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Pavel Florenskij (1882-1937)

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<strong>Pavel</strong> <strong>Florenskij</strong> (<strong>1882</strong>-<strong>1937</strong>)


<strong>Pavel</strong> <strong>Florenskij</strong><br />

Die umgekehrte Perspektive<br />

Texte zur Kunst<br />

Aus dem Russischen<br />

übersetzt und herausgegeben von<br />

André Sikojev<br />

Matthes & Seitz


Die wissenschaftliche (bibliothekarische) Transliteration ist dem Übersetzer<br />

bekannt. Um der bestmöglichen Lesbarkeit willen wurde auf sie weitgehend<br />

verzichtet. Bibelzitate folgen entweder der Septuaginta oder dem<br />

griechischen Neuen Testament.<br />

Der Herausgeber<br />

1H-H-IK 31<br />

© 1989 Matthes & Seitz Verlag GmbH, Hübnerstr. 11, 8000 München 19.<br />

Alle Rechte bleiben vorbehalten. Herstellung und Umschlaggestaltung:<br />

Bettina Best, München, unter Verwendung eines Ausschnittes aus einer<br />

Grablegungsikone, Anfang 16.Jhdt. Satz: SatzStudio Pfeifer, Gräfelfing.<br />

Druck und Bindung: Kösel, Kempten. ISBN 3-88221-244-6


INHALT<br />

Die umgekehrte Perspektive 7<br />

Historische Betrachtungen 7<br />

Theoretische Voraussetzungen 52<br />

Auf dem Makovez 80<br />

Das Oreieinigkeits-Sergij-Kloster und Rußland 88<br />

Die kirchliche Liturgie als Synthese der Künste 111<br />

Die Gebetsikonen des Hl.Sergij 126<br />

André Sikojev «<strong>Pavel</strong> <strong>Florenskij</strong>» .... 157<br />

Anmerkungen 169


DIE UMGEKEHRTE<br />

PERSPEKTIVE<br />

Historische Betrachtungen<br />

I.<br />

Derjenige, dessen Aufmerksamkeit sich zum erstenmal den<br />

russischen Ikonen des XIV., XV. und zum Teil auch des XVI.<br />

Jahrhunderts zuwendet, wird in der Regel von den ungewöhnlichen<br />

perspektivischen Verhältnissen überrascht werden. Insbesondere<br />

wenn es sich bei dem Dargestellten um Objekte mit ebenen<br />

Flächen und geradlinigen Kanten handelt, so z. B. Gebäude,<br />

Tische und Sessel. Vor allem aber um Bücher und insbesondere<br />

um das Evangelium, mit welchem der Erlöser und die Heiligen<br />

dargestellt werden. Die außergewöhnlichen perspektivischen<br />

Verhältnisse dieser Dinge stehen im krassen Gegensatz zu den<br />

Regeln der Perspektive und können vom Standpunkt der Letzteren<br />

nur als wie grobe und ungekonnte Zeichnungen betrachtet<br />

werden.<br />

Bei noch genauerer Betrachtung der Ikonen ist unschwer zu<br />

bemerken, daß auch durch gekrümmte Oberflächen begrenzte<br />

Körper mit perspektivischen Verkürzungen dargestellt werden,<br />

welche eigentlich durch die Regeln der Perspektive ausgeschlossen<br />

sind. Sowohl bei Körpern mit gekrümmten als auch mit geraden<br />

Linien werden auf Ikonen nicht selten solche Teile und<br />

Oberflächen gezeigt, die unmöglich zu sehen sein dürften. Tatsachen,<br />

die leicht in jedem beliebigen Lehrbuch über die Grundlagen<br />

der Perspektive in Erfahrung zu bringen sind. So werden Gebäude,<br />

bei normalerweise nur auf eine Fassade gerichtetem Blick,<br />

auch noch mit den beiden Seitenwänden dargestellt. Vom Evan-<br />

7


gelienbuch sind zugleich drei oder sogar vier Außenseiten zu sehen.<br />

Gesichter werden mit nach vorne gewendeten Scheiteln,<br />

Schläfen und Ohren dargestellt. Auf der Bildfläche finden sich<br />

langgestreckte Nasenoberflächen sowie Gesichtsteile, welche<br />

nicht zu sehen sein dürften, dazu noch weggedrehte Oberflächen,<br />

die im Gegenteil nach vorne zeigen müßten. Charakteristisch<br />

auch die gebeugten Rücken der Personen auf der Deesis-*<br />

Ikone. Brust und Rücken des HL Prochor sind auf Ikonen (auf denen<br />

er nach dem Diktat des Hl. Johannes in einem Buch schreibt)<br />

— gleichzeitig dargestellt. Analog findet man andere Zusammensetzungen<br />

von Profil und Antlitz, Rück- und Vorderseiten usw.<br />

In Verbindung mit zusätzlichen Seiten laufen Linien parallel und<br />

liegen nicht auf der Fläche der Ikone. Und parallele Linien, welche<br />

perspektivisch zum Bildhorizont zusammenlaufen müßten,<br />

werden auf Ikonen ganz im Gegenteil auseinanderlaufend gezeichnet.<br />

Mit einem Wort: diese und ähnliche Verletzungen der<br />

perspektivischen Einheit des auf der Ikone Abgebildeten sind<br />

derartig klar zu erkennen, daß ein mittelmäßiger Schüler — und<br />

sei es im Vorbeigehen und nur aus dritter Hand über die Gesetze<br />

der Perspektive belehrt — auf sie verweisen könnte.<br />

Doch wie merkwürdig! Diese «ungekonnten» Zeichnungen,<br />

die — so scheint es —jeden Betrachter in helle Wut versetzen müßten,<br />

der die «offensichtlichen Ungereimtheiten» solcher Darstellungen<br />

erfaßt hat, rufen im Gegenteil keinerlei ärgerlichen Gefühle<br />

hervor. Sondern sie werden in ihrer Notwendigkeit verstanden,<br />

ja — sie gefallen sogar. Doch dessen nicht genug: wenn<br />

es gelingt, zwei oder drei Ikonen aus derselben Periode und mehr<br />

oder weniger derselben Schule nebeneinanderzustellen, so wird<br />

der Betrachter mit großer Bestimmtheit auf derjenigen Ikone die<br />

größte künstlerische Überlegenheit finden, auf welcher auch die<br />

perspektivischen Regelverletzungen am größten sind. Jene Ikonen<br />

hingegen mit einer «richtigeren» Zeichnung erscheinen eher<br />

kalt und leblos, der näheren Verbindung zu der auf ihnen dargestellten<br />

Realität verlustig gegangen. Die für eine unbefangene<br />

künstlerische Auffassung viel originelleren Ikonen zeigen stets<br />

perspektivische Mängel. Ikonen jedoch, welche die perspektivische<br />

Lehre eher zufriedenstellen, wirken langweilig und geistlos.<br />

Wenn man sich einfach einmal erlaubt, die formalen Forderun-<br />

* Erklärungen am Ende des Buches.<br />

8


gen der Perspektive zu vergessen, so führt ein unvoreingenommenes<br />

Kunstgefühl jeden zur Anerkennung der Überlegenheit<br />

jener Ikonen, welche die Perspektive verletzen.<br />

Nun könnte die Vermutung auftauchen, daß unter solchen<br />

Umständen nicht die Art und Weise der Darstellung als solche gefällt,<br />

sondern die künstlerische Naivität und Ursprünglichkeit,<br />

das Kindliche und Sorglose im Hinblick auf die Kunstfertigkeit.<br />

Es gibt Ikonenliebhaber, die geneigt sind, Ikonen für liebliches<br />

Kinderlallen auszugeben. Doch nein: die Stärke von Ikonen gerade<br />

großer Meister mit schweren Regelverletzungen, bei gleichzeitig<br />

geringer Mißachtung derselben Regeln durch eine eigentümlich<br />

große Zahl zweit- und drittrangiger Maler, führt zu der Überlegung,<br />

ob nicht das Urteil von der Naivität der Ikone — selbst naiv ist.<br />

Andererseits treten diese perspektivischen Regelverletzungen so<br />

auffällig und oft auf - und ich würde sagen: derart systematisch,<br />

hartnäckig-systematisch, daß nahezu von selbst der Gedanke von<br />

der NichtZufälligkeit dieser Unregelmäßigkeiten aufkommt ...<br />

die Idee eines besonderen ikonographischen Darstellungssystems<br />

der Realität.<br />

Dieser Eindruck bewußter Regelverletzungen o. g. Art wird in<br />

hohem Maße durch die Hervorhebung der angesprochenen perspektivischen<br />

Verkürzungen verstärkt, — durch auf diese bezogene<br />

besondere Farbkomposition oder, wie die Ikonenmaler sagen,<br />

die Raskryschki. Dort gleiten die Besonderheiten der Zeichnung<br />

nicht nur nicht am Bewußtsein des Betrachters vorbei (dadurch<br />

daß an den diesbezüglichen Stellen irgendwelche neutralen Farben<br />

Verwendung finden würden oder daß mittels bekannter<br />

Effekte gedämpft werden würde), sondern im Gegenteil! Die<br />

Raskryschki treten gleichsam anrufend, nahezu schreiend aus dem<br />

allgemeinen Farbhintergrund hervor. So verstecken sich beispielsweise<br />

die zusätzlichen Gebäudeseiten keineswegs im Schatten,<br />

sondern werden nicht selten mit leuchtenden Farben gemalt<br />

und obendrein mit anderen als die Frontfassade.<br />

Davon zeugt noch nachdrücklicher ein Gegenstand, welcher<br />

darüber hinaus mit dem Ziel nach vorne drängt, das Zentrum<br />

der Ikone zu bilden — die Heilige Schrift! Deren Seitenflächen<br />

werden gewöhnlich mit Zinnoberrot gemalt, womit sie zu den allerhellsten<br />

Stellen auf der Ikone werden, wodurch auf diese Weise<br />

die zusätzlichen Flächen außerordentlich heftig hervorgehoben<br />

werden. Soweit zu den Verfahren der Hervorhebung.<br />

9


Diese Verfahren erweisen sich desweiteren als bewußt eingesetzt,<br />

so daß sie in Widerspruch zur gewöhnlichen Farbgebung<br />

der Objekte geraten und folglich nicht als naturgetreue Nachahmungen<br />

der gewöhnlichen Realität erklärt werden können.<br />

Denn das Evangelium besitzt normalerweise keine zinnoberroten<br />

Schnittflächen, die Seitenwände von Gebäuden werden nicht mit<br />

anderen Farben gestrichen als die Fassaden - so ist es nicht möglich,<br />

die Eigentümlichkeit ikonographischer Farbgebung nicht als<br />

einen Versuch anzusehen, diese zusätzlichen Flächen hervorzuheben<br />

und ihre Verkürzungen als solche außerhalb der Perspektive<br />

zu handhaben.<br />

II.<br />

Die genannten Verfahren tragen die gemeinsame Bezeichnung<br />

umgekehrte oder gewendete Perspektive, mancherorts auch als<br />

verdrehte oder falsche Perspektive beschrieben. Doch die umgekehrte<br />

Perspektive erschöpft sich nicht in den verschiedenartigsten<br />

zeichnerischen Besonderheiten, sondern trifft auch die<br />

Schattengebungen auf der Ikone. Als eine unmittelbare Verfahrensanwendung<br />

der umgekehrten Perspektive muß auch der Polyzentrismus<br />

auf Ikonen bezeichnet werden. Die Zeichnung wird<br />

so aufgebaut, als würde das Auge bei der Betrachtung verschiedener<br />

Teile des Bildes seinen Standpunkt verändern. Beispielsweise<br />

werden Teile des Gebäudes mehr oder weniger gemäß den<br />

Forderungen der gewöhnlichen Perspektive gemalt, doch besitzt<br />

jedes einzelne dieser Teile seinen eigenen Standpunkt, d. h. sein<br />

besonderes Zentrum innerhalb der Gesamtperspektive — manchmal<br />

auch mit einem eigenen Horizont. (Andere Teile jedoch werden<br />

darüber hinaus unter Anwendung der Zentral- oder Parallelperspektive<br />

gezeichnet.) Diese komplizierte Ausarbeitung der<br />

perspektivischen Verkürzung findet sich nicht nur an Gebäuden,<br />

sondern auch bei Gesichtern — selbst wenn sie dort in der Regel<br />

nicht mit allzu großer Konsequenz durchgeführt wird, sondern<br />

eher maßvoll und unauffällig und deshalb hier sogar als «Fehler»<br />

in der Zeichnung aufgefaßt werden könnte. Doch dafür werden<br />

in anderen Fällen alle schulischen Regeln mit solcher Kühnheit<br />

beiseite geworfen, wird deren Verletzung mit solcher Macht unterstrichen<br />

— die entsprechende Ikone spricht jedoch so sehr für<br />

10


sich, ihre künstlerische Qualität und ihren unmittelbaren schöpferischen<br />

Geschmack -, daß kein Zweifel übrigbleibt: die «falschen»<br />

und sich gegenseitig widersprechenden Einzelheiten der<br />

Zeichnung zeugen von einem komplizierten künstlerischen Plan,<br />

den man unter Umständen vielleicht als verwegen bezeichnen<br />

könnte, niemals jedoch als —naiv!<br />

Was soll man z.B. zu jener Ikone des «Christus-Pantokrator» 1 aus<br />

der Risniza des Sergij-Dreieinigkeits-Klosters sagen, auf welcher<br />

der Kopf des Erlösers nach rechts gewendet ist, seine rechte<br />

Kopfhälfte aber eine zusätzliche Fläche aufweist, wobei die Verkürzung<br />

der linken Nasenseite geringer ist, als die der rechten ...<br />

und ähnliche Beispiele? Die Fläche der Nase ist derart deutlich<br />

seitwärts gedreht, die Oberfläche des Scheitelbeins und der<br />

Schläfe jedoch so auseinander gestellt-, daß man eine solche Ikone<br />

mühelos für untauglich erklären und aussondern müßte.<br />

Wenn nicht - ungeachtet aller «Fehler» - ihre erstaunliche Fülle<br />

und Ausdruckskraft wäre. Dieser Eindruck verstärkt sich zur Gewißheit,<br />

wenn wir dort, ebenfalls im Sergij-Dreieinigkeits-Kloster,<br />

auf eine andere und in Zeichnung, Übersetzung, Größe und<br />

Farbe ähnliche Ikone desselben Typus schauen. 2 Diese Ikone<br />

wurde ohne die oben erwähnten Abweichungen von den Regeln<br />

der Perspektive und schulmäßig um vieles richtiger geschrieben.<br />

Diese letztere Ikone erscheint im Vergleich zur erstgenannten<br />

nichtssagend, ausdruckslos, flach und leblos. So daß trotz all<br />

ihrer äußeren Übereinstimmung kein Zweifel darüber besteht,<br />

daß die perspektivischen Regelverletzungen nicht eine tolerierte<br />

Schwäche des Ikonenmalers offenbaren, sondern dessen grundlegende<br />

Stärke. Eben jene Kraft, derzufolge die erste der betrachteten<br />

Ikonen als unvergleichlich höher zu bewerten ist als die<br />

zweite - also die «Falsche» höher als die «Richtige».<br />

Wenden wir uns des weiteren der ikonographischen Schattengebung<br />

bzw. den Fragen des Hellduhkelkontrastes zu, so finden<br />

wir auf den Ikonen eine eigentümliche Verteilung der Schatten.<br />

Eine Tatsache, welche die Nichtübereinstimmung der Ikonen-<br />

I Ikone № 23/328, XV.-XVI. Jahrhundert, Größe 32 cm x 25,5 cm, restauriert<br />

1919, Gabe Nikita Dmitrovitsch Veljaminovs an die Zarinnennonne Olga Borisovna<br />

im Jahre 1525 (siehe: «Opis ikon Troize-Sergievoj Lavry», Sergiev Posad, 1920, Veröffentlichungen<br />

der Kommission zum Schutz der Lavra, S. 89-90).<br />

2. Ikone № 58/150, Größe 31,5 cm x 25,5 cm, Gabe Ivan Gregorjevitsch Nagovs<br />

im Jahre 1691 (siehe «Opis ikon ...», (2), S. 102-103).<br />

11


maierei mit den Forderungen der naturalistischen Malerei unterstreicht<br />

und hervorhebt. Das Fehlen eines festgelegten Brennpunktes,<br />

die Widersprüchlichkeit bei der Lichtgebung der<br />

verschiedenen Ikonenstellen, das Bemühen, Körper hervorzuheben,<br />

welche eigentlich abgedunkelt sein müßten, — das sind<br />

erneut weder Zufälle noch Fehlleistungen eines Meisters des<br />

Primitiven, sondern künstlerische Techniken, welche der ikonographischen<br />

Darstellung zur Vollkommenheit verhelfen.<br />

Zur Zahl ähnlicher Verfahren der Ikonenmalerei müssen auch<br />

die sogenannten Rasdelki hinzugefügt werden. Es handelt sich dabei<br />

um Linien, welche mit einer anderen Farbe als die Raskryschki<br />

ausgeführt werden. Am häufigsten wird Blattgold verwendet,<br />

sehr selten auch Silber bzw. Goldfarbe. Mit dieser Hervorhebung<br />

der Rasdelki wollen wir betonen, daß der Maler auf sie stets bewußt<br />

seine Aufmerksamkeit richtet, auch wenn diese Linien zu<br />

keiner physischen Wirklichkeit in Beziehung stehen. D.h. zu keinerlei<br />

analogem Liniensystem auf der Kleidung oder dem Gestühl,<br />

um einige Beispiele zu nennen. Sondern sie bilden ein<br />

System bloß potentieller Linien. Es sind Linien, die sich auf den<br />

Aufbau der genannten Objekte beziehen, ähnlich den Linien der<br />

elektrischen Energie oder des Magnetfeldes oder eines Systems<br />

der Isothermik sowie sonstiger Systeme mit gekrümmten Linien.<br />

Die Rasdelki, welche das metaphysische Schema des jeweiligen Sujets<br />

bzw. dessen Dynamik mit größerer Kraft als dessen sichtbare<br />

Linien auszudrücken vermögen, sind also an und für sich völlig<br />

unsichtbar. Sie fassen nach den Vorstellungen des Ikonenmalers,<br />

der sie erst im nachhinein auf die Ikone aufträgt, die dem Auge<br />

gegenübertretende Gesamtheit der Ikone zusammen. Der Betrachter<br />

hat es mit Bewegungslinien zu tun, welche das Auge bei<br />

der Betrachtung der Ikone bewältigen muß. Die Rasdelki bilden<br />

das Schema des inneren Aufbaus des Abgebildeten. Wenn man<br />

jedoch die physischen Grundlagen dieser Linien suchen würde,<br />

so stieße man am ehesten — auf Kraftlinien und Spannungsfelder.<br />

Mit anderen Worten: die Rasdelki stellen weniger durch Spannung<br />

erzeugte oder besser gesagt schon sichtbare Linien dar, sondern<br />

Linien einzig der Möglichkeit nach oder der Potenz. Es sind<br />

Falten, nach denen sich z. B. Kleider legen würden, wenn man sie<br />

jemals falten würde.<br />

Die auf die zusätzlichen Flächen gezeichneten Rasdelki offenbaren<br />

das Bewußtsein vom strukturierenden Charakter dieser<br />

12


Flächen und helfen so, sich nicht auf eine passive Anschauung<br />

dieser Flächen beschränkend, das funktionale Verhältnis derselben<br />

zur Gesamtheit der Ikone zu verstehen. Und das bedeutet,<br />

daß sie mit besonderem Nachdruck dazu beitragen, die fehlende<br />

Unterordnung analoger perspektivischer Verkürzungen bzgl.<br />

perspektivischer Forderungen zu verstehen.<br />

Wir werden an dieser Stelle nicht von den zahlreichen anderen<br />

und nebensächlichen Methoden der Ikonographie sprechen, mit<br />

welchen diese ihre Nichtunterordnung unter die Gesetze der<br />

Perspektive sowie darüber hinaus ihr Bewußtsein von den Perspektivverletzungen<br />

unterstreicht. Wir erwähnen hier nur die<br />

Aufschriften, welche die Zeichnungen eingrenzen und deshalb<br />

ihre Besonderheit außerordentlich unterstreichen, — die sog. Belebungen,<br />

Bewegungen und Flecken, genauso auch das Weißen, Verfahren,<br />

welche die Konvexität hervorheben und deshalb alle Unebenheiten<br />

akzentuieren. Unregelmäßigkeiten, die eigentlich<br />

nicht zu sehen sein dürften usw. usf. Man könnte meinen, damit<br />

sei genug angeführt, um allen, die schon eine Ikone betrachtet<br />

oder einen gewissen Vorrat an ikonographischer Erfahrung gesammelt<br />

haben, an die NichtZufälligkeit ihres Unterschiedes gegenüber<br />

der Parallelperspektive zu erinnern und darüber hinaus<br />

— an die ästhetische Fruchtbarkeit solcher Regelverletzungen.<br />

III.<br />

Und jetzt, nach diesen Vorbemerkungen, steht die Frage nach<br />

Sinn und Gesetzmäßigkeit solcher Verletzungen vor uns. Das<br />

heißt mit anderen Worten: vor uns erhebt sich die diesem Problem<br />

verwandte Frage nach den Anwendungsgrenzen und dem<br />

Sinn der Perspektive (also der Zentral- bzw. Parallelperspektive).<br />

Drückt diese Perspektive tatsächlich — wie das ihre Anhänger behaupten<br />

— die Natur der Dinge aus und muß sie deshalb stets und<br />

überall als eine bedingungslose Voraussetzung künstlerischer<br />

Wahrhaftigkeit angesehen werden? Oder ist sie bloß ein Schema<br />

und noch dazu eines unter einer Anzahl möglicher Schemata, das<br />

nicht einem umfassenden Weltverständnis entspricht, sondern<br />

bloß einer Deutung der Welt unter anderen, verbunden mit einer<br />

ganz bestimmten Weltanschauung und einem definierten Weltempfinden?<br />

Oder anders: ist die Perspektive, die perspektivische<br />

13


Darstellung der Welt, die perspektivische Deutung — das echte,<br />

aus der Wirklichkeit der Welt entströmte Abbild? Ist sie das wahre<br />

Wort der Welt? Oder handelt es sich bloß um eine besondere<br />

Orthographie, um eine von vielen Konstruktionen? Konstruktionen,<br />

die charakteristisch sind für die den Epochen entsprechenden<br />

Weltanschauungen, die sie hervorgebracht haben? Und die<br />

mit dieser Perspektive ihren eigenen Stil zum Ausdruck gebracht<br />

haben, ohne dabei andere Orthographien und andere Systeme<br />

der Transkription auszuschließen? Orthographien, die mit anderen<br />

Welterfahrungen und den Stilarten anderer Epochen in Beziehung<br />

stehen?<br />

Ist es des weiteren möglich, daß es sich dabei um Transkriptionen<br />

handelt, die stärker mit der Wirklichkeit verbunden sind,<br />

und daß die Verletzungen jener perspektivischen Regeln genauso<br />

viel oder wenig die künstlerische Wahrheit einer Darstellung<br />

verletzen, wie grammatische Fehler im Brief eines Heiligen die lebendige<br />

Wahrheit verletzen, welche durch seine Erfahrungen<br />

wiedergegeben werden?<br />

Um diese Frage zu lösen, soll zuallererst historische Auskunft<br />

gegeben werden. Konkret: zeigen wir auf historischem Wege, inwiefern<br />

tatsächlich Darstellung und Perspektive nicht voneinander<br />

zu trennen sind.<br />

Babylonische und ägyptische Flachreliefs tragen keine Anzeichen<br />

der Perspektive — wie übrigens auch keine der im eigentlichen<br />

Sinne so zu nennenden umgekehrten Perspektive. Der<br />

Polyzentrismus der ägyptischen Darstellungen ist bekannt und<br />

außerordentlich berühmt, vor allem aber innerhalb der ägyptischen<br />

Kunst kanonisiert. Allseits bekannt ist die Darstellung von<br />

Gesicht und Füßen im Profil bei gleichzeitiger Drehung der<br />

Schultern und der Brust auf ägyptischen Reliefs und Fresken.<br />

Doch auf jeden Fall fehlt ihnen die Parallelperspektive. 3 Außer-<br />

3. Es existiert im übrigen die Ansicht, nach welcher die Darstellungen von hintereinander<br />

stehenden Soldaten oder Pferden, wenn sie sich auf einer Linie senkrecht<br />

zur Bewegungsrichtung selbst bewegen, als Keime der Perspektive angesehen<br />

werden müssen. Natürlich, es handelt sich tatsächlich um eine Art Projektion militärischen,<br />

axionometrischen o. ä. Typs, eine Projektion aus einem unendlich weiten<br />

Zentrum. Und diese besitzt eigenständige Bedeutung ais solche. Siejedoch als irgendeinen<br />

Keim anzusehen, d. h. als unvollständig begriffene Perspektive, bedeutet zu<br />

vergessen, daß jedwede Darstellung dem Wesen nach eine hergestellte Entsprechung<br />

ist und daß viele Darstellungen im Wesen' Projektionen sind, jedoch keine<br />

perspektivischen - und desto weniger Keime der Perspektive oder - auf der ande-<br />

