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„City: Der unwahrscheinlichste aller Orte“ - Hamburger Bildungsserver

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Projekt 2006<br />

„Nine Eleven“<br />

auf das Haus zu, ging die Treppe hinauf bis zu den Türschildern mit der<br />

Gegensprechanlage. Meine Augen suchten die Namen auf den Schildern ab. Dann<br />

sah ich ihn, deinen Namen, Thomas Schell, auf dem zweiten Klingelknopf von unten<br />

auf der rechten Seite. Mein Atem ging schnell und unruhig. Ich war nervös. Doch<br />

dann, nachdem ich noch einmal tief durchgeatmet hatte, drückte ich auf die Klingel.<br />

Ich wartete. Nichts passierte. Ich klingelte noch einmal und wartete. Wieder tat sich<br />

nichts. Plötzlich stand eine Frau hinter mir: „Zu wem wollen Sie, junger Mann?“ „Ich<br />

bin ein Bekannter von Thomas Schell und ich möchte ihn besuchen“, erwiderte ich.<br />

Die Frau schwieg und öffnete die Eingangstür. Sie trat ein und ich folgte ihr. Im<br />

ersten Stock verschwand sie in ihrer Wohnung. Ich stieg eine weitere Treppe hinauf<br />

und dann stand ich direkt vor deiner Wohnungstür. Ich klingelte und hielt die Luft<br />

an. Es dauerte einige Sekunden, die mir vorkamen wie Stunden, bis du die Tür<br />

öffnetest. Dann war es soweit. Die Tür ging auf und vor mir stand ein Mann, dessen<br />

Gesicht mir ähnlich sah. „Hallo, ich bin Journalist und schreibe einen Artikel über die<br />

Bombenangriffe auf Dresden. Ich habe gehört, dass Sie einer der Überlebenden der<br />

Attentate sind!“ Es entstand eine unangenehme Pause. Mein Gefühl sagte mir, dass<br />

du genau wusstest, wer vor dir stand. Es war dein Sohn, der sich vor seinem eigenen<br />

Vater als Journalist ausgab. „Ich spreche nicht, tut mir leid“, schriebst du in ein<br />

kleines Buch. „Die Nacht der Bombenangriffe war schrecklich. Ich verlor zwei geliebte<br />

Menschen.“ Wieder begann eine dieser unangenehmen Pausen. Wir hätten uns so<br />

viel zu sagen gehabt, statt dessen schwiegen wir uns an. Warum hast du das<br />

Schweigen nicht durchbrochen? Warum konnten wir nicht ganz normal wie Vater und<br />

Sohn miteinander reden? Waren es doch zu viele Dinge, die zwischen uns standen?<br />

Mein Herz raste. Ich atmete tief ein und aus. Meine Gedanken wirbelten ungeordnet<br />

in meinem Gehirn umher. Ich wollte meinen ganzen Mut zusammen nehmen und als<br />

dein Sohn mit dir sprechen. Doch statt dessen stellte ich noch ein paar<br />

bedeutungslose Fragen zu den Angriffen und sagte schließlich: „Haben Sie vielen<br />

Dank. Sie haben mir sehr geholfen.“ Ich hielt es einfach nicht mehr aus. Ich musste<br />

das Gespräch beenden. Als ich mich umdrehte, um zu gehen, meinte ich, ein Lächeln<br />

in deinem Gesicht erkannt zu haben. Auf dem Rückflug dachte ich über unser Treffen<br />

nach. Obwohl wir uns nur kurz sahen und über belanglose Dinge redeten, spürte ich,<br />

dass ich dir ähnlicher war, als ich dachte. Ich saß in der Maschine nach New York.<br />

Ich flog nicht zurück nach Kalifornien, sondern zurück nach New York. Mir war klar<br />

geworden, dass ich kein Rechtsanwalt werden konnte. Ich musste den Laden<br />

übernehmen, auch wenn ich mir bis dahin noch nie etwas aus Schmuck gemacht<br />

hatte. Es war dein Lebenswerk und ich wollte, dass du stolz auf mich sein konntest.<br />

So kam ich also zurück und teilte Mutter meinen Entschluss mit, den Laden<br />

weiterzuführen.<br />

Die Sonne ist schon nicht mehr zu sehen und die Straßen werden leerer. Ich bin fast<br />

zu Hause. Vor unserer Haustür stehend, höre ich schon Oskars Stimme. Er fragt nach<br />

mir. Wann ich denn endlich nach Hause komme. Ich öffne die Tür und er stürmt mir<br />

entgegen. Wäre ich meinem Vater damals auch so entgegengerannt, wie Oskar mir<br />

entgegenrennt? „Dad, erzählst du mir eine Geschichte?“ „Klar, Kumpel!“ Wir gehen in<br />

sein Zimmer. Oskar liegt in seinem Bett und ich sitze auf der Bettkante. Wieder<br />

denke ich daran, wie sehr ich es mir als Kind wünschte, dass mein Vater mir eine<br />

Geschichte erzählte. Ich erzähle Oskar die Geschichte vom sechsten Bezirk. Er<br />

unterbricht mich kein einziges Mal. Nachdem ich zu Ende erzählt habe, stelle ich das<br />

Radio wieder an. Jemand spricht Französisch. Ich weiß, dass das Oskar freuen<br />

Gymnasium Buckhorn - S4 – Deutsch LK – Herr Burke, Frau Giese 44

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