowie<br />

Kreide zugefügt werden; der Gr<strong>und</strong> wird mit der Gremitka<br />

auf die Tafel aufgetragen, das ist ein breiter Spachtel, <strong>und</strong><br />

nach jeder Gr<strong>und</strong>ierung muß das Brett gut durchtrocknen.<br />

Dann kommt das Polieren der fertig gr<strong>und</strong>ierten Oberfläche,<br />

d. h. das Schleifen mit einem feuchten B<strong>im</strong>sstein in mehreren<br />

Arbeitsgängen, zwischen denen der Gr<strong>und</strong> trocknen muß,<br />

<strong>und</strong> schließlich der Trockenschliff mit einem trockenen Stück<br />

B<strong>im</strong>sstein sowie die Schlußbearbeitung der Oberfläche mit<br />

Schachtelhalm oder heute mit feinem Schmirgelpapier (Glaspapier).<br />

Erst jetzt ist die Darstellungsfläche der Ikone fertig.<br />

Es ist klar, sie ist nichts anderes als eine Wand, genauer eine<br />

Wandnische, nur daß in dem Ikonenbrett die vollkommenen<br />

Eigenschaften der Wand konzentriert versammelt sind: Die<br />

Oberfläche ist aufgr<strong>und</strong> ihrer weißen Farbe, der Feinheit der<br />

Struktur, der Homogenität u.ä. die Essenz einer Wand, <strong>und</strong><br />

.146


deshalb ermöglicht sie in vollkommener Weise die Gattung<br />

der Malerei, die als die edelste gilt - die Wandmalerei. Die<br />

Ikonenmalerei ist historisch gesehen aus der Technik der<br />

Wandmalerei entstanden <strong>und</strong> ist dem Wesen nach ihr eigentliches<br />

Leben, befreit von den äußeren Abhängigkeiten der<br />

Wandmalerei, von zufälligen architektonischen <strong>und</strong> anderen<br />

Einschränkungen.«<br />

»Wenn es sich so verhält, wirst du gewiß das gängige Verfahren<br />

der Wandmaler, die Zeichnung mit einer Spitze auf die<br />

Wandoberfläche aufzutragen, sie eigentlich herauszukratzen,<br />

als ein Moment der Gravüre in der kirchlichen Kunst deuten<br />

wollen. Natürlich ist dieses Auskratzen der Konturen in der<br />

Wandmalerei Gravüre, aber was entspricht ihr in der metaphysisch<br />

verdichteten Wandmalerei?«<br />

»Ja, die Ikonenmalerei beginnt mit eben einer solchen Gravüre;<br />

zunächst überträgt der Ikonenmaler mit Kohle oder<br />

Bleistift die Vorzeichnung der Darstellung, d.h. die kirchlich<br />

tradierten Konturen, <strong>und</strong> dann wird das Gezeichnete mit der<br />

Graf ja eingeritzt, d.h. mit einer Nadel eingraviert, die am<br />

Ende eines kleinen Stocks angebracht ist; schon das Wort<br />

γράφω heißt ja >ich schneide*, >ich ritze*, >ich kratze*, >ich<br />

graviere*; γραφίς ist die Gravürenadel. Diese Graf'ja ist ein<br />

altes, sehr altes Instrument, dessen Spuren sich in den Zeiten<br />

verlieren - wahrscheinlich ist sie in der einen oder anderen<br />

Form das erste Werkzeug der darstellenden Kunst überhaupt.<br />

Die Umrißzeichnung in dieser Weise anzuzeichnen, gilt bei<br />

den Ikonenmalern als verantwortungsvollster Teil der Arbeit,<br />

besonders hinsichtlich der Falten: Die Vorzeichnung anzeichnen<br />

heißt ja, der betenden Menge das Zeugnis einer anderen<br />

Welt zu übermitteln, <strong>und</strong> die geringste Veränderung<br />

der Linien, auch die feinste Veränderung ihres Charakters<br />

würde diesem abstrakten Schema einen anderen Stil, eine andere<br />

geistige Struktur geben. Der Anzeichner fühlt sich verantwortlich<br />

für die Ganzheit der ikonenmalerischen Überlie-<br />

.147


ferung, d.h. für die Richtigkeit des ontologischen Zeugnisses,<br />

<strong>und</strong> dies in seiner allgemeinsten Formel. Die Umrißzeichnung<br />

ist kenntlich gemacht, aber das ist noch reine Abstraktion,<br />

ein Werk der Tastsphäre. Im weiteren Verlauf muß<br />

dieses Schema Anschaulichkeit erhalten, es muß sichtbar<br />

werden, <strong>und</strong> das angezeichnete Brett kommt vom Anzeichner<br />

in die Hände der verschiedenen Meister...«<br />

»Verschiedener - das gilt offensichtlich für die handwerkliche<br />

Ausführung, für die Massenproduktion. Wenn es sich so verhält,<br />

dann hat das mit dem Wesen der Ikone als Kunstwerk<br />

nichts zu tun.«<br />

»Du berührst sehr wesentliche Fragen, <strong>und</strong> zu deinem Zweifel<br />

sind einige Worte zu sagen. Vor allem: Eine Ikone ist kein<br />

Kunstwerk autarker Kunst, sondern ein Zeugniswerk, das<br />

neben vielem anderen auch der Kunst bedarf. Das also, was<br />

du abschätzig Massenproduktion sch<strong>im</strong>pfst, gehört gleichfalls<br />

zum Wesen der Ikone, denn das Zeugnis soll in jedes<br />

Haus eindringen, in jede Familie, soll wahrhaft volkstümlich<br />

werden, soll <strong>im</strong> dichtesten Gewühl des Alltagslebens vom<br />

H<strong>im</strong>melreich künden. Zur Technik des Ikonenmalens gehört<br />

wesentlich auch schnelle Arbeit - Ikonen von übertrieben feiner<br />

Malweise, z. B. die Stroganovschen Ikonen, sind charakteristisch<br />

für ein Jahrh<strong>und</strong>ert, das das Heiligste zu einem Gegenstand<br />

des Luxus, der Eitelkeit <strong>und</strong> der Sammelleidenschaft<br />

machte.<br />

Weiter nun über die speziellen Tätigkeiten der Ikonenmeister;<br />

auch sie sind nicht nur aus äußeren Gründen festgelegt.<br />

Die Ikone, selbst die urbildliche, ist niemals als Produkt vereinzelten<br />

Schaffens gedacht worden, sie ist wesensgemäß gemeinschaftliches<br />

Werk der Kirche, <strong>und</strong> selbst wenn sie aus<br />

diesen oder jenen Gründen von Anfang bis Ende von einem<br />

Meister gemalt worden ist, so geht man doch von einer Art<br />

ideeller Teilnahme anderer Meister be<strong>im</strong> Malen aus: Die Liturgie<br />

etwa wird gemeinschaftlich zelebriert, wenn aber aus<br />

.148


irgendeinem Gr<strong>und</strong> nur ein einziger Priester die Messe hält,<br />

so würde man ideell gleichwohl von der Teilnahme des Bischofs,<br />

der anderen Priester, der Diakone <strong>und</strong> anderer Diener<br />

ausgehen. Der Maler ist gelegentlich gezwungen, einen Teil<br />

seiner Arbeit anderen zu überlassen, es wird aber nicht bezweifelt,<br />

daß er individuell malt; der Ikonenmaler dagegen ist<br />

umgekehrt manchmal gezwungen, allein zu arbeiten, man<br />

geht aber unbedingt von einer gemeinschaftlichen Arbeit aus.<br />

Das Fehlen von Mitarbeitern ist ja wegen der Einheit der individuellen<br />

Eigenart berechtigt, bei der Ikone dagegen ist entscheidend,<br />

daß die gemeinschaftlich tradierte Wahrheit nicht<br />

getrübt wird; <strong>und</strong> wenn he<strong>im</strong>lich eingedrungene subjektive<br />

Auffassungen in der Ikone einander ausgleichen, wenn die<br />

Meister in den unwillkürlichen Abweichungen von der Objektivität<br />

sich gegenseitig korrigieren, so ist genau das erforderlich.<br />

Daß die Umrißzeichnung dem Anzeichner, die Farbe anderen<br />

Meistern überlassen wird, erlaubt es letzteren, eine eigene<br />

Sensibilität zu entwickeln, ohne den Aspekt der Ikone zu<br />

schädigen, der speziell der Überlieferung treu sein muß. Aber<br />

auch der farbige Teil der Ikonenmalerei wird weiter aufgeteilt<br />

zwischen Licniki <strong>und</strong> Dolicniki. Das ist eine sehr tiefsinnige<br />

Teilung - nach dem Prinzip des Innen <strong>und</strong> Außen, des >Ich<<br />

<strong>und</strong> des >Nicht-Ich


griechisch-antikes <strong>und</strong> urväterliches Verständnis des aus<br />

Mensch <strong>und</strong> Natur bestehenden Seins gesehen werden; nicht<br />

aufeinander reduzierbar, sind sie auch nicht voneinander zu<br />

trennen: Dies ist die ursprüngliche, paradiesische Harmonie<br />

von Innen <strong>und</strong> Außen. Demgegenüber gipfelt die sündhafte<br />

Aufsplitterung der Kreatur, die Wendung des Menschen gegen<br />

die Natur in der neueren Kunst in der Aufteilung der<br />

Malerei in Landschafts- <strong>und</strong> Porträtmalerei; in der Landschaftsmalerei<br />

wird der Mensch zunächst unterdrückt, dann<br />

zum Accessoire, <strong>und</strong> schließlich wird er ganz aus der Landschaft<br />

ausgeschlossen, während in der Porträtmalerei seine<br />

Umgebung kein eigenes Leben mehr lebt, lediglich zur Dekoration<br />

wird; später verschwindet auch der Körper aus dem<br />

Porträt - es bleibt ein von der ganzen Welt abstrahiertes Gesicht,<br />

dessen Ziel lediglich Expressivität ist. Im Gegensatz<br />

dazu wahrt die Ikone das Gleichgewicht der beiden Elemente,<br />

überläßt aber den ersten Rang dem Zaren <strong>und</strong> Bräutigam<br />

der Natur, der Person, <strong>und</strong> der ganzen Natur als dem<br />

Zarenreich <strong>und</strong> der Braut den zweiten Rang. Natürlich darf<br />

man auch in dieser Aufteilung der Arbeit des Ikonenmalens<br />

zwischen Licnik <strong>und</strong> Dolicnik nicht nur eine äußere Organisation<br />

der Arbeit sehen <strong>und</strong> dabei vergessen, daß eine solche<br />

Aufteilung die Möglichkeit bietet, die Polyphonie des Chorprinzips<br />

zum Ausdruck zu bringen. Über die anderen, gelegentlich<br />

gesondert ausgeführten Teile spezieller Arbeiten wie<br />

die des Gr<strong>und</strong>ierers, des Malers der Podrumjanka <strong>und</strong> des<br />

Firnissers, des Vergolders u. ä. will ich hier nicht weiter sprechen,<br />

obwohl auch diese speziellen Tätigkeiten nicht eines<br />

inneren Sinnes entbehren.«<br />

»Offensichtlich muß doch - sowohl philosophisch als auch<br />

technisch gesehen - die Aufteilung in die Arbeit des Anzeichners<br />

<strong>und</strong> dessen, der mit Farbe umgeht, als gr<strong>und</strong>legend gelten.<br />

Aber wer ist für den Hintergr<strong>und</strong> der Ikone zuständig ?«<br />

»Das heißt für das Licht, in der Sprache der Ikonenmaler. Ich<br />

.150


möchte dich mit Nachdruck auf diesen bemerkenswerten Begriff<br />

aufmerksam machen: Die Ikone wird auf Licht gemalt,<br />

<strong>und</strong> darin ist, wie ich klarmachen möchte, die ganze Ontologie<br />

der Ikonenmalerei angesprochen. Das Licht leuchtet golden,<br />

wenn es der Ikonentradition entspricht, d.h. es ist Licht<br />

<strong>im</strong> eigentlichsten Sinn, reines Licht, nicht Farbe. Anders ausgedrückt:<br />

Alle Darstellungen entstehen in einem Meer goldener<br />

Gnade, umspült von Strömen Göttlichen Lichts. In seinem<br />

Schöße >leben, weben <strong>und</strong> sind wir


Übertragung des Schaffens irdischer Künstler auf den H<strong>im</strong>mel<br />

zu sehen. Ist nicht, will ich sagen, die Ontologie selbst<br />

nur eine theoretische Formulierung der Ikonenmalerei?«<br />

»Wenn man von einer sehr tiefgreifenden inneren Verwandtschaft<br />

beider spricht, so st<strong>im</strong>mt das; aber du weißt ja, daß ich<br />

mich überhaupt nicht mit dem Gedanken anfre<strong>und</strong>en kann,<br />

unterschiedliche Tätigkeiten voneinander abzuleiten - es bestände<br />

für sie ja auch keine Notwendigkeit, sich als unterschiedlich<br />

darzustellen, wenn sie dies nicht tatsächlich wären,<br />

d. h. nicht auseinander, sondern aus einer gemeinsamen Wurzel<br />

entstanden wären. Mir scheint, daß sich sowohl in der<br />

theoretisch-begrifflichen Formulierung der Ikonenmalerei<br />

als auch <strong>im</strong> Malen mit Farben, dieser Spekulation in anschaulichen<br />

Bildern, ein <strong>und</strong> dieselbe geistige Wesenheit offenbart.<br />

Jedenfalls aber existiert ein solcher Parallelismus. Wenn auf<br />

der zukünftigen Ikone ein erstes Konkretum in Erscheinung<br />

tritt, das nach Wert <strong>und</strong> Chronologie erste goldene Licht, so<br />

erhalten auch die weißen Silhouetten der Darstellung der<br />

Ikone die erste Stufe der Konkretion; bis dahin waren sie lediglich<br />

abstrakte Möglichkeiten des Seins, nicht Potenzen <strong>im</strong><br />

aristotelischen Sinn, sondern nur logische Schemen, Nichtsein<br />

<strong>im</strong> genauen Wortsinn (τό μή είναι).<br />

Der westliche Rationalismus meint aus diesem Nichts ein Etwas<br />

<strong>und</strong> alles abzuleiten; die Ontologie des Ostens denkt darüber<br />

jedoch anders: ex nihilo nihil, <strong>und</strong> ein Etwas wird nur<br />

durch Seiendes geschaffen. Das goldene Licht des über den<br />

Qualitäten stehenden Seins bringt, wenn es die künftigen Silhouetten<br />

umgibt, diese zur Erscheinung <strong>und</strong> gibt dem abstrakten<br />

Nichts die Möglichkeit, in ein konkretes Nichts<br />

überzugehen, Potenz zu werden. Diese Potenzen sind schon<br />

nichts Abstraktes mehr, haben aber noch keine best<strong>im</strong>mten<br />

Qualitäten, obwohl sie - jede von ihnen - die Möglichkeit<br />

nicht irgendeiner, sondern einer best<strong>im</strong>mten Qualität sind.<br />

To ουκ öv ist zu τό μή öv geworden. Technisch ausgedrückt<br />

.152


geht es darum, die inneren Konturräume mit Farbe zu füllen,<br />

so daß man anstelle des abstrakten Weiß eine schon konkrete<br />

oder genauer: eine Farbsilhouette erhält, die konkret zu werden<br />

beginnt. Dies ist freilich noch nicht Farbe <strong>im</strong> eigentlichen<br />

Wortsinn, es ist nur nicht Finsternis, ist beinahe Finsternis,<br />

ein erstes Erscheinen des Seins aus dem Nichts. Es ist die erste<br />

Manifestation einer Qualität, eine kaum von Licht erhellte<br />

Farbe. Bezogen auf das Dolicnoe wird diese dunkle Farbe -<br />

jedesmal eine Schattierung der künftigen Farbe - als Erschließen<br />

bezeichnet: Der Dolicnik erschließt die Kleidung <strong>und</strong> die<br />

übrigen Stellen des Dolicnoe mit zusammenhängenden Flekken,<br />

<strong>im</strong> Spritz-Verfahren. Es ist ein sehr charakteristisches<br />

Detail, daß in der Ikonenmalerei der Pinselstrich nicht möglich<br />

ist, daß die Lasur nicht möglich ist <strong>und</strong> auch keine Halbtöne<br />

