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Drucksache 6/726 - Landtag Mecklenburg Vorpommern

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LANDTAG MECKLENBURG-VORPOMMERN <strong>Drucksache</strong> 6/<strong>726</strong><br />

6. Wahlperiode 09.05.2012<br />

GESETZENTWURF<br />

der Fraktion DIE LINKE<br />

Entwurf eines Gesetzes über die Vergabe öffentlicher Aufträge in <strong>Mecklenburg</strong>-<br />

<strong>Vorpommern</strong> (Auftragsvergabegesetz <strong>Mecklenburg</strong>-<strong>Vorpommern</strong> - AVG M-V)<br />

1. Problem<br />

In <strong>Mecklenburg</strong>-<strong>Vorpommern</strong> liegen die gezahlten Arbeitsentgelte weit unter dem Bundesdurchschnitt.<br />

<strong>Mecklenburg</strong>-<strong>Vorpommern</strong> ist Schlusslicht bei Nettolöhnen. Insbesondere im<br />

unteren Lohnbereich sind die Realeinkommen in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen.<br />

Die Löhne sind zum Teil so niedrig, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer<br />

ihre eigene und die Existenz ihrer Familie nicht aus eigener Kraft sichern können.<br />

Deshalb sind sie gezwungen, ergänzende Leistungen des Staates in Anspruch zu nehmen. Die<br />

Folgen für das Selbstwertgefühl der Betroffen und den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft<br />

sind gravierend. Aber auch die negativen Folgen für die Akzeptanz der Sozialordnung<br />

des Landes und die sozialen Sicherungssysteme sind erheblich.<br />

Die bisherige Ablehnung von Mindestlöhnen und Tariftreueregelungen wurde in <strong>Mecklenburg</strong>-<strong>Vorpommern</strong><br />

stets begründet mit dem Standortvorteil von niedrigen Löhnen, mit der<br />

Beibehaltung der Tarifautonomie. Stattdessen wurden die Arbeitgeber immer wieder aufgefordert,<br />

qualifizierte Arbeit auch mit angemessenen Löhnen zu entgelten. Zahlreiche Diskussionen<br />

im <strong>Landtag</strong> <strong>Mecklenburg</strong>-<strong>Vorpommern</strong> haben parteiübergreifend die Ablehnung<br />

sittenwidriger Löhne konstatiert, ohne jedoch einen Konsens darüber zu erzielen, was<br />

„sittenwidrig“ ist. Die Praxis zeigt, dass Appelle allein nicht zu positiven Veränderungen<br />

führen. Im Gegenteil, es ist zu verzeichnen, dass Wettbewerb im Wesentlichen auf einen<br />

Wettbewerb um die niedrigsten Löhne reduziert und damit auf dem Rücken der Beschäftigten<br />

geführt wird. Die Abwanderung junger gut ausgebildeter Frauen und Männer ist nicht zuletzt<br />

auch auf das niedrige Lohnniveau zurückzuführen.<br />

Die Vergabe öffentlicher Aufträge, deren Realisierung mit öffentlichen Mitteln ermöglicht<br />

wird, muss im öffentlichen Interesse so erfolgen, dass ruinöser Wettbewerb und Lohndumping<br />

bei den ausführenden Unternehmen, einschließlich der Subunternehmen, ausgeschlossen<br />

wird.


<strong>Drucksache</strong> 6/<strong>726</strong> <strong>Landtag</strong> <strong>Mecklenburg</strong>-<strong>Vorpommern</strong> - 6. Wahlperiode<br />

Die Einführung eines Mindestlohns für die Vergabe von öffentlichen Aufträgen erscheint<br />

geboten. Berechtigte Zweifel bestehen, dass ein von SPD und CDU geforderter Mindestlohn<br />

von 8,50 Euro das Problem der Armut im Alter trotz Arbeit zu lösen vermag. Seriöse Berechnungen<br />

zeigen, dass ein Bruttostundenlohn von mindestens 9,47 Euro nötig wäre, um nach<br />

40 Jahren Arbeit eine Altersrente zu beziehen, die über der Armutsgrenze liegt. Nach diesen<br />

Zahlen muss sich die Politik richten, um den Rentnerinnen und Rentnern nach dem Arbeitsleben<br />

einen würdigen Ruhestand zu gewährleisten und darüber hinaus nicht Grundlagen<br />

schafft, die nachfolgenden Generationen vor soziale und auch finanziell unlösbare Aufgaben<br />

stellt.<br />

Darüber hinaus hat die Praxis in anderen Bundesländern gezeigt, dass ein Vergabegesetz im<br />

Stande ist mehr zu leisten, als lediglich Regelungen für die öffentliche Auftragsvergabe in<br />

Bezug auf die Bezahlung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zu regulieren. Gleichzeitig<br />

können Sozialverträglichkeit, Umweltschutz, Energieeffizienz und Innovationsförderung<br />

positiv beeinflusst werden. Ein Vergabegesetz mit den entsprechenden Regelungen,<br />

Kontrollen und Sanktionsmöglichkeiten kann dazu nachgewiesenermaßen beitragen.<br />

Der vorgelegte Gesetzentwurf soll daher den <strong>Landtag</strong> in die Lage versetzen, seiner Verantwortung<br />

als Gesetzgeber und der Vorbildwirkung des Staates gerecht zu werden sowie die<br />

Möglichkeit wahrzunehmen, sich der positiven Entwicklung in anderen Bundesländern anzuschließen.<br />

Zudem sollte die öffentliche Auftragsvergabe dazu dienen, sich zu einem nachhaltigen<br />

Umgang mit unseren natürlichen Lebensgrundlagen zu bekennen.<br />

2. Lösung<br />

Der <strong>Landtag</strong> verabschiedet ein Auftragsvergabegesetz, in dem als Voraussetzung zur Auftragserteilung<br />

die Einhaltung von Mindestarbeitsnormen, von Tarifverträgen - mindestens<br />

aber ein Arbeitsentgelt von 10,00 Euro pro Stunde - verlangt wird und in dem soziale und<br />

umweltbezogene Kriterien angemessen berücksichtigt werden.<br />

Nachweispflichten über die Einhaltung der Verpflichtungen, Kontroll- und Sanktionsmöglichkeiten<br />

werden festgelegt. Die Landesregierung erhält die Ermächtigung, alles Nähere<br />

durch Verordnung zu regeln.<br />

3. Alternativen<br />

Keine.<br />

2


<strong>Landtag</strong> <strong>Mecklenburg</strong>-<strong>Vorpommern</strong> - 6. Wahlperiode <strong>Drucksache</strong> 6/<strong>726</strong><br />

4. Kosten<br />

Das vorgelegte Gesetz über die Vergabe öffentlicher Aufträge im Land <strong>Mecklenburg</strong>-<br />

<strong>Vorpommern</strong> führt nicht unmittelbar in einem Automatismus zu höheren Kosten. Welchem<br />

Gewicht die Lohnkosten in einem komplexen Vertragsgefüge zukommen, kann nur im<br />

Einzelfall beurteilt werden. Der Anteil von Lohn-, Material- und Nebenkosten ist abhängig<br />

von der jeweiligen Auftragsaufgabe und individuellen Faktoren. Ein Automatismus zwischen<br />

der Anwendung der gesetzlich vorgesehenen Anforderungen und einer erhöhten Gesamtangebotssumme<br />

lässt sich daher nicht feststellen.<br />

Dennoch sind insbesondere durch die Einführung einer Lohnuntergrenze bei öffentlichen<br />

Aufträgen höhere Kosten bei der Auftragsvergabe zu erwarten. Auch ein scheinbar zusätzlicher<br />

Verwaltungsaufwand durch den Vollzug des Gesetzes (Überprüfung der festgelegten<br />

Standards) kann entstehen. Jedoch entlasten höhere Löhne die sozialen Sicherungssysteme<br />

sowie erhalten und schaffen sozialabgabe- und steuerpflichtige Arbeitsplätze. Unter<br />

Abwägung aller Umstände und bei volkswirtschaftlicher Betrachtung ist der Mehraufwand für<br />

den öffentlichen Auftraggeber verhältnismäßig und verantwortbar.<br />

3


<strong>Drucksache</strong> 6/<strong>726</strong> <strong>Landtag</strong> <strong>Mecklenburg</strong>-<strong>Vorpommern</strong> - 6. Wahlperiode<br />

ENTWURF<br />

eines Gesetzes zur Vergabe öffentlicher Aufträge in <strong>Mecklenburg</strong>-<strong>Vorpommern</strong><br />

(Auftragsvergabegesetz <strong>Mecklenburg</strong>-<strong>Vorpommern</strong> - AVG M-V)<br />

Der <strong>Landtag</strong> hat das folgende Gesetz beschlossen:<br />

4<br />

§ 1<br />

Zweck des Gesetzes<br />

Das Gesetz regelt die Vergabe öffentlicher Aufträge. Es wirkt Wettbewerbsverzerrungen entgegen,<br />

die durch den Einsatz von Niedriglohnkräften entstehen, verbessert die Einkommenssituation<br />

der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und mildert Belastungen für die sozialen<br />

Sicherungssysteme und trägt zu einem fairen Wettbewerb bei. Gleichzeitig werden Aspekte,<br />

wie Sozialverträglichkeit, Umweltschutz und Energieeffizienz sowie Qualität und Innovation<br />

der Angebote gefördert.<br />

§ 2<br />

Anwendungsbereich<br />

(1) Auftraggeberinnen und Auftraggeber im Sinne dieses Gesetzes sind das Land und dessen<br />

Gebietskörperschaften einschließlich der jeweiligen Sondervermögen, sowie sonstige Körperschaften,<br />

Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts, für die das Haushaltswirtschaftsrecht<br />

des Landes oder der Gemeinden Anwendung findet. Dieses Gesetz findet keine Anwendung<br />

auf Dienststellen des Landes, soweit sie Baumaßnahmen des Bundes durchführen.<br />

