Folge 192 (pdf) - Lutz Görner, der Rezitator
Folge 192 (pdf) - Lutz Görner, der Rezitator
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Sendung <strong>192</strong>:<br />
Hallo, seien Sie gegrüßt! Mit dieser <strong>192</strong>. <strong>Folge</strong> von „Lyrik für alle“ sind wir noch einmal bei Jewgeni<br />
Jewtuschenkow. 1933 in Sibirien geboren, hochgewachsen, Schuhgröße 48, gut aussehend, berühmter<br />
<strong>Rezitator</strong> seiner eigenen berühmten Gedichte. Rebell, Kommunist, Dissident, Polit-Idol, Poet <strong>der</strong><br />
Jugend. Verboten, rehabilitiert. Gefeiert, gehasst.<br />
Ich singe gern und trink nicht schlecht,<br />
Verschwende an den Tod nicht einen einzigen Gedanken –<br />
Ich strecke alle Viere aus, lass alle Fünfe grade sein.<br />
Und muss ich eines Tages auch wie alle an<strong>der</strong>n sterben –<br />
Dann sterbe ich vor Glück.<br />
Jewgeni Jewtuschenko ist wie ein Einzigartiger unter allen Dichtern <strong>der</strong> Welt. So wie wir Deutschen<br />
einmal durch das 'Fräulein-Wun<strong>der</strong>' unser Image in <strong>der</strong> Welt aufpoliert haben, so ist es diesem durch<br />
die Welt reisenden und rezitierenden russischen Dichter gelungen, dass Image <strong>der</strong> Russen<br />
aufzupolieren. Einen an<strong>der</strong>en Typ russischen Mensch darzustellen als den bösen, verschlagenen,<br />
slawischen Bär. Seine Gedichtzeile: "Meinst du, die Russen wollen Krieg?" begann sich langsam in<br />
den Köpfen einzunisten. Zumindest bei uns Jungen in den 60er Jahren.<br />
Till Eulenspiegel<br />
Ich bin ein Mensch – das ist mein Rang und Orden.<br />
Ich – Wunsch vielleicht, vielleicht auch Wirklichkeit.<br />
Vorzeiten bin ich Till gerufen worden<br />
Und blieb mir treu: bin Till in dieser Zeit.<br />
Bin bei <strong>der</strong> Kirche, heut wie dazumalen,<br />
Schlecht angeschrieben, trau dem Herrgott nie,<br />
Und unter Frommen – das heißt Unnormalen –<br />
Bleib ich normal – ein Ketzer, sagen sie.<br />
Für Gnadengel<strong>der</strong> aus des Kaisers Kasse<br />
War nie mein Lied den hohen Herren feil.<br />
Ich bin normal: liebe die Freiheit, hasse<br />
Den Scheiterhaufen und das Henkersbeil.<br />
Und klingt das Lied <strong>der</strong> Lerche rein und fein,<br />
Frag ich mein Weibchen leis vorm Früh aufstehn:<br />
"Wie kann nur Gott im Himmel ruhig sein,<br />
Solang auf Erden noch die Mör<strong>der</strong> gehn?!"<br />
Und so ging ich auf Jagd ... Mag Gott auch schlafen,<br />
Ich, Till, stand auf. Als Kind einst täubchengut,<br />
War meine Sorge nur: die Mör<strong>der</strong> strafen<br />
Mit meinem Lied aus Spott und Wut.<br />
Ich, tausendfach am Galgen, standrechtlich hingerichtet,<br />
Verbrannt, verbrüht und von <strong>der</strong> Folter zugerichtet –<br />
Ich wurde singend an die Wand gestellt<br />
Und schritt doch leicht und lächelnd durch die Welt.<br />
Die Todesöfen summten mordbesessen.<br />
Zu Asche mich das Gas, das Feuer fraß.<br />
Doch fahrend mit dem Rauch aus Auschwitz` Essen<br />
Sank ich herab lebendig – fiel aufs Gras.