<strong>und</strong> Schatten vorkommen: Realität entsteht gradweise<br />

nach Maßgabe dessen, wie das Sein zur Erscheinung kommt,<br />

setzt sich aber nicht aus Teilen zusammen, wird nicht durch<br />

Ansetzen Stück für Stück oder Qualität für Qualität gebildet;<br />

hier besteht der tiefste Gegensatz zur Ölmalerei, wo sich die<br />

Darstellung Teil für Teil bildet <strong>und</strong> ausgearbeitet wird.<br />

Nach dem Erschließen erfolgt die Bemalung, d.h. das Vertiefen<br />

der Kleiderfalten <strong>und</strong> anderer Details mit derselben Farbe<br />

wie be<strong>im</strong> Erschließen, in demselben Ton, jedoch stärker mit<br />

Licht gesättigt; jetzt wird das Innere der Konturen konkret,<br />

indem es die Abstraktheiten verläßt: Das schöpferische Wort<br />

hat die abstrakte Möglichkeit zur Erscheinung gebracht.<br />

Dann kommt das Aufhellen des Dolicnoe, d.h. das Hervorholen<br />

der beleuchteten Oberflächen. Die Aufhellungen werden<br />

in drei Lagen mit Farbe aufgetragen, die mit Weiß gemischt<br />

ist, wobei die folgende Lage jeweils heller <strong>und</strong> dünner<br />

als die vorige ist; die dritte, dünnste <strong>und</strong> hellste Lage bezeichnet<br />

man gelegentlich als Auffrischung. Einer anderen Terminologie<br />

zufolge nennt man die ersten beiden Lagen Razdelka<br />

<strong>und</strong> die dritte die eigentliche Aufhellung. Der letzten Bear-<br />

. 1 53


eitung der Kleidung <strong>und</strong> einiger anderer Teile des Dolicnoe<br />

dient schließlich die Razdelka mit Gold, in der regelstrengeren<br />

Ikonenmalerei mit Inokop' auf Asist (Asist bezeichnet<br />

eigentlich eine besondere Le<strong>im</strong>masse aus eingedicktem Bier);<br />

in der späteren Ikonenmalerei wird mit angerührtem Gold<br />

aufgehellt (das sog. Aufhellen nach Federart). Genauso wurden<br />

die Gebäude, die Berge mit den fersenartigen Spitzen, die<br />

schneckenförmigen Wolken, die Bäume u.ä. schichtweise<br />

aufgehellt; dabei wurden die Farben <strong>im</strong> Schmelzverfahren<br />

aufgetragen, flüssiger als auf den Kleidern, ganz <strong>im</strong> Gegensatz<br />

zu den Gesichtern, wo der Farbauftrag noch dichter ist<br />

als bei der Kleidung. Dadurch wird eine zwischen innerer<br />

Welt - Antlitz - <strong>und</strong> äußerer Welt - Natur - liegende Realitätsstufe<br />

der Kleider als Verknüpfung <strong>und</strong> vermitelndes Sein<br />

zwischen den zwei Polen der Kreatur - Mensch <strong>und</strong> Naturfestgesetzt.«<br />

»Du erzählst vom Ikonenmalen, hast aber vergessen, etwas<br />

über die Hauptsache zu sagen - über die Antlitze <strong>und</strong> allgemein<br />

über das Licnoe. Dabei beginnt die Malerei doch damit.<br />

«<br />

»Ja, die Malerei. Aber die Ikonenmalerei endet damit. Doch<br />

bevor wir Schlußfolgerungen ziehen, wollen wir der größeren<br />

Klarheit halber die Stadien in Erinnerung rufen, in denen<br />

das Licnoe gemalt wird. Im Gr<strong>und</strong>e haben sie dieselbe Reihenfolge<br />

wie be<strong>im</strong> Malen des Dolicnoe. Die erste, dem Erschließen<br />

entsprechende Stufe ist das Sankirieren der Ikone;<br />

dieser Arbeitsschritt legt in entscheidendem Maß den Gr<strong>und</strong>charakter<br />

der Ikone <strong>und</strong> ihren Stil fest. Sankir heißt der<br />

Gr<strong>und</strong>farbstoff für die Gesichtsschicht. Er ist nicht diese<br />

oder jene best<strong>im</strong>mte Farbe, er ist die Potenz der künftigen<br />

Gesichtsfarbe; <strong>und</strong> da nun die Gesichtsfarbe von unendlicher<br />

Farbfülle ist <strong>und</strong> in verschiedene Richtungen hin gedeutet<br />

werden kann, war natürlich der Sankir unterschiedlicher Stile<br />

der Ikonenmalerei außerordentlich unterschiedlich nuanciert<br />

. 1 54


<strong>und</strong> zusammengesetzt. Der byzantinische Sankir war graublau<br />

mit einer Indigo-Schattierung, der italo-kretische z<strong>im</strong>tfarben,<br />

in der russischen Ikonenmalerei des 14. <strong>und</strong> 15.Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

war er grün, dann wurde er dunkler, brauner, in der<br />

zweiten Hälfte des 16.Jahrh<strong>und</strong>erts wurde er tabakfarben<br />

usw Auch seine Zusammensetzung veränderte sich entsprechend:<br />

Der Sankir der zweiten Stroganov-Schule etwa<br />

bestand aus Umbra mit weißer Farbe, teilweise aus Ocker;<br />

nach der Anleitung des Panselinos ist er aus je einer Drachme<br />

weißer Farbe, Ocker <strong>und</strong> grüner Farbe, wie sie in der Wandmalerei<br />

benutzt wird, sowie einer Vierteldrachme schwarzer<br />

Farbe zusammengesetzt. Der heutige Sankir besteht aus gebrannter<br />

Umbra, lichtem Ocker <strong>und</strong> ein wenig holländischem<br />

Ruß. Das sankirierte Gesicht ist sein konkretes<br />

Nichts. Wenn der Sankir getrocknet ist, werden die Konturen<br />

des Gesichts - äußere <strong>und</strong> innere - mit Farbe nachgezogen,<br />

d. h. aus der Abstraktion in die erste Stufe der Anschaulichkeit<br />

übersetzt, damit das Gesicht eine erste Gliederung erhält.<br />

Diese farbigen Linien werden als Umschreibung bezeichnet.<br />

Das Gesicht wird in Ikonen unterschiedlichen Stils mit unterschiedlicher<br />

Farbe umschrieben. Je farbiger die Bemalung<br />

(dasselbe gilt auch für das Ausmalen des Dolicnoe), desto<br />

weiter ist die Ikone vom Graphischen entfernt, desto weniger<br />

kommt das Gravüremoment in ihr zum Ausdruck, desto weiter<br />

ist sie folglich vom Rationalismus entfernt.<br />

Im 14.Jahrh<strong>und</strong>ert wird die Umschreibung nur an einigen<br />

Stellen <strong>und</strong> zudem mit hellroter Farbe durchgeführt, was<br />

kontrastierend das Grün des Sankirs hervorhebt. Dann wird<br />

die Umschreibung dunkler, sie wird dichter <strong>und</strong> z<strong>im</strong>tfarben,<br />

bleibt aber weich, malerisch, während dem Rationalismus des<br />

16.Jahrh<strong>und</strong>erts die harte Umschreibung mit schwarzer<br />

Farbe entspricht, die wie mit der Feder gezogen, kupferstichartig<br />

wirkt. Im 17.Jahrh<strong>und</strong>ert taucht neben der Umschreibung<br />

die in Griechenland schon früher aufgekommene<br />

.155


Auslese auf, die freilich weniger hervortritt - eine Serie von<br />

Strichen in weißer Farbe entlang der Kontur, ähnlich den<br />

Schatten auf der Gravüre. Zu sagen wäre noch, daß Augen,<br />

Augenbrauen, Haare, Bart <strong>und</strong> Schnurrbärte mit einer sankirartigen,<br />

aber dunkleren Mischung überzogen werden, die<br />

Reft' genannt wird. Dann kommt die Schmelze der Gesichter,<br />

die dem Aufhellen <strong>im</strong> Dolicnoe entspricht. Die hellen Stellen<br />

des Licnoe - Stirn, Wangen, Nase - werden mit flüssiger Farbe<br />

<strong>im</strong> Inkarnatton bedeckt, die Ocker enthält; daher heißt dieser<br />

ganze Teil des Verfahrens das Ockern. Die Farbe dieses Okkerns<br />

unterliegt nach Zeit <strong>und</strong> Stil der Ikone großen Veränderungen:<br />

Rötlich schattiert <strong>im</strong> 14. Jahrh<strong>und</strong>ert, nähert sie sich<br />

<strong>im</strong> ij.Jahrh<strong>und</strong>ert einem z<strong>im</strong>tgetönten Orange an, gerät<br />

braun <strong>und</strong> gelb <strong>im</strong> 16. Jahrh<strong>und</strong>ert, wird <strong>im</strong> 17. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

rearchaisiert, zu rosa, <strong>im</strong> 18. Jahrh<strong>und</strong>ert ist sie weiß, offensichtlich<br />

<strong>im</strong>itiert sie den Puder. Deshalb wären andere Bezeichnungen<br />

des Ockerns, die es nicht mit einer best<strong>im</strong>mten<br />

Farbe verknüpfen, korrekter, nämlich Inkarnat, Inkarnation,<br />

in Wiedergabe des französischen <strong>und</strong> englischen Begriffs (carnation);<br />

er wurde jedoch nicht in den Wortschatz des Ikonenmalens<br />

aufgenommen. Diese erste Ockerschicht wird mit einem<br />

flüssigen Gemisch untermalt, das zwischen Ocker <strong>und</strong><br />

Sankir steht. Die Untermalung schwächt die scharfen Übergänge<br />

zwischen den Farben ab; <strong>und</strong> nun wird mit einer Mischung<br />

von Eisenmennige mit Ocker oder Zinnober die Podrumjanka<br />

des Gesichts ausgeführt. Dann wird die zweite Okkerschicht<br />

aufgetragen, ebenfalls <strong>im</strong> Schmelzverfahren; sie ist<br />

heller als die erste <strong>und</strong> bedeckt die erste Schmelze, die Podrumjanka,<br />

einen Teil der Untermalung. Dann wird an den<br />

hellsten Stellen eine dritte Schicht aufgetragen, gelegentlich als<br />

Auffrischung bezeichnet. Schließlich wird die Bemalung der<br />

Gesichtszüge wiederholt, die Haare werden nachgezogen,<br />

<strong>und</strong> an Stellen, die besonders betont sind - entweder hinsichtlich<br />

des Lichts oder strukturell -, werden mit weißer Farbe<br />

.156


feine Linien <strong>und</strong> schmale Streifen gezogen; jene heißen<br />

Dvizki, diese Markierungen; beide bisweilen auch Kerben.<br />

Auf neueren Ikonen wird eine weitere Abschwächung der<br />

Farbübergänge durch eine feine Weißschraffur erzielt - durch<br />

die Auslese, jedoch steht dieses Verfahren seiner Art nach außerhalb<br />

des Geistes der ikonenmalerischen Technik, <strong>und</strong><br />

seine Notwendigkeit zeigt die Unfähigkeit des Meisters, die<br />

richtige Schmelze zu geben.«<br />

»Damit ist das Malen der Ikone wohl abeschlossen?«<br />

»Ja, wenn man die Seele der Ikone nicht mit einbezieht, die<br />

Aufschrift. Zwar ist der eigentliche Malvorgang abgeschlossen,<br />

nicht jedoch die Arbeit als ganze, denn die Ikone wird<br />

gefirnißt, d. h. mit einem speziell gekochten Pflanzenöl überzogen;<br />

<strong>und</strong> sowohl der Prozeß dieses Kochens als auch die<br />

Methode, nach der die Ikone mit dem Ol überzogen wird,<br />

sind verantwortungsvolle Angelegenheiten, die auch zu den<br />

Berufsgehe<strong>im</strong>nissen der Ikonenmaler gehören. Auf die eine<br />

oder andere Art zubereitet <strong>und</strong> aufgetragen, erhält der Firnis<br />

<strong>im</strong> Lauf der Zeit ein ganz unterschiedliches Aussehen. Es ist<br />

indessen ein großer Fehler heutiger Restauratoren, daß sie <strong>im</strong><br />

Firnis nur ein technisches Mittel der Farbkonservierung sehen<br />

<strong>und</strong> ihn nicht als künstlerischen Faktor einbeziehen, der<br />

den Farben einen einheitlichen, gemeinsamen Ton verleiht<br />

<strong>und</strong> ihnen Tiefe gibt. Ich bin sicher, daß für eine Unterscheidung<br />

von Stilen auch die entsprechenden Firnisse charakteristisch<br />

sind. Insbesondere war wiederholt zu beobachten, wie<br />

die überragende künstlerische Bedeutung einer Ikone eindeutig<br />

verlorenging, nachdem der antike Firnis mit seiner goldglänzenden<br />

Wärme beseitigt <strong>und</strong> durch einen neuen farblosen<br />

Firnis ersetzt worden war: Die Ikone wirkte nun wie der Malgr<strong>und</strong><br />

eines künftigen Werkes.«<br />

»Gewiß muß auch der Beschlag der Ikone, d.h. Oklad, Riza,<br />

N<strong>im</strong>ben, Heiligenschein, Stirnband mit Perlen u.ä., als Teil<br />

des künstlerischen Ganzen der Ikone gelten?«<br />

. 1 57


»In einigen Fällen, besonders wenn man heute eine Ikone mit<br />

einem Beschlag versieht, wird er vom Ikonenmaler berücksichtigt,<br />

er ist kein äußerlich der Ikone applizierter Luxus;<br />

auch Edelsteine können zweifellos Bestandteil dieses Ganzen<br />

werden. In vielen Fällen waren jedoch Oklad, Riza u.ä. nur<br />

äußerliche Verzierungen des Gegenstands, des Dings Ikone.<br />

Gold <strong>und</strong> Edelsteine sind zu starke Mittel der künstlerischen<br />

Symbolik, als daß zweitrangige Meister in der Lage wären, sie<br />

anzuwenden...«<br />

»Wir haben die Ikone bis zur letzten Verzierung vollendet<br />

<strong>und</strong> über alle wesentlichen Schritte gesprochen, aber...«<br />

»Du hast den Eindruck, daß wir etwas vergessen haben?«<br />

»Urteile selbst: Einer der wichtigsten Unterrichtsgegenstände<br />

in der Malerei sind die Schatten; die Theoretiker der<br />

Malerei widmen gerade der Kunst <strong>und</strong> den Verfahren, Schatten<br />

anzulegen, wohl die meiste Aufmerksamkeit; die unterschiedliche<br />

Art der Schatten prägt ja ganz wesentlich den Stil<br />

der Künstler. So liegt es nahe, der Verw<strong>und</strong>erung Ausdruck<br />

zu geben, wieso wir über Ikonenmalerei diskutieren <strong>und</strong> das<br />

Wort Schatten kein einziges Mal auch nur erwähnt haben.«<br />

»Wir haben das Wort keineswegs vergessen, vielmehr hat es<br />

in der Ikonenmalerei keinen Platz: Der Ikonenmaler beschäftigt<br />

sich nicht mit dieser finsteren Angelegenheit, er malt<br />

selbstverständlich keine Schatten.«<br />

»Aber wie das? Die Bilder der Ikonenmaler stehen ja in Beziehung<br />

zu Gegenständen der Wirklichkeit, <strong>und</strong> folglich<br />

kommt der Ikonenmaler doch nicht umhin, auch die Schatten<br />

auf diesen Gegenständen irgendwie wiederzugeben.«<br />

»Keineswegs, denn der Ikonenmaler stellt das Sein dar, ja,<br />

das Heils-Sein; Schatten dagegen ist nicht Sein, sondern einfache<br />

Abwesenheit des Seins, <strong>und</strong> diese darzustellen, d.h. als<br />

etwas Positives zu charakterisieren, als Präsenz, Anwesenheit<br />

des Seins, bedeutet eine f<strong>und</strong>amentale Entstellung der Ontologie.<br />