(2) Dieses Gesetz enthält Vorschriften für die Vergabe öffentlicher Aufträge für Bau-, Liefer-<br />

und Dienstleistungen im Sinne von § 99 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen<br />

vom 15. Juli 2005 (BGBl. I. S. 2114) in der jeweils gültigen Fassung und ist ergänzend zu den<br />

bundesgesetzlichen und tarifvertraglichen Bestimmungen anzuwenden. Die Vorschriften über<br />

die Vergabe öffentlicher Aufträge, insbesondere der Verdingungsordnung für Leistungen<br />

(VOL), der Vergabe- und Vertragsordnung für Bauleistungen (VOB) und der Verdingungsordnung<br />

für freiberufliche Leistungen (VOF) sind in der jeweils gültigen Fassung anzuwenden,<br />

soweit dieses Gesetz nicht etwas anderes bestimmt.<br />

(3) Öffentliche Aufträge werden an fachkundige, leistungsfähige, zuverlässige und gesetzestreue<br />

Unternehmen vergeben. Bei der Vergabe öffentlicher Aufträge sind Leistungen, soweit<br />

es die wirtschaftlichen und technischen Voraussetzungen zulassen, nach Art und Menge so in<br />

Lose zu zerlegen, dass sich Unternehmen der mittelständischen Wirtschaft mit Angeboten<br />

beteiligen können. Generalunternehmervergaben stellen die Ausnahme dar und bedürfen einer<br />

gesonderten Begründung.


<strong>Landtag</strong> <strong>Mecklenburg</strong>-<strong>Vorpommern</strong> - 6. Wahlperiode <strong>Drucksache</strong> 6/<strong>726</strong><br />

(4) Dieses Gesetz gilt für Aufträge ab einem Auftragswert von 10.000 Euro ohne Umsatzsteuer.<br />

(5) Bei Vorhaben öffentlich privater Partnerschaften (ÖPP) sind die Vorschriften dieses<br />

Gesetzes entsprechend anzuwenden.<br />

§ 3<br />

Tariftreue und Mindestentlohnung<br />

(1) Aufträge für Leistungen, deren Erbringung dem Geltungsbereich des Arbeitnehmer-<br />

Entsendegesetzes vom 20. April 2009 (BGBl. I S. 799) unterfällt, werden nur an Unternehmen<br />

vergeben, die sich bei der Angebotsabgabe schriftlich verpflichten, ihren Arbeitnehmerinnen<br />

und Arbeitnehmern bei der Ausführung mindestens diejenigen Arbeitsbedingungen<br />

einschließlich des Entgeltes zu gewähren, die der nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz<br />

einzuhaltende Tarifvertrag vorgibt. Dies muss Bestandteil des Angebotes sein.<br />

Satz 1 gilt entsprechend für andere gesetzliche Bestimmungen über Mindestentgelte.<br />

(2) Bei der Vergabe von Leistungen über straßen- und schienengebundene öffentliche<br />

Personennahverkehrsdienste müssen die bietenden Unternehmen erklären, dass sie ihre<br />

Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bei der Ausführung der Leistungen mindestens nach<br />

den für die Branche einschlägigen und mit einer tariffähigen Gewerkschaft ausgehandelten<br />

repräsentativen Tarifverträgen entlohnen. Der öffentliche Auftraggeber bestimmt in der<br />

Bekanntmachung der Ausschreibung und in den Vergabeunterlagen den oder die einschlägigen<br />

Tarifverträge nach Satz 1. Außerdem sind insbesondere die Regelungen der<br />

Verordnung (EG) Nr. 1370/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom<br />

23. Oktober 2007 über öffentliche Personenverkehrsdienste auf Schiene und Straße zu<br />

beachten.<br />

(3) Unbeschadet etwaiger weitergehender Anforderungen nach den Absätzen 1 und 2 werden<br />

Aufträge an Unternehmen in jedem Fall nur vergeben, wenn diese sich bei der Angebotsabgabe<br />

schriftlich verpflichten, ihren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern (ohne Auszubildende)<br />

bei der Ausführung der Leistung mindestens ein Stundenentgelt von 10,00 Euro zu<br />

bezahlen. Bei Lieferleistungen gilt dies auch für die mit der Anlieferung zusammenhängenden<br />

Leistungen, wie Transport, Be- und Entladung, Aufstellung, Montage und Einweisung in die<br />

Benutzung. Die Landesregierung wird ermächtigt, durch Rechtsverordnung eine Erhöhung<br />

des nach § 3 Absatz 3 zu zahlenden Mindestentgelts vorzunehmen, soweit es wegen veränderter<br />

wirtschaftlicher und sozialer Verhältnisse notwendig ist.<br />

(4) Bei der Vergabe länderübergreifender Leistungen ist von der Vergabestelle vor Beginn<br />

des Vergabeverfahrens eine Einigung mit den beteiligten weiteren Vergabestellen anderer<br />

Länder über Anforderungen nach den Absätzen 2 und 3 anzustreben. Kommt eine solche<br />

Einigung nicht zustande, gelten die Vergaberichtlinien des Landes, in dem der größte Teil des<br />

Auftragsvolumens erbracht wird.<br />

5


<strong>Drucksache</strong> 6/<strong>726</strong> <strong>Landtag</strong> <strong>Mecklenburg</strong>-<strong>Vorpommern</strong> - 6. Wahlperiode<br />

(5) Der öffentliche Auftraggeber verpflichtet die Bieter bei Abgabe des Angebots anzugeben,<br />

welche Leistungen an Nachunternehmen vergeben werden sollen. Der Bieter muss sich<br />

jeweils auch verpflichten, von einem von ihm beauftragten Nachunternehmen oder von einem<br />

von ihm oder einem Nachunternehmen beauftragten Verleiher zu verlangen, seinen Arbeitnehmerinnen<br />

und Arbeitnehmern mindestens die Arbeits- und Entgeltbedingungen zu<br />

gewähren, die der Bieter selbst einzuhalten verspricht. Dies umfasst auch die Verpflichtung,<br />

dass Leiharbeitnehmerinnen und Leiharbeitnehmer im Sinne des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes<br />

in der Fassung der Bekanntmachung vom 3. Februar 1995 (BGBl. I S. 158) in der<br />

jeweils geltenden Fassung bei der Ausführung der Leistung für die gleiche Tätigkeit ebenso<br />

entlohnt werden wie die Stammbelegschaft. Diese Verpflichtung erstreckt sich auf alle an der<br />

Auftragserfüllung beteiligten Unternehmen. Der jeweils einen Auftrag weiter Vergebende hat<br />

die jeweilige schriftliche Übertragung der Verpflichtung und ihre Einhaltung durch die<br />

jeweils beteiligten Nachunternehmer oder Verleiher sicherzustellen und dem öffentlichen<br />

Auftraggeber auf Verlangen nachzuweisen.<br />

(6) Erfüllt die Vergabe eines öffentlichen Auftrages die Voraussetzungen mehr als nur einer<br />

der Regelungen aus den Absätzen 1 bis 6, so ist für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer<br />

die jeweils günstigste Regelung maßgeblich.<br />

6<br />

§ 4<br />

Wertung unangemessen niedriger Angebote<br />

(1) Erscheint ein Angebot, auf das der Zuschlag erteilt werden könnte, im Hinblick auf die<br />

Lohnkalkulation unangemessen niedrig, so hat der öffentliche Auftraggeber das Angebot<br />

vertieft zu prüfen. Dies gilt unabhängig von der nach Teil A der Vergabe- und Vertragsordnung<br />

für Bauleistungen und Teil A der Verdingungsordnung für Leistungen vorgegebenen<br />

Prüfung unangemessen niedrig erscheinender Angebote.<br />

(2) Eine vertiefte Prüfung ist durchzuführen, wenn die Lohnkalkulation der rechnerisch<br />

geprüften Angebotssumme um mindestens 20 Prozent unter der Kostenschätzung des Auftraggebers<br />

liegt oder um mehr als 10 Prozent von der des nächst höheren Angebotes abweicht.<br />

Der Bieter ist im Fall einer vertieften Prüfung verpflichtet, seine Urkalkulation im Hinblick<br />

auf die Entgelte, einschließlich der Überstundenzuschläge, vorzulegen.<br />

(3) Kommt der Bieter der Verpflichtung nach Absatz 2 nicht nach oder kann er die begründeten<br />

Zweifel des öffentlichen Auftraggebers an seiner Absicht, die Verpflichtungen nach § 3,<br />

Absätze 1 bis 7 zu erfüllen, nicht beseitigen, so wird sein Angebot ausgeschlossen.<br />

§ 5<br />

Nachweise<br />

(1) Der Bieter hat mit dem Angebot eine Erklärung über die Gewährung von Mindestarbeitsbedingungen<br />

nach § 3 Absatz 1, eine Tariftreueerklärung nach § 3 Absatz 2 oder eine<br />

Erklärung über die Zahlung des Mindestlohnes nach § 3 Absatz 3 abzugeben. Kommt er<br />

dieser Pflicht trotz Aufforderung nicht nach, wird das Angebot von der Wertung ausgeschlossen.<br />

Ein Angebot wird auch dann von der Wertung ausgeschlossen, wenn der Bieter<br />

trotz Aufforderung eine Erklärung über die Verpflichtung seiner Nachunternehmer nach § 3,<br />

Absätze 1 bis 3 nicht abgibt.