14


dem weist die erstaunliche Wahrheitskraft der Porträts und Genredarstellungen<br />

ägyptischer Skulpturen auf die gewaltige Beobachtungsgabe<br />

der ägyptischen Künstler hin. Es wäre darum völlig<br />

unverständlich, warum — vorausgesetzt, daß die perspektivischen<br />

Regeln tatsächlich wesentlich zur Wahrheit der Welt gehören, wie<br />

es ihre Anhänger behaupten -, warum also das scharfe Auge des<br />

ägyptischen Meisters die Perspektive nicht bemerkt hat, bzw. sie<br />

nicht bemerkt haben sollte. Denn andererseits besaßen, wie der<br />

berühmte Mathematikhistoriker Moritz Cantor bemerkt hat, die<br />

Ägypter schon damals die geometrischen Voraussetzungen perspektivischer<br />

Darstellungen. Sie wußten insbesondere von der<br />

geometrischen Proportionalität und waren diesbezüglich schon<br />

so weit vorgedrungen, daß sie wo nötig in der Lage waren,<br />

Vergrößerungen oder Verkleinerungen des Maßstabes durchzuführen.<br />

«Ist es aus diesem Grunde nicht verwunderlich, daß die Ägypter<br />

nicht den nächsten Schritt taten und die Perspektive eröffneten?<br />

Wie bekannt, existiert in der ägyptischen Malerei nicht die<br />

Spur derselben. Auch wenn man religiöse oder andere Grundlagen<br />

für sie Findet, bleibt es beglaubigte geometrische Tatsache,<br />

daß die Ägypter keine Verfahren benutzten, um die Malfläche als<br />

zwischen dem Auge des Betrachters und dem dargestellten Gegenstand<br />

befindlich zu verstehen und mittels Linien den Schnittpunkt<br />

dieser Fläche mit jenen Strahlen zu verbinden, die auf<br />

diesen Gegenstand gerichtet sind.» 4<br />

Die von Moritz Cantor im Vorbeigehen fallengelassene Bemerkung<br />

von den religiösen Voraussetzungen der perspektivischen<br />

Darstellungsweise der Ägypter verdient alle Beachtung. Tatsächren<br />

Seite - Keime der ungekehrten «Perspektive» usw. Es ist anzunehmen, daß diejenigen,<br />

die sich mit solchen Fällen beschäftigen, nicht genug Aufmerksamkeit auf<br />

die mathematische Seite des Problems wenden. Wodurch alle Verfahren der Darstellungen<br />

- und das sind unzählige - bei ihnen unterteilt werden in richtige (also<br />

perspektivische) und falsche (also perspektivlose). Abgesehen davon, daß die Richtigkeit<br />

einer Darstellung nichts mit An- oder Abwesenheit perspektivischer Technik<br />

zu tun hat, — verlangt die ägyptische Tradition der Darstellung besondere Aufmerksamkeit,<br />

denn dort überwogen die fühlbaren Empfindungen über den visuellen.<br />

Welchen Typ der Entsprechung zwischen den Punkten des Darzustellenden und<br />

der Darstellung die Ägypter verwendeten — ist eine überaus schwierige Frage und ist<br />

bis zum heutigen Tage ohne eine befriedigende Antwort geblieben.<br />

4. Moritz Cantor, Vorlesungen über Geschichte der Mathematik, Bd. 1, Leipzig<br />

'907,3. Auflage, S. 108.<br />

15


lieh erhielt die ägyptische Kunst eine strenge kanonische Gestalt<br />

und formte sich im Laufe von tausend Jahren zu unverbrüchlichen<br />

kanonischen Formeln. Vielleicht geschah dies aufgrund<br />

ihrer innersten Bedeutung, welche sich eng an Sinn und Bedeutung<br />

der Hieroglyphen anlehnte. Insbesondere, da die ägyptische<br />

Schrift sich ihrerseits noch nicht allzuweit von der metaphysischen<br />

Widerspiegelung der Realität entfernt hatte. Es versteht<br />

sich hier von selbst, daß die ägyptische Kunst bald keinerlei Neuerungen<br />

bedurfte und sich so nach und nach in sich selbst verschloß.<br />

Die perspektivischen Verhältnisse — wenn sie denn bemerkt<br />

worden sind — konnten nicht in den selbstgezogenen Zirkel<br />

des Kanons der ägyptischen Kunst eingelassen werden. Das Fehlen<br />

der Perspektive bei den Ägyptern und (wenn auch in einem<br />

anderen Sinne) bei den Chinesen, weist eher auf eine frühe Reife<br />

und sogar eine Überreife ihrer überaus alten Kunst hin, als auf<br />

eine kindliche Unerfahrenheit derselben.<br />

Die Befreiung von der Perspektive bzw. die ursprüngliche<br />

Nichtanerkennung ihrer Macht — die für den Subjektivismus und<br />

Illusionismus, wie wir bald sehen werden, charakteristisch ist —<br />

vollzieht sich um einer religiösen Objektivität und transpersonalen Metaphysik<br />

willen. Denn wenn andererseits die religiöse Stabilität des<br />

Weltverständnisses und die heilige Metaphysik des allgemeinen<br />

Bewußtseins eines Volkes sich zu rein individualistischen Betrachtungen<br />

Einzelner von vereinzelten Standpunkten aus zersetzt —<br />

und darüber hinaus zu einzelnen Standpunkten in je einzelnen<br />

Zeitmomenten -, dann stoßen wir auch auf die für ein uneinheitliches<br />

Bewußtsein charakteristische Zentralperspektive.<br />

Zu betonen ist weiterhin, daß die Perspektive zuerst nicht in der<br />

reinen Kunst erschien, welche doch ihrem innersten Wesen nach<br />

stets mehr oder weniger metaphysisch ist, sondern in der angewandten<br />

Kunst, als ein Moment des Dekorativen, welches sich<br />

nicht die Wahrheit der Wirklichkeit, sondern die Glaubenswürdigkeit des<br />

Anscheins zur Aufgabe macht.<br />

Bemerkenswert, daß es Anaxagoras war, jener Anaxagoras,<br />

der sich bemüht hatte, die einst selbständigen Gottheiten Mond<br />

und Sonne als glühende Steine zu erklären und statt einer göttlichen<br />

Schöpfung einen zentrifugalen Wirbel annahm, aus welchem<br />

die Sterne hervorgekommen seien, welchem Vitruvius die<br />

Erfindung der Perspektive zuschreibt. Und zwar erfolgte diese<br />

innerhalb der von den Alten sogenannten Skynographie, das<br />

16


heißt innerhalb der Theaterdekoration. Als Aischylos, nach dem<br />

Zeugnis des Vitruvius, 5 etwa gegen 470 vor Christus in Athen<br />

seine Tragödien aufführte und der bekannte Agapharchos ihm<br />

dazu die Dekorationen schuf (und über selbige ein Traktat<br />

schrieb), haben eben Anaxagoras und Demokrit sich eben aus<br />

diesem Grunde veranlaßt gesehen, dieses Fach — die Dekorationsmalerei<br />

— wissenschaftlich zu beschreiben.<br />

Ihre Fragestellung lief letztlich darauf hinaus, wie auf einer<br />

Fläche unter Annahme eines bekannten Fluchtpunktes Linien zu<br />

legen seien, damit die vom Auge auf diesen Punkt gerichteten<br />

Strahlen mit jenen Strahlen übereinstimmen, welche vom Auge<br />

(welches sich stets am selben Platz befinden muß) zu den entsprechenden<br />

Punkten des Gebäudes selbst führen. Und zwar derart,<br />

daß das Abbild des echten Gegenstandes auf der Netzhaut vollständig<br />

mit demjenigen der Dekoration zusammenfällt, welche<br />

denselben Gegenstand darstellte.<br />

Deutlich wird, daß die Perspektive nicht innerhalb der reinen<br />

Kunst entstanden ist und ihrer allerersten Aufgabe nach nicht die<br />

lebendige künstlerische Wahrnehmung der Wirklichkeit zum<br />

Ausdruck gebracht hat. Sondern daß sie im Bereich der angewandten<br />

Kunst erdacht worden ist, auf dem Gebiet der Theatertechnik.<br />

Wobei sie die Malerei zu ihrem Dienst herangezogen und<br />

sie für ihre Zwecke dienstbar gemacht hat. Stimmen deren Aufgaben<br />

nun aber mit den Aufgaben der reinen Kunst überein?<br />

Diese Frage bedarf wohl keiner Antwort! Denn die Malerei hat<br />

nicht die Aufgabe, die Wirklichkeit zu kopieren, sondern viel<br />

eher ein tieferes Verständnis ihrer Architektur und Materials sowie<br />

ihrer Bedeutung zu gewähren. Und das Verständnis ihrer<br />

Bedeutung und des Materials der Wirklichkeit samt ihres Aufbaus<br />

— wird dem betrachtenden Auge des Künstlers durch eine<br />

lebendige Berührung mit der Realität selbst gewährt, durch ein Leben<br />

und Fühlen innerhalb dieser Realität. Im Gegensatz dazu will<br />

doch die Theaterdekoration die Wirklichkeit mit ihrem Schein<br />

vertauschen — so gut es eben geht.<br />

5. Vitruvius Pollio, De architectura libri decem, VIII, pret. 11.<br />

Dasselbe finden wir in der Vita des Aischylos. Doch nach dem Zeugnis des Aristoteles<br />

in seiner Poetik Bd. 4 bot Sophokles ersten Anlaß zur Szenographie. Doch dies widerspricht<br />

sich nicht, denn man muß daran denken, daß Sophokles um vieles naturalistischer<br />

war als Aischylos und so vielleicht auch stärker illusionistische Dekorationen<br />

anstrebte.<br />

17


Die Ästhetik dieses Scheins gründet auf dem inneren Zusammenhang<br />

ihrer Elemente, nicht jedoch auf dem symbolischen<br />

Austausch von Urbild und Abbild, der mittels künstlerischer Verfahren<br />

und Techniken verwirklicht wird. Die Dekoration ist<br />

ihrem Wesen nach — Täuschung, wenn auch eine schöne. Die<br />

reine Kunst wird (oder will zumindest) die Wahrheit des Lebens<br />

darstellen, kein vertauschtes Leben, sondern einfach symbolisch<br />

bezeichnetes Leben in seiner tiefsten Realität. Die Dekoration<br />

jedoch gleicht einer Spanischen Wand, die das Licht der Wirklichkeit<br />

verbirgt — die reine Malerei hingegen einem sperrangelweit<br />

geöffneten Fenster zur Realität. Für den realistischen<br />

Verstand eines Anaxagoras oder Demokrits konnte es eine darstellende<br />

Kunst als ein Symbol der Realität nicht geben — und war<br />

auch nicht vonnöten. Wie für jedes «Wanderertum» der Seele —<br />

man gestatte mir aus dieser kleinen Erscheinung des russischen<br />

Lebens eine historische Kategorie zu machen —, so verlangten<br />

auch sie nicht nach der Wahrheit des Lebens, welche die Erkenntnis<br />

ermöglicht, sondern suchten äußerliche Ähnlichkeit. Sie suchten<br />

das für die naheliegenden Lebensfragen pragmatisch Nützliche<br />

und nicht die schöpferischen Grundlagen des Lebens selbst.<br />

Ihnen ging es um die Imitation der Oberfläche.<br />

Bis dahin wurde die griechische Szene durch «Bilder und Stoffe»<br />

6 bestimmt — jetzt spürte man das Bedürfnis nach Illusionen.<br />

Und siehe: unter der Voraussetzung, daß der Zuschauer oder der<br />

jeweilige Dekorateur wahrhaftig wie die Gefangenen der platonischen<br />

Höhle an die Theaterbank gefesselt und nicht in der Lage<br />

ist, ein unmittelbares und lebendiges Verhältnis zur Realität zu<br />

gewinnen (und das eigentlich auch nicht soll), so als ob er durch<br />

eine gläserne Scheibe von der Szene getrennt sei und nur ein einziges,<br />

unbewegliches Auge besäße, und ohne je bis zum lebendigen<br />

Leben durchdringen zu können, ausgestattet mit einem paralysierten<br />

Willen, so als ob die Existenz eines begrenzten Theaters<br />

selbst die willenlose Betrachtung der Szene als etwas «Unwahres»<br />

und «Unwillkürliches» verlangte, gleich irgendeinem billigen Betrug<br />

—, unter diesen Voraussetzungen, behaupte ich, erstellten<br />

die ersten Theoretiker der Perspektive Regeln zur Täuschung<br />

des Theaterzuschauers.<br />

6. G. Emichen, Das griechische und römische Theater, Übers, von 1.1. Semenov,<br />

Moskau 1894, S. 160-161<br />

18


Anaxagoras und Demokrit tauschten den lebendigen Menschen<br />

gegen einen gleichsam mit Curare vergifteten Zuschauer<br />

ein und lieferten die־׳dann Regeln zum Betrug desselben. Jetzt<br />

wird es deutlich, daß die bekannten Verfahren perspektivischer<br />

Darstellung der Wirklichkeit ihren Sinn darin haben, die Ulusionierung<br />

eines solchen kranken Zuschauers zu ermöglichen, welcher<br />

noch dazu den größten Teil seiner allgemein menschlichen<br />

Eigenschaften verloren hat.<br />

Aus all dem folgt, daß wir es als erwiesen betrachten können,<br />

daß also auch in Griechenland die Perspektive spätestens seitdem<br />

V. Jahrhundert vor Christus bekannt war. Wenn sie dann dennoch<br />

in diesem oder jenen Fall nicht benutzt worden ist, so folgt<br />

daraus, daß dies ganz und gar nicht aus Unkenntnis ihrer Voraussetzungen<br />

geschah, sondern aus irgendwelchen anderen und tieferen<br />

Gründen. Vor allem aber aufgrund von Überzeugungen,<br />

die auf einer höheren Gesetzmäßigkeit der reinen Kunst gründeten. Ja,<br />

es wäre geradezu unwahrscheinlich und absurd, angesichts der<br />

hohen mathematischen Bildung und entwickelten geometrischen<br />

Beobachtungsgabe der geübten Augen der alten Meister, diesen<br />

zu unterstellen, sie hätten die dem gewöhnlichen Sehen eigentümliche<br />

Perspektivität der Welt nicht bemerkt oder wären nicht<br />

in der Lage gewesen, diese Tatsache entsprechend den Theoremen<br />

der elementaren Geometrie auf einfache Weise anzuwenden.<br />

Es fällt sehr schwer, daran zu zweifeln, daß sie die Regeln der<br />

Perspektive nicht anwendeten, weil sie dies einfach nicht wollten<br />

und weil sie diese für überflüssig und unkünstlerisch hielten!<br />

V.<br />

Tatsächlich diskutierte Ptolomäos in seiner «Geographie» 7<br />

(2. Jh.v.Chr.) eine kartographische Projektionstheorie der Erde<br />

und untersuchte in seinem Werk «Planiglobium» mehrere Möglichkeiten<br />

der Projektion. Es ging ihm in der Hauptsache um das<br />

Problem einer Projektion von den Polen aus auf die Äquatorialebene<br />

(d. h. genau jene Projektion, welche seit 1613 die stereographische<br />

genannt wurde) überdies löste er noch andere schwierige<br />

Fragen der Projektion. 8<br />

7. Claudius Ptolomaeus, Γεωγραφική Ξφίγησις, siehe: Μ. Cantor,-id. (5), Bd. 1.,<br />

S.123<br />

19


Kann man sich denn vorstellen, daß bei einem solchen Wissensstand<br />

die einfacheren Verfahren der Perspektive unbekannt<br />

gewesen sein sollen? Und tatsächlich, dort wo wir es nicht mit der<br />

reinen Kunst zu tun haben, sondern mit dekorativen Illusionen<br />

zur täuschenden Erweiterung des Theaterraumes oder zur Zerstörung<br />

der Flächen der Zimmerwände, stoßen wir sogleich auf<br />

die zu diesem Zweck angewandte Zentralperspektive.<br />

Insbesondere ist das in jenen Fällen zu beobachten, in denen<br />

das Leben sich von seinen tieferen Quellen entfernt und in den<br />

flachen Gewässern eines seichten Epikurismus seinen Fluß gefunden<br />

hatte, in der Atmosphäre oberflächlicher Bürgerlichkeit<br />

«griechischer Menschlein» (graecolorum) — wie sie von ihren Zeitgenossen,<br />

den Römern, spöttisch genannt wurden. Ein Menschenschlag,<br />

der die Tiefen des Nous eines griechischen Genius<br />

verloren hatte und unfähig war, den großartigen und die gesamte<br />

bewohnte Welt umfassenden Schwung der moralisch-politischen<br />

Gedanken des römischen Volkes zu erlangen. Hierzu zählen die<br />

elegant-geistlosen Malereien in den Häusern Pompeijs wie auch<br />

architektonischen Dekorationen der Pompeijschen Villen. 9<br />

Der vor allem aus Alexandrien und den anderen Zentren der<br />

hellenistischen Kultur des I. und II. Jahrhunderts nach Rom importierte<br />

Barock der Alten Welt gab sich rein illusionistischen<br />

Aufgaben hin und strebte danach, einen mehr oder weniger für<br />

unbeweglich angesehenen Zuschauer zu täuschen. Architektonische<br />

und Landschaftsmalereien dieser Art mögen im Hinblick<br />

auf ihre Nichtrealisierbarkeit innerhalb der Wirklichkeit vielleicht<br />

unsinnig erscheinen, 10 nichtsdestoweniger wollen sie den<br />

8. N. A. Rynin, Natschertalejnaja geometrija, Metody isobraschenija, Petrograd<br />

1916. (Darstellende Geometrie. Methoden der Darstellung)<br />

9. Zahlreiche Reproduktionen griechisch-römischer Landschaftsarchitektur<br />

(Photos und Zeichnungen) samt archäologischen Untersuchungen zu diesen Landschaften<br />

lassen sich in dem sehr detaillierten Buch von M. Rostovzev, Ellenistitschesko-rimskij<br />

architekturny peisasch, St. Petersburg 1908 finden. Doch leider widmet<br />

sich die Arbeit Rostovzevs in keiner Weise den historisch-künstlerischen und wiss.-<br />

künstlerischen Fragen des Problems - und ebenso wenig den Problemen des Raums<br />

innerhalb der griechisch-römischen Landschaft...<br />

10. Im übrigen «wurde die Frage nach der griechisch-römischen architektonischen<br />

Landschaftsmalerei, ihren Ursprüngen und ihrer Geschichte, ihrer Realität<br />

oder Phantasie bis heute kein einziges Mal ernsthaft gestellt. Mich persönlich hat sie<br />

schon lange Zeit beschäftigt, seit den ersten Tagen meiner Bekanntschaft mit den<br />

Pompeijern. Mir ist schnell klar geworden, daß das Maß des Phantastischen in der<br />

20


Zuschauer betrügen, gleichsam mit ihm spielen und ihn verspotten.<br />

Manche Einzelheiten sind so naturalistisch wiedergegeben,<br />

daß sich der Betrachter nur mit Hilfe seines Tastsinns von der optischen<br />

Täuschung zu überzeugen vermag. Diesen Eindrücken<br />

entspricht eine meisterhafte Schattentechnik, die in Abhängigkeit<br />

von der jeweiligen Lichtquelle (Fenster, Deckenöffnungen,<br />

Türen), die das Zimmer erleuchteten, angewendet wurden."<br />

Mit größter Aufmerksamkeit ist auch die Tatsache zu würdigen,<br />

daß sich auch von dieser illusionistischen Landschaftsmalerei<br />

erneut Verbindungslinien zur Architektur des griechisch-römischen<br />

Bühnenbilds 12 ziehen lassen. Die Wurzel der Perspektive<br />

Findet sich - im Theater. Nicht nur aufgrund der historisch-technischen<br />

Tatsache, daß das Theater als allererstes die Perspektive<br />

benötigte, sondern auch Kraft einer viel tieferen Ursache: des<br />

Szenischen innerhalb einer perspektivischen Darstellung der<br />

Welt. Darin besteht nun aber auch das Leichte einer Weltanschauung,<br />

die das Gefühl für Realität und Verantwortung verloren<br />

hatte. Für sie ist das Leben nicht mehr Tat, sondern bloße<br />

Vorstellung. Und deshalb — kehren wir nach Pompeij zurück —<br />

fällt es schwer, inmitten dieser Malereien echte Werke reiner<br />

Kunst zu finden.<br />

Landschaftsmalerei Pompeijs außerordentlich begrenzt ist und sich insgesamt im<br />

Rahmen illusionistischer Darstellung hält... Der Terminus «Phantastische Architektur»<br />

ist an sich völlig unverständlich: Einzelheiten ornamentischen Charakters<br />

können von der Phantasie eingeflößt sein, die Verbindungen der Motive mögen<br />

willkürlich oder ungewöhnlich sein, doch sind die Motive und der allgemeine Charakter<br />

sind überaus realistisch... Untersuchungen von diesem Standpunkt aus vermochte<br />

und vermag eine Reihe unerwarteter und wichtiger Resultate zu liefern - es<br />

wurde die Verbindung zwischen dieser «phantastischen» Architektur und der Architektur<br />

des griechisch-römischen Theaters deutlich, - und künftige Forschungen<br />

werden diesbezüglich noch mehr verdeutlichen. Zumal jetzt, wo in Kleinasien ein<br />

echtes hellenistisches Architekturdenkmal nach dem anderen freigelegt wird. Und<br />

es werden Resultate sich zeigen, wie ich sie mit meinen Untersuchungen der Architektur<br />

auf Pompeijschen Landschaftsmalereien gezeitigt habe. Denn hier scheint<br />

alles, im viel größeren Maße als in der architektonischen Dekoration, realistisch und<br />

überliefert die Typen der realen hellenistischen Architektur. Für die reine Phantasie<br />

gibt es hier noch weniger Platz, als in der Architektur der Pompeijschen Wände.»<br />