Wenn die Welt das Kunstwerk ihres Schöpfers <strong>und</strong><br />

.158


künstlerisches Schaffen die Manifestation der Gottesebenbildlichkeit<br />

des Menschen ist, so wird man natürlich auch<br />

eine Parallele zwischen dem Schaffen nach dem Wesen <strong>und</strong><br />

dem Schaffen nach dem Ebenbild erwarten. Man wird natürlich<br />

erwarten, daß die verschiedenen Phasen der menschheitlichsten<br />

<strong>und</strong> heiligsten Kunst die wichtigsten Stadien der metaphysischen<br />

Ontogenese der Dinge wiederholen. Auch in<br />

psychophysiologischer Hinsicht wäre es ja befremdlich, das<br />

darzustellen, worin man schlichtweg eine partielle Abschwächung<br />

oder sogar eine totale Abwesenheit best<strong>im</strong>mter Eindrücke<br />

sehen muß.«<br />

»Du kannst aber nicht leugnen, daß der Schatten in der Malerei<br />

dargestellt wird, besonders deutlich <strong>im</strong> Aquarell, wenn<br />

helle Stellen von Farbe unberührt bleiben, während in den<br />

Schatten Farbe aufgetragen wird. Das ist auch unvermeidlich,<br />

da der Künstler vom Licht zum Schatten kommt oder vom<br />

Beleuchteten zum Dunklen. Auch in metaphysischer Hinsicht<br />

kann es ja offensichtlich nicht anders sein: In der Ontologie<br />

gilt ebenso wie in der Erkenntnis: omnis determinatio<br />

est negatio — um eine Form herauszuarbeiten, um einem Gegenstand<br />

Individualität zu geben, determinatio, muß eine<br />

Fülle zurückgewiesen werden. Erkenntnis ist Analyse, Zerlegen,<br />

Abtrennen; wir erkennen ein Ding dadurch, daß wir wie<br />

mit der Schere seine Peripherie aus dem umgebenden Raum<br />

herausschneiden. Auch der Maler geht nicht anders zuWerk.<br />

Meiner Meinung nach bleibt er, wenn er so verfährt, der Philosophie<br />

ganz <strong>und</strong> gar treu...«<br />

»Der Philosophie der Renaissance. Alles, was du gesagt hast,<br />

würde ich wiederholen. Aber du vergißt, daß es auch eine<br />

umgekehrte Philosophie gibt <strong>und</strong> folglich auch eine ihr entsprechende<br />

Kunst geben muß. In der Tat, gäbe es die Ikonenmalerei<br />

nicht, ilfaudrait l'inventer. Aber sie existiert, <strong>und</strong> sie<br />

ist so alt wie die Menschheit. Der Ikonenmaler geht vom<br />

Dunklen zum Hellen, von der Finsternis zum Licht. Unsere<br />

.59


Erörterung der Technik des Ikonenmalens hatte ja gerade<br />

diese ihre Besonderheit <strong>im</strong> Blick: Ein abstraktes Schema, das<br />

umgebende Licht, das eine Silhouette hervorbringt - die Potenz<br />

der Darstellung <strong>und</strong> ihrer Farbe -, dann die schrittweise<br />

Manifestation des Bildes, seine Formung, seine Aufgliederung,<br />

die Modellierung seines Volumens mittels Durchhellung.<br />

Die fortschreitend aufgetragenen Schichten <strong>im</strong>mer hellerer<br />

Farbe, die durch die Aufhellung, durch Dvizki <strong>und</strong><br />

Markierungen abgeschlossen werden, schaffen in der Finsternis<br />

des Nichtseins ein Bild, <strong>und</strong> dieses Bild ist aus Licht. Der<br />

Maler will den Gegenstand als etwas an sich Reales <strong>und</strong> dem<br />

Licht Entgegengesetztes begreifen; durch seinen Kampf mit<br />

dem Licht, d. h. durch die Schatten, mit Hilfe der Schatten<br />

zeigt er sich dem Betrachter als Realität. Licht ist <strong>im</strong> Verständnis<br />

der Maler nur der Anlaß dafür, daß das Ding sich<br />

selbst zeigt. Im Gegensatz dazu gibt es für den Ikonenmaler<br />

keine Realität des Lichts selbst <strong>und</strong> dessen, was es erzeugt.<br />

Um zu der Individualität eines Dings zu kommen, ist es nicht<br />

notwendig, etwas zu negieren, ja, es ist nichts da, das man<br />

negieren könnte, denn das Ding existiert gar nicht, bevor es<br />

nicht durch das Licht erschaffen wird; seine Konkretheit erhält<br />

es nicht auf dem Weg der Negation, sondern positiv,<br />

durch einen schöpferischen Akt, durch ein Frohlocken des<br />

Lichts. Es gab nichts; durch den schöpferischen Akt wurde<br />

ein Nichts, ein positives Nichts, ein Embryo, Ke<strong>im</strong> eines<br />

Dings; <strong>und</strong> von Licht durchdrungen beginnt es, sich zu formen,<br />

sich zu gestalten, bis die Lichtbildung in Erscheinung<br />

tritt. Das, was die Form am wesentlichsten prägt, wird am<br />

meisten durchhellt; weniger Bedeutendes wird auch weniger<br />

durchhellt. Genauer: Worauf Licht ruhte, das ist auch ins<br />

Sein getreten, entsprechend der Durchheilung. Sein, Konkretheit,<br />

Individualität sind positiv, das göttliche >Ja< zur<br />

Welt, das verwirklichte schöpferische Wort, weil die St<strong>im</strong>me<br />

Gottes von uns als Licht wahrgenommen wird <strong>und</strong> die h<strong>im</strong>m-<br />

.160


lische Harmonie als Bewegung der Gestirne. Nicht ohne<br />

Gr<strong>und</strong> haben die wahrhaften Dichter <strong>im</strong> Licht den Laut vernommen.<br />

Und in dem, was Gott nicht ausspricht, was mit<br />

halber St<strong>im</strong>me gesprochen ist, sehen wir ein geringeres Licht;<br />

aber ist es auch weniger, so ist es doch Licht <strong>und</strong> nicht Finsternis:<br />

Totale Finsternis, totaler Schatten sind absolut nicht<br />

wahrnehmbar, denn sie existieren nicht, sie sind Abstraktion.<br />

Und nicht ohne Gr<strong>und</strong> hat ein hervorragender Graveur unserer<br />

Zeit die tiefsten Schatten ebenso wie das, was unsichtbar<br />

ist, aber <strong>im</strong> Bewußtsein existiert, durch Abwesenheit von<br />

Farbe, durch das abstrakte Weiß des reinen Papiers wiedergegeben<br />

- nicht dargestellt, sondern wiedergegeben. Letztendlich<br />

läuft alles darauf hinaus, ob man an die Ursprünglichkeit<br />

<strong>und</strong> Selbstgenügsamkeit einer Welt glaubt, die sich selbst erschafft<br />

<strong>und</strong> sich selbst aufgliedert, oder ob man an Gott<br />

glaubt <strong>und</strong> die Welt als seine Schöpfung anerkennt. Die Renaissance-Malerei<br />

diente, obwohl nicht <strong>im</strong>mer konsequent,<br />

dem ersteren Weltverständnis, die Ikonenmalerei aber wählte<br />

das zweite als ihre Gr<strong>und</strong>lage. Daher der Unterschied in den<br />

Verfahren.«<br />

»Dies ergibt sich aus dem Vorangehenden, es wäre aber wünschenswert,<br />

abschließend zu klären, was vom Licht in westlichen<br />

Werken zu halten ist, denn dort kommt ja Licht vor,<br />

sogar in Form von hellen Lichtflecken.«<br />

»Ja, das ist eine wesentliche Frage. Um sie aber richtig zu<br />

beantworten, muß man sich unbedingt in Erinnerung rufen,<br />

daß die westliche Kunst in keiner einzigen ihrer Besonderheiten,<br />

d.h. in dem, was sie von der Ikonenmalerei abhebt, jemals<br />

wirklich konsequent war - selbst in ihren extremsten<br />

Strömungen nicht.<br />

Die Ikonenmalerei ist der rein zum Ausdruck gebrachte Typ<br />

einer Kunst, in der alles zueinander paßt: Stoff, Oberfläche,<br />

Umrißzeichnung, Gegenstand, Best<strong>im</strong>mung des Ganzen<br />

ebenso wie der Umstände, unter denen es betrachtet<br />

.161


wird; dieses Eingeb<strong>und</strong>ensein aller Aspekte der Ikone entspricht<br />

dem organischen Charakter der ganzheitlichen kirchlichen<br />

Kultur. Im Gegensatz dazu ist die Kunst der Renaissance<br />

ihrem innersten Wesen nach eklektizistisch <strong>und</strong> widersprüchlich;<br />

sie ist analytisch aufgegliedert, zusammengesetzt<br />

aus Elementen, die einander bekämpfen <strong>und</strong> je für sich Selbständigkeit<br />

anstreben. Genauso verhält es sich mit dieser<br />

Kunst: Sie nährt sich - selbst in ihrer Ablehnung der theokratischen<br />

Ganzheitlichkeit des Lebens - von den Säften ihrer<br />

mittelalterlichen Wurzeln, <strong>und</strong> wenn sie sich der nährenden<br />

Traditionen ganz <strong>und</strong> gar entledigt hätte, sie hätte sich ganz<br />

einfach selbst vernichtet.<br />

N<strong>im</strong>m doch nur das einfachste: Wäre viel von der Renaissance-Kunst<br />

übriggeblieben, wenn die religiösen Sujets<br />

weggefallen wären? Und was hätte sie vorangebracht, wären<br />

nicht die kirchlichen Impulse gewesen? Hier ist nicht der<br />

Ort, auf diese Fragen einzugehen. Ich wollte nur sagen, daß<br />

diese Kunst sich nicht stets <strong>und</strong> nicht in allem an ihre eigene<br />

Anschauung vom Licht als äußerer, physischer Energie hält<strong>im</strong><br />

Gegensatz zum kirchlichen Verständnis des Lichts als ontologischer<br />

Kraft, als mystischer Ursache des Seienden.«<br />

»Du willst sagen, daß in der westlichen Malerei Gegenstand<br />

<strong>und</strong> Licht je für sich existieren <strong>und</strong> ihre Beziehung zufällig ist:<br />

Der Gegenstand wird vom Licht lediglich erhellt, <strong>und</strong> deshalb<br />

können helle Stellen, insbesondere helle Lichtflecken, an<br />

beliebigen Orten auftreten. Sie sind zufällig hinsichtlich des<br />

Gegenstands, aber ihre Wechselbeziehung ist nicht zufällig,<br />

sie legt einen anderen Gegenstand fest, ja einen Gegenstand<br />

unter Gegenständen, die Lichtquelle.<br />

Durch die Einheit der Perspektive will der Künstler die Einzigartigkeit<br />

des Betrachters als Gegenstand ausdrücken,<br />

durch die Einheit des Helldunkel dagegen die Gegenständlichkeit<br />

der Lichtquelle. Die positivistisch-gleichmacherische<br />

Aufgabe dieser Malerei ist mir völlig klar: Für sie gibt es keine<br />

.162


Hierarchie des Seins, sie will ja das erhellende Licht ebenso<br />

wie den schauenden Geist mit äußeren Gegenständen identifizieren,<br />

indem sie sie auf die eine Ebene des Bedingten versetzt.<br />

Aber wie ließe sich denn abschließend die umgekehrte<br />

Aufgabe formulieren?«<br />

»Vor allem weicht die westliche Malerei selbst von ihrer Aufgabe<br />

ab, sie ist besser als ihr eigener Geist, der sie führt. So<br />

proklamiert sie zwar die Perspektive, weicht aber in den besten<br />

Werken bewußt von der Norm der Perspektive ab. So ist<br />

es auch mit der Einheit der Beleuchtung. Wenn ihr die Beleuchtung<br />

in letzter Konsequenz als zufällig gälte, will sagen:<br />

wenn das Licht in keiner Weise als ontologisches gedacht<br />

würde, so wäre die beleuchtete Form - die nur beleuchtete,<br />

aber in keiner Weise vom Licht hervorgebrachte Form - uns<br />

völlig unverständlich; der Künstler proklamiert die Beziehung<br />

von Licht <strong>und</strong> Form als zufällig, tatsächlich n<strong>im</strong>mt er<br />

aber nicht irgendeine beliebige, sondern eine mit Absicht gewählte<br />

Beleuchtung, fühlt er doch, daß nur sie die richtige<br />

Modellierung der Form ergibt. Eine best<strong>im</strong>mte Beleuchtung<br />

bringt die Form deutlich zur Erscheinung, eine andere entstellt<br />

sie; also wird dem Künstler, einer gehe<strong>im</strong>nisvollen<br />

Empfindung folgend, die Form als visuelle Erscheinung<br />

durch das Licht gegeben - dies kann gelingen oder auch nicht.<br />

Was aber heißt nun >gut< anders als ein halbbewußt ausgesprochenes<br />

>ontologisch


Licht ganz offen; die Frage nach der Einheit des Helldunkel<br />

spielte dabei überhaupt keine Rolle. Was ist Rembrandt anderes<br />

als ein Hochrelief aus Lichtmalerei ? Schon die Frage nach<br />

der Einheit der Perspektive <strong>und</strong> der Einheit des Helldunkel<br />

hier zu stellen, wäre absurd. Der Raum ist geschlossen, eine<br />

Lichtquelle existiert nicht; sämtliche Dinge sind eine Zusammenballung<br />

leuchtender, phosphoreszierender Materie.«<br />

»Aber geht es der Ikone denn tatsächlich um diese Phosphoreszenz<br />

fauliger Holzstücke?«<br />

»Natürlich nicht, denn in Rembrandt offenbart sich besonders<br />

de itlich die Selbstvergöttlichung der Welt in der Renaissance,<br />

<strong>und</strong> Rembrandt verhält sich zu einem nüchternen Holländer<br />

genauso wie Böhme zu Kirchhoff <strong>und</strong> Hertz.<br />

Die Ikonenmalerei stellt die Dinge als von Licht hervorgebracht<br />

dar, nicht als von einer Lichtquelle erhellt, während es<br />

bei Rembrandt Licht als objektive Ursache der Dinge nicht<br />

gibt <strong>und</strong> die Dinge nicht vom Licht hervorgebracht werden,<br />

sondern Urlicht sind, Eigenleuchten der ursprünglichen Finsternis,<br />

des Böhmeschen Abgr<strong>und</strong>s. Das ist Pantheismus, der<br />

andere Pol des Renaissance-Atheismus.«<br />

»Es ist aber doch bemerkenswert, daß der Norden <strong>im</strong> Gegensatz<br />

zur italienischen rationalistischen Beleuchtung (eine Ausnahme<br />

ist zum Teil Leonardos Magie) generell zurpantheistischen<br />

Phosphoreszenz neigt.<br />

Das charakteristischste ist: Diese Selbstvergöttlichung der<br />

Welt ist hier mit der Ablehnung der Askese verknüpft, <strong>und</strong><br />

für das Leuchten gilt Heiligkeit als nicht erforderlich, wie ja<br />

überhaupt in der deutschen Mystik Höhe <strong>und</strong> Qualität des<br />

Verstehens nicht an einen geistigen Anspruch geknüpft ist,<br />

um den Körper subl<strong>im</strong>ieren zu können. Rubens ist ein treffendes<br />

Beispiel für dieses Eigenleuchten des schweren <strong>und</strong><br />

fülligen Körpers. Ich bin überzeugt, du wirst dieses Eigenleuchten<br />

bei Rubens nicht bestreiten; mir scheint aber, daß<br />

dir die tiefe Verwandtschaft Rubens' wie Rembrandts mit<br />

.164


dem geistigen System der holländischen Schule entgangen ist:<br />

Der rätselhafte Rembrandt hat zahlreiche Verwandte in der<br />

Gestalt der holländischen Stillebenmaler.<br />

Befremdlich waren für mich deine Worte über den nüchternen<br />

Holländer: Dieser w<strong>und</strong>erbare Wein, die Pfirsiche <strong>und</strong><br />

Äpfel, diese Gemüse <strong>und</strong> Fische — würde man sie naturalistisch<br />

nennen, was wäre dann Metaphysik? Natürlich ist dies<br />

die Idee des Weins, die Idee der Äpfel usw. Und all das leuchtet<br />

in ganz Rembrandtscher Art aus sich selbst...«<br />

»Das Moment des Eigenleuchtens leugne ich nicht in diesen<br />

Stilleben; <strong>im</strong> Gegensatz zu Rembrandt jedoch sehe ich in diesen<br />