<strong>Landtag</strong> <strong>Mecklenburg</strong>-<strong>Vorpommern</strong> - 6. Wahlperiode <strong>Drucksache</strong> 6/<strong>726</strong><br />

(2) Dem Angebot für eine Bauleistung muss eine aktuelle Unbedenklichkeitsbescheinigung<br />

der Sozialkasse, der er kraft Tarifbindung angehört, beigefügt werden. Die Bescheinigung<br />

enthält mindestens die Zahl der zurzeit gemeldeten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und<br />

gibt Auskunft darüber, ob den Zahlungsverpflichtungen nachgekommen wurde. Ausländische<br />

Unternehmen haben einen vergleichbaren Nachweis zu erbringen. Bei fremdsprachigen<br />

Bescheinigungen ist eine Übersetzung in deutscher Sprache beizufügen. Kommt der Bieter<br />

dieser Aufforderung nicht nach, wird das Angebot von der Wertung ausgeschlossen.<br />

(3) Soll die Ausführung eines Teils der Leistung einem Nachunternehmer übertragen werden,<br />

so wird das Angebot von der Wertung ausgeschlossen, wenn der Bieter nach Aufforderung<br />

und vor der Auftragserteilung keine auf den Nachunternehmer lautenden Nachweise und<br />

Erklärungen nach den Absätzen 1 und 2 vorlegt.<br />

(4) Die in der einschlägigen Vergabe- und Vertrags- oder Verdingungsordnung genannten<br />

Nachweispflichten bleiben von den Absätzen 1 bis 3 unberührt.<br />

(5) Auch in dem Fall, dass ein Bieter im Kalenderjahr einem öffentlichen Auftraggeber<br />

bereits den Nachweis nach Absatz 2 oder andere Eignungsnachweise nach Teil A der<br />

Vergabe- und Vertragsordnung für Bauleistungen oder nach Teil A der Verdingungsordnung<br />

für Leistungen vorgelegt hat, fordert derselbe öffentliche Auftraggeber von dem Bieter die<br />

Eignungsnachweise noch einmal an. Satz 1 gilt für Nachunternehmer entsprechend.<br />

§ 6<br />

Berücksichtigung sozialer und weiterer Kriterien<br />

(1) Für die Auftragsausführung können zusätzliche Anforderungen an Auftragnehmer gestellt<br />

werden, die insbesondere soziale, umweltbezogene und innovative Aspekte betreffen, wenn<br />

sie im sachlichen Zusammenhang mit dem Auftragsgegenstand stehen und sich aus der<br />

Leistungsbeschreibung ergeben. Bei der Vergabe öffentlicher Aufträge über Lieferleistungen<br />

können diese Anforderungen an den Herstellungsprozess gestellt werden.<br />

(2) Bei der Vergabe von Leistungen ist sicherzustellen, dass keine Waren Gegenstand der<br />

Leistung sind, die unter Missachtung der in den Kernarbeitsnormen der Internationalen<br />

Arbeitsorganisation (ILO) festgelegten Mindeststandards gewonnen oder hergestellt worden<br />

sind.<br />

Diese Mindeststandards ergeben sich aus:<br />

1. dem Übereinkommen Nr. 29 über Zwangs- oder Pflichtarbeit vom 28. Juni 1930<br />

(BGBl. 1956 II S. 641),<br />

2. dem Übereinkommen Nr. 87 über die Vereinigungsfreiheit und den Schutz des<br />

Vereinigungsrechtes vom 9. Juli 1948 (BGBl. 1956 II S. 2073),<br />

3. dem Übereinkommen Nr. 98 über die Anwendung der Grundsätze des Vereinigungsrechtes<br />

und des Rechtes zu Kollektivverhandlungen vom 1. Juli 1949 (BGBl. 1955 II S. 1123),<br />

4. dem Übereinkommen Nr. 100 über die Gleichheit des Entgelts männlicher und weiblicher<br />

Arbeitskräfte für gleichwertige Arbeit vom 29. Juni 1951 (BGBl. 1956 II S. 24),<br />

5. dem Übereinkommen Nr. 105 über die Abschaffung der Zwangsarbeit vom 25. Juni 1957<br />

(BGBl. 1959 II S. 442),<br />

7


<strong>Drucksache</strong> 6/<strong>726</strong> <strong>Landtag</strong> <strong>Mecklenburg</strong>-<strong>Vorpommern</strong> - 6. Wahlperiode<br />

6. dem Übereinkommen Nr. 111 über die Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf vom<br />

25. Juni 1958 (BGBl. 1961 II S. 98),<br />

7. dem Übereinkommen Nr. 138 über das Mindestalter für die Zulassung zur Beschäftigung<br />

vom 26. Juni 1973 (BGBl. 1976 II S. 202),<br />

8. dem Übereinkommen Nr. 182 über das Verbot und unverzügliche Maßnahmen zur Beseitigung<br />

der schlimmsten Formen der Kinderarbeit vom 17. Juni 1999 (BGBl. 2001 II<br />

S. 1291).<br />

Die Landesregierung bestimmt durch Rechtsverordnung den Mindestinhalt der vertraglichen<br />

Regelungen nach Satz 1, insbesondere die Einbeziehung von Produktgruppen oder Herstellungsverfahren.<br />

Die Rechtsverordnung trifft Vorgaben zu Zertifizierungen und Nachweisen.<br />

(3) Bei der Vergabe öffentlicher Aufträge über Bau- und Dienstleistungen erhält bei wirtschaftlich<br />

gleichwertigen Angeboten derjenige Bieter den Zuschlag, der die Pflicht zur<br />

Beschäftigung schwerbehinderter Menschen nach § 71 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch<br />

erfüllt sowie Ausbildungsplätze bereitstellt, sich an tariflichen Umlageverfahren zur Sicherung<br />

der beruflichen Erstausbildung oder an Ausbildungsverbünden beteiligt. Gleiches gilt für<br />

Bieter, die die Chancengleichheit von Frauen und Männern im Beruf fördern.<br />

(4) Werden von ausländischen Bietern Angebote abgegeben, findet ihnen gegenüber eine<br />

Bevorzugung nach Absatz 3 nicht statt.<br />

8<br />

§ 7<br />

Frauenförderung<br />

(1) Bei der Vergabe öffentlicher Aufträge ist der Förderung von Frauen, insbesondere in<br />

Bezug auf die Erhöhung der Beschäftigungsquote und der Förderung der Vereinbarkeit von<br />

Beruf und Familie besonders Rechnung zu tragen.<br />

(2) Für Unternehmen mit mehr als 20 Beschäftigten, ausschließlich der Auszubildenden, und<br />

einem geschätztem Auftragswert ohne Umsatzsteuer für Dienst- und Lieferleistungen von<br />

50.000 Euro und für Bauleistungen von 150.000 Euro ist ein Frauenförderplan, dessen Inhalt<br />

sich mindestens nach § 3 des Gleichstellungsgesetzes des Landes <strong>Mecklenburg</strong>-<strong>Vorpommern</strong><br />

(GlG M-V) vom 27. Juli 1998 (Gesetz- und Verordnungsblatt <strong>Mecklenburg</strong>-<strong>Vorpommern</strong><br />

S. 697, in der jeweils gültigen Fassung nachzuweisen.<br />

§ 8<br />

Umweltverträgliche Beschaffung<br />

(1) Auftraggeber sind verpflichtet, bei der Vergabe von Aufträgen ökologische Kriterien zu<br />

berücksichtigen. Bei der Festlegung der Leistungsanforderungen soll umweltfreundlichen und<br />

energieeffizienten Produkten, Materialien und Verfahren der Vorzug gegeben werden. Auftraggeber<br />

haben im Rahmen von Liefer-, Bau- und Dienstleistungsaufträgen dafür Sorge zu<br />

tragen, dass bei der Herstellung, Verwendung und Entsorgung von Gütern sowie durch die<br />

Ausführung der Leistung negative Umweltauswirkungen möglichst vermieden werden. Dies<br />

umfasst das Recht und die Pflicht, bei der Bedarfsermittlung, der Leistungsbeschreibung und<br />

der Zuschlagserteilung Anforderungen im Sinne der Sätze 1 bis 3 aufzustellen und angemessen<br />

zu berücksichtigen sowie für die Auftragsausführung ergänzende Verpflichtungen<br />

auszusprechen.


<strong>Landtag</strong> <strong>Mecklenburg</strong>-<strong>Vorpommern</strong> - 6. Wahlperiode <strong>Drucksache</strong> 6/<strong>726</strong><br />

(2) Bei der Wertung der Wirtschaftlichkeit der Angebote im Sinne von § 97 Absatz 5 des<br />

Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen sind auch die vollständigen Lebenszykluskosten<br />

des Produktes oder der Dienstleistung zu berücksichtigen.<br />

(3) Die Landesregierung wird nach Vorlage durch das Ministerium für Landwirtschaft,<br />

Umwelt und Verbraucherschutz ermächtigt, die Anforderungen nach den Absätzen 1 und 2<br />

durch Verwaltungsvorschriften für Liefer-, Bau- und Dienstleistungsaufträge zu konkretisieren<br />

und verbindliche Regeln aufzustellen, auf welche Weise die Anforderungen im<br />

Rahmen der Leistungsbeschreibung, der Zuschlagserteilung und der ergänzenden Verpflichtungen<br />

zur Ausführung zu berücksichtigen sind. Durch Verwaltungsvorschrift soll auch<br />

bestimmt werden, in welcher Weise die vollständigen Lebenszykluskosten eines Produktes<br />

oder einer Dienstleistung im Sinne von Absatz 2 zu ermitteln sind. Die Verwaltungsvorschriften<br />

sollen spätestens nach fünf Jahren fortgeschrieben werden.<br />

§ 9<br />

Kontrollen<br />

(1) Die öffentlichen Auftraggeberinnen und Auftraggeber sind verpflichtet, die Einhaltung der<br />

im § 3 Absätze 1 bis 3 sowie den §§ 6 bis 8 vorgesehenen Auflagen und Pflichten zu überprüfen.<br />