(Rostovzev, id. (10), S. IX-X. des Nachworts). Der Autor verbindet diese Landschaftsmalerei<br />

mit den Ansichten römischer Villen, den ägyptischen Landschaften<br />

usw.<br />

11 Alexander Benois, Istorija Schivopisij, St. Petersburg 1912, S. 41 u. a. (Die Geschichte<br />

der Malerei)<br />

12. siehe (10)<br />

21


Tatsächlich läßt die technische Gewandtheit dieser Hausdekorationen<br />

vor allem die Kunsthistoriker 13 nicht vergessen, daß wir<br />

hier «bloß die Produktionen virtuoser Handwerker und nicht<br />

echter und vom Geist bewegter Künstler» vor uns haben. Dasselbe<br />

gilt für die entsprechenden Landschaften, die als Hintergrund<br />

auf den Sujetmalereien zu sehen sind und «stets mit großer Genauigkeit»<br />

ohne großen zeitlichen Aufwand und gekonnt entworfen<br />

worden sind. «Ob auf diese Weise auch die berühmten<br />

Malereien der Klassik angefertigt wurden - bleibt fraglich!» 14<br />

Diese letzteren nämlich litten «an mangelnder Ähnlichkeit im<br />

Hinblick auf die perspektivischen Aufgaben, an welche die<br />

Künstler scheinbar ausschließlich auf dem Erfahrungswege herangegangen»<br />

sind - so z. B. Benois. Die große Frage bleibt: bedeutet<br />

dies, daß die Gesetze der Perspektive den Alten Griechen<br />

tatsächlich nicht bekannt gewesen sind? «Stoßen wir nicht» — fragt<br />

Benois — «auch in der heutigen Zeit auf dieselbe Unkenntnis von<br />

der Perspektive als Wissenschaft? Gar nicht fern scheint die Zeit,<br />

in der wir auch in diesen Fragen die Ungereimtheiten<br />

erreichen und die Unfähigkeiten und Ähnlichkeiten der<br />

späten klassischen Malerei hinter uns lassen. Vielleicht darf man<br />

aus diesem Anlaß die Kenntnis der Gesetze der Perspektive bei<br />

den Generationen von Künstlern infrage stellen, die uns vorangegangen<br />

sind.» 15<br />

Tatsächlich kann man anhand der teilweise auftretenden Ungenauigkeiten<br />

bei der Realisierung der Perspektive in späterer<br />

Zeit die Anfänge jenes Zerfalls der Perspektive wahrnehmen, der<br />

bald darauf im Mittelalter sowohl im Westen als auch im Osten<br />

seinen Anfang nahm. Doch mir scheint, daß diese perspektivischen<br />

Ungenauigkeiten einen Kompromiß zwischen den eigentlichen<br />

dekorativen Aufgaben illusionistischer Malerei — und den<br />

synthetischen Aufgaben reiner Kunst darstellt. Denn man darf<br />

nicht vergessen, daß das lebendige Haus — und sei es auch ein<br />

noch so untätiges - trotz allem kein Theater war und daß seine<br />

Bewohner nicht derart an ihren Platz gefesselt waren wie ein<br />

Theaterzuschauer.<br />

Wenn die Wandmalereien irgendeines byzantinischen Hauses<br />

in allen Details den Regeln der Perspektive gefolgt wären, gleich-<br />

13. Benois, id. (12), S.45<br />

14. Id., S.45/46<br />

15. Id., S.43, Anm.24<br />

22


sam auf Täuschung und spielerischen Scherz aus, so wäre dies<br />

einzig unter der Voraussetzung erreicht worden, daß der Betrachter<br />

stehen und sich außerdem auf einem streng festgelegten<br />

Platz im Zimmer befinden würde. Im Gegensatz dazu würde<br />

sonst jede seiner Bewegungen und umso mehr ein Wechsel des<br />

Standortes das widerliche Gefühl einer mißglückten Täuschung<br />

oder eines entlarvten Tricks hervorrufen. Und um eben jene groben<br />

Verletzungen der Illusion zu vermeiden, entsagte der Dekorateur<br />

einer bedingungslosen Abhängigkeit im Hinblick auf jeden<br />

einzelnen Standpunkt und benutzte deshalb eine gewisse<br />

synthetische Perspektive. Er erreichte gewissermaßen eine ungefähre<br />

Lösung der Aufgabe hinsichtlich jedes einzelnen Standpunktes,<br />

bezog sich aber dafür auf den gesamten Raum des Zimmers.<br />

Bildlich gesprochen: er nahm Zuflucht zum temperierten Aufbau<br />

eines Tasteninstruments, der im Hinblick auf die verlangte<br />

Genauigkeit — vollkommen ausreichte. Darüber hinaus entsagte<br />

der Dekorateur zu Teilen auch einer Kunst bloßer Nachahmung<br />

und betrat, wenn auch in sehr geringem Maße, den Weg einer<br />

künstlerischen Darstellung der Welt. D. h. der Dekorateur wandelte<br />

sich im geringen Maße zum Künstler. Doch ich wiederhole:<br />

den Künstler in ihm vermag man nicht deshalb zu erkennen, weil<br />

er sich teilweise (und zwar zu einem sehr großen Teil) an die Regeln<br />

der Perspektive hielt, sondern weil er sich — und nur deshalb<br />

- von dieser entfernt hatte.<br />

VI.<br />

Beginnend mit dem Anfang des IV. Jahrhundert nach Christus<br />

verfällt der Illusionismus und die perspektivische Darstellung<br />

verschwindet aus der Malerei. Es läßt sich eine deutliche<br />

Nichtbeachtung der Regeln der Perspektive erkennen. Es fehlt<br />

die Aufmerksamkeit gegenüber den proportionalen Verhältnissen<br />

einzelner Gegenstände untereinander und teilweise sogar innerhalb<br />

einzelner Dinge selbst. Dieser Zerfall der spätantiken<br />

und ihrem Wesen nach perspektivischen Kunst vollzog sich mit<br />

außerordentlicher Geschwindigkeit und vertiefte sich darüber<br />

hinaus mit jedem Jahrhundert, einschließlich der Frührenaissance.<br />

Die Meister des Mittelalters «hatten keinerlei Vorstellung<br />

mehr vom Linien verlauf zu einem Punkt hin oder von der Bedeu-<br />

23


tung des Horizonts. Es scheint, als hätten die späten römischen<br />

und byzantinischen Künstler niemals Gebäude in natura gesehen,<br />

als hätten sie nur Dinge mit flächigen, spielzeugartigen<br />

Schnitten gekannt. Über die Proportionen machten sie sich genausowenig<br />

Sorgen — und im Laufe der Zeit immer weniger und<br />

weniger! Es existierte keinerlei reelles Verhältnis zwischen der<br />

Größe der Figuren und derjenigen der Gebäude, die für jene<br />

Figuren bestimmt waren. Zu all dem muß noch hinzugefügt<br />

werden, daß mit den Jahrhunderten sogar in Detailfragen eine<br />

wachsende Entfernung zur Realität zu bemerken ist. Desweiteren<br />

kann man die verschiedensten Parallelen zwischen der wirklichen<br />

Architektur und der architektonischen Malerei noch in den Darstellungen<br />

des VI. und VII. Jahrhunderts, ja bis hinein ins X. und<br />

XI. Jahrhundert feststellen. Doch von da an behauptete sich in<br />

der byzantinischen Kunst der merkwürdige Typ einer *Gebäude‏,׳malerei<br />

in welcher sie willkürlich und veränderlich ist». 16<br />

Diese Charakterisierung der mittelalterlichen Malerei entnahmen<br />

wir der «Geschichte der Malerei» von A. Benois. Jedoch nur<br />

— weil uns das Buch unter die Hände kam. Denn aus diesen Klagen<br />

Benois' sind unschwer all jene schon allzulange ertragenen<br />

Schmähungen der mittelalterlichen Kunst herauszuhören ... Insbesondere<br />

die Klagen über das «Übersehen» der Perspektive vermag<br />

man in jedem beliebigen Buch über die Theorien der Kunst<br />

nachlesen, mit den üblichen Verweisen auf die Darstellung von<br />

Häusern «mit drei Seiten» wie sie Kinder malen, auf die «Konventionalität»<br />

der Farben, auf die zum Horizont auseinanderlaufenden<br />

Parallelen, die fehlende Proportionalität und den allgemeinen<br />

Hinweisen auf die verbreitete Unwissenheit.<br />

Zur Vollständigkeit einer solchen Charakterisierung des Mittelalters<br />

muß hinzugefügt werden, daß die Lage im Westen aus<br />

demselben Blickwinkel nicht besser war, sondern eher um vieles<br />

schlechter: «Vergleichen wir das, was sich ungefähr im X. Jahrhundert<br />

in Westeuropa abspielte, mit dem, was zu selben Zeit in<br />

Byzanz vor sich ging, so erweist sich letzteres demgegenüber auf<br />

dem Höhepunkt seiner künstlerischen Verfeinerung und handwerklichen<br />

Pracht.» 17 Bei einem solchen Verständnis von Byzanz<br />

versteht sich das Resümee Benois' und der meisten anderen von<br />

16. Id., S.70<br />

17. Id., S.75<br />

24


selbst. Fast scheint es gleichgültig, so oft schon langweilte es durch<br />

ungezählte Wiederholungen, Hand in Hand mit den noch penetranteren<br />

Rufen der Kulturhistoriker vom «dunklen Mittelalter».<br />

Ein Resümee, welches zu vermelden weiß, daß die «Geschichte<br />

der byzantinischen Malerei mit all ihren Schwankungen und zeitlichen<br />

Aufschwüngen die Geschichte eines Zerfalls sei, der Verwahrlosung<br />

und des Sterbens. Daß die Darstellungen der Byzantiner<br />

sich immer mehr vom Leben entfernten und ihre Technik<br />

immer sklavischer, traditioneller und handwerklicher» wurde. 18<br />

Das aufklärerische Schema der Geschichte der Kunst und der<br />

Welt ist seit eh unverändert dasselbe geblieben und (bekanntermaßen<br />

mit der Renaissance anhebend und bis heute unverändert<br />

beibehalten) darüber hinaus außerordentlich einfach. Und<br />

diesem zugrunde liegt der unerschütterliche Glaube an den<br />

Wert, die endgültige Vollkommenheit und - um es so auszudrükken<br />

— den Kanon der bürgerlichen Zivilisation der zweiten Hälfte<br />

des XIX. Jahrhunderts, der gleichsam ins Metaphysische gehoben<br />

wurde. Gemeint ist die kantische, wenn auch nicht direkt von<br />

Kant übernommene Orientierung. Wahrlich, wenn man überhaupt<br />

jemals von einem ideologischen Überbau auf ökonomischen<br />

Basisformationen sprechen sollte, dann hier an den Kulturquellen<br />

des XIX. Jahrhunderts. Wo blind an die Absolutheit<br />

dünner Bürgerlichkeit geglaubt wurde und wo die gesamte Weltgeschichte<br />

nach der Nähe ihrer Erscheinungen zu den Erscheinungen<br />

der zweiten Hälfte des XIX. Jahrhunderts bewertet<br />

wurde.<br />

So auch die Geschichte der Kunst: Alles, was der Kunst jenes<br />

Jahrhunderts ähnelte oder ihr nahekam, wurde als positiv bewertet,<br />

alles andere jedoch galt als - Verfall, Unwissenheit und<br />

Verwilderung. Bei einer solchen Bewertung werden die verzückten<br />

Lobeshymnen verständlich, die sich nicht selten von den Lippen<br />

ehrwürdiger Historiker ergossen: «ganz und gar modern»,<br />

«besser konnte man es damals auch nicht machen» — wobei auf<br />

irgendeine Jahreszahl Bezug genommen wird, die der Zeit des<br />

Historikers selbst nahelag. Tatsächlich existiert bei diesen Gegenwartsgläubigen<br />

ein unerschütterliches und volles Vertrauen in<br />

ihre Zeitgenossen. Ähnlich jenen Provinzialisten der Wissenschaft,<br />

die zutiefst davon, überzeugt sind, daß die endgültige<br />

18. Id., S.75<br />

25


Wahrheit einer Wissenschaft in diesem oder jenen Buch zugrundegelegt<br />

worden sei.<br />

So wird es verständlich, warum der Übergang der antiken<br />

Kunst von den Heiligtümern der ältesten Zeit hin zur Vermittlung<br />

des Schönen bis hin zum Gefühlsmäßigen und schließlich<br />

Illusionistischen, solchen Historikern als Fortschritt erscheint. Das<br />

Mittelalter hingegen war in Wirklichkeit entschieden von den<br />

Aufgaben der Illusionierung getrennt und stellte sich nicht die<br />

Herstellung von Ähnlichkeiten zum Ziel, sondern suchte Symbole<br />

der Realität — und erschien somit als Verfallszeit. Und schließlich<br />

wird die Kunst der Neuzeit, die ihren Anfang in der Renaissance<br />

nahm und entschlossen daranging, die errichteten Symbole<br />

auszutauschen, durch eine stillschweigende Übereinkunft auf<br />

einer breiten Straße bis zum XIX. Jahrhundert herangeführt.<br />

Diese Kunst erscheint den Historikern unbestreitbar als sich vervollkommnend.<br />

«Wie sollte dies etwas Schlechtes sein, wenn es<br />

doch mit unbestreitbarer innerer Logik bis zu uns führt, zu mir?»<br />

so etwa lautet der geheimste Gedanke unserer Historiker: wollten<br />

wir diesen wenig zimperlich ausdrücken.<br />

Und sie sind mit ihrem Bewußtsein einer solch geradlinigen<br />

Verbindung zutiefst im Recht — einer Verbindung, die darüber<br />

hinaus nicht nur äußerlich-historischen Charakter trägt, sondern<br />

auch einen inneren und logischen. Es handelt sich um eine transzendentale<br />

Verbindung zwischen den Sendungen der Renaissance<br />

und dem Lebensverständnis der jüngsten Vergangenheit<br />

selbst. Genauso wie sie mit ihren Empfindungen zutiefst im Recht<br />

waren, daß zwischen der letztgenannten Weltanschauung und<br />

den Voraussetzungen des mittelalterlichen Menschen vollste<br />

Nichtübereinstimmung besteht.<br />

«Es fehlt jedwedes Raumverständnis!» Das ist die Summe aller<br />

in formaler Hinsicht gegen die Kunst des Mittelalters vorgebrachten<br />

Einwände. Und dieser Vorwurf bedeutet letztlich, daß<br />

keinerlei räumliche Einheit zu finden sei. Es fehlten die Schemata<br />

des euklid-kantischen Raumes, die innerhalb der Verfahren der<br />

Malerei zur Linearperspektive und zur Proportionalität geführt<br />

hatten. Genauer gesagt: zu einer einzigen Perspektive, denn die<br />

Fragen der Proportionalität bilden nur einen Teil derselben.<br />

Desweiteren wird wie selbstverständlich und, was das Schlimmste<br />

ist, unbewußt — ja gleichsam von irgendwem und irgendwo<br />

nachgewiesen — angenommen, daß in der Natur selbst keinerlei<br />

26


Formen existieren. Es existieren keine, in einer eigenen Welt lebenden<br />

Formen. Und zwar auf grund der Annahme, daß sowieso<br />

keinerlei Realität existiere, die in sich selbst ihr Zentrum habe und<br />

deshalb eigenen Gesetzen unterworfen ist. Es wird angenommen,<br />

daß aus diesem Grunde alles Sichtbare und Erfaßbare einzig bloßes<br />

Material zur Auffüllung irgendeiner allgemeinen Kategorie<br />

sei, die auf jenes ihr Ordnungsschema lege. Eine Ordnung, wie<br />

sie der kantisch-euklidische Raum darstellt. Und daß folglich alle<br />

Formen der Natur im Grunde genommen scheinbare Formen<br />

sind, ein charakterloses und indifferentes Material, das erst noch<br />

durch ein wissenschaftliches Denkschema überdeckt werden<br />

muß. D.h. wir haben gleichsam einen Gitterkäfig des Lebens vor<br />

uns - nicht mehr! Und schließlich gilt jene primär-logische Voraussetzung<br />

von der qualitativen Gleichartigkeit, Unendlichkeit<br />

und Grenzenlosigkeit des Raumes, von dessen (um es anders zu<br />

sagen) Formlosigkeit und Nichtindividualität.<br />

Es fällt nicht schwer zu erkennen, daß diese Voraussetzungen<br />

sowohl den Menschen als auch die Natur leugnen, auch wenn sie<br />

der Geschichte zum Spott in Losungen wurzeln, welche sich «Humanismus»<br />

und «Naturalismus» nannten. Und die sich dann zu den<br />

formalen Ideen von «Menschenrechten und vom Naturrecht»<br />

wandelten.<br />

Es ist jetzt nicht an der Zeit, den Zusammenhang zwischen den<br />

süßen Wurzeln der Renaissance und den bitteren Früchten Kants<br />

darzulegen, geschweige denn, ihn zu erläutern. Es ist zur Genüge<br />

bekannt, daß der Kantianismus seinem Pathos nach eine Vertiefung<br />

der humanistisch-materialistischen Weltanschauung<br />

der Renaissance darstellt. Und von seinen Tiefen und seinem<br />

Maßstab her, das Selbstbewußtsein jenes historischen Hintergrundes<br />

repräsentierte, welcher sich als «neue europäische Bildung»<br />

verstand und sich nicht grundlos noch bis vor kurzem<br />

seiner faktischen Herrschaft rühmen konnte. Doch haben wir in<br />

jüngster Vergangenheit gelernt, die scheinbare Endgültigkeit jener<br />

Voraussetzungen zu durchschauen und erkannten wissenschaftlich-philosophisch<br />

und nicht zuletzt historisch-jedoch insbesondere<br />

im Künstlerischen, — daß all das, womit man uns vom<br />

Mittelalter abgeschreckt hat, von diesen Historikern selber erdacht<br />

worden ist. Und wir haben begriffen, daß im Mittelalter ein<br />

tiefer und reichhaltiger Fluß einer wirklichen Kultur geflossen<br />

ist.<br />

27


Es war eine Kultur mit einer eigenen Wissenschaft, einer eigenen<br />

Kunst, eigenen Staatsordnungen und letztlich mit allem, was einer<br />

Kultur eignet — vor allem aber mit einer eigenen und darüber hinaus<br />

einer an die Wahrheit angelehnten Antike! Und jene Voraussetzungen,<br />

welche innerhalb der Lebensauffassung der Neuzeit<br />

als unerschütterlich gelten, wurden dort wie auch im Altertum<br />

(ja auch im Altertum!) nicht nur für nicht unantastbar angesehen,<br />

sondern sogar abgelehnt. Und dies nicht aufgrund mangelnden<br />

Bewußtseins, sondern im Zuge wesentlicher Willensbestrebungen.<br />

Das Pathos des neuzeitlichen Menschen gründet in seinem stetig<br />

sich Losreißen von aller Realität, damit das «ich will» erneut<br />

gesetzgeberisch über einer zu bauenden, phantasmagorischen<br />

Wirklichkeit walte, selbst wenn diese in einem Käfig eingesperrt<br />

ist. Im Gegensatz dazu bestand das Pathos sowohl des antiken wie<br />

auch des mittelalterlichen Menschen in der Annahme und dankbaren<br />

Anerkennung und Bestätigung jedweder Realität als eines<br />

Gegebenen. Denn das Dasein — war eine Gabe und ein Gut — das<br />

Sein. Dieses Pathos des Menschen des Mittelalters vollzog sich in<br />

der Begründung der Realität außerhalb und innerhalb ihrer<br />

selbst und war so — objektiv. Der Subjektivismus des neuzeitlichen<br />

Menschen aber wird durch den Illusionismus charakterisiert. Im<br />

Gegensatz dazu lag den Absichten und Gedanken des mittelalterlichen<br />

Menschen nichts ferner als die Schaffung von «Ähnlichkeiten».<br />

Für den Menschen der Neuzeit — entnehmen wir sein<br />

offenherziges Bekenntnis den Lippen der Marburger Schule -<br />

existierte die Wirklichkeit nur dann und solange, wie und in welchem<br />

Maße sich die Wissenschaft herabließ, dieser die Existenz zu<br />

gewähren. Diese Erlaubnis wurde in Gestalt eines abgefaßten<br />

Schemas herausgegeben und dieses Schema glich einer juristischen<br />

Fallentscheidung, worauf die gegebene Erscheinung dann<br />

in Gänze in das vorbereitete Koordinatensystem des Lebens eingehen<br />

durfte und auf diese Weise zulässig war. Es wurde so ein<br />

Patent auf die Wirklichkeit behauptet - das in der Kanzlei Hermann<br />

Cohens waltete, ohne dessen Stempel und Unterschrift sie<br />

als unwirklich galt.<br />

Das, was bei den Marburgern offen verlautbart wurde — faßt<br />

den Geist der Renaissancegedanken zusammen. Und so ist die gesamte<br />

Geschichte der Aufklärung in der Hauptsache mit dem<br />

Krieg gegen das Leben selbst befaßt, mit dem Ziel, es völlig im<br />

28


System seiner Konstruktionen zu ersticken. Nahezu lächerlich ist<br />

die Tatsache, daß der neuzeitliche Mensch diese Entstellung und<br />

Zerstörung seiner zutiefst menschlichen Fähigkeit zu denken und<br />

zu fühlen, diese Umerziehung im Geiste des Nihilismus mit aller<br />

Kraft als Rückkehr zur Natur und als Beseitigung irgendwelcher<br />

und von irgendwem ihm auferlegter Widersprüche ausgibt. Wobei<br />

er sich wahrhaft bemüht, von der menschlichen Seele alle<br />

Schriftzeichen der Geschichte abzukratzen und ihm auf diese<br />

Weise die Seele selbst zu durchlöchern.<br />

Der antike und mittelalterliche Mensch hingegen wußte vor<br />

allem, daß man um zu Wollen - dasein mußte. Real dasein mußte<br />

und darüber hinaus inmitten der Realitäten, auf die es sich zu<br />

stützen galt; er war zutiefst realistisch und stand mit beiden Füßen<br />

hart auf der Erde. Und zwar nicht wie der moderne Mensch,<br />

der einzig mit seinen Bedürfnissen rechnet und wenn es nötig ist,<br />

die naheliegendsten Mittel zu ihrer Verwirklichung bzw. Befriedigung<br />

einsetzt. Von hier aus wird klar, warum zu den Voraussetzungen<br />

einer realistischen Lebensauffassung stets folgende Tatsachen<br />

zählten und zählen werden:<br />

Es existieren Zentren der Wirklichkeit als Zentren des Daseins, es<br />

gibt Verdichtungen dieser Realität, die ihren Gesetzen unterliegen<br />

und deshalb jede ihre eigene Form besitzen. Es kann daher<br />

nichts innerhalb des real Vorhandenen geben, das als ein unterschiedsloses<br />

und passives Material zur Auffüllung von welcherlei<br />

Schemata auch immer angesehen werden könnte. Und das umso<br />

weniger zum euklid-kantischen Raum gerechnet werden darf!<br />

Aus allen diesen Gründen müssen diese Formen gemäß ihrem<br />

eigenen Leben erfaßt werden, sich durch sich selbst gemäß dieser<br />

Erkenntnis darstellen - und nicht mittels Verkürzungen später<br />

hinzugefügter Perspektiven. Und schließlich gilt: der Raum<br />

selbst ist weder ein vereinzelter, gleichförmiger und unstrukturierter<br />

Raum noch eine einfache Katagorie. Sondern er ist selbst<br />

— ursprünglich Realität, durch und durch organisiert, nirgendwo<br />

indifferent und noch dazu im Besitz einer inneren Ordnung und<br />

eines inneren Aufbaus.<br />

29


VII.<br />

So kann die Frage, ob «Perspektive oder nicht», innerhalb der<br />

Malerei einer ganzen Epoche keineswegs als unwichtig angesehen<br />

werden. Umso weniger, als es sich nicht um eine Frage von<br />

Können oder Nichtkönnen handelt. Dieses Problem liegt um vieles<br />

tiefer, und zwar in jenen Wurzeln des Bewußtseins, die den<br />

schöpferischen Impuls in diese oder jene Richtung weisen.<br />

Meine These lautet — und wir werden noch öfters zu ihr zurückkehren<br />

—, daß in jenen historischen Perioden künstlerischen<br />

Schaffens, in denen die Verwendung der Perspektive nicht zu<br />

beobachten ist, die Schöpfer der darstellenden Kunst die Perspektive<br />

keineswegs «nicht beherrschten», sondern sie einfach<br />

nicht benutzen wollten. Oder genauer ausgedrückt: sie wollten<br />

andere Prinzipien der Darstellung benutzen als die der Perspektive.<br />

Und sie wollten diese deshalb anwenden, weil sie als Genies<br />

ihrer Zeil die Welt auf eine Art und Weise fühlten und verstanden,<br />

die in sich auch diese Verfahren der Darstellung mit einschloß.<br />

Im Gegensatz dazu vergaß man in anderen Epochen den Sinn<br />

und die Bedeutung der nichtperspektivischen Darstellung. Und<br />

man verlor die Verbindung zur selbigen deshalb, weil das Lebensverständnis<br />

der Zeit sich vollkommen gewandelt hatte — innerhalb<br />

einer Weltanschauung, die inzwischen zur bekannten Zentralperspektive<br />

auch auf der Weltkarte geführt hatte. Und in<br />

diesem wie auch in jenem Vorgang findet sich eine je eigene Folgerichtigkeit,<br />

eine zwingende und im wesentlichen sehr elementare<br />

Logik. Doch wenn diese nicht sofort und schnell zu größter<br />

Stärke gelangte, so geschah das nicht aufgrund ihrer immanenten<br />

Kompliziertheit, sondern aufgrund der zweideutigen<br />

Schwankungen des Zeitgeistes zwischen zwei sich gegenseitig ausschließenden<br />

Selbstbestimmungen.<br />

Denn letztlich existieren nur zwei Weisen, die Welt zu erfahren.<br />

Die allgemeinmenschliche Erkenntnis und die sogenannte idealistisch-«wissenschaftliche»<br />

Erkenntnis. So wie es auch nur zwei<br />

Möglichkeiten der Beziehung zum Leben selbst gibt — eine innere<br />

und eine äußere oder wie in dieser Hinsicht auch zwei Kulturtypen<br />

existieren: den anschaulich-schöpferischen und den räuberischmechanistischen<br />