Früchten <strong>und</strong> in dem Gemüse eine partiell wahrhafte Beziehung<br />

zur Welt: Sie haben etwas von der Ikonenmalerei,<br />

vom Erschaffenwerden durch Licht. Doch wie auch <strong>im</strong>mer,<br />

die Einheit des Helldunkel <strong>und</strong> die äußere Beziehung des<br />

Lichts zur Form fehlen hier; wir stellten uns aber, wie du dich<br />

erinnerst, die Frage nach der Tendenz der westlichen Malerei<br />

<strong>und</strong> konfrontierten sie - <strong>und</strong> nicht die Malerei an sich - der<br />

Ikonenmalerei oder ihrer Tendenz, was in diesem Fall keine<br />

Rolle spielt.<br />

Die Ikonenmalerei sieht <strong>im</strong> Licht nichts Äußerliches in Beziehung<br />

zu den Dingen, aber auch keine der Dinglichkeit zukommende<br />

originäre Eigenheit: Für die Ikonenmalerei setzt<br />

<strong>und</strong> gründet das Licht die Dinge, es ist ihre objektive Ursache,<br />

die eben deshalb nicht als etwas nur Äußerliches verstanden<br />

werden kann; es ist ihr transzendentes schöpferisches<br />

Prinzip, das sich durch sie manifestiert, sich aber nicht in ihnen<br />

erschöpft.«<br />

»In der Tat, die Technik <strong>und</strong> die Verfahren der Ikonenmalerei<br />

sind so beschaffen, daß das durch sie Dargestellte nicht anders<br />

begriffen werden kann als vom Licht hervorgebracht, so daß<br />

man nicht umhinkommt, als Wurzel der geistigen Realität des<br />

Dargestellten ein lichtverströmendes h<strong>im</strong>mlisches Bild anzusehen,<br />

ein lichtes Antlitz, eine Idee. Aber ist dies lediglich ein<br />

.165


unumgänglicher Eindruck, eine Art metaphysische Illusion,<br />

die auf der Technik der Ikonenmalerei errichtet wird, oder ist<br />

dies wirkliche Metaphysik, die bewußt ausgedrückt wird mit<br />

Hilfe der Ikone?«<br />

»Ist deine Frage richtig gestellt? Du fragst ja, ob die Metaphysik<br />

der Ikonen etwas Illusorisches ist <strong>und</strong> folglich keine<br />

theoretische Erörterung verdient, da sie keine vernunftgemäße<br />

Bedeutung hat, oder ob sie eine vorsätzlich in der Ikone<br />

realisierte abstrakte Theorie ist, so daß die Ikone folgerichtig<br />

als eine Art Allegorie begriffen werden muß. Und du stellst<br />

mich an eine Weggabelung, obwohl ich notwendig an ein <strong>und</strong><br />

denselben Ort kommen werde, ob ich nun rechts oder links<br />

gehe.«<br />

»An welchen denn?«<br />

»Zur Leugnung der Ikone als einer anschaulich gezeigten anderen<br />

Welt. Sage ich, daß die Metaphysik der Ikone illusorisch<br />

ist, so entseele ich die Ikone <strong>und</strong> mache sie zu etwas<br />

lediglich Sinnlichem; spreche ich von der Vorsätzlichkeit ihrer<br />

Technik, so läuft es auf dasselbe hinaus. So oder so: Die<br />

Ikone erweist sich als des Logos beraubt, als sinnlich, äußerlich,<br />

der geistige Gehalt als abstrakt, abstrahiert von ihrer Anschaulichkeit,<br />

in dem einen Fall eine ihr nachfolgende, in dem<br />

anderen eine ihr vorgreifende Abstraktion. Indessen liegt der<br />

Sinn der Ikone gerade in ihrer anschaulichen Vernunftgemäßheit<br />

oder der vernunftgemäßen Anschaulichkeit, der Verkörperung.<br />

Ich weiß nicht, ob dir der Verzicht klar ist, zu dem du<br />

mich durch deine disjunktive Frage nötigst; mir jedenfalls ist<br />

er klar, <strong>und</strong> bevor ich die Ikone verwerfe, ziehe ich es vor,<br />

deine Frage zu verwerfen.«<br />

»Aber von einer solchen katastrophalen Bedeutung der Frage<br />

hatte ich keine Ahnung, <strong>und</strong> es bleibt mir schlichtweg unverständlich,<br />

worin die Quelle einer solchen Gefahr liegt.«<br />

»Und der stillschweigend eingeführte Begriff der abstrakten<br />

Metaphysik, der Metaphysik als abstrakter Idee? Der sprin-<br />

.166


gende Punkt ist, daß das religiöse Denken, genauer gesagt:<br />

die Vernunft der Kirche abstrakten Konstruktionen als solchen<br />

radikal die Anerkennung versagt. Die Kirche negiert die<br />

geistige Bedeutung eines Denkens, das sich nicht auf etwas<br />

Konkretes in der Erfahrung stützt, <strong>und</strong> behauptet den metaphysischen<br />

Charakter des Lebens <strong>und</strong> die Lebenswichtigkeit<br />

der Metaphysik. Wenn die Rede auf den metaphysischen Gehalt<br />

dieses oder jenes anschaulichen Phänomens in einem spezielleren<br />

Sinn kommt, so wird dies als Parallelismus <strong>und</strong> Verknüpfung<br />

zweier Offenbarungen ein <strong>und</strong> derselben konkreten<br />

Erfahrung begriffen. Du hast eben über Metaphysik <strong>und</strong><br />

Ikonenmalerei gesprochen; in der konkreten Erfahrung jedoch<br />

stützen sie sich gewöhnlich weder auf eine abstrakte<br />

Idee über die Natur der Dinge noch auf sinnliche Eigenschaften<br />

von Farben <strong>und</strong> Linien als solche, sondern auf geistige<br />

Erfahrung...«<br />

»Du sprichst von der Vision des Heiligen?«<br />

»Ja, von der Vision. Um übrigens die doppeldeutige Interpretation<br />

zu unterbinden, die Vision <strong>und</strong> Sichtbarkeit einander<br />

annähert, wollen wir Erscheinung sagen, Erscheinung des<br />

Heiligen. Sowohl Metaphysik als auch Ikonenmalerei ruhen<br />

auf diesem vernunftgemäßen Faktum oder auf dieser faktischen<br />

Vernunft: In der Erscheinung des H<strong>im</strong>mlischen ist<br />

nichts einfach Gegebenes, das nicht von Sinn durchdrungen<br />

wäre, wie es auch keine abstrakte Belehrung gibt - vielmehr<br />

ist alles verkörperter Sinn <strong>und</strong> sinnerfüllte Anschaulichkeit.<br />

Auf diese Erscheinung gestützt, wird der christliche Metaphysiker<br />

niemals die Konkretheit einbüßen, <strong>und</strong> folglich<br />

wird ihm stets die Ikonenmalerei vorschweben, während der<br />

Ikonenmaler, der sich auf dieselbe Erfahrung stützt, nicht<br />

reine Technik produziert, die des metaphysischen Sinns beraubt<br />

ist. Der christliche Philosoph wird die Begriffe <strong>und</strong> Bilder<br />

der Ikonenmalerei nicht deshalb benutzen, weil er die<br />

Ontologie bewußt mit der Ikonenmalerei verglichen hätte;<br />

.167


<strong>und</strong> der Ikonenmaler bringt die christliche Ontologie zum<br />

Ausdruck, ohne sich ihre Lehren in Erinnerung zu rufen,<br />

sondern indem er mit seinem Pinsel philosophiert. Nicht zufällig<br />

nennen die antiken Zeugnisse die bedeutenden Ikonenmaler<br />

Philosophen, obwohl sie <strong>im</strong> Sinn einer abstrakten Theorie<br />

kein einziges Wort geschrieben haben. Doch bezeugten<br />

diese Ikonenmaler, erleuchtet von einer h<strong>im</strong>mlischen Vision,<br />

das verkörperte Wort mit den Fingern ihrer Hände <strong>und</strong> philosophierten<br />

wahrhaft mit den Farben. Nur so kann der unzählige<br />

Male wiederholte Gedanke der Kirchenväter verstanden<br />

werden, dessen Richtigkeit oftmals von den Beschlüssen des<br />

Ökumenischen Konzils bezeugt wurde, daß Ikone <strong>und</strong> Predigt<br />

die gleiche Kraft besitzen: Die Ikonenmalerei ist für das<br />

Auge dasselbe wie die Predigt für das Ohr, <strong>und</strong> zwar nicht<br />

deshalb, weil die Ikone indirekt den Inhalt einer Rede wiedergibt,<br />

sondern weil sowohl Rede als auch Ikone in ihrem unmittelbaren<br />

Gegenstand, von dem sie nicht zu trennen sind<br />

<strong>und</strong> in dessen Mitteilung ihr ganzes Wesen besteht, ein <strong>und</strong><br />

dieselbe geistige Realität haben. Nach Auffassung der ganzen<br />

Antike aber ist ein Zeugnis der geistigen Welt Philosophie.<br />

Das ist der Gr<strong>und</strong>, warum die wahren Theologen <strong>und</strong> die<br />

wahren Ikonenmaler Philosophen genannt wurden.«<br />

»Du willst also sagen, die Ikonenmalerei ist Metaphysik, wie<br />

auch die Metaphysik eine Art Ikonenmalerei des Wortes ist ?«<br />

»Ja, <strong>und</strong> deshalb ist ein durchgängiger Parallelismus beider<br />

Bereiche zu beobachten, obwohl er nicht bewußt oder besser:<br />

absichtlich ist. Z.B. <strong>im</strong> Stil: Uberraschend eindeutig zeigt<br />

sich der literarische Barock in der Theologie des 17. <strong>und</strong> besonders<br />

des 18. Jahrh<strong>und</strong>erts; in den theologischen Traktaten<br />

<strong>und</strong> in den Predigten der Zeit sehe ich die r<strong>und</strong>lichen, planvoll<br />

verworrenen Falten <strong>und</strong> die zeremoniell getanzten Bewegungen<br />

visuell vor mir; ähnliche Entsprechungen finden sich<br />

zu allen Zeiten - das Thema der inneren Entsprechung von<br />

Theologie <strong>und</strong> Ikonenmalerei wartet darauf, erforscht zu<br />

.168


werden, inhaltlich wie stilistisch. Mir ging es jetzt aber darum,<br />

auf das Wichtigste zu verweisen, auf die Metaphysik des<br />

Lichts, denn sie ist das eigentlich Charakteristische der Ikonenmalerei.«<br />

» Mir ist bekannt, daß in der Antike - noch vor Christi Geburt<br />

- Sehen <strong>und</strong> Hören als die höchsten <strong>und</strong> erkenntnismäßig<br />

wertvollsten Wahrnehmungen galten. Wenn Heraklit äußert,<br />

>Augen <strong>und</strong> Ohren sind unzuverlässige Zeugensogar Augen <strong>und</strong> Ohren< - die sinnliche Wahrnehmung<br />

überhaupt. Bekannt ist mir auch die vorrangige Einschätzung<br />

des Sehens gegenüber dem Gehör, zumindest in<br />

der griechischen Philosophie. Bekanntlich ist das hellenische<br />

Denken dadurch charakterisiert, daß es sich insbesondere auf<br />

das Sehen stützt, weshalb auch <strong>im</strong> Piatonismus das geistige<br />

Wesen eines Dings als Sicht [vid], είδος best<strong>im</strong>mt wird <strong>und</strong><br />

nicht als Gehör, Geruch u.ä. Schließlich hatte das höchste<br />

Erfassen der metaphysischen Ursachen des Seins in der antiken<br />

Philosophie mit einer Erleuchtung zu tun. Und selbstverständlich<br />

beruhte auch die ganze platonische Ontologie auf<br />

einem visuellen Schema, insofern die ganze uns umgebende<br />

Wirklichkeit als Mischung, Vereinigung, Verschmelzung von<br />

Finsternis - Nichtsein - <strong>und</strong> Sicht oder Idee - Sein - gilt,<br />

wobei als metaphysische Ursache letzterer die Sonne der<br />

Geistwelt, die Idee des Heils oder das Heil angesehen wird,<br />

d.h. die Quelle des Lichts. Jedem, der mit Piaton in Berührung<br />

kommt, muß klar sein, daß Piatons Verständnis dieses<br />

geistigen Lichts konkret <strong>und</strong> gerade diese Konkretheit kein<br />

Zufall ist, insofern sich Piaton auf Mysterienerfahrung stützt.<br />

Übrigens ließe sich zu diesen Themen noch sehr viel sagen,<br />

ich wollte lediglich deine Zust<strong>im</strong>mung dazu einholen, daß die<br />

kirchliche Lehre, die, ganz allgemein gesehen, mit der Tradition<br />

Piatons verknüpft ist, diesem Begriffsfeld nahe steht.«<br />

»Ja, <strong>und</strong> hier ist schon der Wortgebrauch bedeutsam: In der<br />

kirchlichen Sprache gibt es H<strong>und</strong>erte von Wörtern, wenn<br />

.169


nicht mehr, die mit >Licht< gebildet sind, wie: Lichtträger,<br />

lichtförmig, Lichtwurf, Lichtunterdrücker, Lichterhalter,<br />

lichtzeugend, Lichterscheinung u.ä., ganz zu schweigen von<br />

den zahllosen Fällen, in denen das Wort >Licht< <strong>und</strong> andere<br />

von ihm abgeleitete Wörter gebraucht werden. Es wird<br />

schon seit langem darauf hingewiesen, daß in einem literarischen<br />

Werk dieses oder jenes Bild, dieses oder jenes Wort innerlich<br />

dominiert, daß ein Werk um eines Wortes oder Bildes<br />

oder einer Gruppe von Wörtern oder Bilder willen verfaßt<br />

wird, in denen der Ke<strong>im</strong> des Werks selbst zu suchen<br />

ist...«<br />

»Und diese Stellung des Ke<strong>im</strong>-Worts gebührt in kirchlichen,<br />

insbesondere in liturgischen Werken selbstverständlich dem<br />

Licht. An dieser dominanten Lichttonalität der liturgischen<br />

Werke gibt es keinen Zweifel. Ich würde aber gern die metaphysische<br />

Lehre noch präziser <strong>und</strong> so konzentriert wie möglich<br />

hören.«<br />

»Knapper als der Apostel kann man es nicht sagen.«<br />

»Nämlich?«<br />

>»Πάν γάρ τό φανερούμενον φως έστιν< - >Denn alles, was<br />

erscheint, ist Licht< (Epheser 5, 13). Das heißt: Alles, was<br />

zur Erscheinung kommt, oder anders gesagt: der Inhalt jeglicher<br />

Erfahrung, folglich jeglichen Seins, ist Licht. Was aber<br />

nicht Licht ist, kommt nicht zur Erscheinung, ist folglich<br />

auch nicht Realität. Die Finsternis ist unfruchtbar, <strong>und</strong> deshalb<br />

werden die >Werke der Finsternis < bei dem Apostel > unfruchtbar<br />

genannt, >τοίς εργοις τοις άκάρποις τον σκότονς<<br />

(Ephtser 5,11)· Dies ist die Höllenfinsternis, die außerhalb<br />

Gottes liegt.<br />

In Gott aber ist das ganze Sein, die ganze Fülle der Realität,<br />

<strong>und</strong> was sich außerhalb Gottes erstreckt, das ist Höllenfinsternis,<br />