Die Überprüfung erfolgt als Bestandteil der Prüfung der Richtigkeit einer vom Auftragnehmer<br />

gestellten Rechnung und durch eine ausreichende Zahl von Stichproben. Zu<br />

diesem Zweck sind Nachweispflichten des Auftragnehmers und für den Auftraggeber<br />

Betretungsrechte für betriebliche Grundstücke und Räume des Auftragnehmers sowie das<br />

Recht zur Befragung von Beschäftigten des Auftragnehmers zu vereinbaren, soweit sie für die<br />

Durchführung von Kontrollen erforderlich sind.<br />

(2) Die kontrollierenden Personen dürfen Einblick in die Entgeltabrechnungen der ausführenden<br />

Unternehmen, in die Unterlagen über die Abführung von Steuern und Beiträgen an in-<br />

und ausländische Sozialversicherungsträger, in die Unterlagen über die Abführung von<br />

Beiträgen an in- und ausländische Sozialkassen des Baugewerbes und in die zwischen den<br />

ausführenden Unternehmen abgeschlossenen Verträge nehmen. Die ausführenden Unternehmen<br />

haben ihre Beschäftigten auf die Möglichkeit hinzuweisen und ihre Zustimmung einzuholen.<br />

(3) Die ausführenden Unternehmen haben vollständige und prüffähige Unterlagen zur<br />

Prüfung nach den Absätzen 1 und 2 bereitzuhalten und auf Verlangen dem öffentlichen Auftraggeber<br />

vorzulegen.<br />

(4) Die Durchführung dieses Gesetzes wird durch eine mit dem notwendigen Personal und<br />

den erforderlichen Befugnissen ausgestattete Kontrolleinrichtung überwacht. Das für Wettbewerbsrecht<br />

zuständige Ministerium bestimmt durch Verordnung, welche Einrichtung des<br />

Landes diese Kontrollfunktion wahrnimmt.<br />

(5) Die Landesregierung legt jeweils zum 30. April jeden zweiten Jahres einen Bericht über<br />

die Umsetzung des Gesetzes vor. Dieser Bericht wird veröffentlicht.<br />

9


<strong>Drucksache</strong> 6/<strong>726</strong> <strong>Landtag</strong> <strong>Mecklenburg</strong>-<strong>Vorpommern</strong> - 6. Wahlperiode<br />

10<br />

§ 10<br />

Sanktionen<br />

(1) Zur Sicherung der Einhaltung der Verpflichtungen nach §§ 3, 6, und 8 haben die Unternehmen<br />

für jeden schuldhaften Verstoß eine Vertragsstrafe in Höhe von einem Prozent, bei<br />

Mehrfachverstößen bis zur Höhe von fünf Prozent der Auftragssumme zu zahlen. Der Auftragnehmer<br />

ist zur Zahlung der Vertragsstrafe auch für den Fall verpflichtet, dass der Verstoß<br />

durch einen von ihm eingesetzten Nachunternehmer oder einen von diesem eingesetzten<br />

Nachunternehmer begangen wird.<br />

(2) Die Nichterfüllung der in §§ 3, 6, 7 und 8 genannten Anforderungen durch den Auftragnehmer<br />

oder seine Nachunternehmer berechtigen den öffentlichen Auftraggeber oder den<br />

Aufgabenträger zur fristlosen Kündigung.<br />

(3) Verstößt ein Auftragnehmer nachweislich mindestens grob fahrlässig oder mehrfach<br />

gegen Verpflichtungen aus diesem Gesetz, wird er für die Dauer von bis zu drei Jahren von<br />

der Vergabe öffentlicher Aufträge ausgeschlossen. Wird der Verstoß nach Satz 1 durch ein<br />

beteiligtes Nachunternehmen bewirkt, so kann der Ausschluss auch gegen den Auftragnehmer<br />

ausgesprochen werden. Das betreffende Nachunternehmen wird auf jeden Fall ausgeschlossen.<br />

§ 11<br />

Inkrafttreten<br />

Dieses Gesetz tritt am Tag nach seiner Verkündung in Kraft. Es gilt für alle Vergabeverfahren,<br />

die ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens begonnen werden. Gleichzeitig tritt das<br />

Vergabegesetz <strong>Mecklenburg</strong>-<strong>Vorpommern</strong> in der Fassung der Bekanntmachung vom<br />

7. Juli 2011 (GVOBl. M-V 2011, S. 411) außer Kraft.<br />

Helmut Holter und Fraktion


<strong>Landtag</strong> <strong>Mecklenburg</strong>-<strong>Vorpommern</strong> - 6. Wahlperiode <strong>Drucksache</strong> 6/<strong>726</strong><br />

Begründung:<br />

I. Allgemein<br />

<strong>Mecklenburg</strong>-<strong>Vorpommern</strong> gilt als Billiglohnland. Das ist schädlich für das Landesimage und<br />

wird zunehmend zum Hemmfaktor für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes. Fachkräfte<br />

bleiben und können nur gewonnen werden, wenn für gute Arbeit auch gut bezahlt wird.<br />

Einen flächendeckenden einheitlichen Mindestlohn gibt es in Deutschland noch nicht. Deshalb<br />

steht die öffentliche Hand in besonderer Verantwortung, Vorbild bei der Auftragsvergabe<br />

zu sein. Armutssichere Renten verlangen einen deutlich höheren Mindestlohn als die<br />

von SPD und CDU im Koalitionsvertrag festgeschriebenen Stundensatz von 8,50 Euro. Deshalb<br />

wird ein auf 10 Euro ausgerichteter Mindestsatz vorgegeben, wenn keine oder nicht höhere<br />

tarifliche Vereinbarungen greifen.<br />

II. Zu den einzelnen Bestimmungen<br />

Zu § 1<br />

§ 1 erläutert den Zweck des Gesetzes.<br />

Zu § 2<br />

Abs. 1 definiert die diesem Gesetz unterworfenen Vergabestellen.<br />

Abs. 2 stellt den Bezug zu bundesgesetzlichen Regelungen und Vorschriften her.<br />

Abs. 3 bestimmt die grundsätzlichen Voraussetzungen, nach denen sich Unternehmen um<br />

öffentliche Aufträge bei in § 2 Absatz 1 beschriebenen Vergabestellen bewerben können.<br />

Abs. 4 bestimmt den Auftragswert, ab dem dieses Gesetz anzuwenden ist.<br />

Abs. 5 regelt, dass auch bei ÖPP-Vorhaben nach den Grundsätzen dieses Gesetzes verfahren<br />

wird. Die Aufnahme in das Vergabegesetz soll klarstellen, dass bei Bildung einer<br />

Projektgesellschaft zwischen öffentlichem Auftraggeber und privatem Beteiligten die im<br />

Gesetz genannten Mindeststandards einzuhalten sind.<br />

11


<strong>Drucksache</strong> 6/<strong>726</strong> <strong>Landtag</strong> <strong>Mecklenburg</strong>-<strong>Vorpommern</strong> - 6. Wahlperiode<br />

Zu § 3<br />

Abs. 1 regelt die Pflicht der Unternehmen, eine ausdrückliche Erklärung zur Einhaltung des<br />

Arbeitnehmerentsendegesetzes abzugeben, an die sich die in §10 geregelten Sanktionen<br />

knüpfen.<br />

Die in Abs. 2 getroffene Vorgabe von Sozialstandards - Bezahlung nach den von der<br />

Vergabestelle vorzugebenden Tarifen - in Ausschreibungen von Leistungen des öffentlichen<br />

Personennahverkehrs (ÖPNV) verstößt weder gegen die Dienstleistungsfreiheit gemäß Art.<br />

49, 50 EGV noch gegen die Niederlassungsfreiheit gemäß Art. 43 EGV. Aufgrund der<br />

Sonderregel des Art. 51 Abs. 1 EGV und des sekundärrechtlich im Sektor ÖPNV zulässigen<br />

Erfordernisses einer Niederlassung im Aufnahmemitgliedstaat sind die Rechtsausführungen<br />

des EuGH in der Sache „Rüffert“ nicht auf den Sektor Verkehr übertragbar. Daher gilt weder<br />

die Dienstleistungsfreiheit gem. Art. 49, 50 EGV noch die Entsenderichtlinie 96/71/EG.<br />

Tariftreueklauseln für den ÖPNV stehen mit den Grundfreiheiten des EGV im Einklang.<br />

Zunächst findet gemäß Art. 51 EGV das Recht des freien Dienstleistungsverkehrs gemäß<br />

Art. 49, 50 EGV auf Verkehrsleistungen keine unmittelbare Anwendung, sondern ist im<br />

Rahmen der gemeinsamen Verkehrspolitik auf der Grundlage des Verkehrstitels gemäß Art.<br />

70 ff. EGV zu gewährleisten. Auf der Grundlage des Verkehrstitels wurde für den Bereich des<br />

Güterverkehrs eine weitgehende Liberalisierung erreicht. Die Personenbeförderung unterliegt<br />

demgegenüber noch weitreichenden Beschränkungen, insbesondere im Bereich der<br />

„Kabotagebeförderung“, also der rein innerstaatlichen Beförderung ohne Zusammenhang mit<br />

grenzüberschreitenden Verkehrsdiensten.<br />

Abs. 3 legt für alle Vergabefälle eine Mindestentlohnung fest. Dabei erfüllt die Erstreckung<br />

auf alle beteiligten Unternehmen mit Sitz im In- und Ausland zugleich eine Vorgabe europäischen<br />

Sekundärrechts. Die Verpflichtung, den bei der Erfüllung öffentlicher Aufträge eingesetzten<br />

Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern mindestens einen Stundenlohn von<br />

10,00 Euro zu zahlen, findet ihre Begründung darin, dass nur so eine existenzsichernde<br />

Bezahlung der Arbeitskräfte gewährleistet ist und der Staat nicht durch ansonsten<br />

erforderliche ergänzende Zahlungen an die Arbeitskräfte indirekt die Unternehmen, die<br />