Typus. Die ganze Frage läuft auf eine Wahl zwischen<br />

diesem oder jenen Weg hinaus. Doch obwohl sich inner-<br />

30


halb der Geschichte diese Kulturstreifen leicht reihen lassen, sind<br />

sie nicht mit einem Mal voneinander abzuheben. Sondern sie existieren<br />

in entsprechenden Epochen des Geistes oft in unbestimmbaren<br />

Zustand ineinander fort — des einen schon überdrüssig, ohne<br />

das Nächste schon zu wagen.<br />

Ohne uns jetzt schon in die Frage nach dem Sinn der Verletzung<br />

der Perspektive zu stürzen (— um später mit größerer<br />

seelischer Überlegenheit zur Untersuchung dieses Problems zurückzukehren<br />

-), sei jetzt an die Tatsache der mittelalterlichen<br />

Malerei erinnert, daß die Regelverletzungen der Zentralperspektive<br />

hier nicht zu bestimmten Zeiten auftauchen, sondern mal<br />

hier, mal da und überdies trotzdem bestimmten Systemen unterworfen<br />

sind. Zum Beispiel laufen sich entfernende Parallelen<br />

zum Horizont hin stets auseinander und das umso stärker, je mehr<br />

der Gegenstand hervorgehoben werden soll, der von ihnen eingegrenzt<br />

wird. Wenn wir erkennen, daß wir es bei den Besonderheiten<br />

der ägyptischen Reliefs nicht mit Zufällen zu tun haben,<br />

sondern mit einer künstlerischen Methode — denn diese Besonderheiten<br />

treten nicht ein- oder zweimal auf, sondern tausendund<br />

zehntausendfach und also absichtlich -, so kann analog<br />

geschlossen werden, daß die der mittelalterlichen Kunst eignende<br />

Verletzung der Perspektive ebenfalls Methode ist.<br />

Ja, selbst psychologisch scheint es unvorstellbar, daß herausragende<br />

und großartige Menschen, daß Erbauer der eigenen Kultur<br />

im Verlaufe von mehreren Jahrhunderten nicht in der Lage<br />

gewesen sein sollen, eine solch elementare und unbestreitbare<br />

und nahezu sich selbst besingende Tatsache zu erkennen, wie das<br />

Zusammenlaufen von Parallelen am Horizont.<br />

Wem das aber noch nicht hinreichend erscheint, dem soll noch<br />

Folgendes gesagt sein: Kinderzeichnungen erinnern im Hinblick<br />

auf ihre Nichtperspektivität und insbesondere in Bezug auf die<br />

sog. umgekehrte Perspektive sehr lebhaft an die Malereien des<br />

Mittelalters — ungeachtet aller Bemühungen von Pädagogen, den<br />

Kindern die Regeln der Parallelperspektive beizubringen. Und<br />

nur durch den Verlust einer unmittelbaren Beziehung zur Welt<br />

verlieren die Kinder auch die umgekehrte Perspektive und befleißigen<br />

sich des ihnen auferlegten Schemas. So verhalten sich<br />

unabhängig voneinander alle Kinder. Und das bedeutet, daß es<br />

sich hierbei nicht um irgendeinen Zufall handelt und nicht um<br />

die Erfindung irgendeines «Byzantiners», sondern um eine Me-<br />

31


edlen Säfte des Mittelalters und selber noch kein Naturalist,<br />

erfuhr er doch schon den allerersten Morgenduft des Naturalismus<br />

und wurde so zu dessen Künder. Als Vater der modernen<br />

Landschaftsmalerei trat Giotto mit einem «das Sehen täuschenden<br />

Verfahren» zur Darstellung von Architektur auf. Und mit<br />

einem für seine Zeit ungewöhnlichen Erfolg löste er schwierige<br />

perspektivische Aufgaben. Die Historiker bezweifeln Kenntnisse<br />

Giottos in den Regeln der Perspektive. Ist diese Einschätzung<br />

richtig, so wäre damit erwiesen, daß ein von innerer Suche nach<br />

der Perspektive geführtes Auge diese nahezu sofort entdeckt,<br />

wenn auch noch nicht in deutlicher Gestalt.<br />

Denn Giotto machte nicht nur keine groben Fehler, sondern im<br />

Gegenteil: er spielte nahezu mit der Perspektive. So stellte er sich<br />

selber schwierige Aufgaben und löste sie dann scharfsinnig und<br />

vollständig. Zum Beispiel laufen bei ihm sich zum Horizont hin<br />

entfernende Linien an einem Punkt zusammen. Und dessen<br />

nicht genug: es zeigt sich an den Fresken der Franziskus-Kirche<br />

in Assisi, daß Giotto damit begonnen hat, der Wandmalerei «irgend<br />

eine selbständige Bedeutung zu geben, gleichsam als einer<br />

Rivalin der Architektur.» Die Freske ist dort «nicht mehr<br />

Wandschmuck in Gestalt eines Sujets», sondern «ein Ausblick<br />

durch eine Wand hindurch auf allerlei Handlungen.» 21<br />

Es ist wichtig zu bemerken, daß Giotto zu diesem, für seine Zeit<br />

doch sehr mutigen Verfahren zurückgekehrt ist und daß auch alle<br />

seine Nachfolger äußerst selten darauf zurückgegriffen haben.<br />

Zu einer Zeit, als eine entsprechende Architektur allgemeine Regel<br />

wurde (also im XV. Jahrhundert), und das XVI. und XVII.<br />

Jh. zur Technik des Mittelpunktes innerhalb der Architekturmalerei<br />

absolut flächiger und einfacher Räume führte, die<br />

jedoch jedweder realen architektonischen Ausschmückung entbehrten.<br />

22<br />

Wenn also der Vater der modernen Malerei später nicht mehr<br />

zu ähnlichen Verfahren griff, dann geschah dies nicht, weil er<br />

dieselben nicht kannte. Sondern weil das nunmehr erstarkte<br />

(d. h. das im Bereich der reinen Kunst gewachsene) künstlerische<br />

Genie sich der trügerischen Perspektive entfremdet oder sich zumindest<br />

von ihrer Aufdringlichkeit entfernt hatte. So wie sich<br />

20. I. Ten, Putischestvie v Italju, Moskau 1916, S.87/88 (Reise nach Italien)<br />

21. Benois, id. (11), Bd.I.,S.100<br />

22. Id., Bd.l.,S.100<br />

34


auch allem Anschein nach sein rationalistischer Humanismus<br />

später gemildert hatte.<br />

IX.<br />

Doch wovon ging Giotto aus? Oder mit anderen Worten, woher<br />

nahm er seine Fähigkeit, die Perspektive zu gebrauchen? Historische<br />

Analogien bzw. das innerste Wesen derselben im Rahmen<br />

der Malerei verraten uns die schon bekannte Antwort. Sobald der<br />

bedingungslose Theozentrismus suspekt geworden war und<br />

neben der Musik der Sphären die Musik der Erde erklang (ich<br />

meine damit «an die Erde» im Sinne der Selbstbestätigung des<br />

menschlichen «Ich»), nahm auch das Bestreben seinen Anfang,<br />

an die Stelle einer inzwischen getrübten und vernebelten Realität<br />

- das Ähnliche und das Trugbild zu setzen und an die Stelle<br />

der Theurgie eine illusionistische Kunst bzw. an die Stelle göttlicher<br />

Handlungen — das Theater.<br />

Verständlich die Annahme, daß Giotto Geschmack und Gewöhnung<br />

an der perspektivischen Täuschung des Sehens durch<br />

die Theaterdekoration fand. Einen Präzedenzfall ähnlicher Art entdeckten<br />

wir schon in den Ausführungen des Vitruvius über die<br />

Aufführung der Aischylos-Tragödien und der Beteiligung des<br />

Anaxagoras an diesen. Mit dem Übergang von der Theurgie zum<br />

weltlichen Sehen, dem in Griechenland die folgerichtige Entwicklung<br />

vom Mystischen zu einer fixierten Realität des Mysteriums<br />

mittels Tragödien — zuerst Aischylos, danach Sophokles und<br />

schließlich Euripides, entsprach - erschienen in der Entwicklung<br />

des Theaters der Neuzeit Mysterien, welche im Endergebnis zur<br />

Auslöschung des neuen Dramas führten. Den Kunsthistorikern<br />

scheint es erwiesen, daß sich die Landschaftsmalereien Giottos<br />

tatsächlich aus der Dekorationstechnik der damals sogenannten<br />

«Mysterien» entwickelt haben. Und aus diesem Grunde war er<br />

nicht in der Lage (fügen wir unsererseits hinzu), auf die Verfahren<br />

illusionistischer Dekoration und somit auf die Perspektive zu<br />

verzichten.<br />

Um nicht den Eindruck zu erwecken, bar jeder Grundlage zu<br />

reden, will ich meine Beobachtungen mit dem Urteil eines mir<br />

geistesfremden Historikers untermauern: «Welcher Art war nun<br />

die Abhängigkeit der Landschaftsmalerei Giottos von den Deko-<br />

35


ationen des Theaters?» — fragt sich A. Benois, um selbst zu antworten:<br />

«An manchen Stellen offenbarte sich diese Abhängigkeit<br />

in so starkem Maße (in Gestalt winziger «Requisiten»: Häuser und<br />

Pavillions, kulissenartiger, flacher, wie aus Karton ausgeschnittener<br />

Felsen), daß über den Einfluß von Aufführungen religiöser<br />

Schauspiele auf seine Malerei kein Zweifel bestehen kann. Auf<br />

einigen seiner Fresken sehen wir aller Wahrscheinlichkeit nach<br />

sogar direkt fixierte Szenen aus diesen Stücken. Doch es muß gesagt<br />

werden, daß in zweifellos Giotto zuzurechnenden Bildern<br />

diese Abhängigkeit im Laufe der Jahre immer weniger zum<br />

Ausdruck kommt und wenn, dann jedesmal in einer entsprechend<br />

den Bedingungen der Monumentalmalerei überarbeiteten<br />

Form.» 23 Mit anderen Worten: der wie jeder große Künstler<br />

gereifte Giotto entfernte sich kontinuierlich von der Dekorationsmalerei,<br />

die sowieso kaum völlig gleichartig war. Die Neuerung<br />

Giottos war folglich nicht die Perspektive als solche, sondern die<br />

Verwendung dieser Verfahren in der Malerei. Verfahren, die aus<br />

der angewandten und profanen Kunst entlehnt worden waren,<br />

ähnlich wie Petrarca und Dante die einfache volkstümliche Sprache<br />

in die Poesie übertragen haben.<br />

Aus all dem folgt letztlich, daß das Wissen, oder zumindest die<br />

Fähigkeiten, diese Verfahren der Perspektive zu nutzen, im Sinne<br />

einer «geheimen Wissenschaft von der Perspektive» 24 - so<br />

Albrecht Dürer — schon längst existiert hat. Und möglicherweise<br />

schon immer unter denjenigen Künstlern existiert hatte, die Dekorationen<br />

für religiöse Schauspiele hergestellt haben, auch wenn<br />

die Malerei im strengen Sinne sich dieser Verfahren versagt hat.<br />

Ist es tatsächlich nicht möglich, daß die Perspektive unbekannt<br />

gewesen war? Das ist schwer vorstellbar. Insofern die «Elemente<br />

der Geometrie» Euklids früh bekannt gewesen sind. Schon Dürer<br />

beginnt das erste Buch seines Traktats «Unterweisung der Messung»<br />

25 , das 1525 herausgekommen ist und Belehrungen über<br />

23. Benois, id., Bd.I.,S. 107/108<br />

24. Aleksej Mironov, Albrecht Dürer-ego schisnj i chudoschestvennaja dejateljnostj,<br />

Moskau 1901, S.375 (Utschenie Sapiski Imperatorskogo Moskovskogo Universiteta.<br />

Otdel istoriko-philologitscheskij Nr. 31)<br />

25. Underweisung der Messung mit dem Zirkel und Richtscheyt in Linien ebnen<br />

und gantzen Corporen durch Albrecht Dürer zusamen getzoge und zu nutz alle<br />

kunst liebhabenden mit zugehörigen Diguren in truck gebracht im jar. MDXXV.<br />

Gedruckt zu Nuremberg im 1525jar. — Außer dieser Ausgabe erfuhr der Titel nicht<br />

weniger als fünf Nachauflagen.<br />

36


die Perspektive enthält, mit Worten, die klar den geringen Neuigkeitswert<br />

der Perspektivtheorie im Rahmen der elementaren<br />

Geometrie belegen. Geringen Neuigkeitswert im Bewußtsein der<br />

damaligen Zeitgenossen: «Der tiefsinnige Euklid hat die Grundlagen<br />

der Geometrie gelegt», schreibt Dürer, «und für denjenigen,<br />

der mit denselben gut bekannt ist, ist das hier Geschriebene<br />

überflüssig.» 26<br />

Also war die elementare Perspektive seit alters her bekannt,<br />

auch wenn sie keinen Zugang zur hohen Kunst der Zeiten gehabt<br />

hatte. Doch in dem Maße, wie sich die religiösen Weltanschauungen<br />

des Mittelalters säkularisierten, verwandelten sich die rein<br />

religiösen Handlungen — zu Mysterienstücken des Theaters, die<br />

Ikone aber — zum sogenannten religiösen Bildwerk, in welchem<br />

das religiöse Sujet immer mehr und mehr zum Vorwand für die<br />

Darstellung des menschlichen Körpers oder einer Landschaft<br />

dienen mußte. Von Florenz aus verbreitete sich die Woge dieser<br />

Verweltlichung. In Florenz findet sich die Schule Giottos und verbreitete<br />

sich von dort aus wie eine Schreibvorlage — hier liegt der<br />

Ursprung der naturalistischen Malerei.<br />

Giotto selbst und nach ihm Giovanni da Milano, besonders aber<br />

d'Avanzo, erstellten schwierige Konstruktionen der Perspektive.<br />

Es ist sicher, daß sich diese künstlerischen Erfahrungen entsprechend<br />

der Tradition an das Werk Euklids und Vitruvius' anlehnten<br />

und sich so in das Fundament eines theoretischen Systems<br />

einbetteten, in welchem das Studium vollständig und stichhaltig<br />

ausgearbeitet bereitstand. Jene wissenschaftlichen Grundlagen,<br />

welche nach einem Jahrhundert der Ausarbeitung «die Kunst<br />

Leonardos und Michelangelos» hervorbrachten, sind in Florenz<br />

entdeckt und ausgearbeitet worden.<br />

Uns sind die Werke zweier Theoretiker jener Zeit verloren<br />

gegangen: Paolo del Abacco (1366) und des um einiges älteren<br />

Biacco da Parma. Doch ist es gut möglich, daß diese beiden im<br />

wesentlichen jenen Boden bereitet haben, auf welchem mit dem<br />

Beginn des XV. Jahrhunderts die wichtigsten Theoretiker der<br />

Lehre von der Perspektive gearbeitet haben; 27 Filippo Brunelleschi<br />

(1376-1446) und Paolo Uccello (1397-1475), sodann Leone<br />

Alberti, Piero della Francesca (1420-1492) und schließlich jene<br />

26. Mironov, Id. (24), S.380, Anm.l<br />

27. Auf Russisch existieren einige dieser Traktate in dem Buch von Allesch, Renaissance<br />

v Italij, Moskau 1916 (Die Renaissance in Italien)<br />

37


Reihe von Bildhauern, von denen besonders Donatello zu erwähnen<br />

ist. Der starke Einfluß dieser Wissenschaftler findet seine Ursache<br />

in der Tatsache, daß sie nicht nur theoretisch die Regeln der<br />

Perspektive erarbeitet haben, sondern ihre Erkenntnisse in der illusionistischen<br />

Malerei verwirklicht haben. Solche Wandmalereien<br />

in Gestalt von Denkmälern sind gekennzeichnet durch das<br />

gewaltige Wissen über die Perspektive, wie z.B. der Dom von Florenz.<br />

Er wurde von Uccello und 1435 von Castagno ausgemalt.<br />

Hierzu zählen auch die dekorativen Fresken Andrea del<br />

Castagnos (1423-1457) in St. Apollino von Florenz. Ihr ganzer<br />

strenger Schmuck: die Steine des Fußbodens, die Kessony, Rosetten<br />

und Platten an der Decke - sind mit solch aufdringlicher Klarheit<br />

nur zu dem Zweck verwendet, um einen vollständigen Tiefeneindruck<br />

(wir würden heute sagen einen «stereoskopischen») zu<br />

erreichen. Und dieser Eindruck wird in einem solch hohen Maße<br />

erreicht, daß die gesamte Szene im hellen Licht den Eindruck irgend<br />

einer Gruppe aus irgendeinem Panoptikum macht — es versteht<br />

sich von selbst: «eines genialen Panoptikums» ... 28 wie es ungewollt<br />

bissig ein Anhänger der Renaissanceperspektive bemerkte.<br />

Auch Piero hinterließ eine Anweisung für die Perspektive unter<br />

dem Titel «De perspectiva pingendi». Leone Battista Alberti<br />

(1404—1472) entwickelte in seinem dreibändigen Werk «Von der<br />

Malerei», niedergeschrieben 1446 und in Nürnberg 1511 gedruckt,<br />

die Grundlagen der neuen Wissenschaft und illustrierte<br />

ihre Anwendung in der Architekturmalerei.<br />

Masaccio (1401-1428) und seine Schüler Benozzo Gozzoli<br />

(1420-1497) sowie Fra Filippo Lippi (1406-1469) strebten danach,<br />

innerhalb der Malerei eben jene Wissenschaft anzuwenden.<br />

Bis schließlich sich Leonardo da Vinci (1452-1519) theoretisch<br />

und praktisch an die Probleme machte und Raffaelo Santi (1483—<br />

1520) sowie Michelangelo Buonarotti (1475—1546) die Entwicklung<br />

der Perspektivtechnik zu ihrem vorläufigen Abschluß<br />

brachten.<br />

X.<br />

Ich möchte jetzt nicht länger die einzelnen Etappen der theoretisch-maltechnischen<br />

Entwicklung der Perspektive innerhalb der<br />

unserer Zeit vorausgehenden Geschichtsepoche skizzieren. Und<br />

28. Benois, id. (11), Bd.I.,S.381<br />

38


dies umso weniger, als das Studium der Perspektive vorrangig in<br />

die Hände von Mathematikern übergegangen ist und sich den<br />

unmittelbaren Interessen der Kunst entfremdet hat. Vieles des<br />

hier kurz Angemerkten hatte nicht den Zweck, allgemein bekannte<br />

historische Fakten als solche mitzuteilen. Es ging um etwas<br />

anderes: an die Kompliziertheit und Dauer dieser Entwicklung<br />

zu erinnern, die erst mit Lambert im XVII. Jahrhundert abgeschlossen<br />

war und sich mit den Arbeiten Lorias, Ascieries und<br />

Enricos in Italien, Chaliats und Poncelets in Frankreich, Staudes,<br />

Fiedlers und Kupfers sowie Burmeisters in Deutschland und<br />

schließlich Wilsons u.a. in Amerika in Gestalt einer Abteilung der<br />

Darstellenden Geometrie in das allgemeine wissenschaftliche<br />

Flußbett ergossen hat. Ich spreche von der außerordentlich wichtigen<br />

und weiten Disziplin der Projektionsgeometrie. 29<br />

Hieraus folgt: wie sehr wir auch die Perspektive ihrem Wesen<br />

nach zu würdigen haben, steht es uns auch nicht im Geringsten<br />

zu, sie als irgendeine einfache, natürliche und dem menschlichen<br />

Auge unmittelbar verwandte Art und Weise der Weltsicht aufzufassen.<br />

Die Notwendigkeit, daß die Lehre von der Perspektive<br />

von einer ganzen Reihe großer Geister und erfahrener Maler<br />

unter Beteiligung erstklassiger Mathematiker im Verlaufe einiger<br />

Jahrhunderte erst geschmiedet werden mußte, — und darüber<br />

hinaus erst zu Bewußtsein gekommen ist, nachdem die<br />

grundlegenden Kennzeichen der perspektivischen Projektion<br />

der Welt erkannt worden waren, zwingt uns zu der Aussage, daß<br />

der historische Vorgang der Ausarbeitung der Perspektive sich<br />

ganz und gar nicht als einfache Systematisierung einer sowieso<br />

schon vorhandenen Psychophysiologie vollzogen hatte, sondern<br />

als gewaltsame Umerziehung dieser Psychophysiologie im Sinne der abstrakten<br />

Forderungen dieser neuen Weltanschauung. Und zwar einer<br />

im Wesen unkünstlerischen, die Kunst und die Malerei ausschließenden<br />

Weltanschauung.<br />

Der Geist der Renaissance, wie auch der Geist der Neuzeit im<br />

allgemeinen ist uneinheitlich und gleicht einer gespaltenen Seele,<br />

die ihrem Denken nach schizophren ist. In diesem Zusammenhangjedoch<br />

war die Kunst im Vorteil. Denn das lebendige Schöpfertum<br />

ließ sich trotz allem — zumindest teilweise - nicht von<br />

den Forderungen des Verstandes knechten. Und die Kunst<br />

29. Umfangreichere Literatur zu diesen Fragen finden sich in dem Buch Rynins,<br />

Methoden der Darstellung (orig. russ.), (8) S.245-264<br />

39


schritt tatsächlich auf Wegen, die jenen fern lagen, welche mittels<br />

abstrakter Forderungen ausgewiesen wurden. Diese Umstände<br />

erheischen Aufmerksamkeit und — ein Lächeln. Denn die Maler<br />

selbst, die Theoretiker der Perspektive, ergaben sich ihrem voraussetzungslosen<br />

künstlerischen Gefühl bei der Darstellung der<br />

Welt, sobald sie aufhörten, den von ihnen selbst vorgegebenen<br />

Regeln der Perspektive zu folgen — auch wenn sie deren Geheimnisse<br />

schon kannten! Sie machten alle, alle grobe «Patzer» und<br />

«Fehler» im Hinblick auf ihre eigenen Forderungen. Doch das<br />

Studium der entsprechenden Bilder zeigt, daß ihre Stärken gerade<br />

in eben jenen «Patzern» und «Fehlern» lagen. Ist das nicht gemeint,<br />

wenn es heißt: und predigen öffentlich Wasser?<br />

Ich habe hier nicht die Zeit, eine gründliche Analyse der Kunstwerke<br />

vorzunehmen und muß mich mit einigen wenigen Beispielen<br />

zufriedengeben, die den oben angeführten Gedanken<br />

belegen. Um dann oberflächlich zu erläutern, was genau deren<br />

ästhetische Nichtentsprechung gegenüber dem perspektivischen<br />

Schema zu bedeuten hat. Doch um größerer Klarheit willen sei<br />

hier (noch dazu mit fremden Worten) erinnert, worin denn die<br />

Aufgaben der Perspektive bestehen — und jener berüchtigten<br />

«Einheit der Perspektive». In der Blütezeit der Perspektivverehrung<br />

und Perspektivgläubigkeit, in den siebziger Jahren des XIX.<br />

Jahrhunderts, wurde von Guido Schreiber ein Lehrbuch der Perspektive<br />

zusammengestellt, welches in der 2. Auflage von dem Architekten<br />

und Dozenten für Perspektive an der Leipziger<br />

Akademie der Kunst, einem Herrn Viehweger durchgesehen<br />

und vom Direktor desselben Hauses — Prof. Ludwig Nieper, mit<br />

einem Vorwort ausgestattet wurde 30 . Es scheint also solide und<br />

höchst autorisiert! Und so lesen wir in diesem Lehrbuch im Kapitel<br />

«Von der perspektivischen Einheit» folgendes:<br />

«Jedweder Zeichnung, welche irgend auf perspektivische Wirkung<br />

Anspruch macht, soll ein bestimmter Standort des Zeichners<br />

oder Beschauers zu Grunde liegen. Die Zeichnung soll also<br />

nur einen Augenpunkt, nur einen Horizont, nur einen Maßstab<br />

haben. Nach diesem einen Augenpunkt soll unter anderem die<br />

Flucht aller waagrechten Linien gerichtet sein, welche nach der<br />

Tiefe des Bildes laufen. Auf dem einen Horizonte sollen gleicherweise<br />

die Verschwindungspunkte aller anderen waagrechten Li-<br />

30. Guido Schreiber, Lehrbuch der Perspektive mit einem Anfang über den Gebrauch<br />

geometrischer Grundrisse, 2.Auflage. Leipzig 1874<br />

40


Die Muttergottes und der Hl. Erzengel Michael. Detail einer Deesis-Ikone,<br />

Nowgorod, 15. Jahrhundert


Jesus Christus auf dem Thron. Teil einer Deesis-Ikone, Nowgorod, 15. Jahrhundert


Hl. Johannes der Täufer und Erzengel Gabriel. Detail einer Deesis-Ikone,<br />

Nowgorod, 15. Jahrhundert


Hl. Johannes der Theologe und Hl. Prochor. Detail einer Nowgoroder<br />

Ikone des 15. Jahrhunderts


Hl. Kosma von Maiuma. Griechenland, 15. Jahrhundert (?)