Nichts, Nichtsein. Übrigens heißt ja Hades (ädijg,<br />

άιδης) sogar etymologisch Un-Sicht, das, was der Sichtbarkeit<br />

beraubt ist, was substantiell nicht zu sehen ist, Finster-<br />

.170


nis. Realität ist Sichtbarkeit, Idee, Antlitz, Irrealität dagegen<br />

Unsichtbarkeit, Hades, Finsternis.<br />

Alles Seiende hat auch eine Wirkenergie, durch die sich seine<br />

Realität selbst bezeugt; was aber nicht fähig ist, zu wirken,<br />

das ist auch nicht real, wie es bei den heiligen Vätern heißt:<br />

>Nur das Nichtsein hat keine Energie.« Die Werke der Fin-<br />

sternis nun sind, dem Apostel zufolge, unfruchtbar, tragen<br />

keine Frucht, folglich hat die Finsternis keine Energie. Dies<br />

ist - <strong>im</strong> eigentlichen Wortsinn - das Nichts, der Tod; das in<br />

ihm aufleuchtende Licht aber schafft hier >ein Kind des<br />

Lichts< oder erweckt es vom Tod, <strong>und</strong> es trägt Frucht - >in<br />

lauter Güte <strong>und</strong> Gerechtigkeit <strong>und</strong> Wahrheit <strong>und</strong> prüfet, was<br />

dem Herrn wohlgefällig ist< (Eph. 5, 9-10).<br />

Die Frucht der Werke des Lichts also ist die Prüfung oder<br />

Erforschung (doxiiiä^ovreg) des Gotteswillens, d.h. der on-<br />

tologischen Norm des Seienden. Dies ist die Aufdeckung von<br />

allem, d.h. die Erkenntnis der fehlenden Entsprechung zwi-<br />

schen der irdischen Welt <strong>und</strong> ihrer geistigen Stütze, ihrer<br />

Idee, ihrem Göttlichen Antlitz - <strong>und</strong> diese Aufdeckung wird<br />

vollbracht durch das Licht (Epheser 5, 13).«<br />

»Allgemein gesagt unterliegt es gewiß keinem Zweifel, daß<br />

>alles, was erscheint, Licht istin Liebe zu wandeln«, Un-<br />

zucht <strong>und</strong> Unkeuschheit jeder Art, schändliche Worte, Ge-<br />

schwätz, Späße usw. sorgfältig zu meiden, er ruft sie dazu<br />

auf, sich nicht mit Wein zu besaufen, er legt ihnen nahe, ein-<br />

ander Untertan zu sein in der Furcht Gottes; weiter weist er<br />

.171


auf die Schuldigkeit der Frauen hin, ihren Männern zu gehorchen<br />

; <strong>im</strong> 6. Kapitel lehrt er die nötigen Beziehungen zwischen<br />

Kindern <strong>und</strong> Eltern, zwischen Herren <strong>und</strong> Sklaven. Folglich<br />

hat auch der Ausspruch: >Alles, was erscheint, ist Lichts der<br />

bei dem Apostel als Erklärung dafür steht, warum die Kinder<br />

des Lichts die Kraft haben <strong>und</strong> verpflichtet sind, die Werke<br />

der Finsternis aufzudecken, sittlich erbauenden Sinn.«<br />

»Deine Bemerkungen sind richtig, nicht aber die Folgerung.<br />

Du verweist auf den Kontext, aber dann gestatte mir, dasselbe<br />

zu tun <strong>und</strong> mich dem Ort dieses Kapitels, des fünften, in dem<br />

ganzen Sendschreiben zuzuwenden. Zuvor jedoch eine Bemerkung:<br />

Mir geht es nicht darum, zu beweisen, ich will nur<br />

darauf hinweisen, wie ich es selbst empfinde.<br />

Das Sendschreiben ist an die Einwohner von Ephesus gerichtet,<br />

das für seine Kunstfertigkeit <strong>und</strong> die Verehrung der Artemis<br />

berühmt war; diese Stadt war ein Zentrum der Magie<br />

<strong>und</strong> der Herstellung von Götzenbildern; aus der Apostelgeschichte<br />

ist sogar der Fall eines Volksaufstands bekannt, der<br />

von dem Silberschmied Demetrios <strong>und</strong> wohl noch weiteren<br />

Handwerksmeistern angezettelt wurde, die Absatzeinbußen<br />

ihrer Produkte zu spüren begannen, als das Christentum gepredigt<br />

wurde. Im Sendschreiben an die Epheser meine ich<br />

einen versteckten Widerstand gegen dieses gewissenlose Geschäft<br />

des ephesischen Heidentums zu spüren, das sich dem<br />

Apostel in Gestalt der Skulptur, der vergeistigten Gotteskunst<br />

darbot, in Gestalt der antiken Malerei, die technisch<br />

mit dem identisch war, was später zur Ikonenmalerei wurde.<br />

Be<strong>im</strong> Apostel Paulus als zudem hochgelehrten Juden mußten<br />

die Götzenbilder einen organischen Abscheu erregen, während<br />

die Malerei, besonders die antike, die unvergleichlich<br />

symbolischer war <strong>und</strong> ihrem Wesen nach der naturalistischen<br />

Nachahmung ferner stand, akzeptabler war <strong>und</strong> durch ihre<br />

Technik der Lichtmodellierung der biblischen Lehre von der<br />

Erschaffung der Welt <strong>und</strong> der platonischen Ideologie entge-<br />

.172


genkam, die ihrerseits mit der jüdischen Theologie sowohl<br />

inhaltlich als auch historisch verwandt ist, folgt man der Philonischen<br />

Tradition.<br />

Der Kunst des Sehens drängt sich in gedanklicher Antithese<br />

die Kunst des Tastens auf, <strong>und</strong> folglich der Kunst des Lichts<br />

die Kunst der Finsternis. Hinreichend bekannt ist die dominante<br />

Bedeutung des Tastens in der vorchristlichen Kunst,<br />

insofern auch die besonderen Verknüpfungen dieser Wahrnehmung<br />

mit dem Heidentum. Zudem wird in den Schriften<br />

der Kirchenväter die besondere Beziehung des Tastens<br />

zu dem Bereich noch deutlicher, wo die Reinlichkeit zerstört<br />

wird. Diese <strong>und</strong> ähnliche Überlegungen mußten dem Verfasser<br />

des Sendschreibens wie auch seinen Lesern irgendwie in<br />

den Sinn kommen. Selbst dort, wo der Apostel dem Anschein<br />

nach nur zur Erbauung spricht, schwebt ihm einerseits das<br />

Bild der Malerei als fruchtbare Kunst des Lichts vor, die die<br />

Bildhauerei bekämpfen soll, die unfruchtbaren Werke der<br />

Finsternis...«<br />

»Du wolltest den Ort dieser Belehrung <strong>im</strong> Zusammenhang<br />

des Sendschreibens skizzieren.«<br />

»Davon spreche ich ja..., <strong>und</strong> andererseits das Bild des großen<br />

Künstlers, der >zum Lobe der Herrlichkeit seiner Gnade<<br />

(Eph. i, 6) das Bild der Welt erschuf-den ganzen Gottesbau.<br />

Und wenn der Apostel gleich zu Beginn davon spricht, daß<br />

wir in Christus erwählt wurden, bevor das F<strong>und</strong>ament der<br />

Welt gelegt wurde (Epheser i, 4), <strong>und</strong> uns am Schluß ermahnt,<br />

Kinder des Lichts zu sein, wobei er ihr lebendiges<br />

Bild konkret offenbart - findet da denn nicht vor uns <strong>im</strong> Großen<br />

derselbe Prozeß statt, den der Ikonenmaler <strong>im</strong> Kleinen<br />

vollzieht, beginnend mit der vorgreifenden Darstellung, der<br />

Vorzeichnung der künftigen Bilder in Gold, bis hin zu der<br />

durch Licht offenbarten <strong>und</strong> vom Gold der Razdelka erleuchteten<br />

Darstellung dieser Kinder des Lichts?<br />

Übrigens hast du mir hinsichtlich des ontologischen Charak-<br />

.173


ters der apostolischen Aussage widersprochen. Ich anworte:<br />

Der Kirche ist Moral generell in höchstem Maß fremd, <strong>und</strong><br />

wenn von Seiten der Kirche über Verhalten gesprochen wird,<br />

so ausschließlich <strong>im</strong> Sinn der Ontologie, einer Ontologie des<br />

Lebens, nicht aber moralistisch <strong>und</strong> schon gar nicht juridisch.<br />

Diese Distanz gegenüber der Moral ist <strong>im</strong> höchsten Maße<br />

kennzeichnend für den Apostel Paulus, besonders in diesem<br />

Sendschreiben. Wozu übrigens die Worte! Wer hat die Vergeblichkeit<br />

<strong>und</strong> geistige Gefahr der >Werke des Gesetzes«, des<br />

Versuchs, sich durch Moral zu retten, besser erkannt als<br />

der Apostel Paulus? Und konnte er denn, nach allem, was er<br />

durchgemacht hatte, Verhaltensnormen außerhalb, unter<br />

Umgehung des Glaubens an Christus aufstellen, d.h. ohne<br />

sich an seiner Fülle ontologisch zu nähren?<br />

In dem Sendschreiben an die Epheser fallen drei Besonderheiten<br />

auf, die es von allen anderen deutlich unterscheiden. Die<br />

erste dieser Besonderheiten ist die Erhabenheit des Inhalts sowie<br />

eine ihm entsprechende Exaltiertheit der Rede <strong>und</strong> Weite<br />

des Denkens. Der heilige Johannes Chrysostomos schreibt:<br />

>Man sagt, daß der heilige Paulus, als er sich noch mündlich<br />

an die Epheser wandte, ihnen schon tiefste Glaubenswahrheiten<br />

anvertraut hat. Zumindest ist es erfüllt von erhabenen <strong>und</strong><br />

unermeßlichen Gedanken; in ihm erklärt er das, worüber er<br />

sonst kaum einmal geschrieben hat...< Die Vision unendlicher<br />

Gnade, deren Teilhaber in Christus Jesus wir geworden<br />

sind, entzückt den Apostel, <strong>und</strong> er hat lichte Gedanken <strong>und</strong><br />

Gefühle in solchem Übermaß, daß es ihm nicht gelingt, sie in<br />

Worte zu fassen. Gedanke auf Gedanke strömt unaufhaltsam,<br />

solange nicht der Gegenstand ganz erschöpft ist, der den<br />

Apostel inspiriert. Und das Wort vermehrt sich, denn der<br />

Apostel wollte jedweden spekulativen Gegenstand nur umreißen,<br />

ohne doch besonders bei ihm zu verweilen - er wollte<br />

ihn aus der allgemeinen Folge der vor dem Bewußtsein dahinströmenden<br />

geistigen Visionen hervorheben. Urteilt man<br />

. 1 74


aufgr<strong>und</strong> dieser inhaltlichen Eigenschaft des Sendschreibens<br />

<strong>und</strong> dieses Tons der Rede, so n<strong>im</strong>mt es unter den übrigen<br />

Sendschreiben denselben Platz ein wie das Johannes-Evangelium<br />

unter den Evangelien.<br />

Die zweite Besonderheit dieses Sendschreibens - eine direkte<br />

Folge der ersten - ist seine Allgemeinheit. Der Apostel<br />

schildert das Wesen des Christentums überhaupt: Wie Gott<br />

von Ewigkeit her beschlossen hat, uns in seinem Sohn zu erretten,<br />

wie der Sohn Gottes auf die Erde kam <strong>und</strong> diese Errettung<br />

ins Werk setzte, wie wir alle Teilhaber dieser Errettung<br />

werden, <strong>und</strong> wie wir infolgedessen leben <strong>und</strong> handeln sollen.<br />

Er verweist auf keinen einzigen historischen Umstand. Alles,<br />

was er sagt, kann an jede christliche Gesellschaft gehen.<br />

Die einzig sichtbare Unterscheidung von Personen geschieht<br />

durch die Worte >wir< <strong>und</strong> >ihrWirihr< die Heiden, deren Verschmelzung in dem gemeinsamen<br />

Leib der Kirche um den Herrn auch der Ausgangspunkt der<br />

den Apostel fortreißenden Betrachtung war. Aufgr<strong>und</strong> dieser<br />

Allgemeinheit des Inhalts des Sendschreibens ist es von<br />

manchen als allgemeiner christlicher Katechismus bezeichnet<br />

worden.<br />

Die dritte Besonderheit des Sendschreibens ist, daß es keinerlei<br />

Hinweise auf irgendwelche historischen Umstände gibt,<br />

weder den Apostel noch die Epheser betreffend... >Der Apostel<br />

wollte sich unter so außergewöhnlichen <strong>und</strong> umfassenden<br />

Betrachtungen, die er natürlich auch weiterführte, nachdem<br />

er sie <strong>im</strong> Wort dargelegt hatte, nicht in irgendwelchen gewöhnlichen<br />

Dingen verlieren...< (Bischof Feofan, Deutung<br />

des Sendschreibens des heiligen Apostel Paulus an die Epheser,<br />

2. Auflage, Moskau 1893, S. i9f. [in russischer Sprache]).<br />

Das Ziel des Sendschreibens ist der an die Epheser gerichtete<br />

Wunsch, >Gott möge ihnen erleuchtete Augen des Herzens<br />

geben< (a.a.O., S. 109). Der Apostel will, daß sie zu geistigem<br />

Hellsehen erhoben werden, zur Göttlichen Ordnung der<br />

.175


Dinge (der Ökonomie der Errettung), soweit dies für uns auf<br />

der Erde möglich ist; denn er will, >daß auch sie das sehen,<br />

was er sieht, es gab aber kein erhabeneres Sehen als das des<br />

Apostels, <strong>und</strong> wird es auch in Zukunft nicht geben< (ebd.).<br />

Im Einklang mit diesem Ziel legt der Apostel <strong>im</strong> ersten Teil<br />

das Gehe<strong>im</strong>nis der Errettung dar, <strong>im</strong> zweiten Teil das Wachsen<br />

des Leibes Christi <strong>und</strong> sein Leben, wobei dieser moralisch<br />

erbauliche Teil <strong>im</strong> allgemeinen wie <strong>im</strong> einzelnen als konkrete<br />

Manifestation der Ontologie der Errettung vorgebracht wird,<br />

fortwährend von geistigen Betrachtungen unterlegt wie von<br />

einem Goldgr<strong>und</strong>; die Einzelheiten des Lebens stehen vor<br />

dem Bewußtsein des Lesers als Beigaben <strong>und</strong> Offenbarungen<br />

der Ontologie. So auch hier: Es dürfen die Worte: >Alles, was<br />

erscheint, ist Licht< nicht zu moralischen Verhaltensregeln<br />

verdreht werden - <strong>im</strong> Gegenteil, der Sinn dieser Regel wird,<br />

dem Apostel zufolge, ganz <strong>und</strong> gar durch die ontologische<br />

Bedeutung des Lichts best<strong>im</strong>mt.<br />

Mit absoluter Exaktheit bezeugt der Apostel die ontologische<br />

Realität einer anderen Welt, die er mit eigenen Augen geschaut<br />

hat, <strong>und</strong> er will, daß sein Zeugnis zum Samen ebensolcher<br />

Gedanken bei den Gläubigen werde. Es ist ganz natürlich,<br />

daß ein fragmentarisch dargelegtes Zeugnis geistigen Sehens<br />

sich auch als exakteste Formel des sek<strong>und</strong>ären Zeugnisses<br />

der geistigen Welt, der Ikonenmalerei erweist.«<br />

Die Maske hatte ihre Bedeutung verloren, <strong>und</strong> in ihrem<br />

Leichnam siedelten sich fremde Kräfte an, die nicht an der<br />

Religion teilhatten. Die Berührung einer Maske wurde zum<br />

Frevel; daher die strengen kirchlichen Verbote von Masken<br />

<strong>und</strong> Vermummungen. Die geistige Essenz kultureller Phänomene<br />

- <strong>und</strong> dies gilt in besonderem Maß für Phänomene des<br />

Kultus - stirbt jedoch nicht aus, sie wird metamorphosiert,<br />

sie führt zu neuen Bildern kulturellen Schaffens <strong>und</strong> zeigt sich<br />

in ihnen oftmals vollkommener <strong>und</strong> reiner als zuvor. Auch in<br />