Niedriglöhne zahlen, subventioniert.<br />

Außerdem wird dadurch ein auf dem Rücken niedrig qualifizierter Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen<br />

ausgetragener Niedriglohnwettbewerb verhindert. Darüber hinaus stärkt eine<br />

Mindestentlohnungsvorgabe im Vergabebereich auch das Lohnniveau im Bereich niedrigqualifizierter<br />

Arbeit insgesamt, ohne dabei direkt in die Autonomie der Arbeitsvertrags- und<br />

Tarifparteien einzugreifen.<br />

Schließlich trägt die Mindestentlohnung zur Erhaltung sozialer Mindeststandards bei und<br />

damit auch zur Entlastung der bei hoher Arbeitslosigkeit oder bei niedrigen Löhnen verstärkt<br />

in Anspruch genommenen Systeme der sozialen Sicherheit.<br />

Abs. 4 stellt klar, dass das Gesetz nur Vergabestellen im Land <strong>Mecklenburg</strong>-<strong>Vorpommern</strong> für<br />

ihren Zuständigkeitsbereich ermächtigen und verpflichten kann, die Sozialstandards der<br />

Absätze 2 und 3 als Vergabekriterien vorzugeben. Die Vergabestellen können aber auch bei<br />

einer gemeinsamen Vergabe mehrerer Länder die Regelungen der Absätze 2 und 3 umsetzen,<br />

wenn die anderen beteiligten Länder zustimmen.<br />

12


<strong>Landtag</strong> <strong>Mecklenburg</strong>-<strong>Vorpommern</strong> - 6. Wahlperiode <strong>Drucksache</strong> 6/<strong>726</strong><br />

Widerspricht ein beteiligtes Bundesland der Aufnahme von Sozialstandards in der vom Land<br />

<strong>Mecklenburg</strong>-<strong>Vorpommern</strong> geforderten Form - z. B. weil es in seinen Landesgesetzen an der<br />

erforderlichen Rechtsgrundlage für diesen Standard fehlt bzw. die Landesstandards niedriger<br />

sind als in <strong>Mecklenburg</strong>-<strong>Vorpommern</strong> -, müssen die beteiligten Länder einen Kompromiss<br />

finden. Der Kompromiss soll darin bestehen, dass die Vergabegrundsätze des Landes gelten,<br />

auf dessen Territorium der größte Teil der Leistungen erbracht werden soll.<br />

Abs. 5 regelt, dass die Verpflichtungen aus vorstehenden Absätzen auch allen Nachunternehmen<br />

auferlegt werden. Klarstellend wird geregelt, dass dies auch für die Entlohnung von<br />

Leiharbeitnehmerinnen und Leiharbeitnehmer gilt.<br />

Abs. 6 legt fest, dass für die Beschäftigten der bietenden Unternehmen in jedem Fall die entsprechende<br />

günstigste Regelung anzuwenden ist.<br />

Zu § 4<br />

Die Regelungen der Absätze 1 bis 3 stehen in engem Zusammenhang mit den Regelungen des<br />

§ 3. Bei einem Angebot, bei dem Zweifel an der Angemessenheit des Preises bestehen, und<br />

der Verdacht nahe liegt, nicht kostendeckend bzw. in den Personalkosten unter Missachtung<br />

der tariflichen Verpflichtungen kalkuliert zu sein, ist eine Tiefenprüfung durchzuführen. Dem<br />

Bieter ist dann eine Frist zur Vorlage seiner Kalkulationsunterlagen zu setzen.<br />

Kommt er der Vorlagepflicht nicht nach, ist sein Angebot zwingend auszuschließen, da dieser<br />

Bieter als unzuverlässig einzustufen ist.<br />

Zu § 5<br />

Die Regelungen der Absätze 1 bis 5 schreiben vor, welche schriftlichen Nachweise der Bieter<br />

und eventuell durch ihn bestimmte Nachunternehmer in einem Vergabeverfahren beizubringen<br />

haben, um die Voraussetzungen für die Teilnahme an dem Verfahren nach dem hier<br />

vorliegenden Gesetz zu erfüllen. Im Falle der Verweigerung der erforderlichen Nachweise<br />

muss der Ausschluss vom Verfahren erfolgen.<br />

Zu § 6<br />

Absatz 1 regelt die grundsätzliche Möglichkeit von weiteren Anforderungen an den Auftragnehmer,<br />

die über die in § 3 festgelegten Regeln hinausgehen.<br />

In Absatz 2 werden die „ILO-Kernarbeitsnormen“ in den genannten acht völkerrechtlichen<br />

Übereinkommen konkret ausgestaltet. Alle Mitgliedstaaten der Internationalen Arbeitsorganisation<br />

haben sich in der „Erklärung über die grundlegenden Prinzipien und Rechte bei<br />

der Arbeit“ am 18. Juni 1998 zu den Kernarbeitsnormen bekannt.<br />

13


<strong>Drucksache</strong> 6/<strong>726</strong> <strong>Landtag</strong> <strong>Mecklenburg</strong>-<strong>Vorpommern</strong> - 6. Wahlperiode<br />

Die Beachtung der „ILO-Kernarbeitsnormen“ in Abs. 2 wird im Stadium der Vertragsausführung<br />

als Ergänzende Vertragsbedingung zu einer vertraglichen Nebenpflicht des Auftragnehmers.<br />

Dabei soll der öffentliche Auftraggeber eine verhältnismäßige Anwendung der Vorschriften<br />

durch Rechtsverordnung vorgeben.<br />

Absatz 3 bestimmt als weitere Vorzugskriterien im Vergabeverfahren die Beschäftigung<br />

schwerbehinderter Menschen sowie die Bereitstellung von Ausbildungsplätzen.<br />

Zu § 7<br />

Absatz 1 stellt klar, dass das Land <strong>Mecklenburg</strong>-<strong>Vorpommern</strong> sich aktiv für die Erhöhung der<br />

Beschäftigungsquote von Frauen einsetzt und Maßnahmen zur besseren Vereinbarkeit von<br />

Beruf und Familie unterstützt.<br />

Absatz 2 regelt den Anwendungsbereich und die Anforderungen.<br />

Zu § 8<br />

Absatz 1 stellt klar, dass das Land <strong>Mecklenburg</strong>-<strong>Vorpommern</strong> umweltfreundlich beschaffen<br />

wird und dabei schon im Vorfeld, also bei der Planung von Beschaffungen, darauf geachtet<br />

wird, dass möglichst umweltfreundliche Produktionsverfahren zur Anwendung kommen und<br />

unnötige Lieferwege vermieden werden.<br />

Absatz 2 legt fest, dass in die Berechnung der Wirtschaftlichkeit eines Angebots der gesamte<br />

Lebenszyklus der zu beschaffenden Waren zu berücksichtigen ist.<br />

Absatz 3 erteilt der Landesregierung die Ermächtigung, Details durch Verwaltungsvorschriften<br />

zu regeln. Dies hat den Vorteil, dass nicht bei dem zu erwartenden Fortschritt bei der<br />

Entwicklung neuer umweltfreundlicher Produkte und Verfahren jedes Mal das Gesetz<br />

geändert werden muss.<br />

Zu § 9<br />

Die Absätze 1 bis 5 führen das Recht auf Kontrollen durch den öffentlichen Auftraggeber ein<br />

und legen den Umfang des zu Kontrollierenden und von den Unternehmen Vorzulegenden<br />

fest. Die Kontrolltätigkeit kann durch die Landesregierung an Dritte übertragen werden.<br />

Diese Regelungen sind notwendig, um die sich bewerbenden Unternehmen von dem Durchsetzungswillen<br />

des Gesetzgebers zu überzeugen und bei Verdacht auf Verstöße, den öffentlichen<br />

Stellen wie den Unternehmen zu verdeutlichen, was in welchem Umfang kontrolliert<br />

werden darf.<br />

14


<strong>Landtag</strong> <strong>Mecklenburg</strong>-<strong>Vorpommern</strong> - 6. Wahlperiode <strong>Drucksache</strong> 6/<strong>726</strong><br />

Zu § 10<br />

Die Absätze 1 und 2 stellen klar, dass der Verstoß gegen die im Gesetz niedergelegten<br />

Pflichten für das jeweils betroffene Unternehmen massive Strafen nach sich zieht. So wird in<br />

Absatz 1 eine Vertragsstrafe festgelegt und in Absatz 2 das sofortige Kündigungsrecht fixiert.<br />

Absatz 3 regelt darüber hinaus die Dauer der Frist, bis zu der Unternehmen von öffentlichen<br />

Aufträgen ausgeschlossen werden, die gegen ihre aus dem Gesetz folgenden Verpflichtungen<br />

verstoßen haben. Dabei wird sichergestellt, dass alle - also auch alle Nachunternehmen -<br />

denen ein Verstoß nachgewiesen wurde, von der Regelung betroffen sind.<br />

Zu § 11<br />

Geregelt werden das In-Kraft-Treten und die Gültigkeit für Verfahren, die ab dem Zeitpunkt<br />

des Inkrafttretens beginnen.<br />

Im Einzelnen zu den Absätzen 3 und 5 des § 3<br />

A. Gesetzgebungskompetenz<br />

Die Gesetzgebungskompetenz des Landes ist nach Art. 70 in Verbindung mit Art. 72 Abs. 1<br />

GG gegeben, da die Regelungsmaterie in die konkurrierende Zuständigkeit nach Art. 74 Abs.<br />

1 Nr. 11 GG fällt und der Bund nicht abschließend von seinem Gesetzgebungsrecht Gebrauch<br />

gemacht hat.<br />

Der Begriff „Recht der Wirtschaft“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG ist weit zu verstehen<br />