Hll. Vlasios und Spiridon. Nowgorod, 15. Jahrhundert


Die Auferstehung des Lazarus. Nowgorod, 15. Jahrhundert


Gottesmutter »Vladimirskaja«, 12. Jahrhundert


Hl. Sergij von Radonesh. Gestickte Ikone, 15. Jahrhundert


Hl. Dreieinigkeits-Ikone von Andrej Rubljow, Anfang 15. Jahrhundert


Hll. Kyrill und Method. Gemalt von Tamara Sikojev, Ikonenmalerin,<br />

20. Jahrhundert


Christus-Ikone in Anlehnung an »Die nicht von Hand gemalte Ikone des<br />

Herrn«. Rußland, 16. Jahrhundert


Muttergottes »Hodigitria«. Gottesikone des Hl. Sergij, 14.Jahrhundert


Hl. Nikolaj der Wundertäter. Gottesikone des Hl. Sergij, Anfang M.Jahrhundert


<strong>Pavel</strong> <strong>Florenskij</strong> und Sergej Bulgakov. Gemälde Michail Nesterov, 1917.<br />

Tretjakov-Galerie in Moskau


nien liegen; ein richtiges Größenverhältnis soll im ganzen Bilde<br />

herrschen. Dies ist es, was wir unter perspektivischer Einheit verstanden<br />

wissen möchten. Zeichnet man nun eine Szene nach der<br />

Natur, so bedarf es nur einer kleinen Rücksichtnahme auf diese<br />

Sätze, und es wird sich alles gewissermaßen von selbst geben.» 31<br />

Das bedeutet: Verletzungen der Einheit des Standpunktes, der<br />

Einheit des Maßstabes und der Einheit des Horizonts bedeuten<br />

eine Verletzung der Einheit der perspektivischen Darstellung.<br />

Doch nun: wenn irgendjemand je ein Perspektivist war, dann<br />

sicherlich Leonardo; sein «Letztes Abendmahl» hatte sich zur<br />

Aufgabe gestellt, die räumliche Abgrenzung^ner Welt des Evangeliums<br />

von dieser Welt des heute Gelebten zu beseitigen. Und zu<br />

zeigen, daß Christus nur eine besondere Bedeutung hatte und<br />

keine besondere Realität. Auf dem Fresko ist eine szenische Aufführung<br />

zu sehen, doch keine besondere und bzgl. unseres Raumes<br />

eigenständige, denn diese Szene ist nicht mehr als eine Fortsetzungjenes<br />

Raumes, in welchem wir uns befinden. Unser Blick<br />

und mit ihm unser ganzes Sein wird in diese entschwindende<br />

Perspektive hineingezogen, welche im rechten Auge der Hauptperson<br />

zusammenläuft. Wir sehen nicht die Realität selbst, sondern<br />

eben nur ein visuelles Phänomen. Und wir schauen gleichsam<br />

wie durch einen Spalt. Kalt, neugierig und ohne Ehrfurcht,<br />

ohne Mitleid — geschweige denn unsere Entfremdung erleidend.<br />

Auf dieser Szene herrschen die Gesetze des kantischen Raumes<br />

und die newtonschen Gesetze. Ja, doch wenn es nur so wäre, dann<br />

hätte es doch letzlich nie ein Abendmahl gegeben! Und deswegen<br />

feiert Leonardo die eigenständige Bedeutung dieses Ereignisses —<br />

mit einer Verletzung des Maßstabes!<br />

Ein einfaches Beispiel mag das verdeutlichen. Es zeigt sich, daß<br />

der Speiseraum nur knapp die doppelte menschliche Höhe erreicht<br />

und in der Breite die dreifache. So daß dieser Raum weder<br />

der Anzahl der anwesenden Personen, noch der Bedeutung des<br />

Ereignisses entspricht. Und trotzdem erscheint die Decke nicht<br />

niederdrückend und der kleine Raum verleiht dem Bild dramaturgische<br />

Dichte und Ausgefülltheit. Ohne es zu merken, doch<br />

mit sicherer Hand ist der Meister zu Verletzungen der Perspektive<br />

zurückgekehrt 32 , die schon seit den Zeiten der alten Ägypter<br />

gut bekannt waren. Er verwendete nämlich jeweils einzelne Maß-<br />

31. § 32, S.51<br />

32. §34, S.56<br />

41


Stäbe bei der Gestaltung der handelnden Personen einerseits<br />

und der räumlichen Umgebung andererseits. Und indem er die<br />

Größe der Letzteren verringerte und dies zudem unterschiedlich<br />

stark je nach Richtung, erhöhte er die Bedeutung der Menschen<br />

und gab dem bescheidenen Abschiedsmahl die Bedeutung eines<br />

weltumfassenden, historischen Ereignisses und darüber hinaus:<br />

eines Zentrums der Geschichte überhaupt. Die Einheit der Perspektive<br />

wurde zerstört und es zeigt sich die Gespaltenheit der<br />

Seele des Menschen der Renaissance. Doch umso mehr erreichte<br />

das Bild seine ästhetische Überzeugungskraft.<br />

Es ist bekannt, welch erhabenen Eindruck die architektonischen<br />

Darstellungen innerhalb der «Athener Philosophenschule»<br />

Raffaels ausstrahlen 33 . Wenn man den Eindruck, welchen jene<br />

Gewölbe hinterlassen, aus dem Gedächtnis charakterisieren<br />

müßte, so würde man sie vielleicht mit der erhabenen Größe der<br />

Moskauer Christus-Erlöser-Kathedrale vergleichen. Die Mauern<br />

scheinen ihrer Höhe nach denen der Kirche gleichzukommen.<br />

Doch eine Überprüfung zeigt, daß die gezeichneten Pfeiler nur<br />

knapp die doppelte Größe einer Figur erreichen. So daß dieses<br />

Gebäude - seinem Anschein nach so prächtig würde man es tatsächlich<br />

nachbauen, winzig bliebe. Das Verfahren des Künstlers<br />

war im gegebenen Falle — ebenfalls überaus einfach. «Er verwendete<br />

zwei Standpunkte, die sich auf zwei verschiedene Horizontlinien<br />

ausrichteten. Vom oberen Standpunkt aus ist der<br />

Boden gemalt worden und die gesamte Personengruppe, vom<br />

unteren hingegen - alle Gebäude und der obere Teil des Bildes.<br />

Wenn die Figuren der Menschen denselben Fluchtpunkt erhalten<br />

hätten, wie die Linien der Decke, so würden sich die Köpfe,<br />

welche sich in der Tiefe des Bildes befinden, tiefer senken und<br />

wären von den Körpern verstellt worden, welche weiter vorne stehen,<br />

was zweifellos dem Bild geschadet hätte. Der Fluchtpunkt<br />

der Deckenlinien befindet sich jedoch in der rechten Hand der<br />

zentralen Figur (Aristoteles), der in der linken Hand ein Buch<br />

hält und mit der Rechten auf die Erde zeigt. Würde man zu<br />

diesem Punkt eine Linie vom Kopf des Alexander führen, der ersten<br />

Figur die sich auf der rechten Seite Piatos (mit erhobener<br />

Hand) befindet, so ist unschwer zu erkennen, wie stark sich die<br />

letzte Figur dieser Gruppe verkleinern würde. Das gleiche gilt<br />

33. § 34, S.57<br />

42


־ auch für die Gruppe, welche sich auf der rechten Seite des B e<br />

trachters befindet. Um diese perspektivische Verfehlung zu verbergen,<br />

hat Raffael die handelnden Personen in die Tiefe des<br />

׳ Raumes gestellt und außerdem diejenigen Bodenlinien maskier 1<br />

die zum Horizont hin verlaufen.» 34<br />

Von den übrigen Gemälden Raffaels sei hier zumindest noch<br />

die «Vision Hesekiels» erwähnt. Dort gibt es gleich mehrere<br />

Blickpunkte und mehrere Horizonte. Der Raum der Vision wurde<br />

mit dem übrigen Raum nicht koordiniert und dies zu versuchen,<br />

wäre entschieden unmöglich. Denn in einem solchen Fall<br />

würde der auf den Cherubim Thronende als gewöhnliche 1 "<br />

Mensch erscheinen, der entgegen den Gesetzen der Schwerkraft<br />

merkwürdiger Weise nicht in die Tiefe stürzt. In diesen wie auch<br />

״Gleich auf vielen anderen Gemälden Rafaels stoßen wir auf ein<br />

gewicht zweier Prinzipien, das der Perspektive und der Perspektivlosigkeit,<br />

entsprechend zweier Welten und zweier Räume. Das<br />

ist weniger erschütternd als rührend. So als ob sich vor uns g e "<br />

räuschlos ein Vorhang zu einer anderen Welt öffnen würde und<br />

vor unseren Augen sich nicht eine Szene, nicht eine Illusion innerhalb<br />

unserer Welt eröffnete, sondern die Verlängerung ein er<br />

fremden Realität, auch wenn sie nicht bis hierher heranzureiche 11<br />

vermag. (Die Andeutung einer solchen Struktur des Raumes lieferte<br />

uns Raffael auch mit seiner «Sixtinischen Madonna» — und<br />

den auseinandergezogenen Vorhängen.)<br />

Eine in dieser Hinsicht der «Vision Hesekiels» völlig entgegengesetzte<br />

Technik kann man beispielsweise auf einem anderen in<br />

der Akademie von Venedig hängenden Bild entdecken: Tinto-<br />

־ rettos «Der Apostel Markus befreit einen Sklaven». Die Ersche 1<br />

׳dargestellt nung des Hl. Markus ist innerhalb desselben Raumes<br />

־ wie alle übrigen gezeigten Personen. Die himmlische Ersehe 1<br />

nung erscheint sofort als eine körperliche Masse, die jede 11<br />

Augenblick auf den Kopf des Zeugen jenes Wunder niederzu-<br />

־ stürzen droht. (Doch soll uns die Erinnerung an die naturalist 1<br />

sehen Verfahren Tintorettos, der gleichsam Wachsfigürchen<br />

die Decke gehängt und naturalistisch getreu alle Verkürzungen<br />

wiedergegeben hat, nicht länger ablenken). Denn auch auf dem<br />

eben erwähnten Bild - der himmlischen Erscheinung - scheine"<br />

die Cherubim-Elohim einem aufgehängten Wachsabguß nicht<br />

34. N. A. Rynin, Natschertateljnaja Geometria. Perspektiva, Petersburg !918.<br />

§ 8, S.72/73 (Darstellende Geometrie. Die Perspektive)<br />

43


unähnlich. Soviel zum künstlerischen Mißerfolg beim Versuch,<br />

die verschiedenartigen Räume zu verschmelzen.<br />

Doch auch die gleichzeitige Verwendung zweier Raumordnungen<br />

— der perspektivischen und der nichtsperspektivischen, ist<br />

anzutreffen. Und zwar keineswegs selten, vor allem bei der Darstellung<br />

von Visionen und wunderbaren Erscheinungen. Solcherart<br />

sind auch einige Arbeiten Rembrandts. Auch wenn man bei<br />

ihm nur unter Vorbehalt von Perspektive oder ihren Anteilen<br />

sprechen kann.<br />

Diese Verfahren vertrat auf äußerst charakteristische Weise<br />

Domenico Theotokopuli, genannt El Greco. «Der Traum Philipps<br />

IL», «Das Begräbnis des Grafen Orgaz», «Die Ausgießung<br />

des Heiligen Geistes», «Ansichten von Toledo» und andere seiner<br />

Bilder zerfallen klar —jedes in mindestens zwei verschiedene Räume.<br />

Wobei die Räume des geistigen Lebens entschieden von den<br />

Räumen der sinnlichen Realität getrennt wurden. Und das gibt<br />

den Bildern El Grecos ihre besondere Überzeugungskraft.<br />

Doch es wäre nun ein Fehler zu glauben, nur mystische Sujets<br />

verlangten die Verletzung der Perspektive. Nehmen wir z. B. die<br />

«Flämische Landschaft» von Rubens. Ihr mittlerer Teil ist relativ<br />

perspektivistisch geordnet, und der Raum zieht den Betrachter<br />

förmlich hinein. Gleichzeitig sind die Außenteile des Bildes umgekehrt<br />

perspektivisch konstruiert, und ihre Räume stoßen das<br />

wahrnehmende Sehen von sich ab. Im Endergebnis entstehen so<br />

zwei gewaltige optische Strudel, die auf wundervolle Weise das<br />

prosaische Sujet füllen.<br />

Die gleiche Art gleichwertiger Ursprünge des Raumes Findet<br />

sich auf dem Bild «Die Bekehrung des Apostels Paulus» von Michelangelo.<br />

Von völlig anderer Art hingegen ist die Raumordnung<br />

im «Letzten Gericht» desselben Künstlers. Das Fresko zeigt<br />

eine gewisse Neigung. (Je höher ein Punkt auf einem Bild ist,<br />

desto entfernter ist der Punkt der Darstellung vom Auge des<br />

Betrachters. Der Beschaffenheit des Auges nach, müßte es dieselben,<br />

Kraft perspektivischer Verkürzungen der Figuren, immer<br />

kleiner werdend sehen. Das erkennt man bekannter Weise daran,<br />

daß die unteren Figuren die höheren verstellen.) Doch was ihre<br />

Größe betrifft, so nimmt auf diesem Fresko bei zunehmender Höhe<br />

auch die Größe der Figuren zu, d. h. mit wachsender Entfernung<br />

vom Betrachter! Das aber sind Eigenschaften des geistigen<br />

Raumes. Je entfernter etwas ist, desto größer und je näher<br />

44


sich in ihm etwas befindet, desto kleiner ist es. Es handelt sich<br />

hierbei um die sog. umgekehrte Perspektive. Betrachten wir dieses<br />

Fresko, so beginnen wir unsere vollständige Unvergleichbarkeit<br />

mit ihrem Raum zu fühlen. Wir werden von diesem Raum nicht<br />

angezogen. Und im Gegenteil: er stößt uns ab, wie ein Quecksilbermeer<br />

unsere Körper abstoßen würde. Wenn wir diesen auch<br />

zu betrachten vermögen, so ist er uns, die wir mit Kant und Euklid<br />

denken, transzendent. Obwohl Michelangelo im Barock lebte, gehörte<br />

er weder in die vergangene, noch in die zukünftige Epoche.<br />

Er war deren Zeitgenosse und er war es zugleich nicht.<br />

XL<br />

Wenn man zum erstenmal auf Abweichungen von der Regel<br />

der Perspektive stößt, so glaubt man diese Abweichungen von der<br />

perspektivischen Einheit als zufällige Verfehlungen des Künstlers<br />

deuten zu müssen. Doch schon noch so geringe Aufmerksamkeit<br />

stößt uns darauf, daß solche Verfehlungen beinahe in jedem<br />

Kunstwerk auftreten. Wobei die Zentralperspektive jetzt schon<br />

nicht mehr als pathologisch aufgefaßt wird, sondern als eine der<br />

darstellenden Kunst immanente Physiologie.<br />

Es stellt sich unvermeidlich die Frage, ob die darstellende<br />

Kunst denn überhaupt ohne die Perspektive auszukommen vermag?<br />

Denn ihre Aufgabe ist es doch, eine gewisse einheitliche<br />

Räumlichkeit anzubieten, eine besondere und in sich abgeschlossene<br />

Welt. Zwar keine rein mechanistische, doch eine von inneren<br />

Kräften in den Grenzen des Rahmens zusammengehaltene Welt.<br />

Und darüber hinaus obliegt es ihr, einen Ausschnitt des natürlichen<br />

Raumes zu liefern. (Doch nicht einmal die Photographie —<br />

selbst ein Stück Raum - vermag mit ihrem Sein, die Dinge über<br />

ihre Grenzen hinauszuführen, d.h. über die Grenzen des Rahmens<br />

hinaus. Denn sie ist selbst ein Teil, und eine mechanische<br />

Abteilung des Ganzen.) Folglich steht der Künstler als allererstes<br />

vor der Aufgabe, den von ihm in der Qualität eines bestimmten<br />

Materials abgesonderten Raumausschnittes in ein in sich selbst<br />

verschlossenes Ganzes zu verwandeln. Das bedeutet aber, die perspektivischen<br />

Verhältnisse aufzuheben, deren grundlegende<br />

Funktion die kantische Einheit einer umfassenden (idealistischen)<br />

Erfahrung ist. Eine Erfahrung, die sich in der Notwendig-<br />

45


keit ausdrückt, von einer empirischen Erfahrung zur nächsten<br />

überzugehen und in der Unmöglichkeit, sich auf der Ebene der<br />

Selbstgewißheit zu treffen. Gibt es denn dann innerhalb der lebendigen<br />

Erfahrung die Perspektive überhaupt? Das ist eine Frage,<br />

die an dieser Stelle noch nicht entschieden werden soll. Doch<br />

ob es sie dort gibt oder nicht — ihre Bestimmung ist herausgearbeitet<br />

und diese Bestimmung widerspricht grundsätzlich dem<br />

Wesen der Malerei, sobald diese sich auch nur einmal zu fremden<br />

Diensten verkauft hat und einer «Kunst der Ähnlichkeiten»<br />

frönt, den Illusionen einer scheinbaren Fortsetzung der sinnlichen<br />

Erfahrung — in denen keine Wahrheit ist.<br />

Das Gehörte noch im Ohr, wundern wir uns schon nicht mehr,<br />

finden wir auf Paolo Veroneses «Fest des Simon» zwei Blickpunkte<br />

und zwei Horizontlinien ... sodann mehrere Blickpunkte längs<br />

eines Horizonts auf der »Eroberung der Smahla Abd-el Kaders»<br />

von Horace Vernet und nicht zuletzt eine Fülle perspektivischer<br />

Unstimmigkeiten auf den Landschaftsbildern Schwanenfeldts<br />

oder auch denen eines Rubens und auf vielen, vielen anderen Bildern.<br />

Und wir verstehen, warum in den klugen Ratgebern zur<br />

Perspektive sogar Ratschläge gegeben werden, wie die perspektivische<br />

Einheit derart zu verletzen sei, daß es nicht auffällt (offensichtlich<br />

den Anhängern derselben?) — und wo gesagt wird, in<br />

welchen Fällen eine solche «Ungesetzlichkeit» unabdingbar ist. 35<br />

Teilweise wird auch empfohlen, die Schnittpunkte der senkrechten<br />

Linien auf der Bildfläche auf einer gebogenen Linie anzuordnen,<br />

z.B. mittels Eindrehung einer Geraden zur Ellipse. 36 Und<br />

selbst Künstler, die denjenigen Aufgaben fernstehen, welche<br />

einer wahren und echten Kunst zukommen, haben seit jeher die<br />

entsprechenden Abweichungen von der perspektivischen Einheit<br />

vollzogen. So z.B. Paolo Veronese auf seinem im Louvre<br />

hängenden Bild «Die Hochzeit zu Kana». Spezialisten haben<br />

nachgewiesen, daß auf diesem Bild sieben Blickpunkte und fünf<br />

Horizontlinien zu finden sind. 37 Bossuet versuchte eine verbesserte<br />

«Skizze» von der Architektur jenes Bildes zu liefern, d.h.<br />

mittels streng perspektivischer Technik, und fand heraus, daß<br />

35. Rynin, id. (34), § 8, S.70-82,89. Guido Schreiber, id. (30)<br />

36. Rynin, id (34), § 8, S.75, Zeichnung 144<br />

37. Friedrich Schilling, Ueber die Anwendung der darstellenden Geometrie insbesondere<br />

über die Photogrammetrie, Leipzig und Berlin 1904, S.152/153 Rynin,<br />

id. (34), id. (8)<br />

46


das Original «im Wesentlichen dieselbe Ordnung und Schönheit<br />

böte». 38 Wie schön - diese Haltung gegenüber erstklassigen Werken<br />

der Kunst, die man einfach «verbessern» kann! Wäre es nicht<br />

eher am Platz, seine eigenen ästhetischen Ansichten zu überprüfen<br />

und sie anhand wirklich historischer Kategorien zu messen?<br />

W'enn nun tatsächlich die strenge Unterwerfung der Perspektive<br />

auf einem nichtperspektivischen Bild an und für sich dessen<br />

Schönheit nicht zerstört, bedeutet das folglich nicht auch, daß sowohl<br />

die Perspektive als auch ihre Abwesenheit selbst in geringem<br />

Maße, keineswegs so wichtig sind, wie das die Anhänger der Perspektive<br />

glauben?<br />

Es sei erinnert, daß Albrecht Dürer Ende 1506 von Florenz nach<br />

Bologna eilte, um dort — die «geheime Kunst der Perspektive» zu<br />

erkunden. Doch die Geheimnisse der Perspektive wurden eifersüchtig<br />

gehütet und Dürer war gezwungen, wieder abzureisen,<br />

nachdem er die Schweigsamkeit der Bologneser erprobt und nur<br />

überaus wenig erf ahren hatte. Um sich danach zu Hause selbständig<br />

mit der Ausarbeitung derselben Verfahren zu beschäftigen<br />

und über diese ein Traktat zu schreiben (was ihn im Übrigen<br />

nicht daran gehindert hat, in «perspektivische Sünden» zu verfallen).<br />

Ohne auf sein Schaffen im Allgemeinen einzugehen, von welchem<br />

ein anerkannter Dürerspezialist 39 sagte, daß «ein Künstler,<br />

der ein solches Werk vollendet hat, sich von der Welt trennen<br />

kann, denn er hat in der Kunst sein Ziel erreicht: dieses Werk<br />

stellt ihn unbestreitbar in eine Linie mit den großartigsten Meistern,<br />

derer sich die Kunstgeschichte zu Recht rühmen darf.» 40<br />

Hier ist von jenem Diptychon die Rede, welches unter dem Namen<br />

«Die vier Apostel» bekannt und im Jahre 1526 gemalt worden<br />

ist. D. h. also nachdem die «Underweisung der Messung» ans<br />

Licht getreten war und etwa zwei Jahre vor Dürers Tod im Jahre<br />

1528.<br />

Jedoch; auf diesem Diptychon sind die Köpfe der zwei hinteren<br />

Figuren größer als die Köpfe der vorne Stehenden, wodurch die<br />

grundlegende Fläche eines griechischen Reliefs erhalten bleibt,<br />

38. Schilling, id. (37), S. 153, Anm.I.<br />

39. Franz Kugler, Rukovodstvo k istorij schivopisij so vremeni Konstantina Velikogo.<br />

3.Auflage, Moskau 1874, S.584 (Handbuch zur Geschichte der Malerei seit<br />

Konstantin d. Gr.)<br />

40. Mironov, id. (24), S.347<br />

47


auch wenn die Figuren selbst nicht auf einer Fläche aufgestellt<br />

sind. Nach der völlig richtigen Einschätzung der Kunsthistoriker<br />

«haben wir es hier offensichtlich mit der sogenannten «umgekehrten»<br />

Perspektive zu tun, wodurch die hinteren Körper größer<br />

dargestellt werden, als die vorderen.» 41<br />

Es versteht sich von selbst, daß die umgekehrte Perspektive auf<br />

den «Aposteln» kein Ausrutscher ist, sondern Ausdruck des<br />

Selbstbewußtseins eines Genies, welches mit seinem Gefühl alle<br />

rationalen Theorien hinter sich ließ — sogar die eigenen, welche<br />

doch in Gänze den Illusionismus aller Erfahrung gefordert<br />

hatten. Was kann es Widersprüchlicheres dazu geben als seine<br />

Bemerkung zur Schattentechnik, die mit den Worten beginnt:<br />

«Wenn du ein Bild so reliefartig malen willst, daß selbst das Auge<br />

getäuscht wird ...»! 42 So lautet seine illusionistische Theorie, doch<br />

sein Schaffen selbst ist ganz und gar nicht illusionistisch. Dieser<br />

Widerspruch aber zwischen Theorie und Praxis (charakteristisch<br />

für Menschen einer Übergangsepoche!) offenbarte sich bei<br />

Dürer darüber hinaus in der allgemeinen Hinneigung seiner Malerei<br />

zum Stil des Mittelalters und zu den mittelalterlichen Grundlagen<br />

seines Geistes — bei einer neuen Gestalt des Verstandes.<br />

XII.<br />

Von welcher Seite auch immer man es betrachtet: selbst die<br />

Theoretiker der Perspektive hielten die «perspektivische Einheit<br />

» der Darstellung weder für notwendig noch beachteten sie<br />

diese tatsächlich. Wie kann nach all dem dann noch von dem «natürlichen<br />

Charakter» einer perspektivischen Darstellung der<br />

Welt gesprochen werden? Um was für eine Natürlichkeit soll es<br />

sich dabei handeln, der man sich derart unterwerfen muß, um<br />

hernach mit allen Kräften und bei ständig angespannten Bewußt-<br />

41. A. A. Sidorov, «Tschetyre apostola» Albrechta Dürera i svjasanye s nimi spornye<br />

voprosy, Petersburg 1915, («Die vier Apostel» Albrecht Dürers und mit ihnen<br />

verbundene Streitfragen) in: «Sapisok Klassitscheskogo Otdelenija Imperatorskogo<br />

Russkogo Archeologitscheskogo Obschestva», S. 15<br />

42. Eine Handschrift Dürers (im Besitz des Britischen Museums), auf der Skizzen<br />

des Künstlers sind, die er für zukünftige Veröffentlichungen anfertigte. Zuerst<br />

ediert von A. von Zahn 1868, dann von W. M. Conwey 1889, zuletzt herausgegeben<br />

von K. Lange und F. Fuchs, Dürers schriftlicher Nachlaß auf Grund der Original<br />

Handschriften und teilweise neu entdeckter alter Abschriften, Halle 1893, S.326<br />