.176


unserem Fall ist der geistige Wesenskern der Maske mit der<br />

Zersetzung seiner früheren Form nicht nur nicht untergegangen,<br />

sondern hat sich nach Ablösung von dem Leichnam dieser<br />

Form einen künstlerischen Leib geschaffen. Das ist die<br />

Ikone. Kulturgeschichtlich hat die Ikone in der Tat das Erbe<br />

der Ritualmaske angetreten <strong>und</strong> deren Aufgabe - den in der<br />

Ewigkeit zur Ruhe gekommenen <strong>und</strong> vergöttlichten Geist<br />

des Toten zur Erscheinung zu bringen - auf die höchste Stufe<br />

gehoben. Und mit dem Erbe dieser Aufgabe übernahm die<br />

Ikone zugleich die charakteristischen Besonderheiten der<br />

Herstellungstechnik der heiligen Maske <strong>und</strong> ihr verwandter<br />

kultureller Phänomene - daher auch die Eigenart der in Jahrtausenden<br />

hier gereiften künstlerischen Verfahren. Die historisch<br />

engste Verbindung der Ikone besteht mit Ägypten, hier<br />

n<strong>im</strong>mt die Ikone ja ihren Anfang, hier entstehen auch die<br />

gr<strong>und</strong>legenden ikonenmalerischen Formen. Natürlich ist die<br />

sehr komplexe Frage des historischen Ursprungs der Ikonenmalerei,<br />

in die die besten Errungenschaften der Weltkunst<br />

eingeflossen sind, in dieser Form nur schematisch dargelegt;<br />

als Kurzformel wäre ein solches Schema aber am zutreffendsten.<br />

Die ägyptische Maske also, der innere bemalte Holzsarkophag<br />

des alten Ägypten, dieses Futteral für die Mumie, das<br />

selbst aussieht wie ein in Windeln gewickelter Körper mit<br />

freibleibendem Gesicht, ist der Urahn der Ikonenmalerei;<br />

gleiches gilt für die Bemalung der Mumie selbst, die mit le<strong>im</strong>getränkten<br />

Binden umwickelt war, auf die Gips aufgetragen<br />

wurde. Das ist das älteste Gewebe (<strong>und</strong> der älteste Gr<strong>und</strong>),<br />

auf dem dann die Bemalung mit Wasserfarbe ausgeführt<br />

wurde. Die Zusammensetzung des Bindemittels ist mir nicht<br />

bekannt, aber wenn sich herausstellen sollte, daß es Ei war, so<br />

w ürde dies nicht nur die Tradition der Ikonenmalerei erklären,<br />

deren Entstehung aus Nützlichkeitserwägungen kaum<br />

zu erklären ist, es stände auch zutiefst <strong>im</strong> Einklang mit der<br />

theurgischen Symbolik der ägyptischen Kunst, wäre es doch<br />

.177


<strong>im</strong> Geist dieser Religion der leiblichen Auferstehung ganz natürlich,<br />

den Toten mit Ei zu bedecken - dem Ursymbol der<br />

Auferstehung <strong>und</strong> des ewigen Lebens.<br />

Es ist begreiflich, daß es bei der Bemalung einer Mumie oder<br />

eines Sarkophags unnötig <strong>und</strong> nicht erlaubt war, Schatten<br />

aufzutragen, sowohl aus künstlerischen Gründen, insofern<br />

Mumie oder Sarkophag ohnehin körperliche Dinge waren,<br />

wie auch aus symbolischen Gründen, da der Tote in das Reich<br />

des Lichtes einging <strong>und</strong> die Gestalt eines Gottes annahm<br />

(»Ich bin Osiris«, war die heilige Formel des ewigen Lebens,<br />

die <strong>im</strong> Namen des Toten auf den Sarkophag geschrieben<br />

wurde); man durfte ihm folglich keinerlei Schaden, Schwäche,<br />

Verdunkelung zuschreiben. Der Verstorbene wurde,<br />

nachdem er den Gott in sich aufgenommen hatte, obwohl er<br />

seine Individualität wahrte, zum göttlichen Bild, zur idealen<br />

Wolke seines eigenen Menschseins, der Idee seiner selbst, seines<br />

eigenen geistigen Wesens. Und es war die Aufgabe der<br />

Mumienbemalung, namentlich dieses ideale Wesen des Toten<br />

zu zeigen, der jetzt zum Gott <strong>und</strong> zum Gegenstand kultischer<br />

Verehrung wurde.<br />

Anders ausgedrückt: Diese Bemalung mußte die idealen Züge<br />

des Toten akzentuieren, mußte sein empirisches Gesicht so<br />

lange bearbeiten, bis sich in ihm das Menschsein rein manifestierte.<br />

Folglich war diese Kunst nicht als Porträt gedacht, das<br />

neben dem Gesicht steht, sondern ausdrücklich als Bemalung<br />

des Gesichts selbst, als ein Schminken mit schwarzer <strong>und</strong> roter<br />

Farbe, was <strong>im</strong> positiven antiken Sinn einer Idealisierung zu<br />

verstehen ist. Die Technik der Ikonenmalerei geht ebenfalls<br />

auf die übereinander geschichteten Akzentuierungen, auf die<br />

Aufhellungen der Kleidung <strong>und</strong> das Ockern der Antlitze,<br />

wenn man diese Begriffe in einem weiteren Sinn gebraucht,<br />

sowie auf die Umschreibung oder Ausmalung zurück.<br />

Mir scheint, die Verfahren der Ikonenmaler leiten sich von<br />

den Aufgaben der Mumienbemalung ab, nämlich eine ver-<br />

.178


stärkte Lichtmodellierung des Gesichts zu geben, die durch<br />

ihre Kraft den Zufälligkeiten wechselnder Beleuchtung widersteht<br />

<strong>und</strong> deshalb über den Bedingungen der Empirie<br />

steht, indem sie etwas Metaphysisches anschaulich zur Erscheinung<br />

bringt: Die Form des Gesichts resultiert aus<br />

Licht, nicht aus Helldunkel; das Licht aber ist nicht Beleuchtung<br />

durch eine irdische Quelle, sondern ein alldurchdringender<br />

<strong>und</strong> die Formen prägender Ozean leuchtender<br />

Energie. Das jedenfalls suchte die ägyptische Kunst. Ein<br />

weiterer Schritt zu eben diesem Gebäude war der Ubergang<br />

von der Oberfläche des gr<strong>und</strong>ierten Holzsarkophags zu der<br />

ebenso beschaffenen Oberfläche eines Bretts, wobei nicht<br />

ohne symbolische Zeichenhaftigkeit Zedernholz verwendet<br />

wurde, das antike Symbol ewigen Lebens <strong>und</strong> der Unverweslichkeit.<br />

Mit anderen Worten: Zur Befreiung von den Resten des Helldunkels<br />

auf der bemalten Mumie oder dem Sarkophag war es<br />

notwendig, sich noch mehr von der materiellen, dinglichen<br />

Form des Sarkophags zu entfernen <strong>und</strong> noch fester auf den<br />

Boden des Symbolismus zu stellen. Das gab dem Künstler ein<br />

Mittel in die Hand, sich über die Veränderlichkeit <strong>und</strong> Bedingtheit<br />

des irdischen Lichts zu erheben. Bekanntlich wurde<br />

derselbe Schritt außer durch die Ikone, partiell sogar vor der<br />

Ikone, durch das Porträt der hellenistischen Epoche vollzogen,<br />

das teils die Ikone vom geraden Weg ablenkte, indem es<br />

Wachsfarben <strong>und</strong> illusionistische Verfahren einbrachte - obwohl<br />

der Illusionismus dieser Porträts mit einer Idealisierung<br />

einhergeht -, das teils aber auch den kürzesten Weg zur reinen<br />

Ikonenmalerei bahnte. Möglicherweise ist sogar der Illusionismus<br />

dieser Porträts nicht als ihr unmittelbares Ziel zu deuten,<br />

sondern als Rud<strong>im</strong>ent der vorangegangenen skulpturierten<br />

Oberfläche des Sarkophags. Obwohl es einen Symbolismus<br />

anstrebte <strong>und</strong> die Ablösung von der Nichtverwandlung<br />

des Leibes, entschloß sich das hellenistische Porträt<br />

. 1 79


nicht, unverzüglich mit der materiellen Oberfläche des Sarkophags<br />

zu brechen, <strong>und</strong> glaubte sich genötigt, ihr malerisches<br />

Äquivalent zu produzieren, obwohl es die Aufgabe der<br />

geheiligten Kunst war, sich auch davon zu befreien. In jener<br />

Zeit entwickelte sich auch die Ikonenmalerei, die zunächst,<br />

soweit bekannt, eine gewisse Verwandtschaft mit dem hellenistischen<br />

Porträt besaß. Andererseits darf nicht vergessen<br />

werden, daß auch dieses Porträt keineswegs ein Porträt in unserem<br />

Sinn war: Es war, obwohl schon vorgerückt auf dem<br />

Weg des Symbolismus, gleichwohl nichts anderes als eine<br />

Grabmaske. Bekanntlich wurde ein solches Porträt in Gottesfurcht<br />

noch zu Lebzeiten gemalt, jedoch <strong>im</strong> Hinblick auf<br />

die zukünftige Beerdigung, <strong>und</strong> es wurde nach dem Ableben<br />

an der Stelle des Gesichts in den Sarkophag eingesetzt, der<br />

handwerksmäßig bemalt war, in etwa dem Aussehen des Toten<br />

entsprechend (Geschlecht, Alter, Beruf, Stand usw., d.h.<br />

das Dolicnoe). So war das hellenistische Porträt eine Art<br />

Ikone des Toten, <strong>und</strong> dieser Ikone wurde zweifellos kultische<br />

Verehrung zuteil. Sicher ist, daß die Begräbnisrituale auch<br />

von den ägyptischen Christen befolgt wurden, in deren Bewußtsein<br />

der Sinn <strong>und</strong> die Bedeutung des ägyptischen Begräbnisrituals<br />

durch die »Heilsbotschaft« nicht zu Fall gebracht,<br />

sondern <strong>im</strong> Gegenteil bestätigt <strong>und</strong> unendlich bestärkt<br />

<strong>und</strong> vertieft wurde. Und wenn alle toten Christen,<br />

»Heilige« dem Apostel zufolge, Gegenstand des Kultus waren,<br />

so galt dies um so mehr für die herausragenden Zeugen<br />

des ewigen Lebens, an deren sterblicher Hülle Gottesdienste<br />

zelebriert <strong>und</strong> das Sakrament von Leib <strong>und</strong> Blut, das <strong>im</strong> ewigen<br />

Leben nährt, vollzogen wurden. Ihre Begräbnisporträts<br />

wurden natürlich zu Ikonen <strong>im</strong> engeren Sinn.<br />

Wir wollen uns jetzt noch die Frage nach der Metaphysik der<br />

Ikone stellen - ob wir damit die ägyptische, vorchristliche<br />

oder christliche Metaphysik meinen, spielt einstweilen keine<br />

Rolle.<br />

.180


Wenn die Mumienbemalung den in eine Mumie verwandelten<br />

Körper des Verstorbenen bedeckte <strong>und</strong> dieser Körper mit<br />

dem Beginn des Lebens verknüpft wurde, war es dann denkbar,<br />

daß diese Bemalung des Gesichts für sich bestand <strong>und</strong><br />

keine Beziehung zu dem Gesicht hatte? Ließe sich mit dem<br />

Ausdruck »Bemalung des Gesichts« dann nicht etwas unermeßlich<br />

Wichtiges, Teures <strong>und</strong> Heiliges betonen - nicht das<br />

»Gesicht«, sondern etwas Sek<strong>und</strong>äres, das das erste überlagert<br />

<strong>und</strong> physisch <strong>und</strong> metaphysisch leer ist, die »Bemalung«<br />

? Natürlich nicht, natürlich sagte ein Verwandter oder<br />

Fre<strong>und</strong> des Verstorbenen, wenn er auf diese Bemalung zeigte,<br />

auf die Begräbnismaske (<strong>und</strong> er sagte die Wahrheit): »Das ist<br />

mein Vater, Bruder, Fre<strong>und</strong>« usw., <strong>und</strong> nicht: »Das ist die<br />

Farbe auf dem Gesicht meines Vaters« oder »Das ist die<br />

Maske eines Fre<strong>und</strong>es« usw. Zweifellos war für das religiöse<br />

Bewußtsein die Bemalung oder die Maske nicht von dem Gesicht<br />

getrennt, sie wurde ihm nicht gegenübergestellt, sondern<br />

wurde bei ihm <strong>und</strong> mit ihm gedacht - mittels der Beziehung<br />

zu ihm besaß sie Sinn <strong>und</strong> Wert. Eine solche Maske war<br />

nicht die Bedeckung des Toten, sondern seine Aufdeckung,<br />

<strong>und</strong> zwar in seinem geistigen Wesen, deutlicher, unmittelbarer<br />

als das Aussehen des Gesichts selbst.<br />

Die Maske war <strong>im</strong> Totenkult wahrhaft eine Erscheinung des<br />

Verstorbenen, zudem eine schon h<strong>im</strong>mlische Erscheinung,<br />

voller Erhabenheit, göttlicher Pracht, fern den irdischen Leidenschaften<br />

<strong>und</strong> erhellt von h<strong>im</strong>mlischem Licht. Und der antike<br />

Mensch wußte: Durch diese Maske erscheint ihm die geistige<br />

Energie des Verstorbenen, der in ihr <strong>und</strong> unter ihr ist.<br />

Die Maske des Toten ist der Tote selbst, nicht allein <strong>im</strong> metaphysischen,<br />

sondern auch <strong>im</strong> physischen Sinn; er ist hier, er<br />

selbst bringt uns sein Gesicht zur Erscheinung. Eine andere<br />

Ontologie war bei den ägyptischen Christen auch nicht denkbar:<br />

Auch für sie war die Ikone eines Zeugen nicht Darstellung,<br />

sondern der Zeuge selbst, der durch sie <strong>und</strong> mittels ih-<br />

.181


er, durch ihre Vermittlung Zeugnis ablegte. Dies allein schon<br />

aus dem Gr<strong>und</strong>, weil diese Ontologie vor allem Ausdruck<br />

einer Tatsache ist: Die Ikone liegt auf dem Körper des Zeugen<br />

selbst; <strong>und</strong> jedes andere Urteil über diese Tatsache ist - selbst<br />

wenn sie unter irgendwelchen Zielsetzungen abstrakt möglich<br />

wäre - konkret, aus dem Leben heraus unmöglich, es<br />

wäre ein Widerspruch zur natürlichen Empfindung.<br />

Im weiteren aber kann diese physische Tatsache subtiler <strong>und</strong><br />

komplexer werden, ohne daß ihr geistiges Wesen entstellt<br />

wird. Sobald die ontologische Verbindung zwischen Ikone<br />

<strong>und</strong> Körper <strong>und</strong> die Verbindung des Körpers mit dem Heiligen<br />

selbst erkannt ist, besitzen die Größe der Entfernung<br />

zwischen Ikone <strong>und</strong> Körper ebenso wie das bare physische<br />

Äußere des Körpers zu einem konkreten Zeitpunkt keine<br />

Macht mehr, <strong>und</strong> die ontologisch zu denkende Verbindung<br />

wird durch die Bedeutung der Entfernung der Ikone von den<br />

Uberresten des Körpers genauso wenig angegriffen wie durch<br />

das Fragmentarische dieser Uberreste.<br />

Wo <strong>im</strong>mer sich die Reliquien eines Heiligen befinden, in welchem<br />

Zustand auch sie sich erhalten haben - sein auferstandener<br />

<strong>und</strong> erleuchteter Körper existiert in Ewigkeit, <strong>und</strong> die<br />

Ikone stellt eben dadurch, daß sie ihn zur Erscheinung bringt,<br />

nicht einen heiligen Zeugen dar, sondern sie ist der Zeuge<br />

selbst. Nicht sie soll als Monument christlicher Kunst studiert<br />

werden, vielmehr ist es der Heilige selbst, der uns belehrt.<br />

Und in dem Moment, in dem eine noch so feine Fuge die<br />

Ikone vom Heiligen selbst trennt, verbirgt er sich vor uns in<br />

einem unzugänglichen Bereich, <strong>und</strong> die Ikone wird ein Ding<br />

wie andere Dinge. In diesem Augenblick ist die lebendige<br />

Verbindung zwischen H<strong>im</strong>mel <strong>und</strong> Erde, d. h. die Religion,<br />

an diesem Ort des Lebens zerstört, der Makel des Aussatzes<br />

tötet den entsprechenden Lebensbereich ab <strong>und</strong> es ist zu befürchten,<br />

daß diese Abspaltung fortschreitet.<br />

.182


Anmerkungen<br />

Zur Textgr<strong>und</strong>lage: Die vorliegende Übersetzung beruht auf SVJASCENNIK<br />