(vgl. BVerfGE 5, 25 ; 28, 119 ; 29, 402 ; 41, 344 ; 68, 319<br />

).<br />

Zu ihm gehören nicht nur diejenigen Vorschriften, die sich auf die Erzeugung, Herstellung<br />

und Verteilung von Gütern des wirtschaftlichen Bedarfs beziehen, sondern auch alle anderen<br />

das wirtschaftliche Leben und die wirtschaftliche Betätigung als solche regelnden Normen<br />

(vgl. BVerfGE 29, 402 ; 55, 274 ). Hierzu zählen Gesetze mit wirtschaftsregulierendem<br />

oder wirtschaftslenkendem Charakter (vgl. BVerfGE 4, 7 ; 68, 319 ).<br />

Zur Regelung des Wirtschaftslebens im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG gehören auch die<br />

Vorschriften über die Vergabe von öffentlichen Aufträgen. Diesem Rechtsgebiet sind auch<br />

gesetzliche Regelungen darüber zuzuordnen, in welchem Umfang der öffentliche Auftraggeber<br />

bei der Vergabeentscheidung über die in § 97 Abs. 4 GWB ausdrücklich vorgesehenen<br />

Kriterien hinaus andere oder weiter gehende Anforderungen an den Auftragnehmer stellen<br />

darf. Denn nach den Maßstäben, die das Bundesverfassungsgericht für die Zuordnung zu den<br />

Kompetenztiteln der Art. 74 und 75 GG entwickelt hat, kommt es in erster Linie auf den<br />

Regelungsgegenstand und den Gesamtzusammenhang der Regelung im<br />

jeweiligen Gesetz an (vgl. BVerfGE 4, 60 ; 8, 143 ; 68, 319 ).<br />

15


<strong>Drucksache</strong> 6/<strong>726</strong> <strong>Landtag</strong> <strong>Mecklenburg</strong>-<strong>Vorpommern</strong> - 6. Wahlperiode<br />

Deshalb ist nicht für jede andere oder weiter gehende Anforderung, die ein Gesetz als Kriterium<br />

für die Auftragsvergabe vorsieht, der auf das konkrete Kriterium bezogene Kompetenztitel<br />

- etwa der für das Arbeitsrecht gemäß Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG - einschlägig.<br />

Mit dem Erfordernis einer Erklärung zur Zahlung des Mindeststundenlohns wird ein Kriterium<br />

für die vergaberechtliche Auswahlentscheidung geregelt. Unmittelbar betroffen ist die<br />

Rechtsbeziehung zwischen dem öffentlichen Auftraggeber und dem Bieter, dessen Angebotsverhalten<br />

bei der Bewerbung um einen Auftrag aus wirtschafts- und sozialpolitischen<br />

Gründen dahingehend gesteuert werden soll, dass er sich gegenüber anderen Bewerbern<br />

keinen Vorteil durch eine Niedrigstentlohnung seiner Arbeitskräfte verschafft. Mit der Einbeziehung<br />

eines solchen Kriteriums in die Auswahlentscheidung wird das Ziel verfolgt, die<br />

Vergabe von Aufträgen aus bestimmten wirtschafts- und sozialpolitischen Gründen unmittelbar<br />

zu beeinflussen. Diese Zielsetzung wird in das Vergabeverfahren integriert. Es handelt<br />

sich um eine Sonderregelung für den Bereich der öffentlichen Beschaffung, mit der ein<br />

Kriterium für die Vergabeentscheidung festgelegt wird, das mittelbar auf die arbeitsrechtlichen<br />

Beziehungen im Unternehmen der Bieter Einfluss nehmen soll.<br />

Für eine Charakterisierung dieser Bestimmung als vergaberechtliche Vorschrift spricht auch<br />

der Regelungszusammenhang mit der Sanktionsnorm. Der Verstoß eines Unternehmens<br />

gegen die Verpflichtung zur Zahlung des Mindestentgeltes soll danach die spezifisch vergaberechtliche<br />

Konsequenz haben, dass es von der Teilnahme an einem Wettbewerb um einen<br />

Bauauftrag oder Dienstleistungsauftrag bis zu einer Dauer von drei Jahren ausgeschlossen<br />

wird. Aus dieser Verknüpfung wird deutlich, dass es bei der Regelung zweckgerichtet um<br />

eine Ausgestaltung der Bedingungen für die Teilnahme am Wettbewerb, um eine öffentliche<br />

Auftragsvergabe und damit um einen vergaberechtlichen Regelungsgegenstand geht.<br />

Von dem für Vergaberegelungen einschlägigen Gesetzgebungstitel des Art. 74 Abs. 1 Nr. 11<br />

GG hat der Bundesgesetzgeber nicht abschließend Gebrauch gemacht.<br />

Der Vorschrift des § 97 Abs. 4 2. Halbsatz GWB, nach der andere oder weiter gehende<br />

Anforderungen an Auftragnehmer nur gestellt werden dürfen, wenn dies durch Bundes- oder<br />

Landesgesetz vorgesehen ist, ist vielmehr zu entnehmen, dass auch aus Sicht des Bundesgesetzgebers<br />

die Regelung solcher Kriterien durch den Landesgesetzgeber grundsätzlich<br />

möglich sein soll. Mit der in § 97 Abs. 4 2. Halbsatz GWB bestimmten Zulässigkeit einer<br />

landesgesetzlichen Regelung ist ausweislich der Gesetzgebungsmaterialien gerade auch dem<br />

Wunsch der Länder nach einer kompetenzrechtlichen Legitimation eigener Vorschriften für<br />

den Bereich ihrer Auftragsvergabe Rechnung getragen worden.<br />

16


<strong>Landtag</strong> <strong>Mecklenburg</strong>-<strong>Vorpommern</strong> - 6. Wahlperiode <strong>Drucksache</strong> 6/<strong>726</strong><br />

B. Keine Verletzung von Grundrechten<br />

1. Durch die gesetzliche Pflicht zur Zahlung eines Mindeststundenlohns wird der Schutzbereich<br />

des Art. 9 Abs. 3 GG insbesondere nicht unter dem Gesichtspunkt der so<br />

genannten negativen Koalitionsfreiheit berührt, da die Verpflichtung, den bei öffentlichen<br />

Aufträgen eingesetzten Arbeitskräften mindestens einen Stundenlohn von 10 Euro zu<br />

zahlen, keinen Einfluss hat auf das individuelle Freiheitsrecht, Koalitionen beizutreten oder<br />

fernzubleiben.<br />

2. Die Mindestentlohnungsregelung verstößt nicht gegen Art. 12 Abs. 1 GG.<br />

2.1 Der Schutzgehalt der Berufsfreiheit ist berührt.<br />

Art. 12 Abs. 1 GG schützt vor staatlichen Beeinträchtigungen, die gerade auf die<br />

berufliche Betätigung bezogen sind. Das Grundrecht sichert die Teilnahme am Wettbewerb<br />

im Rahmen der hierfür aufgestellten rechtlichen Regeln (vgl. BVerfGE 105,<br />

252 ). Es gewährleistet den Arbeitgebern das Recht, die Arbeitsbedingungen<br />

mit ihren Arbeitnehmern im Rahmen der Gesetze frei auszuhandeln (vgl. BVerfGE 77,<br />

84 ; 77, 308 ). Die Vertragsfreiheit wird zwar auch durch das Grundrecht<br />

der allgemeinen Handlungsfreiheit gemäß Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistet<br />

(vgl. BVerfGE 65, 196 ; 74, 129 ).<br />

Betrifft eine gesetzliche Regelung jedoch die Vertragsfreiheit gerade im Bereich<br />

beruflicher Betätigung, die ihre spezielle Gewährleistung in Art. 12 Abs. 1 GG<br />

gefunden hat, scheidet die gegenüber anderen Freiheitsrechten subsidiäre allgemeine<br />

Handlungsfreiheit als Prüfungsmaßstab aus (vgl. BVerfGE 68, 193 ; 77, 84<br />

; 95, 173 ). Gesetzliche Vorschriften, die die Gestaltung der Arbeitsbeziehungen<br />

betreffen und die sich deshalb für den Arbeitgeber als Berufsausübungsregelungen<br />

darstellen, sind daher grundsätzlich an Art. 12 Abs. 1 GG zu messen.<br />

2.2 Die Mindestentlohnungsregelung berührt die durch Art. 12 Abs. 1 GG gewährleistete<br />

Vertragsfreiheit im unternehmerischen Bereich.<br />

Dadurch, dass das Gesetz als Voraussetzung für die erfolgreiche Teilnahme am<br />

Vergabeverfahren die Zahlung eines bestimmten Mindeststundenlohns fordert, reguliert<br />

es nicht allgemein das Wettbewerbsverhalten der Unternehmen, sondern bewirkt<br />

eine bestimmte Ausgestaltung der Verträge, die der Auftragnehmer mit seinen Arbeitnehmern<br />

zur Durchführung des Auftrags abschließt. Die Unternehmen sollen hinsichtlich<br />

dieser Vertragsbedingungen nicht frei darüber entscheiden dürfen, wie sie sich am<br />

Wettbewerb um den öffentlichen Auftrag beteiligen. Sie werden bei Ablehnung der<br />

von ihnen geforderten Mindestentlohnung von der Möglichkeit, ihre Erwerbschancen<br />

zu verwirklichen, ausgeschlossen, auch wenn sie sich im Übrigen an die Vergabebedingungen<br />

halten. Auf der Grundlage dieser Bestimmungen werden sie zu einer<br />

bestimmten Gestaltung ihrer Verträge mit Dritten angehalten und damit in ihrer unternehmerischen<br />

Vertragsfreiheit berührt.<br />

17


<strong>Drucksache</strong> 6/<strong>726</strong> <strong>Landtag</strong> <strong>Mecklenburg</strong>-<strong>Vorpommern</strong> - 6. Wahlperiode<br />