48


sein darauf zu achten, keine Fehler gegenüber dem Erfahrenen<br />

zu machen? Erinnern diese Regeln nicht an eine rasch zuwege gebrachte<br />

Verschwörung gegen die wirkliche Welterfahrung, eine<br />

Verschwörung im Namen rein theoretischer Überlegungen und<br />

eines fiktiven Weltbildes, das eine humanistische Weltanschauung<br />

zu sehen fordert? Ein Weltbild, welches jedoch das menschliche<br />

Auge, abgesehen von allen Dressurakten, überhaupt nicht zu<br />

sehen vermagl Ein Umstand, den der Künstler aber indes selbst<br />

verrät, indem er von den gerade erst fertig gestellten geometrischen<br />

Konstruktionen forteilt, hin zu dem, was er tatsächlich<br />

wahrnimmt.<br />

In welch hohem Maße die perspektivische Zeichnung überhaupt<br />

nicht unmittelbar überzeugt (sondern im Gegenteil - ein<br />

bloßes Produkt zahlreicher und schwieriger künstlicher Bedingungen<br />

ist), vermag man überraschender Weise an den<br />

Konstruktionen Albrecht Dürers selbst zu erkennen, die er auf<br />

wunderschönen Holzschnitten in seiner «Underweisung der<br />

Messung» dargestellt hat. Doch so schön diese Schnitte mit ihren<br />

geschlossenen und sich verdichtenden Räumen auch sind, so unkünstlerisch<br />

ist der Inhalt der Belehrungen, die durch sie geliefert<br />

werden.<br />

Diese Konstruktionen haben den Zweck, auch dem ungeschicktesten<br />

Zeichner die Möglichkeit zu geben, jedweden Gegenstand<br />

wiederzugeben und zwar rein mechanisch. Das heißt, ohne jeden<br />

Akt schöpferischen Sehens und gegebenenfalls — auch ohne<br />

Augen! Mit seinen Konstruktionen weist der offenherzige Dürer<br />

ohne Umschweife nach, daß die Perspektive eine Angelegenheit<br />

welcher Art auch immer ist, — nur nicht die des Sehens.<br />

Eine dieser Konstruktionen schaut wie folgt aus: am Ende eines<br />

Tisches, der die Gestalt eines langen Rechtecks hat, wird ein<br />

gleichfalls rechteckiger Rahmen mit einer Glasscheibe senkrecht<br />

zu dessen Fläche befestigt. Auf der gegenüberliegenden Schmalseite<br />

des Tisches wird parallel zum Rahmen ein viereckiger<br />

Holzklotz fixiert, dessen Mitte ausgehöhlt und mit einer langen<br />

Schraube ausgestattet wurde. Mit Hilfe dieser Schraube läßt sich<br />

ein senkrecht zur Tischoberfläche stehender Holzblock verschieben.<br />

Und mit diesem verschiebt sich auch eine am Block befestigte<br />

Holzstange, die mittels Zähne auf unterschiedlicher Höhe<br />

fixierbar ist. Am oberen Ende der Stange befindet sich ein Brettchen<br />

mit einer kleinen Öffnung. Die Sache ist klar: mit dieser<br />

49


Vorrichtung wird ein (durchaus bekanntes) Modell der perspektivischen<br />

Projektion gegeben — von der Öffnung im Brettchen auf<br />

die Glasscheibe. Und schaut man auf den jeweiligen Gegenstand<br />

durch diese Öffnung, vermag man dessen Projektion auf dem<br />

Glas abzuzeichnen.<br />

Bei einer anderen Konstruktion wird der Standpunkt als unbeweglich<br />

angenommen und zwar ebenfalls mit Hilfe eines besonderen<br />

Gestells. Die Projektionsfläche hingegen wurde noch zusätzlich<br />

von einem Netz rechtwinklig gezogener Fäden ergänzt.<br />

Wobei die Zeichnung auf ein mit Rechtecken überzogenes Blatt<br />

Papier aufgetragen wird, welches zwischen dem Gestell und dem<br />

vertikalen Netz auf dem Tisch befestigt ist. Mißt man nun entsprechend<br />

den Vierecken die Koordinaten der Projektionspunkte,<br />

vermag man so auch die entsprechenden Punkte auf dem<br />

Zeichenpapier zu finden.<br />

Die dritte Konstruktion Dürers hat überhaupt keine Beziehung<br />

mehr zum Sehen selbst. Das Zentrum der Projektion wird<br />

hier nicht mehr vom Auge (und sei es auch ein künstlich zur Unbeweglichkeit<br />

gebrachtes), sondern von irgendeinem Punkt an<br />

der Wand verkörpert. An diesem Punkt ist ein Ringlein befestigt,<br />

an welches ein langer Faden gebunden wurde. Dieser reicht fast<br />

bis zu einem gläsernen Rahmen, der vertikal auf einem Tisch aufgestellt<br />

wurde. Der Faden wird nun gespannt und an diesem wird<br />

eine Art Visierröhre befestigt, welche den «Sehstrahl» zum Punkt<br />

des Gegenstandes lenken soll, der vom Befestigungspunkt des<br />

Fadens aus projiziert werden wird. Danach ist es nicht schwierig,<br />

mit einem Pinsel oder einer Feder auf der Scheibe den entsprechenden<br />

Projektionspunkt zu kennzeichnen. Indem also der<br />

Zeichner verschiedene Punkte des dargestellten Gegenstandes<br />

anvisiert, projeziert er ihn auf o. g. Weise auf das Glas. Jedoch<br />

nicht vom «Stand- oder Blickpunkt» aus, sondern vom oben beschriebenen<br />

«Wandpunkt»; das Sehen hat hierbei nur Hilfsfunktionen<br />

auszuführen.<br />

Bei der vierten und letzten Zeichenkonstruktion kann auf das<br />

Sehen überhaupt verzichtet werden, denn hierbei genügt schon<br />

der Tastsinn. Der Aufbau ist folgender: In die Wand des Zimmers,<br />

in welchem irgendein Gegenstand gezeichnet werden soll,<br />

wird eine lange Nadel mit einer breiten Öse eingeschlagen. Durch<br />

die Öse wird ein langer und fester Faden gezogen und dort an der<br />

Wand wird an diesem Faden ein Gewicht befestigt. Der Wand ge-<br />

50


genüber steht ein Tisch samt einem vertikal auf ihm stehenden<br />

Rahmen. An einer Außenseite des Rahmens wird eine kleine Tür<br />

befestigt, welche sich öffnen und schließen läßt. In die Rahmenöffnung<br />

wird ein Fadenkreuz gespannt. Der darzustellende Gegenstand<br />

wird gegenüber dem Rahmen auf den Tisch gelegt.<br />

Jetzt wird der Faden durch den Rahmen geführt und an seinem<br />

Ende ein Nagel befestigt. Soweit die Konstruktion.<br />

Der Apparat wird nun wie folgt angewendet: einem Helfer<br />

wird der Nagel in die Hand gegeben, der den langen Faden mit<br />

dem Auftrag spannt, mittels des Nagelkopfes nun alle wichtigen<br />

Punkte des Darstellungsobjekts zu berühren. Darauf hin verschiebt<br />

der «Künstler» die Fäden des Rahmens solange, bis sie mit<br />

dem langen Faden zusammenstoßen und kennzeichnet hiernach<br />

mit Wachs diesen Überschneidungspunkt. Zuletzt entspannt der<br />

Helfer den langen Faden wieder und der «Künstler» legt das<br />

Türchen um und kennzeichnet auf der Tür die Stelle, an der sich<br />

die Fäden gekreuzt haben. Wiederholt man das oft genug, so<br />

kann man auf der beschriebenen Tür die wichtigsten Punkte der<br />

benötigten Projektion kennzeichnen.<br />

51


Theoretische Voraussetzungen<br />

XIII.<br />

In dem bisher Dargelegten wurden eine Reihe historischer<br />

Fakten miteinander verglichen. Es scheint nun an der Zeit,<br />

Schlußfolgerungen zu ziehen und mehr zur Sache selbst zu kommen,<br />

auch wenn die Ausarbeitung verwandter Fragen, die im<br />

Zusammenhang mit der Analyse des Raumes innerhalb der dargestellten<br />

Künste auftauchen, für eine andere Untersuchung<br />

aufgehoben werden müssen.<br />

Sowohl die Historiker der Malerei als auch die Theoretiker der<br />

darstellenden Kunst streben oder strebten zumindest früher danach,<br />

ihre Zuhörer davon zu überzeugen, daß die Zentralperspektive<br />

die einzig Richtige sei und daß nur sie der einzigen echten<br />

Wahrnehmung entspräche, denn die natürliche Wahrnehmung<br />

sei mit dieser Perspektive identisch. Entsprechend diesen Voraussetzungen<br />

wurden die Abweichungen von der perspektivischen<br />

Einheit darüber hinaus als Verrat an der Wahrheit der<br />

Wahrnehmung denunziert, d. h. als Verzerrung der Realität<br />

selbst. Und diese wurden sowohl als zeichnerische Unbildung des<br />

Künstlers und als Überbetonungen der ornamentalen Aufgaben<br />

innerhalb der Zeichnung, sowie als vorsätzliche Bevorzugung des<br />

Dekorativen und schließlich als Unklarheit in Kompositionsfragen<br />

erklärt. So oder anders offenbare die Abweichung von der<br />

Norm der linearperspektivischen Einheit nach den oben erwähnten<br />

Bewertungen — bloßen Irrealismus.<br />

Wie auch immer, sowohl das Wort Realität als auch seine Bedeutung<br />

scheinen zu gewichtig, als daß es den Anhängern dieser<br />

oder jener Weltanschauung gleichgültig bleiben könnte, ob sie<br />

diese als Bundesgenossin zählen dürfen oder ob sie zum Gegner<br />

übergewechselt ist. Und offensichtlich sind nicht geringe Überlegungen<br />

notwendig, ehe man zu Zugeständnissen bereit scheint,<br />

selbst wenn sich diese als unumgänglich erwiesen haben! Dasselbe<br />

gilt für das ach so relative Wort natürlich. Wem erscheint denn das<br />

Seinige nicht als realistisch und natürlich, — also ohne jede Vermischung<br />

der Wirklichkeit selbst entströmt? Die Anhänger einer<br />

der Renaissance entsprechenden Auffassung der Malerei fesselten<br />

sich an diese so vertrauten Begriffe, welche sie dem Piatonismus<br />

und ihren mittelalterlichen Vorgängern entwendet hatten.<br />

52


Doch das darf uns nicht Anlaß geben, diesen oder jenen, die<br />

mit der Sprache Mißbrauch getrieben haben, Platz zu machen.<br />

Die Realität und die Natürlichkeit muß man an der Sache selbst<br />

erweisen und darf nicht nur leere Ansprüche auf sie erheben.<br />

Unsere Aufgabe ist es nun, diese Katagorien den rechtmäßigen<br />

Erben und Enkeln zurückzugeben.<br />

Wie schon früher erwähnt, ist es unabdingbar, will man «natürlich»<br />

schreiben oder malen können—d. h. aber perspektivistisch,—<br />

dies zu studieren. Das galt für ganze Völker und Kulturen und<br />

gilt genauso und immer aufs Neue für einzelne Menschen. Ein<br />

Kind malt nicht mit Hilfe der Linearperspektive. Und auch ein<br />

Erwachsener, der zum ersten Mal einen Stift in die Hand nimmt,<br />

malt nicht perspektivisch - solange er nicht für bestimmte Schablonen<br />

geschult worden ist. Doch auch wenn er sie erlernt hat, viel<br />

studiert hat, verfällt er schnell in alte Sünden. Genauer gesagt,<br />

überwindet die aufrichtige Unmittelbarkeit stets irgendwo die<br />

prüden Anstandsregeln perspektivischer Einheitlichkeit. Zum<br />

Beispiel würde kaum jemand die Darstellung eines Balles mit<br />

einem elliptischen Grundriß beginnen oder das Bild sich parallel<br />

entfernender Kolonnaden mit nach und nach breiter werdenden<br />

Pfeilern, — auch wenn genau das die perspektivische Projektion<br />

fordert. 43<br />

Werden denn nicht oft genug selbst große Künstler perspektivischer<br />

Fehler bezichtigt? Solche Verfehlungen sind stets möglich,<br />

besonders in Zeichnungen mit schwierigen Kompositionen.<br />

Und tatsächlich würde man sie nur dann vermeiden können,<br />

wenn man technisches Zeichenpapier unterschöbe, das mit Hilfslinien<br />

ausgestattet ist. Mit anderen Worten: es würde nicht das<br />

außer- oder innerhalb Geschaute gezeichnet werden, also etwas<br />

Anschauliches, Unabstraktes, sondern dasjenige, was die Berechnung<br />

geometrischer Konstruktionen verlangte! Eine solche Berechnung<br />

stützt sich zudem auf eine sehr beschränkte Kenntnis<br />

von der Geometrie. Eine beschränkte Geometrie, die dann als einzige<br />

zugelassen wird. Darf man denn Darstellungsverfahren als<br />

«natürlich» beschreiben, die ohne geometrisch-zeichnerische<br />

Krücken nicht einmal diejenigen zu beherrschen lernen, welche<br />

viele Jahre ihre Augen und ihre Weltanschauung hart darauf<br />

trainiert haben? Und zeigen die perspektivischen Fehler nicht<br />

43. Rynin, Perspektiva (34), § 8, S.75-78; Rynin, Metody isobraschenija (8), § 15,<br />

S.l 13-117<br />

53


weniger die Schwächen eines Künstlers, als eher seine Stärken<br />

und die Kraft einer echten Wahrnehmung, die die Wirrnisse der<br />

sozialen Beeinflussung zu zerreißen vermag? Die perspektivische<br />

Schulung ist nichts weiter als eine Dressur! Und selbst dann, wenn<br />

der gutwillige Anfänger versucht, mit seinen ersten Zeichnungen<br />

die Regeln der Linearperspektive zu beachten, heißt das noch<br />

lange nicht, daß er ihren Sinn verstanden hat, konkret: den<br />

künstlerisch-darstellerischen Sinn der perspektivischen Forderungen.<br />

Sich ihrer Kindheit zuwendend erinnern sich nicht wenige,<br />

wie unverständlich ihnen die Zeichnungen der Linearperspektive<br />

erschienen sind. Sie erinnern sich an die Perspektive<br />

gleichsam als an einen allgemeinverbindlichen Zwang, einen usus<br />

tyrannis, dem in jeder Hinsicht nicht Kraft seiner Wahrheit gedient<br />

wurde, sondern weil das eben alle so taten.<br />

Als eine höchst unsinnige Bedingung — so erscheint die Perspektive<br />

dem Verstand eines Kindes. «Es erscheint nichtig, ein<br />

Bild zu betrachten, um seine Perspektive zu entdecken», —<br />

schreibt Ernst Mach. Und es mußten ja auch tausend Jahre vergehen,<br />

bis sich die Menschheit an diese Torheit gewöhnt hatte. Und<br />

viele sind wie bekannt ausschließlich durch den Einfluß fremder<br />

Erziehung soweit gebracht worden. «Ich erinnere mich gut»,<br />

fährt Ernst Mach fort, «daß mir im ungefähren Alter von drei<br />

Jahren, alle Bilder in welchen die Perspektive benutzt wurde, als<br />

Entstellungen der auf ihnen dargestellten Gegenstände erschienen.<br />

Ich vermochte nicht zu begreifen, warum der Maler den<br />

Tisch auf der einen Seite so breit gemalt hatte und auf der anderen<br />

Seite derart schmal. Ein wirklicher Tisch erschien mir auf<br />

seiner gegenüberliegenden Seite genauso breit zu sein, wie auf<br />

seiner mir näheren — da mein Auge seine Berechnungen ohne<br />

weitere Mithilfe vollzog. Daß man die Darstellung eines Tisches<br />

auf einer Fläche nicht als eine mit Farben bedeckte Leinwand auffassen<br />

durfte, sondern daß sie mit dem Tisch identisch sei und als<br />

diesen in die Tiefe weiterführend gedacht war — das war eine<br />

Torheit, die ich nicht verstand.» 44 Ein solches Zeugnis eines Positivisten<br />

unter den Positivisten, scheint mir in gar keiner Weise<br />

«mystischer» Parteilichkeit verdächtig.<br />

44. Ernst Mach, Dlja tschego tscheloveka dva glasa - Populjarno-nautschnye otscherki,<br />

in: «Obrasovanie», 1909, S.64 (Wozu hat der Mensch zwei Augen, Leipzig<br />

1910)<br />

54


Auf diese Weise wird klar, daß die Darstellung eines Gegenstandes<br />

im Sinne einer Abbildung nicht auch der Gegenstand<br />

selbst ist, sondern eine Kopie der Sache, welche die Ecken der<br />

Welt nicht verdoppelt, sondern auf das Urbild als ein Symbol verweist.<br />

Der Naturalismus kommt dann im Sinne äußerlicher Wahrheitsliebe<br />

einer bloßen Nachahmung der Wirklichkeit gleich,<br />

einer Herstellung von Dopplungen aller Dinge. Er gleicht einem<br />

Spuk, den das Leben nicht nur nicht benötigt, sowenig wie ein<br />

verliebter Hund das Bild eines Hundes (Goethe), sondern der<br />

auch an sich unmöglich ist. Die perspektivische Wahrhaftigkeit, so<br />

es sie denn gibt und soweit sie überhaupt eine Relation zur Wahrheit<br />

haben kann, beruht somit keinesfalls auf einer äußerlichen<br />

Übereinstimmung, sondern auf einer Abweichung vom «Natürlichen».<br />

Das heißt, daß ihr Wahrheitsgehalt auf der inneren Bedeutung<br />

der Abbildung beruht-ihrem symbolischen Charakter.<br />

Ja und von welcher «Übereinstimmung kann denn beispielsweise<br />

bei einem Tisch und seiner perspektivischen Darstellung die Rede<br />

sein — insofern schnell deutlich wird, daß parallele Umrisse<br />

mittels zusammenlaufender Linien dargestellt werden, rechtwinklige<br />

Ecken — durch spitze und stumpfe Winkel, Schnitte und<br />

Kanten, die einander entsprechen — durch der Größe nach verschiedene<br />

und ungleich große — mittels gleichgroßer.<br />

Die Darstellung ist stets ein Zeichen und zwar jedwede Darstellung,<br />

sowohl die perspektivische als auch die nichtperspektivische.<br />

Wie auch immer sie aufgebaut sind, die Werke der darstellenden<br />

Künste unterscheiden sich nicht dadurch voneinander,<br />

daß das eine symbolisch und das andere mehr oder weniger<br />

naturalistisch ist, sondern dadurch, daß sie alle nichtnaturalistische<br />

Zeichen der verschiedenen Seiten der Dinge, verschiedener<br />

Ansichten der Welt und verschiedene Ebenen der Synthese darstellen.<br />

Die einen sind weniger, die anderen mehr allgemeinmenschlich.<br />

Doch ihrem Wesen nach sind sie alle — Zeichen. Und<br />

die Linearperspektive auf Darstellungen ist keineswegs eine Eigenschaft<br />

der Dinge, wie der vulgäre Naturalismus glaubt, sondern<br />

lediglich ein Verfahren symbolischer Ausdruckskraft, eine von<br />

vielen möglichen symbolischen Stilrichtungen, deren künstlerischer<br />

Wert einer besonderen Beurteilung unterliegt. Doch gerade<br />

deshalb nicht einem Urteil in der schrecklichen Sprache des<br />

«Wahrhaftigen» und des Anspruchs auf einen patentierten «Realismus».<br />

55


Will man folglich die Fragen der Perspektive (sei es die lineare<br />

oder die umgekehrte, die ein- oder mehrzentrige) untersuchen,<br />

muß man aus all den genannten Gründen stets von der symbolischen<br />

Aufgabe der Malerei und der übrigen darstellenden Kunst<br />

ausgehen. Um auf diese Weise zu klären, welchen Platz inmitten<br />

anderer zeichenhafter Verfahren die Linearperspektive einnimmt,<br />

was sie genau darstellt und zu welchen geistigen Werten<br />

sie hinführt. Denn die Aufgabe der Perspektive kann ähnlich anderen<br />

Mitteln der Kunst nur eine schon bekannte geistige Auslegung<br />

sein, ein Anstoß, um die Aufmerksamkeit auf die Realität zu<br />

richten. Anders gesagt: auch die Perspektive muß, soll sie irgendeinen<br />

Wert haben, eine Sprache sein und eine Zeugin der<br />

Realität.<br />

In welchem Verhältnis stehen nun aber die symbolisch-zeichenhaften<br />

Aufgaben der Malerei — zu den geometrischen Voraussetzungen<br />

ihrer Möglichkeiten? Denn die Malerei wie auch die<br />

übrigen darstellenden Künste steht in einem zwangsläufigen Abhängigkeitsverhältnis<br />