PAVEL FLORENSKIJ: »Ikonostas« (Die Ikonostase), in: Bogoslovskie trudy<br />

(Theologische Arbeiten) 9 (1972), S. 83-148, der Erstveröffentlichung des<br />

ungekürzten Textes. 1969 war in Paris eine bearbeitete, erheblich gekürzte<br />

Fassung unter dem Titel »Ikona« (Die Ikone) erschienen. »Ikonostas« ist<br />

Teil der »Filosofija kul'ta« (Die Philosophie des Kultus), eines umfangreichen<br />

Werkes, das Florenskij Anfang der 20er Jahre plante. Er erarbeitete<br />

den Text der »Ikonostase« zwischen dem 17.6.1921 <strong>und</strong> dem 8.6.1922<br />

(vgl. Bogoslovskie trudy 17 [1977], S.85). Die in die Schreibmaschine diktierte<br />

Fassung hat er noch handschriftlich korrigiert <strong>und</strong> geringfügig bearbeitet,<br />

aber sicher nicht mehr für den Druck fertiggestellt; der vorliegende<br />

Text ist in mancher Hinsicht Fragment, z.B. fehlt ein ausdrücklicher<br />

Schluß.<br />

Zu den Anmerkungen: Der 1972 edierte Text enthält nur wenige Nachweise<br />

der vom Autor zitierten Literatur. Auch in der in Paris erschienenen Werkausgabe<br />

wird lediglich der Text von 1972 abgedruckt (SVJASCENNIK PAVEL<br />

FLORENSKIJ: »Sobranie socinenij«, I, »Stat'i po iskusstvu« [Gesammelte<br />

Werke, I, Aufsätze zur Kunst], Paris 1985, S. 193-316). Die Anmerkungen<br />

zum deutschen Text sind daher notwendig lückenhaft. In einigen Fällen<br />

konnte keine angemessene deutsche Entsprechung für ikonenmalerische<br />

Fachtermini gef<strong>und</strong>en werden; hier wird der russische Begriff beibehalten<br />

<strong>und</strong>, falls nötig, in den Anmerkungen erläutert. Für andere deutsche Begriffe<br />

wird zur Verdeutlichung die russische Entsprechung <strong>im</strong> Anmerkungsteil<br />

genannt.<br />

Die Umschrift russischer Wörter <strong>und</strong> Namen folgt <strong>im</strong> Text <strong>und</strong> in den Anmerkungen<br />

der wissenschaftlichen (bibliothekarischen) Transliteration.<br />

Folgende Besonderheiten sind bei der Aussprache zu beachten:<br />

c: z e: jo z: st<strong>im</strong>mhaftes s (Sonne)<br />

c: tsch e: je z: wie j in frz. jour<br />

e: e (~ä) s: st<strong>im</strong>mlos (Wasser) s: sch<br />

In einigen Fällen wurde die übliche Namensform beibehalten.<br />

.183


Bibelstellen werden, soweit <strong>im</strong> Textzusammenhang möglich, nach der »Zürcher<br />

Bibel« zitiert (Die Heilige Schrift des Alten <strong>und</strong> Neuen Testaments,<br />

Zürich 1942, 18 1982).<br />

37 den »Schöpfer alles Sichtbaren <strong>und</strong> Unsichtbaren״: Text des Glaubensbe-<br />

kenntnisses (Nicaeno-Constantinopolitanum), S.K. ONASCH: »Liturgie<br />

<strong>und</strong> Kunst der Ostkirche in Stichworten unter besonderer Berücksichtigung<br />

der Alten Kirche«, Leipzig 1981, S.438 f.<br />

38 »Wenig geschlafen <strong>und</strong> viel gesehen *: Zitat aus dem russischen geistlichen<br />

Gedicht »Son Bogorodicy« (Der Traum der Gottesgebärerin). Hinweis<br />

von Ferenc Hidäsz, Budapest.<br />

39 die Entdeckung der momentanen Zeit: Florenskij bezieht sich hier möglicherweise<br />

auf die Dissertation des naturphilosophisch-okkultistischen<br />

Schriftstellers Carl Du Prel (1839-1899), die 1869 unter dem Titel<br />

»Oneirokritikon. Der Traum vom Standpunkt des transcendentalen<br />

Idealismus« erschienen war. Vgl. den ähnlichen Gedankengang in DU<br />

PRELS »Philosophie der Mystik« (zuerst 1884): »Wie kann ein Traum mit<br />

einem Ereignisse abschließen, der doch eingeleitet wird durch einen mit<br />

diesem Ereignis scheinbar gleichzeitigen Empfindungsreiz?... Dasselbe<br />

Bewußtsein ..., in welchem die Vorstellungsreihe bei den dramatischen<br />

Träumen verdichtet liegt, muß auch den erregenden Reiz in irgend einer<br />

Weise früher wahrnehmen, als er sich nach physiologischem Zeitmaß<br />

dem Gehirn, d. h. dem physiologisch vermittelten Bewußtsein mitteilen<br />

kann. In dieses kurze Zeitintervall wird die verdichtete Vorstellungsreihe<br />

hineingeschoben <strong>und</strong> schließt <strong>im</strong> gleichen Augenblick, in welchem die<br />

Erregungsursache ins Gehirnbewußtsein tritt, mit einem korrespondierenden<br />

Traumereignis ab.« (Leipzig 2 1910, S.90)<br />

39 das fehlende Verständnis für <strong>im</strong>aginäre Größen: vgl. Anm. zu S.47<br />

43 eine Beobachtung von Hildebrandt: F. W. HILDEBRANDT: »Der Traum<br />

<strong>und</strong> seine Verwertung für's Leben. Eine psychologische Studie«, Leipzig<br />

1875, S. 37 f.; Orthographie <strong>und</strong> Zeichensetzung wurden dem heutigen<br />

Gebrauch angepaßt.<br />

47 die sich selbst umgestülpt, die sich umgedreht haben: Vgl. zu diesem Gedanken<br />

Florenskijs 1922 erschienene Schrift »Mn<strong>im</strong>osti v geometrii«<br />

(Imaginäre Größen in der Geometrie), insbesondere den Zusatz über<br />

Dante, in dem er den in der »Göttlichen Komödie« beschriebenen Weg<br />

.184


Dantes <strong>und</strong> Vergils durch den Mittelpunkt der Erde - Abstieg <strong>und</strong> Wiederaufstieg,<br />

ohne die Richtung zu wechseln! - als eine solche Umstülpung<br />

deutet.<br />

47 Antlitze: vgl. Anm. zu S. 56<br />

49 Noumena: PI. zu gr.noumenon, bezeichnet bei Piaton das nur mit dem<br />

Geist Erfaßbare.<br />

52 Beschreibung des verzauberten Waldes: TORQUATO TASSO : »Das befreite<br />

Jerusalem oder Gottfried« (1581), 13.Gesang<br />

56 Zeichen des B<strong>und</strong>es: 1. Mose 9, 12-13<br />

56 Maske... Antlitz... Gesicht: Die russischen Begriffe (Heina: Maske,<br />

Deckmantel; lik: Antlitz, auch Bild eines Heiligen; lico: Gesicht, auch<br />

Person) sind von einer gemeinsamen Wurzel abgeleitet: lik bedeutete<br />

ursprünglich »genaue Abbildung eines Gesichts«; vgl. dt. »gleich«,<br />

engl, »like«, aus ·"־lika (Körper, Gestalt, noch zu ahnen in »Leiche«),<br />

57 In der Bibel wird das Bild Gottes vom Ebenbild Gottes unterschieden:<br />

Vgl. z.B. i.Mose 1, 26: »Lasset uns Menschen machen nach unserem<br />

Bilde, uns ähnlich«, <strong>und</strong> 2.Kor.4, 4: »...das Evangelium von der Herrlichkeit<br />

Christi, der das Ebenbild Gottes ist«.<br />

60 Klippoth: in der Kabbala Bezeichnung für böse Geister.<br />

60 Das Djed-Symbol: Das ägyptische Wort djed bedeutete »Stabilität,<br />

Dauer«.<br />

60 W<strong>und</strong>ererzählungen des Cäsarius von Heisterbach: Cäsarius (um 1180-<br />

1240), Prior des Zisterzienser-Klosters Heisterbach, war Schriftsteller<br />

(»Dialogus miraculorum«) <strong>und</strong> Geschichtsschreiber. In »Stolp« zitiert<br />

Florenskij eine Episode aus Cäsarius: Ein Mädchen w<strong>und</strong>ert sich darüber,<br />

daß der Teufel ihr nie den Rücken zukehrt, wenn er von ihr fortgeht.<br />

Zur Rede gestellt, bekennt der Teufel: »Zwar nehmen wir<br />

menschliche Gestalt an, doch haben wir keinen Rücken« (S. 707,<br />

Anm. 296).<br />

61 die »Hütte«: 2.Petr. 1, 13-14. In der Zürcher Bibel statt Hütte »Zelt«.<br />

61 eine Kantsche... »Erscheinung«: ein »Phaenomenon« in der Sprache<br />

der »Kritik der reinen Vernunft«, vgl. Zweites Buch, Drittes Hauptstück:<br />

»Von dem Gr<strong>und</strong>e der Unterscheidung aller Gegenstände überhaupt<br />

in Phaenomena <strong>und</strong> Noumena.«<br />

.185


62 Maske Stavrogins: In dem Roman »Die Dämonen« (1871), vgl. die Charakterisierung<br />

Nikolaj Vsevolodovic Stavrogins: »Man sagte, sein Gesicht<br />

erinnere an eine Maske« (i.Teil, 2.Kap., I).<br />

62 Wenn...» das Gewissen gebrandmarkt ist«: nach 1. T<strong>im</strong>. 4, 2<br />

63 dem Ehrwürdigen Seraph<strong>im</strong>: Seraph<strong>im</strong> von Sarov (1759-1833), russischer<br />

Asket <strong>und</strong> Starez, 1903 kanonisiert, vgl. M.WOLOSCHIN: »Die<br />

grüne Schlange. Lebenserinnerungen«, Stuttgart 1982, S. 251-265 : »Mysterium<br />

des Schweigens«.<br />

64 » euer Logos-Gottesdienst: gr. την λογικήν λατρείαν υμών. Bei Florenski<br />

j entsprechend slovesnoe sluzenie (statt dlja razumnago sluzenija der<br />

russ. Bibel), d.h. er übersetzt gr.logos (Wort, Rede, Vernunft) mit<br />

»Wort« (slovo). Um die Weite des Begriffs zu wahren, habe ich hier <strong>und</strong><br />

<strong>im</strong> folgenden für slovo in diesem Sinn Logos gesetzt.<br />

64 durch die Erneuerung des Sinnes (obnovleniem uma)·. um könnte auch<br />

mit »Geist« übersetzt werden; an anderer Stelle (S. 110) gebraucht Florenskij<br />

um <strong>und</strong> slovo (Logos) nahezu synonym: dort wurde umnoe bogosluzenie<br />

mit »geistiger Gottesdienst« übersetzt.<br />

65 »die Aufdeckung der unsichtbaren Dinge״: »Es ist aber der Glaube...<br />

eine Überzeugung von Dingen, die man nicht sieht« (Hebr. 11,1).<br />

65 in den kaum zu übersetzenden Worten: vgl. oben Zitat Römer 12, 3 ab<br />

»daß er den Sinn nicht höher richten soll«.<br />

65 Die Kirche ist... eine Jakobsleiter: i.Mose 28, 10-12<br />

66 mit einem »überh<strong>im</strong>mlischen, geistigen Altar״: aus der orthodoxen Liturgie:<br />

»Auf daß unser menschenliebender Gott, nachdem Er sie [die<br />

Gaben, U.W.] aufgenommen hat auf Seinen heiligen, überh<strong>im</strong>mlischen<br />

<strong>und</strong> geistigen Altar zum Dufte geistlichen Wohlgeruches, uns dafür herabsenden<br />

möge die göttliche Gnade <strong>und</strong> die Gabe des Heiligen Geistes,<br />

lasset uns beten.« »Die Göttliche Liturgie unseres heiligen Vaters Johannes<br />

Chrysostomus«, Leipzig 1976, S.78 (Bittektenie <strong>und</strong> Vaterunser);<br />

Hinweis von Ilona Kiss, Budapest.<br />

66 Symeon von Thessaloniki: bedeutender Theologe der griechisch-byzantinischen<br />

Kirche, Metropolit (geb. 1429).<br />

68 aus »lebendigen Steinen«: »Zu ihm tretet herzu, dem lebendigen Stein,<br />

der von den Menschen zwar verworfen, vor Gott aber auserwählt, kostbar<br />

ist, <strong>und</strong> lasset euch auch selbst wie lebendige Steine aufbauen als ein<br />

geistliches [gr.pneumatikos: geistiges] Haus.« (i.Petr.2, 4-5)<br />

.86


71 die umhergehenden Menschen: »Und er blickte auf <strong>und</strong> sagte: Ich sehe<br />

die Menschen, denn Wesen wie Bäume sehe ich umhergehen.« (Markus<br />

8.24)<br />

72 Dionysias Areopagita: Pseudonym eines Autors des 6.Jahrh<strong>und</strong>erts; <strong>im</strong><br />

Zentrum seiner Lehre steht die Darstellung der h<strong>im</strong>mlischen Hierarchien.<br />

Zum Namen vgl. Apg. 17, 34.<br />

73 Iosif Volockij: Abt des Klosters Volokalamsk <strong>und</strong> kirchlicher Schriftsteller<br />

(1430/40- 1515). Sein Hauptwerk, »Prosvetitel'« (Der Aufklärer)<br />

wendet sich gegen die Häresie der >Judaisierenden


81 Mutter Gottes...: die Anfangsstrophen des Gedichts »Molitva« (Gebet,<br />

1837) von Michail Ju. Lermontov (1814 - 1841).<br />

81 Eine solche ersterschienene... Ikone (pervojavlennaja ikona): Ersterscheinung<br />

(pervojavlenie) ist die Entsprechung zu »Urphänomen« ; vgl.<br />

S. 29 ff.<br />

84 in einem Brief an seinen Fre<strong>und</strong>: Die Stelle aus Raphaels Brief wird von<br />

einem neueren Autor in ihrem Kontext wie folgt wiedergegeben : »Um<br />

eine schöne Frau zu malen, muß ich mehrere Schöne sehen, <strong>und</strong> zwar<br />

unter der Bedingung, daß Eure Herrlichkeit bei mir ist, um die beste<br />

auszuwählen. Da es aber an klugen Richtern <strong>und</strong> schönen Damen mangelt,<br />

bediene ich mich einer gewissen Idee, die mir in den Sinn kommt.«<br />

(N.PONENTE: »Wer war Raffael«, Genf 1967, S.28)<br />

84 Baidassare Castiglione: Gelehrter (1478-1529) <strong>im</strong> Dienst des Herzogs<br />

Montefeltro von Urbino, Hauptwerk: »II libro del cortegiano« (Das<br />

Buch vom Hofmann).<br />

84 Bramante: eigentlich Donato d'Angelo Lazzari (1444-1514), Architekt<br />

<strong>und</strong> Maler.<br />

84 Mitteilung Bramantes: Den anschließenden Text entnahm Florenskij<br />

ebenso wie das vorstehende Raphael-Zitat den »Herzensergießungen eines<br />

kunstliebenden Klosterbruders« von W. H. Wackenroder <strong>und</strong> L.<br />

Tieck (1796 anonym erschienen), hier zitiert nach der Ausgabe Stuttgart<br />

1979, S.9-11.<br />

89 »die Säule <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>feste der Wahrheit«: i.T<strong>im</strong>. 3,15 ; zugleich der Titel<br />

des theologischen Hauptwerks von Florenskij; vgl. S. 14f.<br />

90 Michail Aleksandrovic Vrubel' (1856-1910), Viktor Michailovic Vasnecov<br />

(1848-1927), Michail Vasil'evic Nesterov (1862-1942): Künstler aus<br />

dem Umkreis des Symbolismus, die sich auch mit religiösen Themen befaßten.<br />

Florenskij war mit Nesterov, der wie Vasnecov in der Künstlerkolonie<br />

Abramcevo lebte, gut befre<strong>und</strong>et. Von Nesterov stammt ein<br />

Doppelporträt Florenskijs mit Sergij Bulgakov (Philosophen, 1917, Staatliehe<br />