3. Die Zweckbestimmung der Regelung rechtfertigt die Einschränkung der Berufsfreiheit.<br />

18<br />

Nach der dem Gesetz zugrunde liegenden Zweckbestimmung sollen Unternehmen im<br />

Wettbewerb mit Konkurrenten nicht deshalb benachteiligt sein, weil sie existenzsichernde<br />

Löhne an ihre Arbeitskräfte zahlen. Die Verpflichtung zur Zahlung eines Mindeststundenlohnes<br />

soll einem Verdrängungswettbewerb über die Lohnkosten entgegenwirken. Sie<br />

dient dem Schutz der Beschäftigung solcher Arbeitskräfte, die bei Unternehmen arbeiten,<br />

die existenzsichernde Löhne zahlen und damit auch zur Erhaltung als wünschenswert<br />

angesehener sozialer Standards und der Entlastung der bei hoher Arbeitslosigkeit oder bei<br />

niedrigen Löhnen verstärkt in Anspruch genommenen Systeme der sozialen Sicherheit<br />

beitragen.<br />

Das Ziel, die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, hat aufgrund des Sozialstaatsprinzips (Art. 20<br />

Abs. 1 GG) Verfassungsrang. Die Verringerung von Arbeitslosigkeit ermöglicht den zuvor<br />

Arbeitslosen, das Grundrecht aus Art. 12 Abs. 1 GG zu verwirklichen (vgl. BVerfGK 4,<br />

356 ), sich durch Arbeit in ihrer Persönlichkeit zu entfalten und darüber Achtung<br />

und Selbstachtung zu erfahren. Insofern wird das gesetzliche Ziel auch von Art. 1 Abs. 1<br />

und Art. 2 Abs. 1 GG getragen (vgl. BVerfGE 100, 271 ; 103, 293 ).<br />

Darüber hinaus ist der mit der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit einhergehende Beitrag zur<br />

finanziellen Stabilität des Systems der sozialen Sicherung ein Gemeinwohlbelang von<br />

hoher Bedeutung (vgl. BVerfGE 70, 1 ; 77, 84 ; 82, 209 ; 103, 293<br />

).<br />

4. Die Verpflichtung der Bewerber um einen öffentlichen Auftrag zur Zahlung eines<br />

Mindeststundenlohns ist ein geeignetes Mittel zur Erreichung der mit dem Gesetz verfolgten<br />

Ziele.<br />

4.1 Ein Mittel ist bereits dann im verfassungsrechtlichen Sinne geeignet, wenn mit seiner<br />

Hilfe der gewünschte Erfolg gefördert werden kann, wobei die Möglichkeit der<br />

Zweckerreichung genügt (vgl. BVerfGE 63, 88 ; 67, 157 ; 96, 10 ;<br />

103, 293 ). Dem Gesetzgeber kommt dabei ein Einschätzungs- und Prognosevorrang<br />

zu. Es ist vornehmlich seine Sache, auf der Grundlage seiner wirtschafts-,<br />

arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Vorstellungen und Ziele unter Beachtung der<br />

Gesetzlichkeiten des betreffenden Sachgebiets zu entscheiden, welche Maßnahmen er<br />

im Interesse des Gemeinwohls ergreifen will (vgl. BVerfGE 103, 293 m.w.N.).<br />

Hieran gemessen ist die Regelung grundsätzlich geeignet, die gesetzgeberischen Ziele<br />

zu erreichen. Der Landesgesetzgeber darf im Rahmen seiner Einschätzungsprärogative<br />

annehmen, dass er den Unterbietungswettbewerb über die Lohnkosten begrenzen und<br />

auf diese Weise Arbeitslosigkeit bekämpfen kann, indem er den Bewerbern um einen<br />

öffentlichen Auftrag die Verpflichtung zur Zahlung eines Mindeststundenlohns auferlegt.


<strong>Landtag</strong> <strong>Mecklenburg</strong>-<strong>Vorpommern</strong> - 6. Wahlperiode <strong>Drucksache</strong> 6/<strong>726</strong><br />

4.2 Die gesetzliche Verpflichtung zum Mindeststundenlohn ist zur Zielerreichung<br />

erforderlich.<br />

Der Gesetzgeber verfügt bei der Einschätzung der Erforderlichkeit ebenfalls über<br />

einen Beurteilungs- und Prognosespielraum (vgl. BVerfGE 102, 197 ). Daher<br />

können Maßnahmen, die der Gesetzgeber zum Schutz eines wichtigen Gemeinschaftsguts<br />

für erforderlich hält, verfassungsrechtlich nur beanstandet werden, wenn nach den<br />

ihm bekannten Tatsachen und im Hinblick auf die bisher gemachten Erfahrungen feststellbar<br />

ist, dass Regelungen, die als Alternativen in Betracht kommen, die gleiche<br />

Wirksamkeit versprechen, die Betroffenen indessen weniger belasten (vgl. BVerfGE<br />

25, 1 ; 40, 196 ; 77, 84 ).<br />

Nach diesen Maßstäben bestehen gegen die Erforderlichkeit der Regelung keine<br />

durchgreifenden Bedenken. Es ist kein ebenso geeignetes, aber weniger belastendes<br />

Mittel erkennbar, das der Landesgesetzgeber anstelle der gesetzlichen Verpflichtung<br />

zur Zahlung eines Mindeststundenlohns hätte ergreifen können.<br />

Die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit in Verbindung mit der Gewährleistung der<br />

finanziellen Stabilität des Systems der sozialen Sicherung ist ein besonders wichtiges<br />

Ziel, bei dessen Verwirklichung dem Gesetzgeber gerade unter den gegebenen schwierigen<br />

arbeitsmarktpolitischen Bedingungen ein relativ großer Entscheidungsspielraum<br />

zugestanden werden muss (vgl. BVerfGE 103, 293 ).<br />

Dieser Gemeinwohlbelang, dem die Regelung Rechnung zu tragen versucht, besitzt<br />

eine überragende Bedeutung (vgl. BVerfGE 100, 271 ).<br />

Bezieht man die weiteren, diesen Zweck flankierenden, schon dargestellten<br />

Regelungsziele in die Abwägung der betroffenen, verfassungsrechtlich geschützten<br />

Rechte und Interessen ein, so ist die vom Gesetzgeber vorgenommene Gewichtung<br />

zugunsten der Gemeinwohlbelange nicht zu beanstanden.<br />

Die Grenze der Zumutbarkeit ist für die Bewerber um einen öffentlichen Auftrag, die<br />

sich nur in Teilbereichen ihrer unternehmerischen Betätigung zur Anwendung<br />

bestimmter Entgeltsätze verpflichten sollen, angesichts der überragend wichtigen Ziele<br />

der Mindeststundenlohnregelung keineswegs überschritten.<br />

5. Die auf der Regelung beruhende Ungleichbehandlung der Anbieter, die keine Erklärung<br />

zur Zahlung des Mindeststundenlohns abgeben und deshalb keinen Zuschlag erhalten, im<br />

Vergleich mit den Anbietern, die die Auflage nach der Vorschrift erfüllen, verstößt nicht<br />

gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Sie ist durch die dargestellten besonders wichtigen Gemeinwohlbelange,<br />

die den Landesgesetzgeber zu der gesetzlichen Regelung veranlasst haben,<br />

gerechtfertigt.<br />

19


<strong>Drucksache</strong> 6/<strong>726</strong> <strong>Landtag</strong> <strong>Mecklenburg</strong>-<strong>Vorpommern</strong> - 6. Wahlperiode<br />

C. Keine Verletzung europäischen Rechts<br />

§ 3 Absatz 3 meint Mindestentlohnungsvorgabe für alle Unternehmen, die sich am Vergabeverfahren<br />

beteiligen - unabhängig vom Standort des Unternehmenssitzes<br />

1. Der Festlegung einer Mindestentlohnungsverpflichtung für Unternehmen mit Sitz im<br />

Inland stehen keine europarechtlichen Hindernisse entgegen.<br />

2. Mit der Erstreckung dieser Verpflichtung auch auf Unternehmen mit Sitz im Ausland<br />

werden zwingende Vorgaben der Entsende-Richtlinie (Richtlinie 96/71/EG des Europäischen<br />

Parlamentes und des Rates über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen<br />

der Erbringung von Dienstleistungen) erfüllt.<br />

20<br />

2.1 Erstreckung auf EU-ausländische Unternehmen nach Artikel 3 Absatz 1 der Entsende-<br />

Richtlinie<br />

Die im vorliegenden Zusammenhang maßgebliche Vorschrift der Entsende-Richtlinie<br />

lautet:<br />

„Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass unabhängig von dem auf das jeweilige<br />

Arbeitsverhältnis anwendbaren Recht die in Artikel 1 Absatz 1 genannten Unternehmen<br />

[i.e. Unternehmen mit Sitz in einem Mitgliedstaat, die im Rahmen der länderübergreifenden<br />

Erbringung von Dienstleistungen Arbeitnehmer in das Hoheitsgebiet<br />

eines anderen Mitgliedstaats entsenden] den in ihr Hoheitsgebiet entsandten Arbeitnehmern<br />

bezüglich der nachstehenden Aspekte die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen<br />

garantieren, die in dem Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet die<br />

Arbeitsleistung erbracht wird, - durch Rechts- oder Verwaltungsvorschriften<br />

…festgelegt sind: …c) Mindestlohnsätze einschließlich der Überstundensätze“.<br />

Artikel 3 Absatz 1 der Entsende-Richtlinie schreibt mithin vor, dass die Mitgliedstaaten<br />

diejenigen Rechtsvorschriften, mit denen sie inländischen Unternehmen Vorgaben<br />

im Hinblick auf Mindestlohnsätze machen, auch auf Unternehmen mit Sitz in<br />

einem anderen Mitgliedstaat erstrecken müssen, auch wenn das individuelle Arbeitsverhältnis<br />

einem fremden Recht unterliegt, dass die fraglichen Bedingungen nicht oder<br />

nicht in gleicher Weise wie das Inland gewährt.<br />

Dieser Verpflichtung aus der Richtlinie kommt der Landesgesetzgeber mit der Aufnahme<br />

von Absatz 3 nach. Obgleich es sich - wie oben festgehalten - bei Absatz 3<br />

nicht um eine arbeitsrechtliche Vorschrift im Sinne des grundgesetzlichen Kompetenzkataloges<br />

handelt, enthält sie eine Rechtsvorschrift, die inländischen Unternehmen<br />

Vorgaben im Hinblick auf Mindestlohnsätze macht im Sinne von Artikel 3 Absatz 1<br />

der Entsende-Richtlinie.