zur Geometrie, insofern sie es mit Ausdehnung,<br />

Bildern und im Raum gestreckten Zeichen zu tun hat.<br />

Kann man dann nicht, das ist hier die Frage, mittels eines leichten<br />

Syllogismus von der Linearperspektive sagen:<br />

major:<br />

Wenn die Geometrie zuverlässig und wahr ist,<br />

so ist die Linearperspektive unanfechtbar.<br />

minor:<br />

Die Geometrie ist wahr und zuverlässig.<br />

conclusio:<br />

Folglich ist die Linearperspektive unanfechtbar.<br />

... wobei beide Voraussetzungen Millionen Einwände hervorrufen!<br />

Muß man also nicht zur Klärung ihrer Anwendungsgrenzen<br />

und Wirkungen, unbedingt und höchst genau die geometrischen<br />

Voraussetzungen der Malerei bestimmen, wenn wir denn<br />

wollen, daß diese Gesetze, der innere Zusammenhang sowie die<br />

Anwendungsgrenzen dieses oder jenes Verfahrens und Mittels<br />

zur Darstellung, eine solide Grundlage oder zumindest eine<br />

Zuordnung bekommen?<br />

Selbst wenn wir eine tiefere Untersuchung auf ein spezielles<br />

Buch verschieben, so kann doch schon jetzt folgendes zu den geometrischen<br />

Voraussetzungen der Malerei gesagt werden: Mit der<br />

56


Malerei und ihren Ordnungen haben wir es mit einem gewissen<br />

Ausschnitt auf einer Fläche zu tun, — sei es Holz oder eine Wand,<br />

Papier usw. Dazu mit Farben, also Möglichkeiten, verschiedene<br />

Punkte auf den erwähnten Oberflächen eine verschiedenartige<br />

Farbigkeit zu verleihen. Das Letztere muß, im Sinne einer Bedeutung<br />

nicht unbedingt im Hinblick auf eine Erfahrung, sondern<br />

soll abstrakt verstanden werden. So z.B. verstehen wir auf<br />

einer Gravüre die Schwärze der typographischen Tinte nicht<br />

als schwarze Farbe, sondern allein als Zeichen der Energie<br />

des Holzschnitzers. Mit anderen Worten: auf der Grundlage<br />

— ist dies die Farbe. Um der Einfachheit willen können<br />

wir uns aber vorstellen, daß es nur eine Farbe gäbe, Schwarz oder<br />

Blei. Die Aufgabe des Malers bestünde nun darin, auf einer bestimmten<br />

Fläche mittels einer bestimmten Farbe, die von ihm<br />

wahrgenommene oder scheinbar wahrgenommene Realität darzustellen.<br />

XIV.<br />

Was bedeutet nun, geometrisch gesprochen, eme Realität darzustellen}<br />

Es bedeutet, Punkte eines wahrgenommenen Raumes mit<br />

den Punkten irgendeines anderen Raumes in Übereinstimmung<br />

zubringen und im gegebenen Fall — mit einer Fläche. Doch die<br />

Wirklichkeit ist zumindest dreidimensional und selbst wenn man<br />

die Zeit als vierte Dimension übergeht (eine Dimension, ohne die<br />

es keine Kunst gäbe), so hat eine Fläche doch nur zwei Dimensionen.<br />

Kann es dann eine solche Entsprechung überhaupt geben?<br />

Ist es überhaupt möglich, eine vierdimensionale oder sagen wir<br />

um der Einfachheit willen: eine dreidimensionale Wirklichkeit<br />

auf einer zweidimensionalen Fläche darzustellen? Reichen denn<br />

die Punkte der letzteren im Hinblick auf die Punkte der ersten<br />

Fläche aus? Oder mathematisch gesprochen: ist die Menge des<br />

Dreidimensionalen mit der zweidimensionalen Menge vergleichbar?<br />

Die Antwort, welche sich dem Verstand ganz natürlich aufdrängt,<br />

lautet: «Selbstverständlich — nein!»<br />

«Selbstverständlich nicht, denn in einem dreidimensionalen<br />

Urbild — existiert eine unendliche Menge zweidimensionaler<br />

Schnitte und folglich ist dessen Punktmenge unendlich viel größer<br />

als diejenige jedes einzelnen Schnittes.» Doch eine genaue<br />

57


Prüfung der gestellten Frage innerhalb der Theorie der Mengenlehre<br />

zeigt, daß diese nun doch nicht ganz so einfach zu beantworten<br />

ist, wie es auf den ersten Blick aussah. Und darüber hinaus<br />

wird bald klar, daß die gegebene Antwort, die auf den ersten<br />

Blick so konsequent schien, nicht als richtig anerkannt werden<br />

darf. Es gilt eine Definition: die Kapazität eines jeden drei- oder<br />

sogar mehrdimensionalen Urbildes ist genau dieselbe, wie die<br />

eines beliebigen zwei- oder dreidimensionalen Bildes. Es ist deshalb<br />

möglich, eine vier- bzw. dreidimensionale Wirklichkeit auf<br />

einer Fläche darzustellen. Und dies ist nicht nur auf einer Fläche<br />

möglich, sondern auch auf einem beliebigen Abschnitt einer geraden<br />

oder gekrümmten Linie. Darüber hinaus kann ein solches<br />

Abbild auf unzählige Weise hergestellt werden, sowohl in arithmetischer<br />

als auch analytischer oder geometrischer Entsprechung.<br />

Als Typus der ersteren kann das Verfahren Georg<br />

Cantors herangezogen werden, als Typus der übrigen die gekrümmten<br />

Linien Peanos oder auch Hilberts.<br />

Um den Kern dieser Forschungen mit ihren überraschenden<br />

Ergebnissen so einfach wie möglich darzulegen, beschränken wir<br />

uns auf einen Fall. Und zwar die Darstellung eines Quadrats im<br />

Maßstab 1:1 auf einem geradlinigen Abschnitt einer seiner Seiten.<br />

Georg Cantor hat ein analytisches Verfahren entwickelt, mit<br />

dessen Hilfe man eine Entsprechung zwischen jedem Punkt des<br />

Quadrats und jedem Punkt seiner Seite herstellen konnte. Das bedeutet,<br />

wenn wir mit Hilfe zweier Koordinaten (x und y) die Lage<br />

eines jeden beliebigen Punktes im Quadrat bestimmt haben, so<br />

können wir mit Hilfe eines einheitlichen Verfahrens diejenige<br />

Koordinate (z) ausfindig machen, welche einen bestimmten<br />

Punkt auf der entsprechenden Quadratseite zu fixieren vermag,<br />

- ein Bild also des oben erwähnten Punktes des Quadrats. Und<br />

umgekehrt; wenn ein beliebiger Punkt auf jenem Abschnitt gekennzeichnet<br />

ist (als ein Abbild des Quadrats), so läßt sich auch<br />

der von diesem Punkt dargestellte Punkt des Quadrats selber finden.<br />

Auf diese Weise bleibt kein einziger Punkt des Quadrats<br />

nicht abbildbar und kein Punkt auf dem Bild bleibt leer und ohne<br />

Entsprechung. Ein Quadrat ist auf einer seiner Seitenlinien wiederzugeben.<br />

Genauso kann auf der Seite eines Quadrats oder auf dem<br />

Quadrat selber — ein Kubus, Hyperkubus oder jede beliebige andere<br />

quadratische, geometrische Figur (ein Polyeder usw.) von<br />

58


eliebiger und sogar unendlicher Größe dargestellt werden. Allgemein<br />

gesagt: jedes kontinuierliche Gebilde mit beliebiger<br />

Größe und beliebiger Begrenzung, letztlich alles innerhalb der<br />

Geometrie - kann auf allem abgebildet werden.<br />

Andererseits können die verschiedensten geometrisch gekrümmten<br />

Linien derartig aufgebaut werden, daß die gekrümmte<br />

Linie durch jeden wahllos gewählten Punkt innerhalb des<br />

Quadrats verlaufen kann und — kehren wir zu unserem ersten<br />

Beispiel zurück: so wird eine Entsprechung zwischen den Punkten<br />

des gegebenen Quadrats und denen der geometrisch gekrümmten<br />

Linie hergestellt. Die Punkte dieser Linie mit den<br />

Punkten der entsprechenden Quadratseite in Übereinstimmung<br />

zu bringen — gleichsam identischen Räumen — ist nun schon überhaupt<br />

nicht mehr schwer, wenn man die Punkte des Quadrats auf<br />

dessen Seite abträgt. Die gekrümmten Linien Peanos und diejenigen<br />

Hilberts besitzen, gleich einer unendlichen Menge ähnlicher<br />

Linien mit vorunendlichen Mengen, offene Epizikloiden ... und<br />

zeigen alle dieselbe wesentliche Eigenschaft: durch sie werden<br />

Entsprechungen von Punkten zwei- und eindimensionaler Bilder<br />

praktisch realisiert, so daß die jeweiligen Punkte leicht gefunden<br />

werden können. Doch dies nur insofern, als daß diese Entsprechung<br />

mit anderen gekrümmten Linien nur dem Prinzip nach<br />

hergestellt werden kann. Sie jedoch konkret zu finden, das heißt<br />

zu bestimmen, welcher Punkt welchem entspricht, wäre äußerst<br />

schwierig. Ohne auf die technischen Einzelheiten der Linien<br />

Peanos und Hilberts einzugehen, haben letztere festgestellt, daß<br />

solche gekrümmten Linien mit ihren mäanderähnlichen Krümmungen<br />

zwar die gesamte Quadratoberfläche abzudecken in der<br />

Lage sind und zwar jeden Punkt des Quadrats — bei beliebig endlicher<br />

Mäandrierung dieser Linie und systematischer Speicherung.<br />

Das heißt also, alle Punkte des Quadrats werden bei einem<br />

bestimmten Verfahren von den Krümmungen dieser Linie unbedingt<br />

berührt. Ähnliche Prozesse können zur Darstellung — wie<br />

gesagt — von allem auf alles angewandt werden.<br />

XV.<br />

Und daher sind kontinuierliche Mengen untereinander gleich<br />

stark. Doch obwohl sie gleiche Stärken besitzen, fehlen ihnen die<br />

59


je selben «erfaßbaren» oder «idealen» Zahlen im Sinne Cantors.<br />

Das bedeutet, daß sie einander nicht ähnlich sind. Anders ausgedrückt:<br />

es ist unmöglich sie aufeinander abzubilden, ohne ihren<br />

Aufbau zu stören. Bei der Herstellung einer solchen Entsprechung<br />

würde entweder die Kontinuität der darzustellenden Figur<br />

zerstört (was geschieht, wenn man versuchte, die gegenseitige<br />

Eindeutigkeit von Bild und Abbild zu bewahren), oder man verletzt<br />

die Eindeutigkeit des einen oder anderen Bildes bei dem<br />

Versuch, die Kontinuität des Darzustellenden zu bewahren.<br />

Bei dem Verfahren Cantors wird ein Bild Punkt für Punkt wiedergegeben,<br />

so daß jedem beliebigen Punkt des Urbildes nur ein<br />

Punkt des Abbildes entspricht. In dieser Hinsicht befriedigt diese<br />

Entsprechung Cantors die verbreitete Vorstellung vom Wesen<br />

einer Abbildung. Doch mit einer anderen Eigenschaft ist sie weit<br />

vom Charakter einer solchen entfernt. Sie ist wie auch alle anderen<br />

eindeutigen Entsprechungen auf dem untersuchten Gebiet<br />

nicht in der Lage, die Nachbarschaftsverhältnisse der Punkte untereinander<br />

zu bewahren. Sie schont weder ihre Anordnung<br />

noch ihre Verhältnisse untereinander, d. h. sie ist nie kontinuierlich.<br />

Sobald wir uns auch nur ein klein wenig innerhalb eines<br />

Quadrates bewegen, vermag die auf unsere Weise vollzogene<br />

Darstellung schon nicht mehr kontinuierlichen Charakter zu<br />

wahren und der darzustellende Punkt springt durch den gesamten<br />

Darstellungsbereich. Diese Unmöglichkeit, eine eindeutige<br />

und zugleich ungebrochene Entsprechung zwischen einem<br />

Quadrat und einem seiner Seitenlinien herzustellen, ist außer<br />

von Cantor von verschiedenen Mathematikern, nicht zuletzt<br />

J. J0rgensen nachgewiesen worden. 45<br />

Letzterer stützt sich auf den «Satz über die Bedeutung des Zwischenraums»:<br />

Wenn der Punkt P eines Quadrats und der Punkt<br />

P' eines geradlinigen Schnittes einander entsprechen, dann muß<br />

einer gewissen Linie AB des Quadrats, die den Punkt P enthält,<br />

ein zusammenhängender Abschnitt auf der genannten Linie<br />

entsprechen, die den Punkt P' enthält. Daraus folgt aber, daß<br />

Kraft der vorgeschriebenen Eindeutigkeit der Entsprechung zu<br />

den übrigen Punkten des Quadrats im Umkreis von P - diesem<br />

45. Die Erklärungen der hier verwendeten Begriffe der Mengenlehre — Menge,<br />

Entsprechung, Stärke. Äquivalenz, Ähnlichkeit oder Übereinstimmung - finden<br />

sich in einem Artikel <strong>Florenskij</strong>s mit dem Titel «O simvolach beskonetschnosti» in:<br />

·•Novy Putj», 1904/XI, S.173-235 (Über die Symbole der Unendlichkeit)<br />

60


schon kein einziger Punkt mehr auf der Linie nahe des Punktes P'<br />

entspricht. Woraus klar wird, daß eine gleichzeitig eindeutige<br />

und kontinuierliche Darstellung und eine Entsprechung zwischen<br />

den Punkten der Linie und des Quadrats unmöglich ist. Soweit<br />

der Beweis von j0rgensen. Darüber hinaus können die Entsprechungen<br />

Peanos und Hilberts nicht eindeutig sein, insofern<br />

der Punkt auf der Linie nicht nur einen einzigen des Quadrats<br />

abbildet. Und wie j0rgensen u. a. nachgewiesen hat, sind diese<br />

Entsprechungen nicht durchweg ohne Unterbrechungen. Mit<br />

anderen Worten: die Darstellung eines Quadrats auf einer Linie<br />

bzw. eines Volumens auf einer Fläche oder Linie gibt zwar tatsächlich<br />

alle Punkte wieder. Doch ist sie nicht in der Lage, die<br />

Form des Darzustellenden so als ein Ganzes wiederzugeben, daß<br />

diese dem inneren Aufbaus eines bestimmten Gegenstandes entspricht.<br />

Es wird der Inhalt des Raumes wiedergegeben, nicht aber seine<br />

Organisation.<br />

Um irgendeinen Raum mit allen seinen Punkten wiederzugeben,<br />

ist es bildlich gesprochen unabdingbar, diesen entweder zu<br />

unendlich feinem Pulver zu zerstoßen, ihn sorgfältig zu vermischen,<br />

um ihn dann auf einer Darstellungsfläche so zu verstreuen,<br />

daß von seiner originären Organisation nicht einmal die Erinnerung<br />

bleibt. Ihn danach in eine Vielzahl von Schichten zu<br />

zerschneiden, so daß nichts von seiner ursprünglichen Form erhalten<br />

bleibt, diese Schichten dann jedoch - mit gewissen Wiederholungen<br />

des einen oder anderen Elements der alten Form — zu<br />

verteilen (bei gleichzeitiger gegenseitiger Durchdringung dieser<br />

Elemente), wodurch es in Folge zur Verkörperung von einigen<br />

Elementen der alten Form in diesen oder jenen Punkten des Bildes<br />

kommt. Es fällt nicht schwer, hinter den oben genannten<br />

mathematischen Darlegungen die von radikalen Strömungen der<br />

Kunst unabhängig von der Mathematik gefundenen «Prinzipien»<br />

divisionistischer und komplementärer Natur zu erkennen,<br />

mit deren Hilfe diese Strömungen die Formen und Organisation<br />

des Raumes zu zerstören suchten, um sie der Ewigkeit und der<br />

Masse zum Opfer zu bringen.<br />

Zusammengefaßt heißt das: es ist zwar möglich, den Raum auf einer<br />

Fläche darzustellen, jedoch nicht, ohne dabei zugleich die Form des Darzustellenden<br />

zu zerstören. Dabei ist es gerade die Form und allein die<br />

Form, welche die darstellende Kunst ausmacht. Und folglich wird<br />

für die Malerei und für die gesamte darstellende Kunst im allge-<br />

61


meinen (insofern sie den Anspruch hat, eine Analogie der Wirklichkeit<br />

zu sein), ein abschließendes Urteil gesprochen werden<br />

müssen: der Naturalismus ist ein für allemal eine Unmöglichkeit!<br />

XVI.<br />

Damit begeben wir uns sogleich auf den Weg des Symbolisch-<br />

Zeichenhaften und verzichten dabei auf alle dreidimensional ausgedehnten<br />

Punktinhalte, sozusagen auf die Füllung der Wirklichkeitsbilder.<br />

Wir verzichten mit einem Schlag auf alle räumlichen<br />

Schicksale der Dinge und konzentrieren uns — insofern es sich um<br />

die Wiedergabe der Wirklichkeit mittels Punkte geht — auf ihre<br />

Oberflächen.<br />

Jetzt verstehen wir unter den Dingen keineswegs die Dinge<br />

selbst, sondern allein ihre Hautoberflächen, die den Bereich des<br />

Raumes begrenzen. Innerhalb einer naturalistischen Bewertung<br />

ist dies selbstverständlich ein entschiedener Austausch der Losung<br />

nach Wahrhaftigkeit. Wir wechseln die Wirklichkeit gegen<br />

ihre Schale, ihre Haut aus, deuten den Raum nunmehr bloß an<br />

und geben ihn keineswegs Punkt für Punkt wieder. Kann man<br />

nun diese «Dinge» oder genauer: die Haut dieser Dinge auf einer<br />

Fläche darstellen?<br />

Eine zustimmende oder ablehnende Antwort wird davon abhängen,<br />

was unter dem Begriff darstellen zu verstehen ist. Kann<br />

man eine eindeutige Entsprechung zwischen den Punkten des<br />

Urbildes und seines Abbildes darstellen, so daß die Kontinuität<br />

des einen sowie des anderen im allgemeinen gewahrt bleibt? Zumindest<br />

«allgemein», das heißt die Kontinuität des «größten<br />

Teils» der Punkte ...? Doch wie immer auch diese Entsprechung<br />

konstruiert wäre, einige Risse und Brüche einer gegenseitig eindeutigen<br />

Verbindung wären bei einzelnen Punkten oder solchen<br />

unausweichlich, die verschiedene nichtkontinuierliche Bilder<br />

darstellten.<br />

Mit anderen Worten: die Reihenfolge und das gegenseitige Abhängigkeitsverhältnis<br />

der meisten Punkte des Urbildes würden<br />

auf dem Abbild erhalten bleiben. Doch diese Tatsache beinhaltet<br />

längst nicht die Unveränderlichkeit aller Eigenschaften derselben<br />

und seien es nur die geometrischen Eigenschaften des jeweiligen<br />

Originals — bei dessen Übertragung mittels einer Entsprechung<br />

62


auf eine Fläche. Es ist richtig, daß beide Räume — sowohl der darzustellende,<br />

als auch der darstellende — zweidimensional sind und<br />

in dieser Hinsicht einander ähnlich. Doch ihre Krümmungen unterscheiden<br />

sich voneinander und bei dem darzustellenden Raum<br />

sind sie zudem unbeständig und verändern sich von Punkt zu<br />

Punkt. Es wäre unmöglich, den einen auf den anderen zu legen,<br />

auch wenn man einen von ihnen verbiegen würde, der Versuch<br />

einer solchen Übertragung würde unausweichlich zu Rissen und<br />

Falten auf einer der Oberflächen führen. Es ist unmöglich, eine<br />

Eierschale, und sei es auch nur ein Stück von ihr, vollständig auf<br />

die Fläche eines Marmortisches zu legen, — dazu müßte man sie deformieren,<br />

sie zu feinstem Staub zermahlen. Und aus demselben<br />

Grund ist es auch unmöglich, ein Ei auf einem Stück Papier oder<br />

auf Leinwand im wahrsten Sinne des Wortes darzustellen.<br />

Die in Entsprechung gebrachten Punkte von Räumen verschiedener<br />

Krümmungen setzen unabdingbar die Opferung bestimmter<br />

Eigenschaften des Dargestellten voraus, — natürlich sprechen<br />

wir hier allein von geometrischen Eigenschaften und deren Opferung<br />

zum Zwecke der Übertragung derselben auf irgendwelche<br />

Abbilder: die Gesamtheit der geometrischen Zeichen des Darzustellenden<br />

kann für eine Darstellung auf keinerlei Weise verfügbar<br />

sein. Und wenn das Bild auch Ähnlichkeit mit seinem Original<br />

haben sollte, so unterscheidet es sich von ihm zwangsläufig in vielerlei<br />

Hinsicht. Ein Bild ist stets seinem Original ungleich, und<br />

nicht gleich.<br />

Selbst der einfachste Fall, die Darstellung einer Sphäre auf<br />

einer Fläche, also das geometrische Schema der Karthographie,<br />

erwies sich als außerordentlich schwierig und bot zur Erfindung<br />

vieler dutzend verschiedener Verfahren der Darstellung Anlaß.<br />

Man entwickelte sowohl Projektionsverfahren mittels geradliniger<br />

Strahlen, welche von nur einem Punkt ausgingen, als auch<br />

nicht-projektionstechnische Methoden, welche mittels komplizierter<br />

Konstruktionen verwirklicht wurden oder sich auf mathematische<br />

Berechnungen stützten. Jedoch berücksichtigten alle<br />

diese Verfahren, die doch bestrebt waren, auf der Karte zumindest<br />

einige Eigenschaften des dargestellten Territoriums abzubilden,<br />

eine Fülle anderer Fragen nicht oder entstellten sie sogar und<br />

übergingen geographische Objekte, die nicht weniger wichtig waren.<br />

Jedes Verfahren ist gut in Bezug auf ein streng formuliertes<br />

Ziel hin. Und ungeeignet, sobald sich neue Aufgaben stellen. An-<br />

63


ders ausgedrückt: die geographische Karte ist einerseits ein Bild<br />

und ist auf der anderen Seite — keins. Es ersetzt bekanntlich nicht<br />

die wirkliche Gestalt der Erde und sei es in geometrischer Abstraktion,<br />

sondern dient lediglich als Hinweis auf einige ihrer Zeichen.<br />

Sie ist insofern ein Bild, sofern wir uns geistig durch und<br />

mittels desselben — geistig seinem Urbild zuwenden. Und sie ist<br />

kein Bild, wenn sie uns nicht hinter die Grenzen ihrer selbst führt, sondern<br />

uns auf irgendeine Pseudorealität festbannt — wie auf eine<br />

bloß ähnliche Wirklichkeit. Das heißt: dann nicht, wenn die Karte<br />

Anspruch auf eine sich selbst genügende Bedeutung erhebt.<br />

Wir haben bis jetzt von einfachen Fällen gesprochen. Doch existieren<br />

weitaus schwierigere und vielgestaltigere Formen der<br />

Wirklichkeit, als die Sphäre. Und entsprechend unzählbar vielgestaltig<br />

können die Verfahren der Darstellung jeder dieser Formen<br />

sein. Wenn man sich die Kompliziertheit und Vielgestaltigkeit<br />

der Organisation dieses oder jenes Raumes im Bereich der<br />

Wirklichkeit der Welt verdeutlicht, so verliert man leicht den Verstand<br />

im Angesicht dieser unendlichen Möglichkeiten, diese Bereiche<br />

mittels Darstellung zu übertragen. Man verliert den Verstand<br />

im Abgrund der eigenen Freiheit!<br />

Auf mathematischem Wege zu versuchen, die Verfahren zur<br />

Darstellung der Welt zu normieren, — ist eine sinnlose und anmaßende<br />

Aufgabe. Denn wenn eine solche Vereinheitlichung, die<br />

darüber hinaus Anspruch auf mathematische Beweisbarkeit erheben<br />

müßte und nicht zuletzt Einheitlichkeit und Ausschließlichkeit<br />

behauptet, sich schließlich ohne weitere Untersuchung<br />

nur auf einen Teil eines Teils bzw. einen einzigen Fall von Entsprechung<br />

beruft, so fragt sich, ob dies nicht bloß zu unserer<br />

Belustigung geschieht!<br />

Denn die perspektivische Darstellung der Welt ist eben nicht<br />

mehr als eine Möglichkeit, die Realität zu zeichnen. Wenn also jemand<br />

die Perspektive aus Gründen der Komposition oder aufgrund<br />

irgendwelcher anderer ästhetischer Fragen verteidigen<br />

würde, so wäre eine solche Diskussion von durchaus eigenständigem<br />

Wert. Doch leider muß gesagt werden, daß genau solche<br />

Strategien der Verteidigung nirgendwo zu hören sind. Dagegen<br />

darf sich eine solche Verteidigung weder auf geometrische, noch<br />

auf physiopsychologische Argumente stützen: denn außer einer<br />

Widerlegung der Perspektive, ist in diesem Bereich nichts zu gewinnen.<br />

64


XVII.<br />

Daher kann eine Darstellung, nach welchem Prinzip auch immer<br />

die Entsprechung zwischen Darzustellendem und Darstellendem<br />

hergestellt wird, zwangsläufig nur hinweisend bezeichnen<br />

oder andeuten. Ein solches Bild richtet den Betrachter auf eine<br />

Vorstellung vom Original aus, doch bietet es dieses weder als Kopie<br />

noch als Modell dar. Zwischen der Wirklichkeit und dem Bild<br />

existiert im Sinne einer Ähnlichkeit kein Raum. Hier findet sich<br />

nur ein Hiatus, welcher zuerst vom schöpferischen Verstand des<br />

Künstlers und danach — vom Verstand desjenigen überwunden<br />

wird, der sich das Bild ebenso schöpferisch wieder aneignet.<br />

Das Letztere ist, ich wiederhole, nicht nur keine Verdoppelung<br />

der Wirklichkeit in ihrer Fülle, sondern diese Abbildung ist nicht<br />

einmal in der Lage, eine Ähnlichkeit der Oberflächen herzustellen.<br />

Das Abbild ist ein Zeichen eines Zeichens, insofern auch die Haut<br />

der Gegenstände nur ein Bild derselben ist. Vom Bild geht der<br />

Betrachter zur Oberfläche der Dinge und von dieser — zu den<br />

Dingen selbst. Auf diese Weise eröffnet sich der Malerei prinzipiell<br />

ein unendliches Feld an Möglichkeiten. Dieser weite<br />

Schwung gründet auf der Freiheit, die Entsprechungen zwischen<br />

den Punkten der Oberflächen und den Punkten der Leinwand<br />

auf überaus verschiedenen Grundlagen herzustellen. Nicht nur<br />

ein einziges Prinzip der Entsprechung ermöglicht die Darstellung<br />

eines (wenn auch nur) geometrisch adäquaten Bildes. Und folglich<br />

sind diese verschiedenen Prinzipien, von denen keines allein<br />

den echten Vorzug immanenter und vollständiger Adäquatheit<br />

besitzt, jedes auf seine Weise anwendbar — mit all ihren Vorteilen<br />

und Nachteilen. In Abhängigkeit von den inneren Bedürfnissen<br />

der Seele wird in Übereinstimmung mit den Aufgaben des Kunstwerkes<br />

(und keineswegs unter zwanghaftem Druck von außen)<br />

eines der potentiellen Verfahren der Entsprechung von der jeweiligen<br />

Epoche ausgewählt.<br />

Diesem Verfahrensprinzip entströmen dann alle seine Besonderheiten,<br />

die guten wie die schlechten. Die Gesamtheit dieser<br />

Besonderheiten schichtet die erste Besonderheit dessen auf, was<br />

wir in der Kunst als den Stil oder die Manier bezeichnen. Und in<br />

dieser Auswahl bestimmter Prinzipien der Entsprechung drückt<br />

sich der ursprüngliche Charakter aus, durch welchen das Verhältnis<br />

des schöpferischen Künstlers und der Welt bestimmt wur-<br />

65


de und damit auch — die entsprechend größte Tiefe seiner Weltauffassung<br />

und seines Lebensgefühls.<br />

Die perspektivische Darstellung der Welt ist also eine aus einer<br />

zahllosen Menge möglicher Verfahren zur Herstellung einer<br />

bezeichenbaren Entsprechung. Sie ist des weiteren ein sehr<br />

begrenztes und enges Verfahren, welches von einer Unzahl eingrenzender<br />

Bedingungen umrankt wird, durch welche ihre<br />

Möglichkeiten und Anwendungsgrenzen festgelegt werden. Um<br />

diejenige Lebensorientierung zu verstehen, aus der so zwangsläufig<br />

auch die Linearperspektive in den darstellenden Künsten<br />

hervorging, gilt es zuerst die Voraussetzungen zu ordnen, von<br />

welchen der Künstler-Perspektivist bei jedem seiner Bleistiftbewegungen<br />

stillschweigend ausgeht. Diese sind ...<br />

Erstens der Glauben, daß der Raum der realen Welt der euklidische<br />

Raum ist. Ein isotroper, homogener, unendlicher und grenzenloser<br />

Raum bar aller Krümmungen und sodann dreidimensional.<br />

Es wird für möglich gehalten, durch jeden beliebigen<br />

Punkt eine Parallele oder eine Gerade (und zwar eine einzige)<br />

hindurchzuführen. Der Künstler-Perspektivist ist davon überzeugt,<br />

daß der gesamte Aufbau der Geometrie, wie er ihn in<br />

seiner Kindheit gelernt und seitdem erfolgreich vergessen hat,<br />

seinem Wesen nach kein abstraktes Schema ist, sondern noch<br />

dazu - reell existiert und sogar anschaulich ist. Der Künstler der<br />

untersuchten Geistesrichtung glaubt an die Geradheit aller Strahlen,<br />

die als Bündel vom Auge ausgehend zu den Konturen der<br />

Gegenstände führen. Übrigens gemäß dem alten Bewußtsein,<br />

nach welchem das Licht nicht vom Gegenstand zum Augen, sondern<br />

vom Auge zum Gegenstand geht. Er glaubt des weiteren an<br />

die Unveränderlichkeit des Maßstabes bei gleichzeitiger Übertragungsmöglichkeit<br />

desselben von Raum zu Raum, von Ort zu Ort<br />

sowie dessen Drehbarkeit von einer Richtung in die andere usw.<br />

usf. Kurz gesagt: er glaubt an einen Aufbau der Welt nach Euklid<br />

und an die Erkennbarkeit der Welt—nach Kant. Dies zum ersten.<br />

Zweitens meint er (nun schon gegen die Logik Euklids, doch im<br />

Einklang mit dem Geiste des Kantianismus — wo über einer trügerisch-subjektivistischen<br />