Denn abzurechnen war mir noch geboten,<br />
Verboten noch als Staub jetzt zu verwehn.<br />
Nicht dürfen in <strong>der</strong> Erde ruhn die Toten,<br />
Solang auf Erden noch die Mör<strong>der</strong> gehn!<br />
Was soll mir Frühlingsblau zu dieser Stunde,<br />
Solang ich noch <strong>der</strong> Krüppel Krücken klopfen höre<br />
Und wie<strong>der</strong> an <strong>der</strong> Macht die Lagerhunde,<br />
Die Spitzel, Folterer, die Spezialisten für Verhöre.<br />
Die alten Henker sind jetzt Pensionäre –<br />
Doch mein Gedächtnis löscht man nicht.<br />
Gott geb´, dass ihr Verbrechen nie verjähre.<br />
Jedoch verrechnen lassen sich Tränen nicht.<br />
So such ich ohne Ruh. Ein Spürhund will ich sein<br />
Bei Tag und Nacht, ob Jahre auch vergehn.<br />
In Dachau sollen die Posaunen schrein<br />
Solang auf Erden noch die Mör<strong>der</strong> gehn!<br />
Ich bin ein Mensch – das ist mein Rang und Orden.<br />
Ich – Wunsch vielleicht, vielleicht auch Wirklichkeit.<br />
Vorzeiten bin ich Till gerufen worden<br />
Und blieb mir treu: bin Till in dieser Zeit.<br />
Das nächste Gedicht von Jewgeni Jewtuschenko trägt den Titel 'Brautwerbung sibirisch'. Damit wir<br />
das Gedicht besser verstehen, hat er einige Zeilen <strong>der</strong> Erklärung vorangesetzt.<br />
„In Sibirien gab es einst einen auf den ersten Blick barbarischen, indes weisen Brauch. In <strong>der</strong> Zeit <strong>der</strong><br />
Brautwerbung musste die Braut dem Bräutigam die Füße waschen, und danach das Wasser austrinken.<br />
Durch diese Tat zeigte die Frau ihre Liebe zum künftigen Mann.“<br />
Brautwerbung, sibirisch<br />
1941, als für uns <strong>der</strong> Krieg begann,<br />
Da gab's einen Bräutigam.<br />
Schon tags darauf musste er fort in den Krieg,<br />
In einem kaum heizbaren Güterwagen.<br />
Die Verwandtschaft auf unserer Bahnstation Sima hieß ihn<br />
Auf einen knarrenden Schemel hocken.<br />
1941, als für uns <strong>der</strong> Krieg begann,<br />
Da gab's eine Braut.<br />
Sie kam mit einem Becken vorsichtig daher,<br />
Es war schwer und mit Rosen bemalt.<br />
Sacht stieg <strong>der</strong> Dampf auf,<br />
Bedrohlich schwappte das Wasser.<br />
Sie zog dem Bräutigam die Stiefel aus.<br />
Dann tauchte sie<br />
Seine nackten Füße ein – noch bubenhaft waren<br />
Die Schrammen daran.<br />
Ein kleines Zusammenzucken,<br />
Und das Wasser spritzte über den Beckenrand<br />
Auf den blumenbunten kleinen Teppich darunter.<br />
Mit Wasser liebkoste sie seine Füße,<br />
Großmutter-zärtlich<br />
Perle auf Perle,
So perlte es aus ihren Augen die Backen entlang ins Becken.<br />
Auf Knien, so hockte sie<br />
Vor ihrem künftigen Mann,<br />
Dessen Zukunft war todesgewiss,<br />
Und im Voraus wusch sie ihn nach altem Brauch –<br />
Denn sollte er sterben, dann nicht ohne diesen Gefallen.<br />
An seinen Beinen,<br />
Wie liebkoste sie da mit ihren Fingerspitzen jedes einzelne Härchen –<br />
Wie eine Bäuerin auf dem Feld jedes einzelne Hälmchen.<br />
Ihr Zukünftiger: so saß er da – we<strong>der</strong> tot noch lebendig.<br />
Sie wusch ihm die Beine,<br />
Von Wangen und Haarsträhnen wurde er nass –<br />
Auch ihm tränten die Augen,<br />
Sie schwitzten die Tränen nur so.<br />
Da weinten Verwandte und Ikonen mit.<br />
Jetzt beugte sich die Braut,<br />
Nach altem Brauch setzt sie zum Zuge an,<br />
Das Waschwasser ihres Liebsten zu trinken, -<br />
Da fuhr er auf,<br />
Ein jäher Zug, er hob sie hoch,<br />
Als wär sie jetzt seine Frau.<br />
Jetzt war's <strong>der</strong> Mann, <strong>der</strong> kniete –<br />
Sanft streift er von ihren Füßen<br />
Die bunt bestickten Pantöffelchen,<br />
Er taucht ihre Füße ins Becken –<br />
Die zitterten, als hätten sie Schüttelfrost.<br />
Ach, wie er ihr die Füße wusch ...<br />
Zärtlich Zeh für Zeh,<br />
Behutsam Nagelbett für Nagelbett,<br />
Wie Kügelchen hat er die Knöchelchen<br />
Zwischen zitternden Handflächen gerollt!<br />
Ach, wie er sie wusch...<br />
Dann hob er das Becken,<br />
Beugte sich nie<strong>der</strong>,<br />
Hielt's zärtlich an seinen Mund.<br />
Und das Gefäß aus Email bebte<br />
An den trinkenden, schluckenden Lippen.<br />
Sein Adamsapfel tanzte im Hals –<br />
So trank er alles aus<br />
Und übers Gesicht und über die Brust rann<br />
- wie die allerreinste Fahne, glasklar, rann<br />
Von den liebsten Füßen <strong>der</strong> Welt das Wasser.<br />
Meinst du, die Russen wollen Krieg?<br />
Den russischen Soldaten frag,<br />
Er liegt dort, wo er sterbend lag,<br />
Hol ihn ans Licht und sieh ihn an,<br />
Und weil er selbst nicht sprechen kann,<br />
Frag seinen Sohn von Mann zu Mann:<br />
Meinst du, die Russen wollen Krieg?<br />
Ich weiß, wie es Ihnen geht. Bei mir entsteht ein Kloß im Hals bei solchen Gedichten. Eine Trauer, um<br />
das was geschehen ist und ein Glück, das wir darüber Rechenschaft geben können, verbunden mit <strong>der</strong><br />
Hoffnung, dass wir daraus lernen.<br />
Ich sage tschüss, bis zum nächsten Mal, Ihr <strong>Lutz</strong> <strong>Görner</strong>.