<strong>Landtag</strong> <strong>Mecklenburg</strong>-<strong>Vorpommern</strong> - 6. Wahlperiode <strong>Drucksache</strong> 6/<strong>726</strong><br />

Denn ohne eine entsprechende Verpflichtung zur Zahlung des bezifferten Mindestentgeltes<br />

vonseiten der Unternehmen im Bieterverfahren, welche auch Bestandteil des<br />

Vergabevertrages zwischen Vergabestelle und Auftragnehmer wird, kann kein inländisches<br />

Unternehmen den Vergabezuschlag erhalten.<br />

Insofern handelt sich zwar um eine Vorschrift, die keine unmittelbaren arbeitsvertraglichen<br />

Ansprüche schafft. Aber dies wird in Artikel 3 Absatz 1 der Entsende-Richtlinie<br />

auch nicht vorausgesetzt, weder dem Wortlaut zu Folge, noch nach dem Sinn und<br />

Zweck der Vorschrift.<br />

Der Wortlaut, der lediglich eine Festlegung von Mindestlohnsätzen durch Rechtsvorschriften<br />

verlangt, schließt den vergaberechtlichen Modus der Festlegung von Mindestlohnsätzen<br />

nicht aus. Es handelt sich bei Absatz 3 als landesgesetzliche Regelung<br />

um eine Rechtsvorschrift und sie enthält einen Mindestlohnsatz, nämlich 10 EUR.<br />

Absatz 3 legt den Mindestlohnsatz auch fest, weil unter seiner Geltung im Bereich<br />

von Vergabestellen in <strong>Mecklenburg</strong>-<strong>Vorpommern</strong> beauftragter Leistungen keine<br />

Entlohnung unter 10 EUR mehr stattfinden wird.<br />

Für den Umstand, dass Artikel 3 Absatz 1der Entsende-Richtlinie nur Festlegungen in<br />

Gestalt unmittelbarer arbeitsvertraglicher Ansprüche bezeichnen würde, ist aus dem<br />

Wortlaut nichts ersichtlich.<br />

Eine solche einschränkende Lesart wäre auch mit dem Zweck der Richtlinie nicht zu<br />

vereinbaren. Die Richtlinie will für grenzüberschreitende Dienstleistungen einen<br />

fairen Wettbewerb ermöglichen und zugleich die Wahrung der Rechte der Arbeitnehmer<br />

garantieren (Erwägungsgrund 5). Mit beiden Gesichtspunkten ist die der Verabschiedung<br />

der Richtlinie offenbar zugrunde liegende Absicht des Gesetzgebers<br />

angesprochen, dass der grenzüberschreitende Dienstleistungswettbewerb jedenfalls im<br />

Bereich niedrig qualifizierter Arbeit (deren Entlohnung eben in den Mitgliedstaaten in<br />

der Regel vermittels Rechtsvorschriften oder allgemeinverbindlicher Tarifverträge<br />

geschützt wird) nicht über Lohnkosten ausgetragen wird (vgl. Erwägungsgrund 14).<br />

Diese Intention des Gesetzgebers würde konterkariert, wenn im Vergabebereich<br />

gleichfalls auf den Bereich niedrig qualifizierter Arbeit abzielenden Vorgaben zur<br />

Mindestentlohnung nur auf Unternehmen mit Sitz im Inland beschränkt blieben. Denn<br />

dann erhielten ausländische Unternehmen im Bereich niedrig qualifizierter Arbeit<br />

Vorteile im Wettbewerb um öffentliche Aufträge, die allein aufgrund niedrigerer<br />

Lohnkosten entstehen.<br />

Es wäre indes unverständlich, wenn die Richtlinie die Verzerrung des Wettbewerbs<br />

um öffentliche Aufträge nur deswegen erlauben würde, weil die Rahmenbedingungen<br />

des Wettbewerbs in diesem Feld auch durch vergaberechtliche Vorschriften gesetzt<br />

werden können. Es ist letztlich davon auszugehen, dass es dem europäischen Gesetzgeber<br />

allein um die wirtschaftlichen Effekte einer Regelung und nicht um ihre rechtstechnische<br />

Gestalt ging.<br />

21


<strong>Drucksache</strong> 6/<strong>726</strong> <strong>Landtag</strong> <strong>Mecklenburg</strong>-<strong>Vorpommern</strong> - 6. Wahlperiode<br />

22<br />

2.2 Erstreckung auf alle übrigen ausländische Unternehmen nach Artikel 1 Absatz 4 Entsende-Richtlinie<br />

Nach Artikel 1 Absatz 4 der Entsende-Richtlinie darf Unternehmen mit Sitz außerhalb<br />

der Gemeinschaft keine günstigere Behandlung zuteilwerden als Unternehmen mit<br />

Sitz in einem Mitgliedstaat. Darum sind auch alle übrigen ausländischen Unternehmen<br />

in die Mindestlohnverpflichtung einzubeziehen.<br />

2.3 Keine Prüfung von Absatz 3 am Maßstab der Dienstleistungsfreiheit, Artikel 49 EGV<br />

Der Landesgesetzgeber erfüllt mit der Aufnahme des Absatzes 3 seine zwingende<br />

europarechtliche Verpflichtung aus Artikel 3 Absatz 1 und Artikel 1 Absatz 4 der Entsende-Richtlinie.<br />

Als mitgliedstaatliche Maßnahme zur Umsetzung insoweit vollharmonisierten<br />

Rechts steht Absatz 4 Satz 2 nicht mehr im Anwendungsbereich der<br />

Grundfreiheiten und der vom Europäischen Gerichtshof für die Beurteilung der<br />

Rechtmäßigkeit autonomer mitgliedstaatlicher Maßnahmen entwickelten Rechtsfertigungsprüfung.<br />

Denn jene Rechtsprechung greift nur für mitgliedstaatliche Maßnahmen<br />

außerhalb harmonisierten Rechts (grundsätzlich: EuGH, Rs. 120/78, Cassis de<br />

Dijon, Rn. 8; aus jüngerer Zeit: EuGH, Rs. C-112/05, Volkswagen, Rn. 72 f.).<br />

Die vom Europäischen Gerichtshof letztlich wohl obiter dicta vorgenommene Beurteilung<br />

vergaberechtlicher Entlohnungsvorgaben in der Entscheidung Rüffert (EuGH, Rs.<br />

C-346/06, Rüffert, Rn. 36 ff.) allein anhand der Dienstleistungsfreiheit, der zu Folge<br />

eine auf den Bereich öffentlicher Vergabe beschränkte Mindestlohnvorgabe keine<br />

durch den Zweck des Arbeitnehmerschutz gerechtfertigte Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit<br />

darstelle, kommt darum im Falle von Absatz 3 von vorne herein nicht<br />

zur Anwendung.<br />

Die Entsende-Richtlinie selbst ist als Maßnahme des europäischen Gesetzgebers<br />

gleichfalls nicht der für die autonomen Maßnahmen der Mitgliedstaaten entwickelten,<br />

und geltenden Rechtfertigungsprüfung für Grundfreiheitsbeschränkungen zu unterwerfen.<br />

Das gilt auch insoweit als Artikel 4 Absatz 1 vergaberechtliche Mindestentgeltvorgaben<br />

einschließt, die als autonome mitgliedstaatliche Maßnahmen bei<br />

unmittelbarer Anwendung der Grundfreiheiten nicht zu rechtfertigen wären.<br />

Jener Unterschied rührt daher, dass der europäische Gesetzgeber mit Blick auf die<br />

Ausgestaltung des Binnenmarktes und der diesen kennzeichnenden Grundfreiheiten<br />

(vgl. Artikel 3 Abs. 1 c) EGV) ein weites Gestaltungsermessen genießt (grundlegend:<br />

EuGH, Rs. 37/83, Rewe, Rn. 20; weiterhin: EuGH, Rs. C-233/94, Deutschland gegen<br />

Parlament und Rat; EuGH, Rs. C-168/98, Luxemburg gegen Parlament und Rat).<br />

Die Grenzen dieses Gestaltungsermessens hat der europäische Gesetzgeber mit der<br />

diskriminierungsfreien Einbeziehung auch vergaberechtlicher Mindestlohnvorgaben in<br />

die Verpflichtung der Mitgliedstaaten aus Artikel 3 Absatz 1 der Entsende-RL sicher<br />

nicht überschritten.


<strong>Landtag</strong> <strong>Mecklenburg</strong>-<strong>Vorpommern</strong> - 6. Wahlperiode <strong>Drucksache</strong> 6/<strong>726</strong><br />

Dieses politische Gestaltungsermessen ist dem europäischen Gesetzgeber auch nicht<br />

über den Umweg einer engen und zweckwidrigen „primärrechtskonformen Auslegung“<br />

von Artikel 3 Absatz 1 der Entsende-Richtlinie zu nehmen.<br />

Nach alledem stellte ein Verzicht auf eine Einbeziehung EU-ausländischer Unternehmen<br />

in Absatz 3 eine Verletzung europäischen Rechts dar.<br />

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