Welt ein transzendentales Subjekt zwanghaft<br />

herrscht), daß inmitten der bei Euklid noch absolut gleichgestellten<br />

Punkten des unendlichen Raumes ein außerordentlicher,<br />

einzigartiger und seinem Wert nach besonderer Punkt existiere.<br />

Ein absolutistischer Punkt, dessen einzige herausragende Eigen-<br />

66


schaft darin besteht, daß er den Aufenthaltsort des Künstlers<br />

selbst ausmacht; oder genauer: seines rechten Auges, d. h. des<br />

optischen Zentrums seines rechten Auges.<br />

Alle Orte des Raumes sind bei einer solchen Auffassung ihrem<br />

Wesen nach ohne Qualität und alle gleich farblos - alle, außer<br />

diesem einen absolutistisch vorherrschenden Punkt. Dessen<br />

Glück nun darin gründet, Residenz des optischen Zentrums des<br />

rechten Auges des Künstlers sein zu dürfen. Dieser Ort wird somit<br />

zum Zentrum der Welt erklärt. Er erhebt den Anspruch, die<br />

kantische und gnoseologisch-absolute Bedeutung des Künstlers<br />

zu vertreten. Wahrhaftig, von seinem «Standpunkt» aus schaut er<br />

auf das Leben, ohne jede weitere Originalität! Denn jener für absolut<br />

erklärte Punkt unterscheidet sich in Wahrheit in nichts von<br />

allen übrigen Punkten des Raumes. Die Bevorzugung des einen<br />

gegenüber allen anderen Punkten wird nicht nur nicht motiviert,<br />

sondern ist dem Wesen der untersuchten Weltanschauung nach —<br />

auch nicht motivierbar.<br />

Drittens stellt sich uns dieser auf seinem «Standpunkt» ruhende<br />

Herrscher und Gesetzgeber — als einäugig, als Zyklop dar, denn<br />

das zweite Auge, mit dem ersten wetteifernd, würde die Einheitlichkeit<br />

und folglich die Absolutheit dieses Standpunktes zerstören.<br />

Es überführt das perspektivistische Bild des Betrugs!<br />

Insgesamt gesehen, bezieht sich die ganze Welt des Künstlers<br />

nicht einmal mehr auf den betrachtenden Künstler, sondern einzig<br />

auf sein rechtes Auge, das noch dazu durch den erwähnten<br />

Punkt vertreten wird - sein optisches Zentrum. Dieses Zentrum<br />

allein gibt dem Bau der Welt seine Gesetze.<br />

Viertens wird der oben genannte Gesetzgeber als ein auf immer<br />

und ewig an seinen Thron Gefesselter gedacht. Wenn er seinen<br />

absolutistischen Platz verlassen oder sich auch nur bewegen<br />

würde, so fiele die gesamte Einheitlichkeit der Perspektive sofort<br />

zusammen. Die Perspektive aber würde sich zerstreuen. Mit anderen<br />

Worten: das betrachtende Auge ist diesem Verständnis<br />

nach nicht das Organ eines lebendigen Wesens, das in der Welt<br />

lebt und wirkt, sondern die Glaslinse einer camera obscura.<br />

Fünftens·, die ganze Welt wird als vollkommen unbeweglich und<br />

in Gänze unveränderlich gedacht. Keine Geschichte, keine Veränderungen<br />

oder Bewegungen, weder Biographien, noch Entwicklungen<br />

dramatischer Ereignisse oder Spiele von Emotionen darf<br />

es in jener Welt geben! Denn ansonsten würde aufs Neue die per-<br />

67


spektivische Einheit des Bildes zerfallen. Diese Welt ist — nicht nur<br />

tot oder von einem ewigen Schlaf befallen — sondern stets ein und<br />

dasselbe und in seiner Unbeweglichkeit erfrorene Bild.<br />

Sechstens werden alle psychophysiologischen Prozesse des Sehens<br />

ignoriert. Das Auge scheint unbeweglich und einer optischen<br />

Linse ähnlich leidenschaftslos. Es selber rührt sich nicht, kann es<br />

nicht und hat auch nicht das Recht dazu. Eine Vorstellung, die<br />

gegen die grundlegenden Bedingungen des Sehens verstößt.<br />

Gegen die visuelle Aktivität, den aktiven und summierenden<br />

Aufbau der Wirklichkeit durch das Sehen als der Tätigkeit eines<br />

lebendigen Wesens. Darüber hinaus wird dieser Sehvorgang<br />

weder durch Erinnerungen, noch durch geistige Anschauungen<br />

oder Erkenntnisvorgänge begleitet. Dieses «Sehen» bleibt ein<br />

rein äußerlich-mechanischer Prozeß — und im besten Falle<br />

ein chemophysikalischer. Ein Vorgang, der in keiner Weise als<br />

menschliches Sehen bezeichnet werden darf. Denn jedes psychische<br />

Moment desselben, ja sogar jedweder physiologischer wurde<br />

entschieden ausgeschlossen.<br />

Nur wenn man die eben beschriebenen sechs Voraussetzungen<br />

erfüllt, dann und nur dann ist es möglich, eine Entsprechung zwischen<br />

den Oberflächenpunkten der Welt und den Punkten des<br />

jeweiligen Abbildes herzustellen, das ein perspektivisches Bild<br />

sein soll. Wenn auch nur eine dieser Bedingungen nicht in jeder<br />

Hinsicht erfüllt ist, so wird diese Art einer Entsprechung unmöglich<br />

und die Linearperspektive würde in mehr oder weniger hohem<br />

Maße zerstört werden. Ein Bild nähert sich der Perspektive<br />

nur insoweit und in dem Maße, in dem es die o. g. Bedingungen<br />

erfüllt. Werden diese also nur in einem äußerst geringen Punkt<br />

nicht befolgt und würde man die Verletzung dieser Gesetze auch<br />

nur partiell zulassen, so hörte die Perspektive sofort auf, eine<br />

bedingungslose Forderung zu sein, welche über dem Künstler<br />

drohend schwebt. Sie wäre dann ein bloß annäherndes Verfahren<br />

der Wiedergabe der Wirklichkeit. Sie bliebe ein Verfahren<br />

unter vielen, dessen Grad der Anwendbarkeit und dessen<br />

Rolle bei der Verwendung im gegebenen Werk durch die spezielle<br />

Aufgabenstellung des gegebenen Werkes und seines je aktuellen<br />

Platzes bestimmt werden würde. Doch solches gilt keineswegs<br />

für jede Darstellung als solche und schon gar nicht unter allen<br />

Umständen.<br />

Doch lassen wir es einmal zu: würden die Bedingungen der<br />

68


Perspektive vollends befriedigt, wäre folglich — auch innerhalb<br />

des Bildes die perspektivische Einheit genauestens gewahrt. Das<br />

Bild der Welt, wie es sich unter diesen Umständen darstellt, gliche<br />

einer photographischen Aufnahme, die die gegebene Entsprechung<br />

mittels einer durch ein Objektiv belichteten Folie der<br />

Wirklichkeit abbildet. Wenden wir uns nun von den Fragen der<br />

Eigenschaften des Raumes selbst und den Problemen physiophysikalischer<br />

Prozesse ab, so können wir sagen, daß diese Momentaufnahme<br />

im Verhältnis zur wirklichen Wahrnehmung der reellen<br />

Wirklichkeit einem Differential gleicht und darüber hinaus<br />

einem höheren bzw. einem Differential zweiter Ordnung. Um<br />

nun durch dieses ein echtes Bild der Welt zu erhalten, müßte man<br />

es entsprechend den verschiedenen Zeiten (von welchen ja die<br />

Veränderung der Wirklichkeit selbst abhängt), mehrfach integrieren.<br />

Und dies entsprechend anderen Prozessen der Wahrnehmung<br />

und anderen Veränderlichkeiten, wie z.B. ein veränderliches<br />

Vermögen der Massewahrnehmung. Wenn also dies<br />

alles geschehen wäre, so würde das Integralbild, welches wir erhielten,<br />

sicher nicht mit dem rein künstlerischen Bild übereinstimmen.<br />

Und zwar aufgrund der fehlenden Übereinstimmung<br />

des darin vorausgesetzten Verständnisses vom Raum mit demjenigen<br />

einer künstlerischen Darstellung, da ersterer als eine in<br />

sich abgeschlossene Einheit dargestellt werden will.<br />

Es fällt nicht schwer, in einem solchen perspektivischen Künstler<br />

die Verkörperung eines passiven bzw. zur totalen Passivität verurteilten<br />

Denkens zu erkennen. Ein Denken, das blitzartig, gleich<br />

einem Dieb und Räuber die Welt durch die Ritze seiner subjektiven<br />

Scheuklappen leblos und bewegungsunfähig betrachtet und<br />

nicht in der Lage ist, auch nur eine Bewegung zu erhaschen und<br />

voll Mühe danach strebt, die göttliche Absolutheit genau seines<br />

Platzes und seiner kurzen Beobachtung zu manifestieren. Dieser<br />

Beobachter, der nichts von sich in diese Welt einbringt, ist nicht<br />

einmal in der Lage, seine isolierten Eindrücke zu summieren, da<br />

er mit der Welt nicht in lebendige Berührung geraten kann,<br />

weder in ihr lebt, noch seine eigene persönliche Realität anerkennt.<br />

Auch wenn er seine stolze Weltabgeschiedenheit als eine<br />

Art letzte Instanz auffaßt und deshalb glaubt, durch seine Diebeserfahrung<br />

die ganze Welt zu konstituieren und sie unter dem<br />

Vorwand der Objektivität in den dazugehörigen Differential hineinzuquetschen.<br />

69


Auf diese Weise kam auf dem Boden der Renaissance die Weltanschauung<br />

Leonardos - Descartes — Kants auf; und im selben<br />

Maße entstand auch das künstlerisch darstellende Äquivalent<br />

dieser Weltanschauung - die Zentral- oder Parallelperspektive.<br />

Die künstlerischen Symbole müssen bei ihr deshalb perspektivisch<br />

sein, weil sie eine Möglichkeit darstellt, alle Weltanschauungen<br />

zu vereinen, einer Welt die als einheitlich, unauflöslich<br />

und undurchdringlich vorgestellt wird, als ein euklid-kantisches<br />

System von Entsprechungen, das seinen Mittelpunkt im Ich des<br />

Betrachters der Welt hat. Jedoch derart, daß dieses Ich selbst untätig<br />

und spiegelartig ist, gleichsam irgendein künstlicher Brennpunkt<br />

der Welt.<br />

Mit anderen Worten: Die Perspektive ist ein Verfahren, welches mit<br />

Notwendigkeit aus einer Weltanschauung hervorgehen mußte, in welcher<br />

irgendeine Subjektivität als die wahre Grundlage einer halbrealen Vorstellung<br />

von den Dingen fungiert, der Realität selbst verlustig gegangen.<br />

Die Zentralperspektive ist Ausdruck des Monismus und des Unpersönlichen.<br />

Diese seit dem Ende des mittelalterlichen Realismus<br />

und Polyzentrismus bekannte Denkrichtung wird nunmehr<br />

als «Humanismus» und «Naturalismus» bezeichnet.<br />

XIX.<br />

Doch bleibt zu fragen, in welchem Maße es möglich sein kann,<br />

an der Stichhaltigkeit der oben genannten sechs Voraussetzungen<br />

der Perspektive zu zweifeln. Ist die perspektivische Darstellung<br />

— sei sie auch eine von vielen der abstrakt vorhandenen Verfahren,<br />

die Welt darzustellen, was ich nicht bestreite! — ist also die<br />

Linearperspektive der Sache nach wirklich die einzig Mögliche?<br />

Und stehen die vorgestellten Bedingungen auf dem Boden lebendiger<br />

Realität? Anders gefragt: entspricht dieses kantische<br />

Renaissancedenken einer lebendigen Wirklichkeit? Denn wenn<br />

sich erwiese, daß die Voraussetzungen der Perspektive innerhalb<br />

der wirklichen Erfahrungen verletzt würden, so wäre damit auch<br />

die Relevanz dieser Anschauungen widerlegt. Und so betrachten<br />

wir noch einmal — und Schritt um Schritt — jene sechs Voraussetzungen!<br />

Zum ersten muß im Hinblick auf die Frage nach dem Raum gesagt<br />

werden, daß sich drei durchaus nicht miteinander identische<br />

Schichten des Begriffs selbst unterscheiden lassen. Das sind der<br />

70


abstrakte Raum, der geometrische sowie der physiologische Raum, wobei<br />

sich letzterer noch weiter unterteilen läßt in einen Raum des<br />

Sehens, Riechens und Schmeckens, einen Raum des allgemeinen<br />

organischen Fühlens und in zahlreiche feinere Unterscheidungen.<br />

Von jedem dieser abgeteilten Räume, groben und unbedeutenden,<br />

kann man im allgemeinen höchst verschiedenartig denken.<br />

Die Annahme, daß eine ganze Serie außerordentlich schwieriger<br />

Fragen mit einem einfachen Verweis auf die geometrische<br />

Lehre von ähnlichen Körpern im dreidimensional euklidischen<br />

Raum — einfach fortgewischt werden kann, hieße, noch nicht einmal<br />

die Schwierigkeiten der gegebenen Probleme erkannt zu haben.<br />

Vor allem aber muß gesagt werden, daß auf die unterschiedlichen<br />

Punkte der Frage nach dem Raum, auch die Antworten<br />

überaus unterschiedlich ausfallen können. Abstrakt geometrisch<br />

gesehen, ist der euklidische Raum ein Fall unter überaus verschiedenen,<br />

vielfältigen Räumen. Räume, die mit den unerwartetsten<br />

Eigenschaften innerhalb der Elementaren Geometrie ausgestattet<br />

sind, aber vieles aufgrund ihrer unmittelbaren Beziehung<br />

zur Welt erklären können. Die Geometrie Euklids ist eine<br />

von zahllosen Geometrien und zu behaupten, daß der physische<br />

Raum, der Raum physikalischer Prozesse genau dem Raum<br />

Euklids entspricht - haben wir keinen Grund. Es handelt sich hierbei<br />

um ein bloßes Postulat, die Forderung, auf ein und dieselbe Weise<br />

von der Welt zu denken und alle anderen Vorstellungen mit dieser<br />

in Einklang zu bringen. Diese Forderung selbst entspringt<br />

einem im voraus verkündeten Glauben an eine physikalischmathematische<br />

Wirklichkeit mit ganz bestimmten Eigenschaften.<br />

Die da sind: das Prinzip der Kontinuität, der absoluten Zeit und<br />

der absolut festen Körper.<br />

Doch lassen wir einmal für einen Moment zu, daß die physische<br />

Wirklichkeit der Geometrie Euklids entspricht ... daraus folgt<br />

aber noch kein Wahrheitsmoment! Wie auch immer sie der unmittelbare<br />

Betrachter der Welt für beschaffen hält, wie der in ihr<br />

Lebende über die physische Welt denken mag und wie sehr er<br />

auch bestrebt sein mag, alle seine Vorstellungen bedingungslos<br />

diesen Ideen eines euklidischen Aufbaus der äußeren Welt anzupassen<br />

(wobei auch der physiologische Raum diesem Schema untergeordnet<br />

werden soll) - die oben genannten Räume gehen<br />

nicht in der Geometrie Euklids auf! Ganz zu schweigen von den<br />

Räumen des Riechens, Schmeckens, Hören, Fühlens oder dem<br />

71


Raum der Wärme, die alle nicht das Geringste mit dem Raum Euklids<br />

zu tun haben, so daß sich Untersuchungen diesbezüglich nicht<br />

einmal lohnen würden. Und schließlich darfauch nicht die Tatsache<br />

übergangen werden, daß sogar der sichtbare Raum, der doch<br />

am allerwenigsten vom Raum Euklids entfernt ist, bei aufmerksamer<br />

Betrachtung sich im hohen Maße von jenem unterscheidet.<br />

Und doch liegt er der Malerei und Graphik zugrunde, auch wenn<br />

er sich in einzelnen Fällen anderen Arten des physiologischen<br />

Raumes unterordnet, — und das Bild auf diese Weise zu einer<br />

visuellen Transposition nichtsichtbarer Wahrnehmungen wird.<br />

«Fragt man jetzt, was denn der physiologische Raum mit dem<br />

Raum der Geometrie gemeinsam hat, so finden sich äußerst wenige<br />

gemeinsame Züge.» schreibt Mach. Sowohl dieser als auch jener<br />

Raum ist dreidimensional. Einem jeden Punkt des geometrischen<br />

Raumes A, B, C, D entspricht ein Punkt A', B', C', D' des<br />

physischen Raumes. Wenn C zwischen B und D liegt, so befindet<br />

sich auch C' zwischen B' und D'. Man kann es auch so sagen: einer<br />

kontinuierlichen Bewegung irgendeines Punktes des geometrischen<br />

Raumes entspricht eine kontinuierliche Bewegung eines<br />

Punktes im physiologischen Raum. Daß diese Kontinuität - nehmen<br />

wir sie der Bequemlichkeit halber an — durchaus nicht unbedingt<br />

reell und unanfechtbar sein muß, weder in dem einen noch<br />

im anderen Raum, haben wir schon an anderer Stelle nachgewiesen.<br />

Wenn wir also auch annehmen würden, daß der physiologische<br />

Raum uns angeboren ist, so hat er doch zu wenig Ähnlichkeit<br />

mit dem geometrischen Raum, als daß man in ihm eine ausreichende<br />

Grundlage für eine (im Sinne Kants) a priori entwickelte<br />

Geometrie fände. Auf seiner Grundlage kann man — im allerbesten<br />

Falle - eine Topologie errichten.<br />

«Wenn diese Unähnlichkeit zwischen dem physiologischen<br />

und geometrischen Raum denjenigen nicht ins Auge springt, die<br />

sich nicht speziell mit solchen Fragen beschäftigen, wenn also der<br />

geometrische Raum ihnen nicht irgendwie ungeheuer erscheint,<br />

so erklärt sich dies bei näherer Betrachtung aus den Lebensbedingungen<br />

und der Entwicklung dieser Menschen.» Doch auch<br />

bei «allergrößter Annäherung des physiologischen Raumes an<br />

den Raum Euklids, unterscheidet sich ersterer nicht wenig vom<br />

letzteren. Die Unterschiede zwischen Rechts und Links, Hinten<br />

und Vorne überwindet der naive Mensch ohne Mühe, doch umso<br />

schwerer fällt ihm die Überwindung des Unterschiedes von Oben<br />

72


und Unten. Und dies infolge des Widerstandes, welcher in diesem<br />

Zusammenhang durch den Geotropismus zustande kommt.»<br />

In einem anderen Text zeichnet derselbe Autor einige Züge<br />

dieser Unterschiede: «Nicht nur einmal wurde aufgezeigt, in<br />

welch hohem Maße sich das System unserer räumlichen Empfindungen<br />

vom geometrischen Raum Euklids unterscheidet. Der<br />

geometrische Raum ist überall und in jeder Hinsicht gleichartig.<br />

Er ist unwandelbar und unendlich. Der Raum des Sehens aber<br />

wandelt sich und ist endlich. Ja er ist sogar, wie das die Wahrnehmung<br />

des plattgedrückten «Himmelsgewölbes» zeigt, ungleichmäßig<br />

hinsichtlicher all seiner Ausdehnungsrichtungen. Die<br />

Verkleinerung der Körper bei größerer Entfernung und die<br />

gleichzeitige Vergrößerung bei Annäherung, stellen den Raum<br />

des Sehens eher in die Nähe verschiedener Metageometrien, als<br />

in diejenige Euklids. Der Unterschied zwischen «Oben» und<br />

«Unten», «Vorne» und «Hinten» sowie — will man genau sein —<br />

zwischen «Rechts» und «Links» existiert genau wie für den fühlbaren<br />

Raum, so auch für den visuellen. Für den geometrischen<br />

Raum aber existieren diese Unterschiede nicht.» Der physiologische<br />

Raum ist ungleichartig und isotrop — dies zeigt sich an der<br />

unterschiedlichen Winkelwahrnehmung bei unterschiedlicher<br />

Entfernung zum Horizont, einer unterschiedlichen Wahrnehmung<br />

von Entfernungen - sowohl gegliedert als auch ungegliederten,<br />

der unterschiedlichen Genauigkeit der Wahrnehmung<br />

an verschiedenen Stellen der Netzhaut usw. usf.<br />

Und so muß und kann man daran zweifeln, daß unsere Welt<br />

dem euklidischen Raum entspricht. Und ist dieser Zweifel berechtigt,<br />

so scheint es wahrscheinlich, daß wir die Welt eines Kant<br />

oder Euklid weder sehen, noch sonstwie wahrnehmen können.<br />

Darüber hinaus ist es nicht Sache des Künstlers, Traktate zu<br />

schreiben, sondern Bilder zu malen, d. h. dasjenige darzustellen,<br />

was er tatsächlich sieht. Und er sieht entsprechend dem tatsächlichen<br />

Aufbau der Organe des Sehens durchaus keine kantische<br />

Welt und muß folglich eine Realität zeichnen, die keineswegs den<br />

Gesetzen der euklidischen Geometrie unterworfen ist.<br />

Zum Zweiten vermag kein einziger Mensch mit gesundem Verstand<br />

seinen Standpunkt als den einzig existierenden zu behaupten.<br />

Sondern er erkennt jeden Standpunkt an und vermag ihn zu<br />

würdigen, denn ein jeder Ort gewährt einen besonderen Aspekt<br />

der Welt. Wobei die anderen Aspekte nicht ausgeschlossen wer-<br />

73


den, sondern im Gegenteil hervorhebbar sind. Einige Standpunkte<br />

sind inhaltsvoller und charakteristischer als andere, jeder<br />

hinsichtlich seiner Verhältnisse, jedoch existiert keiner von ihnen<br />

als absolut. Folglich ist der Künstler bemüht, den darzustellenden<br />

Gegenstand von verschiedenen Standpunkten aus zu betrachten.<br />

Er bereichert seine Wahrnehmung mit neuen Aspekten der<br />

Wirklichkeit, indem er ihre mehr oder weniger unterschiedliche<br />

Bedeutung anerkennt.<br />

Zu Drittens: Indem der Künstler ein zweites Auge besitzt und<br />

damit sofort mindestens auch zwei Stand- oder Blickpunkte, besitzt<br />

er zugleich ein stetes Korrektiv seines Illusionismus. Denn<br />

das zweite Auge weist ihn stets daraufhin, daß die Linearperspektive<br />

eine Täuschung ist — und darüberhinaus eine mißglückte!<br />

Außerdem vermag der Künstler mit zwei Augen mehr zu sehen,<br />

als mit einem. Ja mehr als das: er sieht mit jedem Auge auf eine<br />

besondere Weise. So daß sich in seinem Bewußtsein das geschaute<br />

Bild summarisch zusammensetzt, ähnlich einem Feldstecher; auf<br />

jeden Fall existiert eine Art psychischer Synthese, wobei all das<br />

jedoch keinesfalls mit einem Monokel verglichen werden kann<br />

oder mit einer Photographie auf der Netzhaut. Weder die Anhänger<br />

der Helmholtzscheri Theorie des Sehens, noch die Verteidiger<br />

der Perspektive verwiesen je auf den geringfügigen Unterschied<br />

der beiden Bilder, die durch das eine und das andere Auge<br />

gegeben werden. Dieser Unterschied ist nach ihren Theorien gerade<br />

ausreichend, um die Sehtiefe herzustellen und ohne diesen<br />

gäbe es diese nach ihrer Meinung gar nicht. Und nicht zuletzt wird<br />

duch die faktische Leugnung des Unterschiedes zwischen den Bildern<br />

des rechten und linken Auges die Ursache beseitigt, aufgrund<br />

derer der Raum dreidimensional wahrgenommen wird.<br />

Übrigens ist dieser Unterschied keineswegs so gering, wie es<br />

dem ersten Anschein nach aussieht. Als Beispiel sei eine Berechnung<br />

vorgestellt: Nimmt man einen Ball mit einem Durchmesser<br />

von 20 cm und betrachtet ihn in einem Abstand von einem halben<br />

Meter, Abstand von 6 cm angenommen wird, so beträgt die Länge<br />

des Äquatorialbogens, welches das linke Auge wahrnimmt, etwa<br />

ein Drittel des Bogens mehr, welchen das rechte Auge sieht.<br />

Führt man den Ball noch näher heran, wird dieser Unterschied<br />

noch größer als ein Drittel. Diese Größenordnung, mit der man es<br />

unter gewöhnlichen Bedingungen des Sehens zu tun hat, z. B. bei<br />

der Betrachtung eines menschlichen Gesichts, können selbst bei<br />

74

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