Tret'jakov-Galerie, Moskau).<br />

91 Renans Roman: »La vie de Jésus«, populärtheologische Schrift von Ernest<br />

Renan (1863).<br />

92 Darstellungen der urväterlichen Gastfre<strong>und</strong>schaft: Bezieht sich auf<br />

!.Mose 18, Besuch dreier Wanderer bei Abraham, gr.philoxenia.<br />

.188


92 des Zugs der Juden durch das Rote Meer: 2. Mose 14<br />

93 der Ehrwürdige Sergij von Radonei: Reformator (1313 /14 oder 1321/22<br />

- 1392) des russischen Mönchtums, Gründer des Dreifaltigkeit-Sergius-<br />

Klosters (Zagorsk) <strong>im</strong> Wald von Radonez.<br />

93 dem Ehrwürdigen Nikon: Nikon war der Nachfolger Sergijs als Abt des<br />

genannten Klosters.<br />

94 das H<strong>und</strong>ert-Kapitel-Konzil: Der »Stoglav« tagte 1551 in Moskau; den<br />

Namen erhielt das Konzil von seinen 100 Entschließungen, den Antworten<br />

auf ebensoviele Anfragen des Zaren Ivan IV.<br />

94 eine Art Rebus der geistigen Welt: Rebus - Bilderrätsel; wahrscheinlich<br />

eine Anspielung auf die russische okkultistisch-spiritistische Zeitschrift<br />

Rebus (1881 gegründet); Hinweis von Frau Bernice Glatzer Rosenthal,<br />

New York.<br />

96 » die Weisheit aus ihren Werken gerechtfertigt «־: Matth. 11, 19; <strong>im</strong> russischen<br />

Text heißt es - wie in der Luther-Ubersetzung: » durch ihre Kinder<br />

gerechtfertigt«.<br />

96 das verfaulende <strong>und</strong> sprießende Korn: Joh. 12,24<br />

97 der Starez Amvrosij aus Optina: Das Kloster Optina bei Kaluga war ein<br />

Zentrum des russischen Starzentums; zu Amvrosij (weltlicher Name<br />

Aleksandr Grenkov, seit 1874 Starez in der Einsiedelei Optina pustyn')<br />

kamen nicht nur Hilfesuchende aus dem Volk, sondern auch Schriftsteller<br />

<strong>und</strong> Gelehrte, darunter Dostojevskij, Vlad<strong>im</strong>ir Solov'ev <strong>und</strong> Lev Tolstoj.<br />

Das Kloster wurde 1922 geschlossen; Florenskij hatte sich nach der Revolution<br />

dafür eingesetzt, diesen »geistigen Brennpunkt« <strong>Rußland</strong>s zu<br />

erhalten.<br />

Die <strong>im</strong> Text erwähnte Ikone der Gottesmutter, »die das Getreide wachsen<br />

läßt«, befindet sich nach mündlicher Mitteilung des Bischofs von Ufa<br />

(Januar 1988 in Bergamo) in dem lettischen Dorf Michnovo bei Vilnius.<br />

Sie stellt die Gottesmutter dar, die ein Feld mit teils schon geschnittenem<br />

<strong>und</strong> in Garben aufgestelltem Korn segnet.<br />

97 Arteli: Die artel' war eine spezifisch russische Form genossenschaftlich<br />

organisierter Werkstätten.<br />

98 S<strong>im</strong>on Usakov (1626-1686): vielseitiger Künstler (Fresken, Ikonen, Miniaturen),<br />

Leiter des staatlichen Malateliers.<br />

101 Aufschrift: nadpisanie (<strong>im</strong> folgenden nadpis')<br />

.189


104 Die berühmte »Hermeneia«: »Ermeneia tes zographikes technes. Malerhandbuch<br />

des Malermönchs Dionysios vom Berg Athos«, hrsg. vom<br />

Slavischen Institut München, unter Zugr<strong>und</strong>elegung der Übersetzung<br />

von G.Schäfer (Trier 1855), München i960. Florenskij geht von einer<br />

anderen Handschrift aus, sein russischer Text gibt einige abweichende<br />

Lesarten. Dionysios lebte etwa von 1670 bis 1746.<br />

104 Panselinos-Schule: Manuel Panselinos, byzantinischer Maler der Paläologischen<br />

Renaissance, arbeitete Anfang des 14. Jahrh<strong>und</strong>erts auf dem<br />

Berg Athos. Die ältere Forschung sah in ihm den Begründer der »Makedonischen<br />

Schule« des 1 Ö.Jahrh<strong>und</strong>erts.<br />

104 Vorzeichnung: perevod<br />

104 Pol<strong>im</strong>ent: Farbgr<strong>und</strong> für die Vergoldung mit Blattgold.<br />

104 Sankir: Dunkle Gr<strong>und</strong>farbe für die Untermalung der Inkarnatpartien;<br />

vgl. auch S. 154 ff.<br />

104 Podrumjanka: Farbmischung für die Untermalung von Stellen, die später<br />

rötlich durchsch<strong>im</strong>mern sollen, z. B. die Wangen.<br />

105 Akathist: Umfangreicher Marien-Hymnus.<br />

105 Ikone der Hodigitria: Typus der Gottesmutterikone, entstanden in Byzanz<br />

nach dem Bilderstreit (hodigitria, gr. »Wegführerin«).<br />

105 Troparion: Byzantinischer Kurzhymnus, der auf das 4. Jahrh<strong>und</strong>ert zurückgeht.<br />

106 auf dem hedigen Tuch: Auf dieser Legende beruht die »nicht von Hand<br />

gemalte« Christusikone, der sog. acheiropoietos.<br />

106 Ektenie: Liturgisches Gebet, der Litanei entsprechender Wechselgesang.<br />

108 kein »fremdes Feuer»: »Nadab <strong>und</strong> Ahibu aber, die Söhne Aarons, nahmen<br />

ein jeder seine Räucherpfanne, taten Feuer darein <strong>und</strong> legten Räucherwerk<br />

darauf <strong>und</strong> brachten so vor dem Herrn ein ungehöriges<br />

Feueropfer dar, das er ihnen nicht geboten hatte. Da ging Feuer aus von<br />

dem Herrn <strong>und</strong> verzehrte sie, sodaß sie vor dem Herrn starben.«<br />

(3.Mose 10, 1-2)<br />

110 vom geistigen Gottesdienst: vgl. Anm. zu S.64<br />

110 Ousia: Wesen (Anm. des Herausgebers des russischen Textes)<br />

115 Die Perspektive: Vgl. Florenskijs 1919 entstandenen Aufsatz »Dieumge-<br />

.190


kehrte Perspektive« über Fragen der Raumdarstellung in der Malerei<br />

(1967 erstmals veröffentlicht).<br />

121 tesserae hospitales: Erkennungsmarken, Kennzeichen<br />

121 »Braut von Lammermoor«: Roman Walter Scotts, erschienen 1819.<br />

124 James' Behauptung: William James (1842-1910), amerikanischer Philosoph<br />

<strong>und</strong> Psychologe, Bruder des Schriftstellers Henry James. In einem<br />

Zusatz zu dem Essay »On Some Hegelisms« (1882) beschreibt er seine<br />

Selbstversuche mit Lachgas: »Since the preceding article was written,<br />

some observations on the effect of nitrous-gas-intoxication... have<br />

made me <strong>und</strong>erstand better than ever before both the strength and the<br />

weakness of Hegel's philosophy." (ders.: »The Will to Believe and<br />

Other Essays in Populär Philosophy«, Cambridge/Mass.-London<br />

1979, S.217)<br />

127 >Fleisch <strong>und</strong> Blute i.Kor. 15, 50<br />

128 >Wahrsagen mit dem Spiegel׳: Russischer Volksbrauch; die Mädchen <strong>im</strong><br />

Dorf versuchten, den ihnen vom Schicksal best<strong>im</strong>mten Bräutigam mit<br />

Hilfe eines Spiegels zu erraten. Möglich ist auch ein Zusammenhang mit<br />

1. Kor. 13,12: »Denn wir sehen jetzt mittels eines Spiegels in rätselhafter<br />

Gestalt, dann aber von Angesicht zu Angesicht.«<br />

128 ׳Weisheit des Fleisches׳: »Denn unser Ruhm ist dieser: das Zeugnis unsres<br />

Gewissens, daß wir in Heiligkeit <strong>und</strong> Lauterkeit Gottes, nicht in<br />

fleischlicher Weisheit, sondern in Gottes Gnade in der Welt gewandelt<br />

sind, in besonders hohem Maße aber bei euch.« (2. Kor. 1, 12)<br />

131 Zeit der Wirren: Nach dem Aussterben des Zarengeschlechts der Rjurikiden<br />

kam es Ende des 16./Anfang des 1/.Jahrh<strong>und</strong>erts zu schweren<br />

Auseinandersetzungen um den Thron (Boris Godunov, Pseudo-Dmitrij).<br />

132 Wir erblicken hier neben den zeremoniellen Posen: Der mit diesem Satz<br />

beginnende, bis zum folgenden Absatz reichende Textabschnitt fehlt in<br />

den bisherigen Ausgaben. Er wurde für die vorliegende Ubersetzung<br />

nach einem Manuskript aus dem Nachlaß ergänzt.<br />

135 >Erschließen


i }9 des auf der Darstellung Abgeteilten: razdelka heißt wörtlich Absonderung,<br />

Ab-teilung.<br />

142 Außellungen: probela<br />

144 des Zugs der Juden durch das Rote Meer: 2. Mose 14<br />

144 Johannes Chrysostomus: Einer der griechischen Kirchenväter (354-<br />

407), seit 398 Bischof von Konstantinopel, 403 nach Armenien verbannt.<br />

144 * Lebensschreiber»: russ. zivopisec (Lebensschreiber bzw. -maier, Lehnübersetzung<br />

des gr. zograph)<br />

144 » daß ein Mensch gezeichnet wird <strong>und</strong> ein Pferd, ist nicht klar...«; Lücke<br />

<strong>im</strong> Manuskript (Anm. des Herausgebers des russischen Textes).<br />

145/46 Brett: doska; Gr<strong>und</strong>ierung: levkaska bzw. gruntovka levkasom;<br />

Kästchen: kovcezec; Einschubleisten: sponki; Gewebe: pavoloka; Weißer:<br />

pobel<br />

146 Polieren: licovka<br />

147 Umrißzeichnung: risunok; anzeichnen: znamenit'; Anzeichner: znamenscik<br />

148 die Stroganovschen Ikonen: Die Stroganov-Schule bildete eine Stilrichtung<br />

der russischen Ikonenmalerei des 16./17.Jahrh<strong>und</strong>erts. Im Auftrag<br />

der Kaufmannsfamilie Stroganov entstanden u.a. kleinformatige,<br />

luxuriös ausgestattete Ikonen, vorwiegend für den Privatgebrauch.<br />

149 Licniki <strong>und</strong> Dolicniki: Licniki sind die Maler des Licnoe - alles dessen,<br />

was unmittelbar mit dem Antlitz zu tun hat; die Dolicniki sind für das<br />

Dolicnoe verantwortlich - wörtlich: auf das bezogen, was bis zum Antlitz<br />

reicht, vor diesem liegt.<br />

151 »leben, weben <strong>und</strong> sind wir«: Apg. 17, 28<br />

153 <strong>im</strong> Spritz-Verfahren: vpriplesku<br />

153 Bemalung: rospis'; Aufhellen (Aufhellung): probelka; Auffrischung<br />

(Höhung): ozivka; nach Federart (v pero): sehr feine goldene Striche,<br />

die an Vogelfedern erinnern.<br />

153 <strong>im</strong> Schmelzverfahren (plav'ju): eine Maltechnik, die auf die Enkaustik,<br />

das antike Wachsmalverfahren zurückgeht. Dabei werden hellere Stellen<br />

in zunehmend kleineren Flächen aufgetragen.<br />

.192


!54 Drachme: Gewichtseinheit, ca.3,75 Gramm<br />

15 5 Umschreibung: opis'; Auslese: otborka; Schmelze: plavka<br />

155 das Ockern: vochrenie; Markierung: otmetina; Kerbe: nasecka<br />

157 Oklad: Metallverkleidung der Ikone, die nur Gesicht <strong>und</strong> Hände freiläßt;<br />

Riza: eigentlich Meßgewand, oft in derselben Bedeutung wie<br />

Oklad gebraucht, bezeichnet eine Metallverkleidung, die die ganze Gestalt<br />

freiläßt.<br />

159 omms determinatio est negatio: Formel von Spinoza: Jede Best<strong>im</strong>mung<br />

ist Negation; vgl. die Erläuterung, die er in einem Brief gibt: »Da also<br />

Gestalt nichts anderes ist als Best<strong>im</strong>mung <strong>und</strong> Best<strong>im</strong>mung Verneinung,<br />

so wird sie wie gesagt nichts anderes sein können als eine Verneinung.«<br />

(BARUCH DE SPINOZA: »Briefwechsel«, Ubersetzung <strong>und</strong> Anmerkungen<br />

von Carl Gebhardt, 2. erg. Auflage, Hamburg 1977, S.210)<br />

159 ilfaudrait l'inventer: Nach Voltaires Diktum »Si Dieu n'existait pas, il<br />

faudrait l'inventer.« (VOLTAIRE : »Epitre ä l'auteur du nouveau livre des<br />

trois <strong>im</strong>posteurs«, 1769).<br />

160 <strong>im</strong> Licht den Laut vernommen: So z. B. Goethe <strong>im</strong> »Faust«, Prolog <strong>im</strong><br />

H<strong>im</strong>mel.<br />

163 wie Böhme zu Kirchhoff <strong>und</strong> Hertz: Jakob Böhme (1575-1624), Vertreter<br />

der deutschen naturphilosophischen Mystik; Gustav Robert Kirchhoff<br />

(1824-1887) <strong>und</strong> Heinrich Hertz (18 57-1894), deutsche Naturwissenschaftler.<br />

164 Abgr<strong>und</strong>: <strong>im</strong> Original deutsch.<br />

167 doppeldeutige Interpretation: Sie wird dadurch nahegelegt, daß Vision<br />

(videnie) <strong>und</strong> Sichtbarkeit (vid<strong>im</strong>ost') eine gemeinsame Wurzel haben.<br />

168 Wenn Herakht äußert: »Schlechte Zeugen sind den Menschen Augen<br />

<strong>und</strong> Ohren, wenn die Seele deren Sprache nicht versteht.« Fragment<br />

107, zitiert nach HERAKLIT: »Fragmente, griechisch <strong>und</strong> deutsch«, hrsg.<br />

von Bruno Snell, München 1965, S. 33.<br />

170 »Denn alles, was erscheint, ist Licht«: Hier wurde vom Text der Züricher<br />

Bibel abgewichen (vgl. dort: »Denn alles, was offenbar wird, ist<br />

Licht«), um den Zusammenhang mit dem Begriff der Erscheinung zu<br />

wahren.<br />

172 Silberschmied Demetrios: Apg. 19<br />

.193


172 folgt man derPhilonischen Tradition: Philon von Alexandria (13 v.Chr.<br />

- 45/50 n.Chr.), jüdisch-hellenistischer Religionsphilosoph in der<br />

Nachfolge des Piatonismus.<br />

.194


Pavel Florenskij (1882-1937), der als Mathematiker<br />

<strong>und</strong> Naturwissenschaftler zur<br />

Theologie kam, Professor für Philosophiegeschichte<br />

<strong>und</strong> orthodoxer Priester wurde<br />

<strong>und</strong> in einem stalinistischen Arbeitslager<br />

starb, stürzt mit seinem geschliffenen, Polaritäten<br />

umfassenden Denken Säulen der<br />

künstlerischen Anschauung.<br />

Die Ikonostase ist für ihn nicht nur die Bilderwand,<br />

die in der russisch-orthodoxen<br />

Kirche den Altarraum für die Gläubigen uneinsehbar<br />

macht, sondern auch der Grenzort,<br />

an dem sich mit den Ikonen das Wesen<br />

der Malerei überhaupt offenbart: Unsichtbares,<br />

Übersinnliches sichtbar werden zu<br />

lassen. Wenn diese Bilder bis in die Darstellungsverfahren<br />

mit den beglaubigten<br />

Visionen der Heiligen begründet werden,<br />

so knüpfen sich daran bohrende Fragen an<br />

die Gr<strong>und</strong>lagen der westlichen Malerei seit<br />

der Renaissance.

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