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Folge 127 (pdf)

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<strong>Folge</strong> <strong>127</strong>Vom französischen Surrealismus möchte ich Ihnen nun erzählen. Eigentlich vom PariserSurrealismus, denn er war nur in der damaligen Hauptstadt der Welt möglich. Doch ersteinmal ein kleines Gedicht von Louis Aragon, der 1897 in Paris geboren wurde und 85 Jahrespäter dort gestorben ist:Auf der Liebe stand geschrieben:Notausgang bei Feuer gesperrt.Auf dem Himmel stand geschrieben:Sie irren sich, hier sind Sie falsch.Und auf der Nacht da stand geschrieben:Gar nichts stand auf der Nacht geschrieben.Paul Valéry, der Symbolist, hat in dem Jahr, in dem die Surrealisten geboren wurden, alsokurz vor dem Ende des 19. Jahrhunderts, ein Gedicht geschrieben mit dem Titel: Poesie, dasdamals Rainer Maria Rilke übersetzt hat.Poesie von Paul ValéryPlötzlicher Hemmung bewusst,Hob sich mein Mund, dem noch ebenDichtung die Brüste gegeben,Ab von der stillenden Brust:Mutter im Geiste, welchem BedenkenGabst du auf einmal nach,Dass sich dein herrliches SchenkenAn meinen Lippen brach?Warum willst den Himmel du mir verwehren?Warum dieser Umschwung jetzt?Warum Dichtung willst du mein Saugen entbehren?Was bin ich denn ohne Liebe zuletzt? –Da redet die Poesie mir in mein GewissenUnd erwidert mir sanft und ganz mütterlich:So wild hast du mich gebissen,Dass mein Herz nicht mehr schlägt für dich.Es ist wahr: die Dichter in Frankreich beißen schon seit dem Symbolismus, seit Baudelaire,Verlaine und Rimbaud der Poesie in die Brustwarzen, so dass die Poesie zurückschreckt, wasuns Lesern das Verstehen der Gedichte erschwert. Nun, durch den Schock des 1. Weltkriegswerden diese Bisse immer wütender und das Verstehenkönnen hört im entstehendenSurrealismus nahezu auf. Guillaume Apollinaire hat dieses Wort erfunden und André Breton,das Haupt der Bewegung, hat ihn so definiert: »Der Surrealismus ist der Glaube an diezukünftige Lösung des scheinbaren Widerspruchs zwischen Traum und Wirklichkeit in einerArt absoluter Wirklichkeit, einer 'Über'-Wirklichkeit, einer Sur-réalité.«André Breton ist 1896 geboren, dem Jahr, in dem plus-minus ein-zwei Jahren alle Surrealistengeboren sind. Sie waren absolut Gleichaltrige. Breton studiert Medizin, nimmt 19-jährig alsSanitäter am 1. Weltkrieg teil und erlebt so hautnah dessen höllischen Schrecken. Er


eschäftigt sich mit Rimbaud und den Theorien Sigmund Freuds, er verkehrt mit Apollinaireund erfindet zusammen mit Louis Aragon, der ebenfalls Mediziner war, die automatischeSchreibweise, die die normale Logik ausschaltet und legt so den Grundstein zumSurrealismus.Ein Brief von André Breton an Louis Aragon, so der Titel des folgenden GedichtesSei kurz vor Mitternacht am Landesteg.Wenn eine Frau mit wild zersaustem HaarDir folgt, beacht es nicht.Sie ist das Himmelsblau.Du hast von diesem Blau nichts zu befürchten.Der Glockenturm des DorfsWird dir als Richtschnur dienen.Lass dir Zeit.Erinnere dich.Sei kurz vor Mitternacht am Landesteg.Den Brief hab ich an den drei EckenMit einem Fisch versiegelt.Die grauen Herolde und weißen Mönche kommenUnd bringen dir den Brief.Antonin Artaud ist sicher der radikalste der Surrealisten. Er stammt aus Marseille, kommt1920 als 24-Jähriger nach Paris, wird Theater- und Stummfilmschauspieler. Breton schreibtüber ihn: »Sehr schön, wie er damals war, zog er, wenn er sich fortbewegte, eine ganz vonBlitzen durchzuckte Schauerromanlandschaft hinter sich her. Er war von einer Art Rasereibesessen, die durch die erstaunliche Ansteckungskraft, die sie besaß, die surrealistischeEntwicklung tief beeinflusst hat.«Gebetvon Antonin Artaud in der Übersetzung von Paul Celan.Glutschädel gib uns,Klaräugig, wirklich und wahr,Durchwest von dir.Lass uns die Leibesfrucht sein.Fahr mit dem Nagel drein,Lass ihn Wirbel und Weißglut sein.Still unsern Hunger.Gieß uns die Blutbahn voll.Mach uns los.Zerteil unsMit schneidender Gluthand.Lass unser Hirn erbeben.Und


Raub uns unsre Vernunft.Mitte der 30er Jahre bekommt der Surrealismus zusätzlich eine politische Dimension. DieSurrealisten werden nämlich nahezu alle Mitglieder der kommunistischen Partei. Ausunterschiedlichen Beweggründen und mit unterschiedlichen Zielen. Einige sind glühendeStalinisten, wie Éluard und Aragon, also Anhänger der Theorie vom Kommunismus in einemLand. Andere wie Breton, sind Trotzkisten, also Anhänger der permanenten Weltrevolution.Aber alle sind sie Gegner des entstehenden Faschismus in Europa und der damit verbundenenKriegsgefahr.Die Dichtung muss die praktische Wirkung zum Ziel haben.Ein Gedicht von Paul Éluard in der Übersetzung von Stephan Hermlin.Wenn ich euch sage, dass die Sonne im WaldWie ein Leib ist, der sich in einem Bett hingibt,Glaubt ihr mir, billigt ihr all meine Wünsche.Wenn ich euch sage, dass in den Zweigen meines BettesEin Vogel sein Nest baut, der niemals ja sagt,Glaubt ihr mir, teilt ihr meine Unruhe.Doch wenn ich ohne Umschweife meine Wahrheit singeUnd mein ganzes Lied wie eine endlose Wahrheit ist,Glaubt ihr mir nicht mehr, geht in die Wüste.Denn ziellos geht ihr, wisst nicht, dass die MenschenVereint sein und hoffen und kämpfen müssen,Um die Welt zu erklären und sie zu verändern!Ich hoffe, dieser kurze Ausflug in den Surrealismus hat ihnen gefallen. Mit Rilke, Celan undHermlin habe ich Übersetzer dieser nahezu unübersetzbaren Gedichte gefunden, die nicht nurdie Sprache perfekt beherrschen, sondern auch als Dichter an die Texte herangegangen sind.

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